Wilhelm Wundt
Erlebtes und Erkanntes
Wilhelm Wundt

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29.

Deutsche und englische Forschungsreisende. Die Mission und die Forschungen über die Sprachen der Naturvölker. Stellung der Philologie und Indogermanistik zur Ethnologie. Die praktischen Bedürfnisse des Weltverkehrs. Die vergleichende Sprachwissenschaft in allgemeinster Bedeutung. Psychologischer Wert primitiver Sprachen. Wert der Sprachwissenschaft für die Völkerpsychologie. Beziehung der Sprache zur Logik. Die Mannigfaltigkeit der Sprachen und ihrer psychologischen Bedeutung. Die Geschichte der Sprache als Entwicklungsgeschichte des Denkens. Psychologische Bedeutung der Kunstentwicklung. Die Kunst bei primitiven Völkern. Mythos und Religion. Psychologische Bedeutung der Kunstentwicklung. Gesellschaft und Staat in psychologischer Beleuchtung.

Gegen uns Deutsche ist bekanntlich im Laufe der letzten Jahre der Vorwurf erhoben worden, wir seien nicht fähig, Kolonien zu gründen, weil wir in der Kultur zurückgebliebene Völker nicht zu regieren und also auch nicht zu kultivieren vermöchten. Es ist dagegen von deutscher Seite schon des öfteren gewiß mit Recht eingewandt worden, daß viele namentlich der afrikanischen Stämme damit, daß sie uns zum großen Teil mit rührender Ausdauer die Treue bewahrt haben, das Gegenteil beweisen. Es gibt aber noch ein anderes, wie mich dünkt, schlagenderes Argument. Das besteht, abgesehen von der hervorragenden Bedeutung der teils im allgemeinen Kultur-, teils im politischen Interesse tätigen Kolonisatoren, wie Emin Pascha, Karl Peters, Hermann von Wißmann und vielen anderen, nicht zum wenigsten in den Leistungen der auf dem Boden der Kolonien tätigen deutschen Wissenschaft. Wo sind noch aus neuerer Zeit Werke von ähnlich umfassender Gründlichkeit zu finden wie J. Spieths Kulturgeschichte der Ewestämme (1906), in welchem uns die Bevölkerung der kleinsten der deutschen Kolonien, Togo, nahegebracht worden ist? Niemand wird die Verdienste schmälern wollen, die sich englische Forschungsreisende um die Aufhellung der Sitten und sozialen Zustände der australischen Ureinwohner erworben haben. Und doch muß gesagt werden, daß die Kenntnis dieser Forscher schon deshalb eine verhältnismäßig oberflächliche und darum zum Teil widerspruchsvolle sein mußte, weil ihnen die Sprache der Eingeborenen fremd geblieben ist. Wieviel tiefer konnte hier ein Mann wie der deutsche Missionar C. Strehlow schürfen, der viele Jahre unter australischen Stämmen gewirkt hat, der ihre Sprache spricht und mit ihnen wie mit seinesgleichen jahrelang verkehrt hat! Nicht anders verhält es sich mit vielen der süd- und mittelamerikanischen Gebiete, wo noch während des letzten Jahrzehnts die Forschungen von K. Th. Preuß uns wichtige religionswissenschaftliche Aufschlüsse gebracht haben. Der deutsche Missionar oder Forschungsreisende sucht sich vor allem mit den Idiomen vertraut zu machen, in welchen er selbst mit den Völkern verkehren kann, unter denen er wirken oder die er erforschen will. Der Engländer und der Amerikaner bedienen sich entweder eines zu diesem Zweck herangebildeten Dolmetschers oder sie verlassen sich in einigen seltenen Fällen auf Eingeborene, die zur Kultur übergegangen und Ethnologen geworden sind. Daß diese letztere Quelle zuweilen durch die Neigung, die eigene Abstammung mit einer Gloriole zu umgeben, getrübt ist, begreift sich. Von besonderer Wichtigkeit ist es aber, daß zahlreiche deutsche Missionare im Interesse der Sprachwissenschaft in den Gebieten ihres Berufs tätig sind. Vor allem die afrikanische Sprachwissenschaft und im Anschluß an sie die Kulturgeschichte der primitiveren afrikanischen Völker sind auf diese Weise zu einem nicht geringen Teil von deutschen Missionaren oder aus dem von ihnen gelieferten Beobachtungsmaterial geschaffen worden. Wie hier zumeist die evangelische, so hat aber auf australischem und ozeanischem Gebiet vielfach die katholische deutsche Mission unter der Führung von P. W. Schmidt und auf Grund des in seiner Zeitschrift »Anthropos« aus den hier fließenden Quellen gesammelten Materials sich große Verdienste um Ethnologie und Kolonialwissenschaft erworben.

Damit hat sich zugleich in der Sprachwissenschaft ein bedeutsamer Umschwung vorbereitet, der besonders auf ihr Verhältnis zur Völkerpsychologie einen tief eingreifenden Einfluß auszuüben beginnt. Bis in den Anfang des vorigen Jahrhunderts und in ihrer Nachwirkung an den Universitäten noch darüber hinaus hat die klassische Philologie eine so überragende Herrschaft behauptet, daß neben ihr höchstens im Anschluß an das Hebräische die semitischen Sprachen und dann allmählich das Sanskrit als die vermeintlich älteste der indoeuropäischen Sprachen eine gewisse Beachtung fanden. Eine weitere Perspektive hat hier die Romantik eröffnet, und es ist so in Parallele mit der Geltendmachung der vergleichenden Methode auf den verschiedensten Gebieten in der »vergleichenden Sprachwissenschaft« ein erster Vorstoß auf der neuen Bahn einer allgemeinen Wissenschaft von der Sprache erfolgt. Doch für die fortdauernde Vorherrschaft der klassischen Philologie ist es charakteristisch, daß man unter dieser neuen Disziplin fast bis in die neueste Zeit nur eine vergleichende Betrachtung der indogermanischen Sprachen zu verstehen pflegt, so daß zum Teil noch heute der Indogermanist eine Berücksichtigung der übrigen Sprachgebiete, ganz besonders aber der nicht in Literaturen fixierten, bisweilen ablehnt. Diese Einseitigkeit ist gegenwärtig allerdings im Schwinden begriffen, und die umfassendere Aufgabe einer allgemeinen Sprachwissenschaft im Sinne einer auf das Ganze der menschlichen Sprachäußerungen gerichteten Disziplin, für die unter den älteren Sprachen zuerst A. F. Pott ein offenes Auge gehabt hatte, ist wenigstens im Prinzip, wenn auch noch keineswegs in der Wirklichkeit, allmählich zur allgemeineren Anerkennung gelangt. Auch ist es bezeichnend, daß es zunächst nicht ein rein wissenschaftlicher Antrieb gewesen ist, sondern das praktische Bedürfnis des Weltverkehrs, das die Bahn zu diesen neuen Wegen eröffnete. Noch tragen ja das orientalische Seminar in Berlin und das Kolonialinstitut in Hamburg diese praktische Tendenz an der Stirn, und von beiden ist es vorzugsweise das letztere gewesen, das, weil es in höherem Grade auf die Forschung und die Mission unter den primitiveren Völkern Rücksicht nimmt, die Arbeit an einer allgemeinen Sprachwissenschaft im vollen Sinne des Wortes am meisten gefördert hat. Wieder ist es aber hier die deutsche Wissenschaft, der wir vorzugsweise diesen Fortschritt verdanken, der die Vertretung der einschlagenden Sprachgebiete an unseren größeren Universitäten nur noch zu einer Frage der Zeit macht. Man würde jedoch sicherlich fehlgehen, wenn man im Hinblick auf jene von praktischen Bedürfnissen ausgehenden Anfänge meinen wollte, im allgemeinen bleibe bei diesen im ganzen außerhalb der allgemeinen Kultur stehenden Sprachen das praktische Bedürfnis des Missionars, des Forschungsreisenden und allenfalls des Kaufmanns fortan das maßgebende. Daß dieses dem theoretischen Interesse an den Gegenständen der Wissenschaft vorausgeht, ist eine fast überall gültige Regel, und sie trifft vor allem bei solchen Gebieten zu, die wie die Sprache den Charakter eines Werkzeugs besitzen. Auch die griechische Sprache haben die abendländischen Gelehrten der Renaissance nur deshalb mit heißem Begehren zu erwerben gestrebt, weil sie in ihr das Mittel sahen, sich in die geistige Welt des Griechentums zu vertiefen. Erst eine spätere Zeit hat erkannt, daß diese Sprache selbst in ihrem wunderbaren Aufbau ein Kulturgut ist, das in mancher Beziehung den mit ihm zu gewinnenden geistigen Schätzen nicht nachsteht. Nicht anders verhält es sich schließlich, wenn auch in weitem Abstand, mit den Sprachen überhaupt bis herab zu denen der Naturvölker. Sie sind Schöpfungen einer geistigen Entwicklung, innerhalb deren jede Stufe ihre Bedeutung hat und gerade die primitivsten Stufen mit Rücksicht auf die allgemeinsten Entwicklungsprobleme von hervorragendem Werte sein können.

Daß die vergleichende Sprachwissenschaft in ihrer einseitig indogermanistischen Ausbildung diesen Aufgaben nicht gerecht wurde, das ist eine selbstverständliche Folge eben der Einseitigkeit, mit der sie an der Pflege der Spracherzeugnisse der höchsten Kulturvölker festhielt. Auf hypothetische, in Wirklichkeit nirgends vorzufindende Urwörter und von diesen noch weiter auf Wurzeln zurückzugehen, die als Wörter schwerlich existiert haben, hielt man für erlaubt, aber die Sprache selbst sollte nur insoweit der Erforschung wert sein, als sie im ganzen eine durch irgendeine literarische Tradition nachweisbare Geschichte besitze. Demgegenüber gibt es, wie man wohl sagen darf, eine über diesen rein historischen Standpunkt hinausgehende Entwicklungsgeschichte der Sprache erst seit der weiteren Ausdehnung der linguistischen Studien über diese Grenzen und damit eine allgemeine Sprachwissenschaft im eigentlichen Sinne des Wortes. Diese ist aber dann auch Sprachgeschichte und Sprachpsychologie zugleich, so zwar, daß die psychologischen Probleme nicht bloß überall die geschichtlichen begleiten, sondern auch da nicht aufhören, wo es eine geschichtliche Tradition für uns nicht mehr gibt, wo dann aber immerhin auf der Grundlage der allgemeinen Gesetze der Sprache Rückschlüsse auch auf ihre Geschichte möglich bleiben. Im Hinblick auf dieses Verhältnis ist die von der neueren Wissenschaft gepflegte Verbindung der Untersuchungen weit voneinander abliegender Sprachstufen ein mächtiges Werkzeug dieser allgemeinen Sprachwissenschaft geworden. Ein mustergültiges Beispiel solcher Verbindungen sind besonders C. Meinhofs Arbeiten über die Bantusprachen der afrikanischen Völker. Nicht minder bedeutsam ist jedoch das vertieftere Studium der dereinst relativ vernachlässigten, durch ihre geschichtliche Tradition näher in die Kultursprachen hereinreichenden Sprachgebiete geworden. Friedrich Müller's umfangreicher Grundriß der Sprachwissenschaft (1876 bis 1888), der eine Übersicht über einen größeren Teil der menschlichen Sprachen zu geben versucht hat, ist zwar heute in vielen Punkten veraltet, aber das Werk behält das Verdienst, daß es zum erstenmal einen annähernden Überblick über die Hauptstufen der Sprache gibt und auf die Aufgaben hinweist, die hier der Zukunft gestellt sind. Noch mehr sind jedoch einzelne monographische Bearbeitungen der auf der Grenze zwischen Natur- und Kultursprachen stehenden Sprachgebiete für die historische und vielleicht noch mehr für die psychologische Seite der Sprachentwicklung von hervorragender Bedeutung. Besonders das weite Gebiet der sogenannten uralaltaischen Sprachen enthält hier einen wahrscheinlich noch lange nicht zureichend ausgeschöpften Stoff für die Untersuchung einer Fülle mannigfach differenzierter Entwicklungsstufen von Sprachformen, die jenseits der uns geläufigen Sprachen liegen, aber eben deshalb oft ein überraschendes Licht auf die allgemeineren Gesetze und die Mannigfaltigkeit der Sprachentwicklung überhaupt werfen. Ich bekenne, in dieser Beziehung aus Boethlinck's Buch über die Sprache der Jakuten gerade für die Psychologie der Sprache vieles gelernt zu haben. Es ist eine Sprache ohne Literatur, aus der persönlichen mündlichen Tradition geschöpft, aber sie zeigt uns einen Sprachstamm auf einer Entwicklungsstufe, die in den dem gleichen Gebiet angehörenden Kultursprachen, wie z. B. dem Magyarischen, zum Teil nur noch in einzelnen Resten erhalten geblieben ist. Was den Wert solcher uns völlig fremder Idiome in psychologischer Beziehung erhöht, das ist übrigens ebenso häufig der Unterschied wie die Übereinstimmung ihres Aufbaues gegenüber den uns geläufigen und darum manchmal fälschlicherweise für logisch notwendig gehaltenen Sprachformen.

Von den nahezu die Gesamtheit der Geisteswissenschaften umfassenden Gebieten ist es darum offenbar die Sprachwissenschaft, die auf ihrem eigenen Boden durch die heute über ihre ursprünglichen Grenzen weit hinausgeschrittene Pflege der vergleichenden Methode der Psychologie am meisten vorgearbeitet hat. Hier sind vielfach die psychologisch wichtigsten Ergebnisse geradezu mit Händen zu greifen, für welche dann der Psychologie nur die Einordnung in die Gesamtheit der psychologischen Entwicklungsgesetze als die Hauptaufgabe übrig bleibt. Um so merkwürdiger ist es, daß gerade die Sprachwissenschaft in den älteren völkerpsychologischen Untersuchungen wenig Beachtung gefunden hat. Selbst von Steinthal kann dies gesagt werden, der hier den Schwerpunkt seiner völkerpsychologischen Ausführungen durchaus auf Mythos und Religion legte. Zwar hat er das Verdienst, als einer der ersten in seinem noch heute lesenswerten Büchlein über die »Mandenegersprachen« (1867) manche Beobachtungen vorausgenommen zu haben, die wir in neuerer Zeit der zunehmenden Erforschung der Sudansprachen nur in reicherer Fülle verdanken. Aber als er daranging, die allgemeine Psychologie systematisch zu behandeln, da war es vorzugsweise die Psychologie des Kindes neben einer nach Herbart's Vorbild, wenn auch abweichend von diesem aufgebauten psychischen Mechanik, auf die er sich stützte (1871), und in seiner Schule haben diese »Steinthal'schen Formeln« eine Rolle gespielt, die kaum eine fruchtbare genannt werden kann. Man wird aber schwerlich fehlgehen, wenn man diesen Mißerfolg dem Einfluß zuschreibt, den der Anschluß an die durch und durch individualistisch geartete Psychologie Herbart's auf ihn ausübte. Hatte doch Herbart selbst schon in seinen Betrachtungen über den Staat, in denen er die Verhältnisse der Staatsbürger mit den Vorstellungen der individuellen Seele in Analogie brachte, kein brauchbares Beispiel gegeben. Wenn Steinthal, wie er selbst bezeugte, durch seinen Freund Lazarus zum Herbartianismus bekehrt worden ist, so würde er darum vielleicht besser getan haben, Hegel treu geblieben zu sein, dessen Spuren er ursprünglich gefolgt war. Auch kann ich nicht leugnen, daß ich geneigt bin, den Widerstreit zwischen Hermann Paul's neueren sprachpsychologischen Anschauungen und den meinigen zu einem wesentlichen Teil dem Umstande zuzuschreiben, daß die Herbart'sche Psychologie bei Paul immer noch nachwirkt.

Bekennt man sich nicht von vornherein zu irgendeinem psychologischen oder philosophischen System, sondern folgt man unbefangen den sprachlichen Erscheinungen selbst, so scheint es mir daher unzweifelhaft, daß es kein anderes Gebiet geistigen Lebens gibt, das in gleichem Grad ein zusammenhängendes Ganzes bildet wie die Sprache, und daß es zwar auch bei ihr an Mischungen heterogener Einflüsse, wie sie vor allem die eigentlichen Sprachmischungen erkennen lassen, nicht fehlt, daß aber diese doch gegenüber dem einheitlichen Aufbau und den wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Erscheinungen verhältnismäßig zurücktreten. Das ist um so bemerkenswerter, als sie besonders in ihrer jenseits der Literatursprachen liegenden Entwicklung nicht selten unabhängig von äußeren Einflüssen ist und gerade dann eine spezifische Eigenart an sich trägt, in der sie anderen Sprachen verwandt sein kann, immer jedoch dabei ihre Eigenart bewahrt. Man kann darum wohl sagen, jede Sprache repräsentiere eine nur ihr eigentümliche Gestaltung des menschlichen Denkens. In nichts offenbart sich dagegen die Verkehrtheit, Grammatik und Logik miteinander in eine feste innere Beziehung zu bringen, deutlicher als in dieser Tatsache. Auch würde es verfehlt sein, zu sagen, jede Sprache besitze ihre eigene Logik. Der Aufbau des menschlichen Denkens, den sie erkennen läßt, ist ein rein psychologischer. Es würde natürlich in abstracto denkbar sein, daß sich auch aus beliebigen anderen statt aus unseren indogermanischen Sprachen, die für die Entwicklung der aristotelischen und in ihrem Gefolge der gesamten neuen Logik maßgebend gewesen sind, eine Logik entwickelt habe, wie z. B. aus der chinesischen oder indischen, bei denen dies wirklich bis zu einem gewissen Grade zugetroffen ist, aber diese Logik würde doch in wesentlichen Punkten eine andere gewesen sein als die unsere, deren Bedeutung eben darin besteht, daß sie für die Wissenschaft maßgebend geworden ist.

Es ist hier nicht der Ort, die Gebiete der Völkerpsychologie, wie sie nach ihren wesentlichen psychologischen Richtungen in den sechs Büchern meines Werkes behandelt worden sind, auch nur im Umriß zu kennzeichnen. Nur einiger Hauptergebnisse mag gedacht werden, welche die Stellung, die hier der Psychologie der Sprache zukommt, ins Licht stellen. Als im März 1900 der erste die Sprache behandelnde Teil erschien, konnte ich namentlich auf zwei weitverbreitete Wortklassen hinweisen, die gegen die Ansicht vieler Indogermanisten von der allgemeinen Bedeutungslosigkeit der Sprachlaute eintreten: die Artikulationslaute und die Lautmetaphern. Die Beispiele mußten damals noch aus einer großen Zahl von Vokabularien zusammengetragen werden. Heute besitzen wir in den Schriften von Westermann über die Ewesprachen (1905 und 1907) eine Quelle, die eine solche Fülle namentlich von Lautmetaphern mit sich führt, daß diese niemand mehr für ein bloßes Werk des Zufalls halten wird. Kennzeichnender noch für den Geist der Sprache sind die verschiedenen Stufen, in denen uns die Entwicklung der Kasus-, der Verbal- und schließlich der Satzformen entgegentritt. Von den primitiven Sprachen an, die nur indifferente Nominalformen, also eigentlich nur Wörter für Gegenstände besitzen, über solche, die, wie die turanischen, zahlreiche Kasusformen mit den verschiedensten konkreten Bedeutungen entwickelt haben, bis schließlich zu den diese in ein beschränktes und relativ abstraktes System zusammenfassenden indogermanischen bietet sich uns eine fast unerschöpfliche Mannigfaltigkeit. Wie verschieden die Sprache in ihren Verbalformen die Vorstellungen von Zuständen und Tätigkeiten ausdrückt, dafür besitzen wir in dem Verhältnis der indogermanischen zu den semitischen schon altbekannte Beispiele, die sich in anderen Gebieten noch in der mannigfaltigsten Weise wiederholen usw. Jede abweichende Form der Sprache repräsentiert aber sichtlich zugleich eine eigenartige Form des Denkens. Hier bietet sich uns daher das wirkliche Material einer Psychologie des Denkens, das von einigen Psychologen auf dem gänzlich verkehrten Wege jener »Ausfrageexperimente« gesucht worden ist, bei denen man beliebige Individuen auf ihre zufälligen Selbstbeobachtungen examinierte. Man ist eben dabei an der wirklichen Quelle des menschlichen Denkens, die durchaus dem gemeinsamen Denken angehört, vorübergegangen, um sich an das zufällige individuelle Denken zu wenden. Es wiederholt sich also gewissermaßen der Irrtum jener naiven alten Sprachtheorie, die jede Sprache für die Erfindung eines einzelnen Menschen hielt. Gerade hier, auf dem Gebiet der Sprache, liegt aber, wie niemandem, der einmal den Ergebnissen einer wirklichen allgemeinen Sprachwissenschaft nähergetreten ist, zweifelhaft sein kann, der Schatz verborgen, der gehoben werden muß, wenn wir in den Besitz einer wahren psychologischen Entwicklungsgeschichte der zusammengesetzteren Vorgänge des Denkens gelangen sollen. Je mehr wir uns jedoch diesem Ziel auch nur von ferne nähern, um so deutlicher erkennen wir heute schon, daß gleichwohl jene elementareren Prozesse der Sinneswahrnehmung, wie sie sich uns in den einfachen Assoziations- und Apperzeptionsakten, den Gefühls- und Willensvorgängen des individuellen Bewußtseins darbieten, so auch in den psychischen Vorgängen des gemeinsamen Lebens wiederkehren, so daß nun nicht minder umgekehrt die Untersuchung dieser komplexen Prozesse als Führerin dienen kann, wo die herkömmliche Assoziationspsychologie zur Interpretation schon der einfacheren Wahrnehmungsvorgänge nicht ausreicht. Das eben ist der Grund, weshalb jene einfachen Erscheinungen des Seelenlebens, mit denen es die experimentelle Psychologie zu tun hat, eine schwer entbehrliche Vorbereitung zur Psychologie der höheren geistigen Vorgänge ist, während diese wiederum auf die einfacheren Erscheinungen ihr Licht werfen. Beide, Individualpsychologie und Psychologie der Gemeinschaft, gehören zusammen, und das Denken in seiner die komplexen Vorgänge des Seelenlebens umfassenden Bedeutung läßt sich ebensowenig aus den Eigenschaften des individuellen Bewußtseins allein ableiten, wie sich etwa der Staat als eine rein individuelle Erfindung begreifen läßt. Zugleich darf aber dabei, wie wiederum besonders die Psychologie der Sprache lehrt, nicht die willkürliche logische Rekonstruktion der Vorgänge an die Stelle einer wirklichen Psychologie treten. Das tatsächliche Denken, das sich uns in der Mannigfaltigkeit seiner sprachlichen Ausdrucksformen darbietet, ist eben nicht weniger unmittelbare Wirklichkeit wie die einfachste Sinneswahrnehmung. Es folgt gleich dieser trotz seiner Vielgestaltigkeit psychologischen Gesetzen, und es kümmert sich nicht um die Normen, welche die Wissenschaft in der Logik als die besonderen Gesetze des richtigen, zu Erkenntniszwecken geeigneten Denkens festgestellt hat.

Von der Kunst hegt man nicht selten die Meinung, sie stehe am entgegengesetzten Ende der Reihe menschlicher Geisteserzeugnisse, die sich von der Sprache als der ausgesprochensten Gemeinschaftsbildung an bis zu den rein individuellen Schöpfungen erstrecke. Gleichwohl ist dies nach beiden Richtungen ein Irrtum. In irgendeinem Grade greift mehr oder minder der einzelne in die Entwicklung der Sprache ein, ebenso wie die Sprache als Ganzes nur insofern existiert, als sie fortwährend in den einzelnen ihre Träger hat. Nur darin liegt allerdings ein bezeichnender Unterschied, daß das einzelne Kunstwerk von Anfang an ein zusammengesetzteres Gebilde ist als die einzelne Sprachäußerung. Dennoch entwickelt es sich nicht minder nach übereinstimmenden Gesetzen, die in oft überraschender Weise und in ihren Grundzügen sogar in viel weiterer Ausdehnung als die Sprachäußerung sich über zahlreiche Völker erstrecken, ja schließlich vielleicht der ganzen Menschheit gemeinsam sind. Bild und Ornament sind in der sogenannten bildenden Kunst die beiden letzten Bestandteile, die sich auf die Zeichnung als die einfachste künstlerische Tätigkeit zurückführen lassen, wobei freilich das Wort Ornament in seiner allgemeinsten Bedeutung falsch ist, weil man es einer Stufe der Kunst entnommen hat, die über seine ursprüngliche, bei den primitiven Völkern verbreitetste Form weit hinausgeht. Der Primitive zeichnet vorzugsweise schematische, nicht selten unseren geometrischen Ornamenten ähnliche Figuren, denen er schwerlich überall zugleich eine bildnerische Bedeutung beilegt; denn außer ihnen pflegt er auch, wenngleich spärlicher, Bilder zu zeichnen, die unverkennbar irgendwelche Gegenstände nachahmen. Beide Formen künstlerischer Produktion sind aber in den verschiedensten Regionen der Erde bei Naturvölkern von sonst weit abweichender Kultur von geradezu überraschender Ähnlichkeit. Dasselbe gilt für weit voneinander entfernte Zeiten, für Gebiete also, in denen die Sprachen die äußersten Abweichungen darbieten, abgesehen etwa von den Artikulationslauten und Lautmetaphern, die auf jener allgemeingültigen Beziehung zwischen den Ausdrucksbewegungen und den seelischen Stimmungen des Menschen beruhen, wie sie uns auch in dem Tanz und in den übereinstimmenden rhythmischen Gesetzen begegnen, die alle seine Bewegungen beherrschen.

Je mehr die Erzeugnisse und Richtungen des geistigen Lebens in seinen zunächst an die körperlichen Bedürfnisse gebundenen und dann sich allmählich über diese erhebenden Formen in das Ganze der Kultur eingreifen, um so mehr differenzieren sie sich nun natürlich innerhalb der einzelnen Völkergebiete, wie ich das in dem dieses Ganze der Kultur zusammenfassenden letzten Band meiner Völkerpsychologie zu zeigen versucht habe. Nichtsdestoweniger sind es auch hier wieder die primitiveren Zustände, die weitgehende Übereinstimmungen in den verschiedensten, aller Wahrscheinlichkeit nach auch voneinander völlig unabhängig zu ihrem heutigen Zustand entwickelten Kulturgebieten zeigen. Man denke nur an Begriffe wie Animismus, Fetischismus, Totemismus und viele andere oder an die oft wunderbaren Übereinstimmungen, die zwischen weit entlegenen religiösen Vorstellungen vorkommen, zwischen denen ethnologische oder gar genealogische Beziehungen, wie z. B. zwischen dem mexikanischen und dem babylonischen Mythus, durchaus nicht nachzuweisen sind. Um so mehr pflegen dann aber die allgemein menschlichen psychologischen Bedingungen auf der Hand zu liegen.

Gegenüber diesen Übereinstimmungen, die in den Gebieten des Mythus vorherrschen, dessen frühestes Ausdrucksmittel die Kunst ist, bietet endlich die Organisation der menschlichen Gesellschaft auf ihren verschiedenen Stufen ein Bild reicher Differenzierung. An ihm sind die während einer noch nicht lange verflossenen Zeit gemachten Versuche allgemeingültige Ausgangspunkte, wie das sogenannte Mutterrecht, die totemistische Exogamie u. a. nachzuweisen, jetzt im Hinblick auf eine gründlichere ethnologische Forschung als gescheitert zu betrachten. Um so augenfälliger tritt hier eine zweite Tatsache hervor, die in gewissem Sinn als eine nach der entgegengesetzten Seite liegende Übereinstimmung betrachtet werden kann. Sie besteht darin, daß uns weitgehende Differenzierungen in manchen Regionen der Erde oft dicht nebeneinander begegnen, die gleichwohl als Zeugnisse einer zusammenhängenden Entwicklungsreihe erscheinen. Gerade hier hat daher unsere heutige Erkenntnis nicht selten mit veralteten schematischen Vorstellungen aufgeräumt, die nicht zum geringen Teile darauf beruhten, daß man namentlich die geläufigen und bis zu einem gewissen Grade freilich überall anwendbaren Begriffe der Staatsformen schablonenhaft über die Völker verteilte. Wie z. B. der Typus des Negers vor noch nicht langer Zeit die mannigfaltigsten Mischungen und Übergänge der afrikanischen Rassen- und Völkertypen verdrängte. So ist das Bild des despotischen Neger- und Sklavenstaates noch immer für den ganzen dunklen Kontinent das vorherrschende geblieben. Dennoch zeigt gerade Afrika ein Nebeneinander politischen Lebens, in welchem sich im Grunde die ganze Geschichte des Staates in seinen mannigfaltigen Gestaltungen wiederholt. Neben der allerdings weit verbreiteten despotischen Monarchie treffen wir hier Übergangsformen zwischen ihr und oligarchischen Einrichtungen und von diesen aus wieder, wie im Togogebiet, Verfassungen, die eine gewisse Analogie mit unseren Bundesverfassungen oder konstitutionellen Monarchien nicht verleugnen. Dabei sind es sichtlich Mischungen der Völker, Wanderungen, bei denen, wie im Wagandagebiet, verschiedene Stämme von abweichender Kultur einander verdrängt haben, endlich nicht zum geringsten Teil kriegerische Verwicklungen oder umgekehrt friedliche Handelsbeziehungen, die diese verschiedenen Zustände bestimmen. Nach einer anderen Richtung tritt uns eine solche Differenzierung in den ozeanischen Gebieten entgegen, in denen sich namentlich in der Inselwelt Polynesiens die Spuren einer innerlich tiefgehenden, aber für unsere Beobachtung zumeist längst verschwundenen Geschichte der Kultur verraten. Für die Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens liefert so die Psychologie der Völker ein so überreiches und doch wieder in seinen allgemeinsten Zügen übereinstimmendes Bild, daß man wohl heute schon sagen kann, die Psychologie der Gesellschaft stehe hier der Geschichte der Kulturvölker als eine überaus reiche Quelle von vielleicht gleichem Wert gegenüber. So faßt sich in der Psychologie von Staat und Gesellschaft schließlich als in einem besonders eindrucksvollen Beispiel zusammen, was uns die Völkerpsychologie in den Erscheinungen des gemeinsamen Lebens, Sprache, Kunst, Mythus und Religion, als allgemeinstes Ergebnis vor Augen führt: Sie ist auf allen Gebieten der Kultur ein ebenso unwiderlegbares Zeugnis der Mannigfaltigkeit des geistigen Lebens, wie in den von ihr durchforschten Erscheinungen immer und immer wieder die Einheit des menschlichen Geistes in seinen allgemeinen Anlagen und Strebungen zum Ausdruck kommt.


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