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Zweites Buch.

1. Kapitel.

Niemand kann herrschen, der sich nicht selbst beherrscht. Wer nicht herrscht, der muß dienen: zwischen beiden giebt es keine Mittelstraße. Um diese Herrschaft zu gewinnen, bedarf es der Arbeit und der Mühen. Dieser Gedanke wird anschaulich gemacht durch die Allegorie (21-33): Herakles am Scheidewege.

1. Er schien mir aber auch, indem er solches sprach, seine Freunde dahin zu bringen, Enthaltsamkeit gegen Speise und Trank, gegen Wollust und Schlaf, gegen Hitze, Kälte und Mühsal zu üben. Da er nämlich von einem seiner Freunde wußte, daß er sich in diesen Dingen wenig Zwang anthat, so sprach er zu ihm:

Sage mir, Aristippos Aristippos von Kyrene in Afrika, Stifter der Kyrenaischen Schule, welche das höchste Gut in den Genuß setzte. Ein zweites Gespräch mit ihm findet sich III, 8. wenn du zwei Jünglinge übernehmen und erziehen solltest, den einen, damit er zum Herrschen geschickt werde, den andern aber dazu, daß er nach der Herrschaft nicht einmal trachte, wie würdest du jeden von beiden erziehen? Laß uns bei dieser Untersuchung mit der Nahrung als den Grundbedingungen beginnen. – Und Aristippos antwortete: Mir scheint wenigstens die Nahrung das Erste zu sein, denn ohne sie könnte man ja nicht einmal leben. –

2. Wird nun nicht bei beiden, wenn die Zeit da ist, ganz natürlich die Lust zum Essen kommen? – Gewiß, sagte Aristippos. – Welchen von beiden würden wir nun daran gewöhnen, lieber das, was noth thut, zu besorgen, als den Magen zu befriedigen? – Denjenigen, beim Zeus, sagte Aristippos, der zum Herrschen erzogen wird, damit nicht die Staatsgeschäfte unter seiner Herrschaft unbesorgt blieben. – Wird nun nicht dem Nämlichen auch beigebracht werden müssen, den Durst ertragen zu können, wenn sie trinken wollen? – Allerdings, sagte Aristippos. –

3. Und hinsichtlich des Schlafes sich selbst zu beherrschen, um nicht nur spät sich hinlegen und früh aufstehen, sondern auch nöthigenfalls wachen zu können, welchen von beiden würden wir dazu anhalten? – Auch hierzu den Nämlichen. – Und ferner im Liebesgenusse sich selbst zu beherrschen, um nicht hierdurch an den nöthigen Geschäften verhindert zu werden? – Auch hierzu den Nämlichen. – Sodann die Anstrengungen nicht zu meiden, sondern sie gern und freiwillig zu übernehmen, welchen von beiden würden wir dazu anhalten? – Auch hierzu den zum Herrscher Bestimmten. – Und endlich alles zu lernen, was dazu dienen kann, die Gegner zu überwinden, welchem von beiden würde dies am ersten beizubringen sein? – Erst recht, beim Zeus, dem zum Herrschen Bestimmten, denn auch das Uebrige nützt nichts ohne diese Kenntnisse. –

4. Scheint es dir nun nicht, daß der so Erzogene weniger von seinen Feinden gefangen werde, als die übrigen Geschöpfe? Denn von diesen werden ja wohl die einen durch ködernde Speisen gefangen und manche, obwohl sehr scheuer Natur, dennoch durch die Begierde zu fressen zum Köder Hingetrieben und gefangen; andere lassen sich beim Saufen belauern. – Ganz richtig, sagte Aristippos. – Und gerathen nicht auch andere durch den Geschlechtstrieb in die Netze, wie die Wachteln und Rebhühner, indem sie durch die Begierde und die Hoffnung des Liebesgenusses der Stimme des Weibchens nachgehen, ohne an die Gefahr zu denken? – Aristippos bejahte auch dieses. –

5. Scheint es dir nun nicht schimpflich zu sein, wenn es einem Menschen ergeht wie den unvernünftigsten Thieren? Wie z. B. die Ehebrecher in die Frauengemächer eindringen, obwohl sie wissen, daß der Ehebrecher Gefahr läuft, nicht nur die vom Gesetze angedrohte Strafe zu erleiden, sondern auch belauert und, wenn er erwischt wird, schimpflich behandelt zu werden; und während so große Gefahren und Beschimpfungen dem Ehebrecher bevorstehen, und es Mittel genug giebt, den Geschlechtstrieb auf gefahrlose Weise zu befriedigen, dennoch sich in Gefahren zu stürzen – heißt das nicht vollends von Sinnen sein? – Mir wenigstens scheint das so, sagte Aristippos. –

6. Daß aber, während die nötigsten Geschäfte von den Menschen unter freiem Himmel betrieben werden müssen, wie z. B. die des Krieges, des Landbaues und von den andern nicht die unwichtigsten, die Meisten nicht gegen Kälte und Hitze abgehärtet sind, scheint dir das nicht eine große Nachlässigkeit zu sein? – Gewiß, sagte Aristippos. – Scheint es dir nun nicht, daß der zum Herrschen Bestimmte sich üben müsse, auch diese leicht zu ertragen? – Gewiß. –

7. Werden wir nun nicht, wenn wir diejenigen, welche in allen diesen Stücken sich selbst beherrschen, zu den Herrschfähigen, diejenigen aber, welche nicht fähig sind, dieses zu thun, zu denen rechnen, welche nach der Herrschaft nicht einmal trachten sollen? – Auch dies gab Aristippos zu. – Wie nun? fragte Sokrates weiter, da du weißt, welcher von beiden Menschenklassen diese angehören, hast du schon einmal darüber nachgedacht, zu welcher dieser beiden Klassen du dich selbst mit Recht rechnen dürftest? –

8. Allerdings, sagte Aristippos, und zwar rechne ich mich keineswegs zur Klasse derjenigen, welche herrschen wollen. Denn es scheint mir der ein recht thörichter Mensch zu sein, der, während es schwer genug ist, sich selbst das Nöthige zu verschaffen, damit nicht zufrieden ist, sondern sich noch die Last aufbürdet, das für die übrigen Bürger Nöthige anzuschaffen; und während man selbst vieles, was man wünscht, entbehren muß als Vorsteher des Staates, wenn man nicht alle Wünsche seiner Mitbürger befriedigt, noch obendrein sich bestrafen zu lassen – wäre das nicht eine große Thorheit?

9. Denn die Staaten wünschen mit ihren Obrigkeiten umzugehen, wie ich mit meinen Sklaven; denn ich verlange von meinen Sklaven, daß sie mich mit allem, was ich gebrauche, reichlich versehen, selbst aber dürfen sie nichts davon anrühren. Ich also würde diejenigen, welche wünschen, sich selbst und andern viele Mühe machen zu können, in der gedachten Weise erziehen und sie zu denen rechnen, die zum Herrschen geeignet sind, mich selbst aber rechne ich zu denen, die so leicht und angenehm als möglich zu leben wünschen. –

10. Willst du nun, daß wir auch dies untersuchen, wer von beiden angenehmer lebt, die Herrschenden oder die Beherrschten? – Gewiß, sagte Aristippos. – Zuerst also von den Völkern, welche wir kennen, herrschen in Asien die Perser, werden beherrscht die Syrer, Phryger und Lyder; in Europa herrschen die Skythen, und beherrscht werden die Mäoten; in Afrika endlich herrschen die Karchedonier, und beherrscht werden die Libyer. Welche von diesen beiderlei Völkern nun, glaubst du, leben angenehmer? Oder scheinen dir unter den Hellenen, zu denen du selbst auch gehörst, diejenigen, welche herrschen, angenehmer zu leben, oder die, welche beherrscht werden? –

11. Aber ich, sagte Aristippos, stelle mich ja auch nicht auf die Seite der Sklaven, sondern es scheint mir einen Mittelweg zwischen diesen beiden zu geben, den ich zu gehen versuche, weder durch die Herrschaft noch durch die Knechtschaft, sondern durch die Freiheit: und dieser gerade führt zur Glückseligkeit. –

12. Ja, sagte Sokrates, wenn dieser Weg, wie er weder durch die Herrschaft noch durch die Knechtschaft führt, so auch nicht durch Menschen führen würde, so könntest du vielleicht Recht haben; wenn du aber unter Menschen weder herrschen noch beherrscht werden und auch nicht einmal durch freiwilliges Entgegenkommen die Herrscher gewinnen willst: dann, denke ich, kann dir nicht entgehen, wie im öffentlichen und Privatleben stets der Stärkere den Schwächeren zu quälen und sich unterwürfig zu machen weiß.

13. Oder weißt du nicht von denen, welche, wenn andere gesät und gepflanzt haben, die Feldfrüchte einernten und die Bäume abhauen, und auf alle Weise die Schwächeren, die ihnen nicht gehorchen wollen, bestürmen, bis sie dieselben dahin bringen, die Knechtschaft lieber zu wählen, als mit ihnen Krieg zu führen? Und weißt du nicht, wie auch im Privatleben der Tapfere und Starke den Feigen und Schwachen unterdrückt und aussaugt? – Aber, um dieses nicht zu erleiden, entgegnete Aristippos, schließe ich mich auch nicht in einen Staat ein, sondern lebe überall als ein Fremder. –

14. Da erzählst du mir fürwahr, antwortete Sokrates, ein prächtiges Fechterkunststück! Denn den Fremden thut allerdings, seitdem Sinis, Skeiron und Prokrustes Drei berüchtigte Räuber, welche Theseus tödtete. S. Plutarch Thes. Kap. 8, 9, 11. todt sind, kein Mensch mehr etwas zu Leide; aber jetzt geben die, welche in ihrem Vaterlande an der Spitze stehen, nicht nur Gesetze, damit man ihnen nicht Unrecht thue, sondern suchen sich außer ihren sogenannten Verwandten noch andere Freunde zu Gehilfen, umgeben die Städte mit Festungswerken, versehen sich zur Abwehr der Gegner mit Waffen, schließen außerdem auch noch mit Auswärtigen Bündnisse und zuletzt, obgleich sie alle diese Schutzmittel haben, wird ihnen dennoch Unrecht gethan.

15. Und du, der du nichts von alledem hast, bringst auf den Landstraßen, wo die meisten Gewaltthätigkeiten ausgeübt werden, viele Zeit zu, stehst in jeder Stadt, wohin du auch kommst, in jeder Hinsicht den Bürgern nach und bist ganz in der Lage wie die, gegen welche sich diejenigen am meisten etwas erlauben, welche Unrecht thun wollen, und dennoch meinst du, weil du ein Fremder bist, vor Gewaltthätigkeiten sicher sein zu können? Verläßt du dich etwa darauf, daß dir die Staaten die Zusicherung geben, ungefährdet kommen und gehen zu dürfen? Oder weil du glaubst, daß du auch als Sklave keinem Herren Nutzen bringen würdest? Denn wer möchte einen Menschen im Hause haben, der nichts arbeiten wollte und nur an einem Leben in Saus und Braus Freude fände?

16. Wir wollen aber auch dies betrachten, wie die Herren solche Sklaven behandeln. Vertreiben sie ihnen nicht den Kitzel durch Hunger? Benehmen sie ihnen nicht das Stehlen durch Schlösser und Riegel? Machen sie ihnen nicht das Entlaufen durch Fesseln unmöglich? Treiben sie ihnen ihre Trägheit nicht durch Schläge aus? Oder wie machst du es, wenn du einen deiner Sklaven auf solchen Wegen ertappst? –

17. Ich züchtige ihn, sagte Aristippos, schwer, bis ich ihn zwinge, sich in die Sklaverei zu fügen. Aber, lieber Sokrates, worin sind diejenigen, welche zu der königlichen Kunst erzogen werden, die du für die Glückseligkeit zu halten scheinst, von denen verschieden, welche gezwungen Qualen leiden, wenn sie wenigstens freiwillig hungern und dürsten, frieren, wachen und all' die andern Plagen ertragen sollen? Ich wenigstens weiß nicht, worin der Unterschied besteht, ob man auf dasselbe Fell freiwillig oder unfreiwillig Peitschenhiebe bekommt, oder überhaupt, ob man mit demselben Körper alle diese Qualen freiwillig oder unfreiwillig aushält, als etwa der, daß jener, welcher sich dem Schmerze freiwillig aussetzt, ein großer Narr ist. –

18. Wie, Aristippos? scheint dir nicht bei solchen Dingen das Freiwillige von dem Unfreiwilligen insofern sich zu unterscheiden, als der, welcher freiwillig hungert, essen kann, wenn es ihm beliebt, und der, welcher freiwillig dürstet, trinken kann, wenn er will u.s.w., demjenigen aber, welcher gezwungen solche Qualen leidet, nicht frei steht, ihnen ein Ende zu machen, wann er will? Sodann hat der, welcher aus freien Stücken sich anstrengt, deshalb Vergnügen, weil er auf gute Hoffnung hin es thut, wie z. B. die Jäger in der Hoffnung auf Beute mit Freuden ihre Strapazen ertragen.

19. Zwar sind solche Preise der freiwillig übernommenen Anstrengungen nur von geringem Werthe, diejenigen aber, welche sich Anstrengungen unterziehen, um sich brave Freunde zu verschaffen, oder um Feinde zu überwinden, oder um, an Leib und Seele gekräftigt, das eigene Haus wohl zu verwalten, den Freunden gutes zu thun und um das Vaterland sich verdient zu machen, – wie sollte man nicht annehmen dürfen, daß diese nicht nur mit Freuden um solcher Güter willen sich Anstrengungen unterziehen, sondern auch ein fröhliches Leben führen, zufrieden mit sich selbst und gelobt und glücklich gepriesen von anderen?

20. Weichlichkeit ferner und mühelose Genüsse sind weder im Stande, dem Körper Gesundheit und Kraft zu verschaffen, wie die Gymnasten Lehrer der Leibesübungen. behaupten, noch theilen sie der Seele irgend eine bedeutende Kenntnis mit; ausdauernder Fleiß dagegen bewirkt, daß man schöne und herrliche Thaten ausführt, wie brave Männer sagen. Es sagt aber auch Hesiodos irgendwo: Werke und Tage V. 287 ff.

Siehe, das Böse vermagst du auch schaarweis dir zu gewinnen
Ohne Bemühn; denn kurz ist der Weg, und nahe dir wohnt es.
Vor die Trefflichkeit setzten den Schweiß die unsterblichen Götter;
Lang auch windet und steil die Bahn zur Tugend sich aufwärts,
Und sehr rauh im Beginn; doch wenn sie zur Höhe gelangt ist,
Leicht dann wird sie hinfort und bequem, wie schwer sie zuvor war.
Dasselbe bezeugt auch Epicharmos, Ein Komödiendichter aus Kos. Er lebte in Syrakus um 500 v. Chr. Von seinen Komödien sind nur Fragmente vorhanden. Die beiden von ihm angeführten Verse sind trochäische Tetrameter: –u| –u|  –u|  –u|| –u| –u| –u|wenn er sagt:

Nur für Arbeit wird das Gute von den Göttern uns verkauft.

(Und an einer andern Stelle sagt er:

Thor, begehre nicht das Weiche, daß du nicht das Hart' erlangst!) Die eingeklammerten Worte scheinen nicht von Xenophon herzurühren, weil (wie Breitenbach richtig bemerkt) das Wort ιύπος nur bei Späteren die Stelle in einer Schrift bedeutet. Auch paßt die Sentenz weniger hierher.

21. Auch der weise Prodikos Prodikos aus Keos, ein Zeitgenosse des Sokrates und Xenophon. Letzterer soll ihn, als er nach Art der Sophisten feine Fabel vom Herakles für Geld vortragend umherzog, in Theben selbst gehört haben. Auch Sokrates stand zu ihm in näherer Beziehung, da er sich bei Platon an mehreren Stellen seinen Schüler nennt. Uebrigens war das ούγγραμμα περι Ήραχλέονεnur ein Theil eines größeren Werkes mit dem Titel Ώύπος( Breitenbach ). spricht sich in seiner Schrift von Herakles, die er bekanntlich sehr vielen immer vorträgt, ebenso über die Tugend aus, indem er, soweit ich mich noch erinnere, etwa Folgendes sagt:

Als Herakles im Begriffe stand, aus dem Knaben- in das Jünglingsalter überzutreten, in dem die Jünglinge bereits selbstständig werden und zeigen, ob sie den Weg der Tugend oder des Lasters zu ihrem Lebenswege machen wollen, sei er an einen einsamen Ort hinausgegangen, habe sich daselbst niedergesetzt, unschlüssig, welchen von beiden Wegen er einschlagen solle.

22. Da habe er zwei Frauen von hoher Gestalt auf sich zukommen sehen; die eine war schön anzusehen und edel, Reinheit war ihres Leibes, Schamhaftigkeit ihrer Augen, Sittsamkeit ihrer Haltung Schmuck; ihre Kleidung war weiß. Die andere war wohlgenährt bis zur Fleischigkeit und Ueppigkeit, die Farbe geschminkt, so daß sie weißer und röther sich darzustellen schien, als sie wirklich war, und ihre Haltung so, daß sie gerader zu sein schien als von Natur; die Augen habe sie weit offen gehabt und ein Kleid getragen, aus dem am meisten die jugendliche Schönheit hindurchschimmern kann; wiederholt habe sie sich selbst angesehen, aber auch sich umgesehen, ob sie auch ein anderer beschaue, oft habe sie auch nach ihrem eigenen Schatten hingesehen.

23. Als sie aber näher an Herakles herangekommen seien, sei die zuerst genannte ruhig in ihrem Schritte weiter gegangen, die andere aber sei, um ihr zuvorzukommen, auf Herakles zugelaufen und habe zu ihm gesagt:

Ich sehe, Herakles, daß du unschlüssig bist, welchen Lebensweg du einschlagen sollst; wenn du nun mich zur Freundin nimmst, dann werde ich dich den angenehmsten und bequemsten Weg führen, keine Lust soll dir verloren gehen und von Beschwerden sollst du verschont bleiben.

24. Denn erstlich wirst du dich nicht um Kriege und Händel bekümmern, sondern immer nur darauf sinnen dürfen, was du Angenehmes zum Essen oder Trinken finden, was zu sehen oder zu hören dich ergötzen, was zu riechen oder anzutasten dich freuen, mit welchen Jünglingen zu verkehren dir am meisten Genuß bereiten, wie du am weichsten schlafen und wie du am mühelosesten zu allen diesen Freuden gelangen könnest.

25. Sollte es aber einmal den Anschein haben, als könnten dir hierzu die Mittel ausgehen, so darfst du nicht besorgen, ich könnte dich dazu nöthigen, durch Anstrengung und Erduldung von Mühsalen des Leibes und der Seele dir diese Mittel zu verschaffen; nein, was andere sich erarbeiten, das sollst du genießen, sofern du nur nichts zurückweisest, woraus man Gewinn ziehen kann. Denn ich gebe meinen Freunden die Erlaubnis, aus allen Dingen Nutzen zu ziehen.

26. Als Herakles dies hörte, fragte er: wie heißt du, Weib? Sie antwortete: Meine Freunde nennen mich Glückseligkeit, meine Feinde dagegen Lasterhaftigkeit.

27. Inzwischen war auch die andere Frau herangekommen und sagte:

Auch ich komme zu dir, Herakles, denn ich kenne deine Eltern und habe deine Anlagen bei deiner Erziehung kennen gelernt. Darum hoffe ich, wenn du den Weg zu mir einschlägst, so wirst du gewiß ein tüchtiger Vollbringer edler und erhabener Thaten werden, und ich noch viel geachteter und reicher an Vorzügen erscheinen. Ich will dich aber nicht durch Vorgaukeln von Genüssen täuschen, sondern dir das Leben, wie es die Götter angeordnet haben, der Wahrheit gemäß schildern.

28. Von dem Guten und wahrhaft Schönen geben die Götter den Menschen nichts ohne Mühe und Fleiß. Willst du, daß die Götter dir gnädig seien, so mußt du sie ehren; willst du von deinen Freunden geliebt werden, so mußt du ihnen gutes erweisen; willst du von irgend einem Staate geehrt werden, so mußt du dem Staate nützlich werden; willst du von ganz Griechenland wegen deiner Tugend bewundert werden, so mußt du dich um Griechenland verdient zu machen suchen; möchtest du, daß dir die Erde reichliche Früchte trage, so mußt du dieselbe pflegen; glaubst du, du müssest dich durch Heerden bereichern, so mußt du für Heerden sorgen; trachtest du danach, im Kriege dir Ruhm zu erwerben, und möchtest du die Macht besitzen, deine Freunde zu befreien und deine Feinde zu besiegen, dann mußt du nicht nur von solchen, die es verstehen, die Regeln der Kriegskunst erlernen, sondern dich auch in der Anwendung derselben üben; möchtest du aber endlich auch körperlich kräftig sein, so mußt du deinen Körper gewöhnen, dem Geiste zu gehorchen und unter Anstrengungen und Schweiß ihn abhärten.

29. Hier fiel ihr die Lasterhaftigkeit, wie Prodikos erzählt, ins Wort und sagte: Merkst du nun wohl, Herakles, was für einen schweren und langen Weg zum Lebensgenuß dich dies Weib da führen will? Ich dagegen werde dich einen bequemen und kurzen Weg zur Glückseligkeit führen.

30. Darauf sagte die Tugend:

Du Elende, was hast du denn Gutes, oder was kennst du Angenehmes, wenn du dich nicht entschließen kannst, etwas für dieses zu thun? Wartest du doch nicht einmal das Verlangen nach dem Genuß ab, sondern ehe du ein Verlangen hast, füllst du dich mit allem an; du ißt, ehe dich hungert, trinkst, ehe dich dürstet. Damit das Essen dir schmecke, hast du die Hilfe von Köchen nöthig; um mit Lust zu trinken, schaffst du dir kostbare Weine an und läufst im Sommer nach Schnee umher, und um sanft schlafen zu können, hast du noch nicht an den reichen Decken genug, sondern du schaffst dir auch weiche Betten und Schaukelbettstellen an, denn nicht weil du arbeitest, sondern weil du nichts zu thun hast, verlangst du nach dem Schlafe. Den Liebesgenuß aber erzwingst du, ehe du das Bedürfnis nach demselben fühlst, indem du alle Mittel anwendest und Männer wie Frauen gebrauchst. Denn so erziehst du deine Freunde, indem du sie des Nachts schändest, den besten Theil des Tages aber verschlafen läßt.

31. Obwohl eine Unsterbliche, bist du von den Göttern verstoßen worden und von guten Menschen wenigstens wirst du verachtet. Das Allerangenehmste, was man hören kann, dein eigenes Lob, bekommst du nicht zu hören, und das Allerangenehmste, was man sehen kann, bekommst du nicht zu sehen, denn du hast noch nie eine von dir selbst rühmlich vollbrachte That gesehen. Wer möchte, wenn du etwas sagst, dir glauben? Wer, wenn du es nöthig hast, dir helfen? Welcher Verständige könnte es über sich gewinnen, in die Gesellschaft deiner Verehrer zu treten, die in ihrer Jugend körperlich schwach, im Alter blöden Geistes sind, die sorglos, in Salben glänzend, in der Jugend sich nähren lassen, aber mit Mühe, von Schmutz starrend, durch das Alter sich hinschleppen, voll Scham über das, was sie gethan haben, voll Gram über das, was sie thun müssen, weil sie die Annehmlichkeiten der Jugend rasch durchflogen und das Widrige sich für das Alter aufgespart haben.

32. Ich dagegen verkehre mit Göttern, verkehre mit guten Menschen. Keine rühmliche That, weder von Seiten der Götter, noch von Seiten der Menschen, wird ohne mich vollführt; man ehrt mich über alles bei den Göttern und bei allen Menschen, denen Ehre zur Zierde gereicht. Ich bin eine beliebte Mitarbeiterin den Künstlern, eine treue Wächterin des Hauses den Herren, eine wohlwollende Beschützerin den Sklaven, eine gute Gehilfin an den Geschäften des Friedens, eine zuverlässige Mitkämpferin im Kriege und die beste Genossin in der Freundschaft.

33. Meinen Freunden ferner ist der Genuß von Speisen und Getränken angenehm und von keinen Umständen abhängig, denn sie warten so lange, bis sie Appetit bekommen. Der Schlaf aber ist ihnen süßer als denen, welche nichts zu thun haben, und sie sind nicht ärgerlich, wenn sie ihn verlassen müssen, noch vernachlässigen sie um seinetwillen die nöthigen Geschäfte. Und die Jüngeren freuen sich über das Lob der Aelteren, die Aelteren dagegen freuen sich über die Ehrenbezeugungen der Jüngeren; mit Freude denken sie an die früheren Thaten und freuen sich auch, die gegenwärtigen gut zu vollbringen, da sie durch mich die Freundschaft der Götter, die Liebe der Freunde und die Achtung des Vaterlandes genießen. Wenn aber das vom Schicksal bestimmte Ende kommt, dann liegen sie nicht in Vergessenheit ruhmlos da, sondern von Lobliedern gepriesen, leben sie fort in der Erinnerung aller Zeiten. Wenn du, Herakles, du Sohn würdiger Eltern, dich solchen Anstrengungen unterziehst, dann kannst du die göttlichste Glückseligkeit erreichen.

34. So etwa erzählt Prodikos die Erziehung des Herakles durch die Tugend; nur hat er seine Gedanken durch noch herrlichere Worte ausgeschmückt, als ich jetzt. Dir aber, lieber Aristippos, ziemt es, dieses zu Herzen zu nehmen und auch einmal für die Zukunft deines Lebens zu sorgen.


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