Wilhelm Wundt
Erlebtes und Erkanntes
Wilhelm Wundt

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48.

Bemerkenswerte Beispiele im großen für den egoistischen Utilitarismus. Die Herrschaft des Geldes. Die Motive der Geldherrschaft. Die Verdrängung der amerikanischen Eingeborenen. Die Puritaner und der Kapitalismus. Die puritanische Einwanderung und die Eingeborenen. Der Krieg der Sioux. Die Entstehung der Kopfjagd und die Skalpierungssitten.

Jene Beispiele im großen liefert uns vor allem Amerika, das von Anfang an in seinen staatlichen Verhältnissen wie in den diese beherrschenden Schöpfungen der Gesellschaft unter der Macht einer rein utilitarischen Moral stand. Darin liegt nicht im allergeringsten ein Vorwurf gegen die geborenen Amerikaner als solche. Sind es doch zu einem großen Teil Eingewanderte, die an der das öffentliche Leben beherrschenden Moral mitgearbeitet haben, während es zahlreiche geborene Amerikaner gibt, die von dieser nichts wissen wollen und sich darum der Teilnahme an den gemeinsamen Angelegenheiten von Staat und Gesellschaft überhaupt entziehen. Einen Beleg für eine solche gesteigerte Utilitätsmoral bietet in erster Linie die Herrschaft des Kapitalismus.

Nichts ist für diese Herrschaft des Geldes bezeichnender, als daß gerade die zu gemeinsamem Gewinn gestifteten Verbände durchweg zugleich Unternehmungen sind, deren einzelne Mitglieder nebenbei so viel als möglich einander zu übervorteilen und sich dadurch aus ihrer Vorherrschaft zu verdrängen bemüht sind. Das ist aber offenbar eine Folge davon, daß hier der Staat selbst einen unbeschränkten Spielraum für den Streit um Besitz und damit für die Anhäufung des Reichtums in den Händen einzelner bietet. Man braucht nur die Zahlen anzusehen, bis zu denen in fortschreitendem Maße die amerikanischen Geldmagnaten ihre Vermögen gesteigert haben, die in dem Werk von Gustav Myers über die »Geschichte der großen amerikanischen Vermögen« angeführt sind (deutsche Übersetzung 1916), um sich zu sagen, daß auf einem irgendwie noch moralisch zu nennenden Wege Milliarden von diesem überwältigenden Umfang von einem einzelnen Menschen nicht gewonnen werden können. Und wenn man den Unternehmungen näher nachgeht, durch die diese Vermögen entstanden sind, so ist man versucht, diese Geldmagnaten als eine Reihe von Verbrechern zu bezeichnen, die teils den Staat und die Gesellschaft teils sich selbst wechselseitig betrogen und bestohlen haben. Daß darüber viele der gebildeten Amerikaner nicht anders denken, dafür lieferte der Leiter eines neubegründeten Krankenhauses in Boston einen sprechenden Beleg, indem er einen Millionenbeitrag des berühmten Carnegie zurückwies, weil er Bedenken trug; für eine Wohltätigkeitsanstalt eine Unterstützung aus Geldmitteln anzunehmen, die auf unmoralischem Wege gesammelt seien. Dieses Motiv wirft zugleich ein bezeichnendes Licht auf einen Ausspruch, der von jenem Geldkönig berichtet wird, und nach welchem dasjenige Leben das glücklichste sein soll, welches im Ansammeln von Reichtum bestehe, aber mit Armut anfange und mit Armut ende. Ob der Urheber dieses Ausspruches selbst seiner Maxime treu geblieben ist, mag dahingestellt bleiben. Auf die Motive seiner in der Tat großartigen Freigebigkeit wirft die Handlung eines anderen Geldmagnaten ein bezeichnendes Licht. Dieser hatte aus eigenen Mitteln eine Universität gegründet, die sich eines raschen Aufblühens erfreute. Aber nach 10 Jahren hatte er die Freude an seiner Schöpfung verloren und erklärte, daß er seine Beihilfe von nun an einstellen werde, so daß der Untergang drohte. Da verfiel der Präsident dieser Akademie auf ein sinnreiches Mittel zur Abwendung der Gefahr. Er veranstaltete ein zehnjähriges Stiftungsjubiläum, zu dem er zahlreiche amerikanische und europäische Gelehrte zu Festvorträgen einlud. Die gehaltenen Vorträge wurden in einem stattlichen Bande gesammelt, an dessen Eingang das Porträt des Stifters der Akademie prangte. Damit gab sich dieser zufrieden, die Geldmittel flossen von neuem und die Zukunft der Universität war wenigstens vorläufig gesichert. Das Motiv solcher Spenden des Reichtums ist eben bei diesen amerikanischen Utilitariern nicht die Begeisterung für die Wissenschaft, sondern die Eitelkeit, wenn nicht das Streben, durch den Glanz solcher Handlungen neuen Geldunternehmungen zu Hilfe zu kommen. Wohltaten, die aus unlauteren Motiven entspringen, wirken aber unvermeidlich korrumpierend auf ihre Empfänger zurück. Und nicht alle Gelehrte denken wie jener Leiter des Krankenhauses in Boston, sondern sie behelfen sich mit dem bekannten Grundsatz ,,Non olet«.

Ein solches unbeschränktes Walten des Egoismus, wie es diesen Kapitalismus größten Stils erzeugt hat, würde nun aber nicht möglich gewesen sein, wenn nicht bereits die vorangegangene europäische Zivilisation mindestens im kleinen die Vorbilder geliefert hätte, nach denen unter dem Schutze einer überragenden Gunst der äußeren Verhältnisse sich diese Erscheinungen entwickelten, und wenn nicht zum Teil die allgemeinen politischen Traditionen ein solches Wachstum ins Große begünstigt hätten. Die Piraterie Englands und die Besitzverhältnisse der großen englischen Latifundien haben dereinst die Vorbilder für die frühesten amerikanischen Unternehmungen im Seehandel und im Landgewinn abgegeben, mit denen der amerikanische Milliardenkapitalismus begann, um dann in den verschiedensten Zweigen der modernen Industrie ein ins Groteske gesteigertes Nachbild jener Anfänge zu schaffen, wie es noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts für eine nur in phantastischen Träumen zu verwirklichende Erscheinung angesehen werden konnte.

Hier liegt nun zugleich die Lösung des Rätsels, das die moderne, in vielen Richtungen auf Europa zurückstrahlende amerikanische Zivilisation der Kulturgeschichte aufgegeben hat. Die gleiche unbeschränkte Betätigung des Individualismus und egoistischen Utilitarismus, die heute in den allgemeinen Wirtschaftsverkehr und durch ihn in eine von vielen Seiten noch immer verteidigte Wirtschaftstheorie eingedrungen ist, entstand in Amerika als ein von der ursprünglichen englischen Einwanderung importiertes Prinzip der vom Staat teils direkt angeordneten teils von ihm geschützten Zustände. Hier bilden diese Erscheinungen außerdem einen der augenfälligsten Belege für die Unabhängigkeit der Religion, in der diese im Laufe der Zeit in den allgemeinen Anschauungen eventuell zu einem äußeren ornamentalen Deckmantel einer rohen Egoismusmoral geworden, tatsächlich aber, genau so wie die Gefühls- und Sympathiemoral in der europäischen Philosophie ohne allen Einfluß auf das wirkliche Handeln gewesen ist.

Niemand anders als die Begründer der amerikanischen Gesellschaftsordnung und der aus ihr entsprungenen Sitten, die eingewanderten Puritaner, sind die Schöpfer zweier der größten moralischen Versündigungen, die eine in der allgemeinen Zivilisation fortgeschrittenere an einer relativ zurückstehenden Bevölkerung begangen hat. Die erste dieser Versündigungen liegt uns offen vor Augen in den Verträgen, welche die nordamerikanischen, der Union vorausgehenden Staatengebilde sowie schließlich die Regierung der Union selbst mit den Indianerstämmen geschlossen haben, um die von diesen bevölkerten Gebiete für sich zu gewinnen, während durch diese Verträge die Indianer auf immer kleinere Gebiete eingeschränkt und dadurch in eine Art sklavischer Abhängigkeit von den eingewanderten Weißen und ihren Abkömmlingen gebracht worden sind. Das ethnologische Bureau des Smithsonian Institution hat das Verdienst, die Reihe dieser schmählichen Denkmäler der Ausbeutung und Mißhandlung in einem für die Geschichte der Kultur höchst interessanten Werke ungescheut veröffentlicht zu haben (18. Bericht des Instituts, 1896--97). Beim Durchblättern dieser Aktenstücke wird man geneigt, ihre Veröffentlichung für eine schwere Anklage zu halten, die hier die Amerikaner von heute gegen ihre Ahnen, die einstigen puritanischen Einwanderer und ihre Nachkommen erheben. Das ist natürlich nicht zutreffend. Eher wird man wohl annehmen dürfen, daß in dem heutigen Angloamerikanismus noch hinreichend viel von dem alten Puritanismus erhalten geblieben ist, um sich über alle etwaigen Bedenken mit der Erwägung hinwegzuhelfen, daß das werktätige Handeln und die Religion verschiedenen Seiten unseres Lebenskontos angehören, die nichts miteinander zu tun haben oder von denen höchstens die eine dazu da ist, um die Schulden auszugleichen, die auf der anderen verzeichnet sind. Bedeutsam ist hierbei besonders ein Wandel des Unsterblichkeitsglaubens, der uns schon bei den alten Puritanern entgegentritt und von dem man wohl sagen kann, daß er heute zu allgemeiner Verbreitung gelangt ist. Ausgehend von der Vorstellung der Belohnung des Guten und der Bestrafung des Bösen im Jenseits hat dieser Glaube mehr und mehr der Erwartung einer allgemeinen Glückseligkeit in der jenseitigen Welt Platz gemacht, bei welcher der Vergeltungsgedanke keine Rolle mehr spielt, sondern jeder an der künftigen Seligkeit teilnimmt, wie immer er auch sein gegenwärtiges Leben verbracht hat. So ist nicht zum wenigsten unter der Wirkung der Utilitätsmoral der Unsterblichkeitsgedanke zum Gegenteil von dem geworden, was er ursprünglich gewesen: aus einer Mahnung zu einer Beruhigung des Gewissens. Übrigens ist nicht zu übersehen, daß es sich bei den amerikanischen Rothäuten keineswegs um Stämme handelte, die etwa den asiatischen und afrikanischen Waldstämmen oder auch den Sudannegern, da wo diese von frühen asiatischen Kulturmischungen unbeeinflußt blieben, zu vergleichen sind, oder überhaupt um primitive oder weit zurückgebliebene Menschen, sondern um Völker, die sich selbständig jedenfalls schon vor der Einwanderung der weißen Rasse zu einer eigenartigen, gerade auch in ihrer humanen Richtung bedeutsamen Stufe erhoben hatten. Das beweist nicht nur die anfängliche Hilfsbereitschaft, mit der besonders der fortgeschrittenste dieser Indianerstämme, die Sioux, unter denen wiederum die Irokesen hervorragen, den Einwanderern entgegenkamen, sondern ein Zeugnis hierfür liefert vielleicht auch der große Krieg, in dem sich schließlich gerade die Sioux gegen die fortschreitende Bedrückung und Entrechtung von seiten der Weißen zu wehren versuchten,

Dieser Krieg bietet immerhin eine gewisse Analogie zu der Versklavung der in den Grundlagen ihrer geistigen Bildung zum Teil die ihrer Unterdrücker weit überragenden indischen Bevölkerungen. Was aber den Kampf der Sioux vor anderen, ähnlichen Erscheinungen auszeichnet, das ist ein Zug, der mit der verhältnismäßig niedrigen Stufe der Kultur derselben, wenn man diese etwa mit der der eingeborenen Inder, der Schöpfer des Brahmanismus und des Buddhismus vergleichen wollte, zusammenhängt. Die Sioux haben, um sich eine vollwichtige Grundlage für diesen Kampf in Religion und Sitte zu schaffen, dem Christentum ihrer Bedränger einzelne Züge entlehnt, mit denen Sie dann allerdings, wie man sich wohl ausdrücken könnte, um so mehr ihre Gegner ad absurdum führten. Insbesondere war es das Erlösungsdogma und der Glaube an die Wiederkunft des dereinst zur Befreiung seines Volkes kommenden Erlösers, das sie bereitwillig aufnahmen. Als einen solchen Erlöser betrachteten sie einen Angehörigen ihres eigenen Stammes, auf den sie dann auch in der Mythologie, die sie auf dieser Grundlage schufen, die sittlichen Eigenschaften Jesu Christi übertrugen. Mögen also die Sioux die christliche Tradition des erlösenden Gottes von außen entlehnt haben, sie ist dann von ihnen in jener dem naiven Volksglauben entsprechenden Einheit des religiösen Glaubens mit dem menschlichen Handeln, das auch ihren Kriegsbräuchen nicht fehlte, bewahrt worden, in der sie den frommen Puritanern abhanden gekommen war.

Schlimmer ist es aber noch mit einer anderen Erscheinung bestellt, mit der als einer der sittlich verwerflichsten Kriegsgewohnheiten und ihrer Auswüchse die europäische Tradition die rote Rasse Amerikas Jahrhundertelang belastet hat. Das ist die Sitte der nicht bloß im Krieg, sondern mitten im Frieden geübten Kopfjagd und des aus ihr hervorgewachsenen Skalpierens der Kopfhaut des Gegners oder des als Beute behandelten Stammesfremden. Georg Friederici hat in seinem vor wenigen Jahren erschienenen Werke »Über Skalpieren und ähnliche Kriegsgebräuche in Amerika« (1906) überzeugend nachgewiesen, daß nicht die Rothäute, sondern die puritanischen Einwanderer und ihre nächsten Nachkommen die wahren Urheber der Kopfjagd und der aus ihr entsprungenen Skalpiersitte sind. Nicht als ob den Indianern die Vorbedingungen gänzlich gefehlt hätten, aus denen sich diese scheußlichen Sitten entwickeln konnten. Sie finden sich bei allen barbarischen Völkern und bestehen darin, daß unter den Trophäen, die der Sieger aus dem Kriege heimbringt, neben der Waffe des Feindes auch der Kopf desselben nicht fehlt. Solche als Siegestrophäen verwendete Beutestücke sind wahrscheinlich auch bei den barbarischen Urahnen der heutigen Kulturvölker vorgekommen. Sie bilden in der Geschichte der Kultur einen Ausgangspunkt, als dessen letzte Reste die erbeutete Fahne und die Waffe stehen geblieben sind. Zur Kopfjagd sind aber in Amerika diese allverbreiteten Kriegssitten durch die eingewanderten Weißen geworden. Sie haben zuerst Prämien ausgesetzt für die Köpfe, die ihnen, gleichgültig, ob diese aus dem Kriege stammten oder sonst irgendwie, also im gemeinen Mord inmitten des Friedens gewonnen waren, geliefert wurden, und als abgekürztem Verfahren haben sie wahrscheinlich auch zuerst dem Skalp vor dem Kopf den Vorzug gegeben. Damit waren Kopf und Skalp aus Kriegstrophäen zu auch im Frieden verwendbaren Handelsobjekten und, worauf es den Eingewanderten vor allem ankam, zu einem der wirksamsten Mittel für die erstrebte Ausrottung der Eingeborenen geworden. Diese Nachweise Friedericis sind nicht etwa einseitige oder übertriebene Schilderungen, sondern sie sind von den erfahrensten Amerikanisten unter den Ethnologen, darunter von einem in der Vorgeschichte der amerikanischen Union besonders bewanderten Mitglied des Smithsonian Institution bestätigt worden.


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