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4. Kapitel.

Gespräch mit dem Sophisten Hippias Hippias war einer der berühmtesten, aber auch eitelsten Sophisten der damaligen Zeit. Hier erscheint er weniger anmaßend und vernünftiger als in den Dialogen Platons. über den Begriff der Gerechtigkeit.

1. Auch wie er über die Gerechtigkeit dachte, daraus machte Sokrates kein Geheimnis, sondern gab es schon durch die That zu erkennen. Im Privatleben betrug er sich immer so, wie es den Gesetzen gemäß und andern nützlich war; im Staatsleben leistete er den Obrigkeiten allen in den Gesetzen vorgeschriebenen Gehorsam und war zu Hause wie im Kriegsdienste so ordnungsliebend, daß er darin vor allen andern sich auszeichnete.

2. Als er einmal [in den Volksversammlungen] Epistat war, gestattete er dem Volke nicht, gegen die Gesetze einen Beschluß zu fassen, sondern auf Grund der Gesetze widersetzte er sich einem solchen Ungestüm des Volkes, den wohl nicht, wie ich glaube, ein anderer Mensch ausgehalten hätte.

3. Auch als ihm die dreißig Tyrannen gegen die Gesetze Befehle ertheilten, gehorchte er nicht; und den jungen Leuten verboten sie, Gespräche mit ihm zu führen, und einmal hatten sie ihm und einigen andern Bürgern befohlen, einen zur Hinrichtung abzuholen, Es war dies ein reicher Bürger, Namens Leon, der sich vor den habsüchtigen dreißig Tyrannen nach Salamis geflüchtet hatte. Er sollte von vier Bürgern, unter denen Sokrates war, nach Athen zurückgebracht werden. Vgl. Xenoph. Griech. Gesch. II, 3, 29. aber er allein leistete nicht Folge, weil diese Befehle gesetzwidrig waren.

4. Während andere Angeklagte vor Gericht den Richtern gute Worte zu geben pflegen, ihnen schmeicheln und ihnen gegen die Gesetze mit Bitten zusetzen, und auf diese Weise schon viele von den Richtern ihre Freisprechung erwirkt haben, wollte er, als er von Meletos angeklagt war, keins von den vor Gericht üblichen Mitteln gegen die Gesetze gebrauchen, sondern, obwohl er leicht freigesprochen worden wäre, wenn er sich nur einigermaßen dazu verstanden hätte, wollte er doch lieber den Gesetzen treu bleiben und sterben, als gegen die Gesetze leben.] Das Eingeklammerte ist ohne Zweifel unecht.

5. Ebenso äußerte er sich auch oft in Gesprächen mit anderen; ich kenne von ihm namentlich folgende Unterredung mit dem Eleer Hippias über die Gerechtigkeit.

Dieser war nach langer Zeit wieder nach Athen gekommen und war gerade zugegen, als Sokrates in Gegenwart mehrerer Personen sagte, daß es doch wunderbar sei, wenn einer jemanden das Handwerk eines Schusters, Zimmermannes oder Schmiedes oder die Reitkunst lehren wolle, so sei er nicht in Verlegenheit, wohin er ihn zu schicken habe; [einige sagen sogar, wenn einer ein Pferd oder einen Stier sich wolle gerecht machen lassen, so gebe es überall Leute in Masse, die sich dazu erbieten; Auch diese Worte enthalten einen an dieser Stelle ganz unpassenden Sinn. wolle dagegen einer entweder selbst lernen, was die Gerechtigkeit sei, oder einen Sohn oder Sklaven es lernen lassen, so wisse er nicht, wohin er gehen müsse, um dies zu erreichen.

6. Als Hippias dies hörte, sagte er in etwas spöttischer Weise: Also immer noch Sokrates, bringst du dieselben Reden vor, die ich schon vor Jahren von dir gehört habe? – Ja, sagte Sokrates, und was noch ärger ist, ich stelle nicht nur immer dieselben Behauptungen auf, sondern auch über dieselben Gegenstände. Du freilich als ein Mann von vielseitigen Kenntnissen sagst über dieselben Gegenstände niemals dasselbe. – Allerdings, sagte Hippias, suche ich stets etwas Neues vorzubringen. –

7. Auch über Dinge, die du weißt? Wenn man dich z. B. fragte, wie viele und welche Buchstaben zu dem Namen »Sokrates« gehören, wirst du da jetzt anders als früher antworten? Oder wenn man dich aus dem Einmaleins fragte, ob zweimal fünf zehn sei, wirst du da jetzt nicht ebenso wie früher antworten? – Ueber solche Sachen freilich, Sokrates, sage auch ich wie du immer dasselbe; aber über die Gerechtigkeit glaube ich allerdings jetzt etwas sagen zu können, daß weder du noch irgend ein anderer dagegen wird etwas einwenden können. –

8. Nun bei der Hera, sagte Sokrates, da behauptest du, einen guten Fund gemacht zu haben, denn nun werden die Richter aufhören verschieden zu stimmen, die Bürger werden nicht mehr über ihre Rechte streiten, Processe führen und gegen einander Parteien bilden, und die Staaten werden aufhören über ihre Rechte zu streiten und Kriege zu führen. Und so weiß ich nicht, wie ich von dir lassen könnte, ohne vorher dich, der du einen so herrlichen Fund gemacht hast, anzuhören. –

9. Aber das wirst du nicht eher von mir hören, Sokrates, bis du deine Ansicht über die Gerechtigkeit dargelegt hast. Es ist genug, daß du andere Ergänze: Mit mir sollst du es nicht so machen. immer ausfragst und in die Enge treibst und selbst keinem Rede stehst und über nichts deine Meinung sagst. –

10. Wie, Hippias? hast du nicht bemerkt, daß ich gar nicht aufhöre klarzulegen, was ich für gerecht halte? – Und wie lauten deine Worte darüber? – Sind es auch nicht Worte, so ist es doch die That, wodurch ich es an den Tag lege. Oder glaubst du nicht, daß auf die That mehr zu geben sei, als auf das Wort? – Gewiß, sagte Hippias, denn viele sind in ihren Worten gerecht, in ihren Thaten aber ungerecht; wer aber gerecht handelt, kann nie ungerecht sein. –

11. Hast du nun jemals von mir bemerkt, daß ich ein falsches Zeugnis abgelegt, in böswilliger Weise einen angeklagt, zwischen Freunden oder im Staate Zwietracht gesät oder sonst eine Ungerechtigkeit verübt hätte? – Nein, sagte Hippias. – Und gilt dir das nicht als Gerechtigkeit, wenn man das Ungerechte läßt? – Man sieht, Sokrates, sagte Hippias, daß du auch jetzt wieder auszuweichen suchst und nicht sagen willst, was nach deiner Ansicht Gerechtigkeit ist, denn du sprichst nicht von dem, was die Gerechten thun, sondern von dem, was sie nicht thun. –

12. Nun ich glaubte, sagte Sokrates, nicht ungerecht sein zu wollen sei ein hinreichender Beweis von Gerechtigkeit. Wenn du aber anderer Meinung bist, so sieh einmal zu, ob dir das besser gefällt. Ich sage, gerecht sei so viel wie gesetzlich. – So meinst du also, Sokrates, »gerecht« und »gesetzlich« sei ein und dasselbe? – Ja, sagte Sokrates. –

13. Da sehe ich nur nicht recht, was du gesetzlich, oder was du gerecht nennst. – Du kennst doch die Gesetze des Staates? – Ja. – Und was denkst du dir unter diesen? – Schriftliche Bestimmungen, welche durch gemeinschaftliche Übereinkunft von den Bürgern festgesetzt sind über das, was man thun und meiden soll. – Ist nun nicht gesetzlich derjenige, der nach diesen Bestimmungen im Staate lebt, und ungesetzlich derjenige, der sie nicht befolgt? – Allerdings. – Thut nun der, welcher sie befolgt, nicht auch, was gerecht ist, der aber, welcher sie nicht befolgt, was ungerecht ist? – Ganz richtig. – Ist also nicht der, welcher das Gerechte thut, ein Gerechter, und wer das Ungerechte thut, ein Ungerechter? – Natürlich. – So ist also der Gesetzliche gerecht, der Ungesetzliche aber ungerecht. –

14. Aber, Sokrates, sagte Hippias, wie kann man die Gesetze und den Gehorsam gegen dieselben für etwas so Wichtiges halten, da sie ja oft von denen selbst wieder abgeschafft und geändert werden, von welchen sie gegeben worden sind? – (Dadurch werde ich nicht widerlegt), denn auch oft wird von den Staaten Krieg angefangen und wieder Friede geschlossen. – Das ist richtig, sagte Hippias. – Meinst du nun wohl, wenn du die den Gesetzen Folgsamen deshalb gering achtest, weil die Gesetze abgeschafft werden können, damit irgend etwas anders zu thun, als wenn du die Manneszucht im Kriege deshalb tadeln wolltest, weil der Friede zu Stande kommen könnte? Oder tadelst du auch diejenigen, welche in den Kriegen das Interesse des Vaterlandes im Auge haben? – Beim Zeus, wahrhaftig nicht. –

15. Und weißt du nicht, daß der Lakedämonier Lykurgos Sparta nicht über die anderen Staaten erhoben hätte, wenn er ihnen nicht ganz besonders Gehorsam gegen die Gesetze eingeschärft hätte? Weißt du nicht, daß unter den Leitern eines Staates diejenigen die Besten sind, welche es verstehen, Gehorsam gegen die Gesetze den Bürgern beizubringen, und daß der Staat, in welchem die Bürger den Gesetzen am freudigsten gehorchen, im Frieden der glücklichste und im Kriege nicht zu bewältigen ist?

16. Ferner sehen die Staaten Eintracht für ihr höchstes Glück an; unablässig ermahnen die ältesten und angesehensten Männer ihre Mitbürger zur Eintracht, und überall in Griechenland besteht das Gesetz, daß die Bürger sich eidlich zur Eintracht verpflichten, und dieser Eid wird überall wirklich abgelegt. Dies geschieht nun, glaube ich, nicht, damit die Bürger denselben Chören den Preis zuerkennen, auch nicht, damit sie dieselben Flötenspieler loben, damit sie denselben Dichtern den Vorzug geben, auch nicht, damit sie dieselben Vergnügungen theilen, sondern damit sie den Gesetzen gehorchen. Denn dadurch, daß die Bürger an diese sich halten, gelangen Staaten zu Macht und Blüte, ohne Eintracht aber kann kein Staats- und kein Hauswesen blühen.

17. Und um auf einzelne überzugehen, wie kann jemand besser im Staate vor Strafen sich in Acht nehmen, wie leichter sich Ehre erwerben, als wenn er den Gesetzen folgsam ist? Wie kann er weniger in einem Rechtshandel verlieren, wie eher gewinnen? Wem möchte wohl einer mit mehr Zutrauen Schätze, Söhne oder Töchter in Verwahrung geben, wen der ganze Staat seines Vertrauens würdiger finden, als den Gesetzlichen? Bei wem können Eltern, Angehörige, Diener, Freunde, Bürger und Fremde eher zu ihrem Recht gelangen? Wem möchten die Feinde eher trauen beim Abschluß eines Waffenstillstandes, Bündnisses oder Friedens, mit wem lieber Bundesgenossenschaft schließen, als mit ihm? Wem möchten die Bundesgenossen lieber ihre Truppen, ihre Festungen, ihre Städte anvertrauen? Von wem möchte einer eher, als von dem Gesetzlichen, Erwiderung einer Wohlthat erwarten, und wem möchte einer lieber Wohlthaten erweisen wollen, als dem, von welchem er Dank zu ernten hofft? Wen möchte man lieber zum Freunde, wen weniger zum Feinde haben wollen, als einen solchen, und mit wem möchte man weniger Krieg ansangen wollen, als mit dem, welchen man am liebsten zum Freunde, am wenigsten gern zum Feinde haben möchte, und mit dem alle gern in Freundschaft und Bundesgenossenschaft, und keiner in Feindschaft und Krieg zu leben wünschte?

18. Ich also, Hippias, erkläre, daß gesetzlich sein und gerecht sein ein und dasselbe ist; wenn du aber anderer Meinung bist, so belehre mich. – Nein beim Zeus, Sokrates, ich bin gar nicht anderer Meinung, als du dich über die Gerechtigkeit ausgesprochen hast. –

19. Kennst du aber auch, Hippias, einige ungeschriebene Gesetze? – Ja, erwiderte Hippias, solche, die in allen Ländern in derselben Weise gelten. – Könntest du nun wohl behaupten, daß diese die Menschen sich gaben? – Wie könnten sie wohl! denn sie können ja weder alle, zusammenkommen noch reden sie einerlei Sprache. – Wer hat nun wohl, meinst du, diese Gesetze gegeben? – Ich für meine Person glaube, daß die Götter diese Gesetze den Menschen gegeben haben, denn in der ganzen Welt gilt als vornehmstes Gebot, die Götter zu ehren. –

20. Herrscht nicht auch, fragte Sokrates, überall das Gesetz, die Eltern zu ehren? – Auch dies. – Und daß weder die Eltern mit den Kindern noch die Kinder mit den Eltern sich geschlechtlich verbinden sollen? – Dies, Sokrates, scheint mir kein göttliches Gesetz mehr zu sein. – Weshalb denn? – Weil ich sehe, daß manche es übertreten. –

21. Auch andere Gesetze, erwiderte Sokrates, werden viel übertreten; wer aber ein von den Göttern gegebenes Gesetz übertritt, muß dafür Strafe leiden, der er auf keine Weise entrinnen kann, obwohl manche, die gegen menschliche Gesetze handelten, der Strafe entgingen, sei es, weil ihre Übertretung unentdeckt bleibt, oder weil sie Gewalt anwenden. –

22. Und welche Strafe wäre das, Sokrates, welcher Eltern, wenn sie sich mit Kindern, und Kinder, wenn sie sich mit Eltern geschlechtlich einlassen, nicht entrinnen können? – Die allergrößte beim Zeus, sagte Sokrates, denn welch größeres Uebel kann den Menschen, wenn er Kinder zeugt, treffen, als wenn er schlechte Kinder zeugt? –

23. Warum aber, antwortete Hippias, brauchen diese gerade schlechte Kinder zu zeugen, da es ja möglich ist, daß sie selbst gut sind und sich mit guten vereinigen? – Darum ist es in der That nicht genug, daß die, welche mit einander Kinder zeugen, gute Menschen sind, sie müssen auch in der Blüte ihrer Jugendkraft stehen. Oder glaubst du etwa, es sei in der Zeugungskraft kein Unterschied zwischen denen, welche gerade in der Blüte stehen, und jenen, die entweder diese Blüte noch nicht erreicht oder schon hinter sich haben? – Hier muß natürlich ein Unterschied sein, meinte Hippias. – Welche Zeugungskraft wird nun die bessere sein? – Natürlich die derjenigen, welche in der Jugendblüte stehen. – Bei denen also, welche diese Blüte noch nicht haben, oder schon vorbei ist, wird die Zeugungskraft nichts taugen? – Ich glaube, nicht. – Sollte man also nicht in einem solchen Falle das Kinderzeugen lassen? – So scheint mir. – Zeugen nicht also die, welche es dennoch thun, in ungehöriger Weise Kinder? – Gewiß. – Von welchen könnte man nun sonst noch sagen, sie zeugen schlechte Kinder, außer diesen? – Ich bin auch hierin mit dir einverstanden, sagte Hippias. –

24. Ferner, ist nicht auch das ein allgemein giltiges Gesetz, daß man empfangene Wohlthaten erwidere? – Allerdings, sagte Hippias, aber es wird auch übertreten. – Müssen nun nicht auch hier die Uebertreter bestraft werden, indem sie, von ihren guten Freunden verlassen, genöthigt sind, sich ihren Feinden anzuschließen? Oder sind nicht diejenigen als gute Freunde anzusehen, welche ihren Freunden Wohlthaten erweisen? Laden sich aber nicht diejenigen, welche diese Wohlthaten unerwidert lassen, den Haß derselben auf? Wegen des großen Nutzens aber, den der Umgang mit diesen gewährt, werden sie sich da nicht gerade an sie wieder anschließen wollen? – Beim Zeus, Sokrates, Göttern sieht das alles ähnlich, denn daß die Gesetze selbst die Strafen für die Uebertreter derselben in sich schließen, das scheint mir die Einrichtung eines besseren als menschlichen Gesetzgebers zu sein. –

25. Glaubst du nun, Hippias, daß die Götter in ihren Gesetzen das Gerechte anordnen, oder etwas vom Gerechten Verschiedenes? – Wahrhaftig, nichts davon Verschiedenes, denn schwerlich könnte sonst jemand außer einem Gotte in der Gesetzgebung das Gerechte treffen. – Auch den Göttern also, Hippias, gilt das Gerechte und das Gesetzliche als ein und dasselbe.

So redete und handelte Sokrates und leitete seine Freunde zur Gerechtigkeit an.


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