Wilhelm Wundt
Erlebtes und Erkanntes
Wilhelm Wundt

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4.

Baden nach der Reaktion der fünfziger Jahre. Verhältnisse des allgemeinen bürgerlichen zum politischen Leben. Die Arbeiterbildungsvereine. Populäre Vorträge in deutschen Kleinstädten. Die Arbeiterbildungsvereine und die Anfänge der Sozialdemokratie. August Bebel und Karl Biedermann als Vereinsgenossen. Der badische Landtag. Die liberale badische Gesetzgebung seit 1860. Die Parteien in Süddeutschland um 1860. Das Jahr 1866. Die badische Fortschrittspartei. Eine badische Ministerkonferenz. Reden von Mohl und Blutschli im Mai 1866. Der deutsche Abgeordnetentag in Frankfurt a. M.. Umwälzung der Volksstimmung nach Königsgrätz. Interpellation über das badische Triasprojekt im Oktober 1867. Die Lage Badens nach 1866. Mathys Tod.

Wenn für die meisten Menschen die Regel gilt, daß ihr Leben mehrere unabhängig nebeneinander hergehende Lebensläufe umfaßt, so gibt es wohl kein Gebiet, für das diese Regel in ausgesprochenerem Maße zutrifft als für das gleichzeitig auf wissenschaftlicher Arbeit gegründete Berufsleben und das in Gemeinde-, Vereins- und politischen Interessen sich bewegende öffentliche Leben. Man ist geneigt, private, Berufs- und öffentliche Beschäftigungen im allgemeineren Sinne als solche nebeneinander bestehende Lebenskreise zu unterscheiden; aber ich möchte glauben, daß die Beziehungen zwischen ihnen doch im allgemeinen engere sind als die sonst zwischen individuellem Beruf und gemeinschaftlichem Interesse bestehenden. Das beweist schon der Umstand, daß es keinen Menschen gibt, der nicht mit seinen persönlichen Angelegenheiten zugleich inmitten gesellschaftlicher Beziehungen im allgemeineren Sinne steht, während es, wie schon oben bemerkt, zahlreiche Menschen gibt, die öffentliche Interessen, insondere politische, überhaupt nicht besitzen. Um so mehr können sie, wo solche vorhanden sind, unabhängig nebeneinander bestehen. Für dieses Nebeneinander bietet vielleicht das Land Baden unter den kleineren deutschen Staaten die zahlreichsten Beispiele, und die politische Vergangenheit des Landes dürfte an diesen gegenüber dem übrigen Deutschland zweifellos etwas regsameren politischen Interessen wesentlich beteiligt sein. Wer, wie es mir begegnet ist, von Kind auf eine Reihe von Umwälzungen mitgemacht hat, von der Dorfrevolution bis zur Gründung des neuen Deutschen Reichs und darüber hinaus, dem werden die Erinnerungen an diese Ereignisse nicht so leicht aus dem Gedächtnis verschwinden, und sie haben die natürliche Tendenz, sich zu verbinden. So würde jene Dorfrevolution schwerlich in meinem Gedächtnisse haften geblieben sein, wenn mich nicht die Revolutionen von 1848 und 1849 und schließlich mit ihnen die politischen Wandlungen der späteren Tage immer wieder daran erinnert hätten. Infolge dieser inneren Verwandtschaft der sonst noch so weit abliegenden Ereignisse ist es aber doch das politische Leben, das eine solche Kontinuität vor anderen zustande bringt, so daß dieses in der eigenen Erinnerung als eine Art Sonderleben sich ausscheidet. Darum würde meine politische Vergangenheit vielleicht mir selbst als eine Irregularität erscheinen, wenn ich mir nicht bewußt wäre, daß sie einen für sich bestehenden Zusammenhang bildet. Mag es daher manchem Leser dieser Lebenserinnerungen sonderbar vorkommen, daß ich mit Dingen beginne, die mit meinem sonstigen Leben scheinbar sehr wenig zu tun haben, und daß ich sie zunächst als einen für sich bestehenden Inhalt herausgreife, so wüßte ich mir doch nicht anders zu helfen, wenn ich nicht eine Seite dieser Erinnerungen verschweigen sollte, die mir lebendiger als vieles andere im Gedächtnis erhalten geblieben ist. War mir doch das Schicksal beschieden, daß mich das gewohnte Nebeneinander verschiedener Leben-sinteressen für mehrere Jahre zu einem Berufswechsel führte, an dem, wie ich vermute, meine politischen Jugendeindrücke nicht unbeteiligt gewesen sind.

Es war keine sonderlich hervorragende Rolle, die mir in dem öffentlichen Leben meiner Heimat beschieden war. Aber es war eine Zeit, in der nach einem fast ein Jahrzehnt dauernden politischen Stillstand eine neue Bewegung sich der Geister bemächtigte. Diese Zeit begann für das Land Baden nach der Reaktion der fünfziger Jahre mit einer das ganze Land ergreifenden, durch ein von der damaligen Regierung mit der Kurie abgeschlossenes Konkordat hervorgerufenen liberalen Strömung, die für mich mit den ersten Jahren meines akademischen Dozententums zusammenfiel und an die mich in mancher Beziehung die heutigen Volkshochschulbestrebungen zurückerinnern. Ich war damals zum Vorsitzenden des Heidelberger Arbeiterbildungsvereins gewählt worden. Auch hatte ich mich außer zu Lehr- und allgemeinen Bildungsvorträgen in diesem Verein mit einer Anzahl gleichaltriger Kollegen zu Vorträgen vereinigt, die von uns vor der Bürgerschaft verschiedener Städte gehalten wurden mit der Bestimmung, den Ertrag für den Bau eines Arbeiterhauses zusammenzubringen. Unter meinen Kollegen waren es hauptsächlich Moritz Kantor, der Mathematiker, August Thorbecke und Wilhelm Wattenbach, die beiden Historiker, die sich an diesen Wintervorträgen beteiligten. Die planmäßigere Organisation der Wandervorträge in Deutschland gehört wohl erst einer etwas späteren Zeit an, aber ein bescheidener Vorläufer in dieser Richtung war immerhin unser Unternehmen. Ich erinnere mich namentlich zweier dieser Vorträge, von denen ich den einen in Pforzheim, den anderen in Baden-Baden gehalten habe. Sie sind mir im Gedächtnis geblieben, weil sie mich belehrten, daß bei solchen Vorträgen vor den gebildeten Kreisen kleinerer Städte die Interessen, die diese Kreise beschäftigen, nicht immer mit denjenigen zusammenfallen, die in der Wissenschaft die gerade vorherrschenden sind. In Pforzheim redete ich »Über die Erhaltung der Kraft«. Als ich in das Auditorium kam, war ich erstaunt, vor meinem Katheder eine Menge alter Leute, Männlein und Weiblein, versammelt zu sehen. Als ich dann nach dem Vortrag von einem mir bekannten Herrn angeredet wurde, der mir seine Zweifel darüber aussprach, ob die Sonne, wie nach meiner Behauptung Herr Robert Mayer meine, eine so große Quelle der Kraft sei, denn er selbst sitze sehr gern in der Sonne, habe aber von einer Zunahme seiner Kraft noch nicht viel gefühlt, da merkte ich, daß er erwartet hatte, Ratschläge zu hören, wie man es am besten anfange, jung zu bleiben, und daher, so gut es ging, das physikalische Thema in eine praktische Lebensregel umzudeuten versuchte.

In der Stadt Baden, die, nachdem die Badegesellschaft vorübergeflutet war, im Winter zum Anhören von Vorträgen über neueste Entdeckungen gerne bereit war, hielt ich einen Vortrag über die Darwinsche Theorie. Sie beschäftigte damals unter dem ersten Eindruck der Schriften Häckels sehr lebhaft die Gelehrtenwelt. Aber in die gebildete Gesellschaft Badens, die im Winter ein ziemlich stilles Dasein führte, war davon noch kaum etwas gedrungen. Als ich daher in dem Hörsaal, der mir zur Verfügung gestellt wurde, verschiedene Bilder von Embryonen, namentlich auch solcher früher Lebenszustände von Affen und Menschen auspackte, um sie als Demonstrationsobjekte an der Wand aufzuhängen, fuhr der mich begleitende Leiter der Badener Wintervergnügungen entsetzt zurück. Solche Bilder, meinte er, verbiete der Anstand, namentlich in der Anwesenheit von Damen. Dagegen half nichts, ich mußte meine Figuren wieder einpacken und mich damit begnügen, ihren Inhalt mündlich im Vortrag anzudeuten.

Aus dem Plan, den Ertrag dieser Vorträge zum Bau eines Arbeiterhauses zu verwenden, ist freilich nichts geworden, weil sich die Mitglieder des Arbeiterbildungsvereins im Lauf der Jahre nach allen Winden zerstreuten und die später an die Stelle solcher Vereine getretenen Arbeitergenossenschaften neue Wege einschlugen, auf denen sie von ihren anfänglichen bürgerlichen Führern nichts mehr wissen wollten. Dieser Übergang von den Bildungs- zu den Arbeitervereinen vollzog sich mit dem Auftreten der großen Agitatoren Ferdinand Lassalle und Karl Marx. Er vollzog sich so schnell, daß die Arbeiterversammlungen dieser verschiedenen Richtungen gelegentlich noch nebeneinander tagten, um freilich bald in einen allmählich erbitterter werdenden Kampf zu geraten. Manche meiner Freunde haben den Anfang dieses Übergangs als einen Zustand des Friedens, nicht zwischen Arbeitern und Arbeitgebern, wohl aber im Sinne der Ausgleichung der Klassengegensätze gepriesen. Als ein solcher konnte er um so mehr vom Standpunkt des späteren Gegensatzes aus erscheinen. Besonders als die Tagungen der Bildungsvereine unter Beteiligung Hunderter von Mitgliedern des Arbeiterstandes, von Akademikern und von weiteren Kreisen der gebildeten Klassen stattfanden, und vollends als solche Arbeiterversammlungen gelegentlich aus einer großen Zahl deutscher Städte besucht wurden, schien eine glänzende Zeit für den Zustand deutscher Bildung angebrochen zu sein. Dabei war es ein charakteristischer Zug dieser Vereinigung, daß anfänglich politische Gegensätze gar keine Rolle spielten. So entsinne ich mich einer Zusammenkunft von Vorständen über ganz Baden zerstreuter Arbeiterbildungsvereine, der aus einem Freiburger Landesgerichtsrat, einem Pforzheimer Gymnasialdirektor, einem späteren Mannheimer Sozialdemokraten und mir selber bestand, während ihr außerdem der auf der Durchreise befindliche Begründer der Frankfurter Zeitung angehörte. Eine ungleich größere Zahl von Mitgliedern aus Bürger- und Arbeiterkreisen vereinigte etwa um das Jahr 1863 eine große, hauptsächlich aus Württemberg und Baden gekommene Versammlung, deren Mitglieder teils dem Bürger- teils dem Arbeiterstand angehörten und auf der ich das einzige Mal in meinem Leben den damals als Professor der »Induktiven Philosophie« in Zürich lebenden Albert Lange, den Verfasser der Geschichte des Materialismus, kennen gelernt habe. Es war vielleicht der einzige Fall, in welchem diese Bestrebungen meiner Jugend auf mein späteres wissenschaftliches Leben eingewirkt haben. Denn ich habe Grund, zu vermuten, daß meine mehrere Jahre später erfolgte Berufung nach Zürich nicht der dortigen Fakultät, sondern dem zuvor nach Marburg berufenen Albert Lange, der bei der Schweizer demokratischen Regierung ein großes Ansehen genoß, ihren Ursprung verdankt. Noch entstammt endlich dem Verkehr dieser Arbeiterbildungsvereine in einem besonders wichtigen Fall, der einen großen Teil dieser Vereine nach Leipzig rief, lange ehe ich selbst diese meine jetzige Wohnstätte gesehen hatte, ein Briefwechsel, der den Kontrast dieser Anfänge mit ihren späteren sozialen und politischen Abwandlungen in ein helles Licht setzt. Ich hatte die Vertretung einer Anzahl badischer Vereine bei einer Versammlung in Leipzig übernommen, war aber dann verhindert, die Reise zu unternehmen, und ich wandte mich darum an den Vorsitzenden des Leipziger Vereins, der damals als Drechslermeister hier lebte, August Bebel. Darauf nannte mir Bebel als einen geeigneten Vertreter den Professor Karl Biedermann, der den Auftrag gern übernehmen und sich dazu besonders eignen werde. Die Zeit dieses Friedens war freilich kurz. In dem Augenblick, wo Ferdinand Lassalles Agitationsreden begannen, führten die Bildungsvereine in den meisten Städten nur ein dürftiges Leben weiter oder die Arbeiter zogen es vor, sich selbständig zu machen. An die Stelle der Spaziergänge auf den Heidelberger Königsstuhl, den der Arbeiterbildungsverein in der Nacht des l. Mai unternommen hatte, traten im Lauf der Zeit die großen Tagesumzüge am l. Mai, zu denen sich bald die Proklamierung dieses Tages zum allgemeinen Arbeiterfeiertag gesellte.

Vom Vorsitzenden des Bildungsvereins zum Mitglied der Ständekammer war in jenen Tagen der beginnenden sechziger Jahre kein allzu großer Schritt. Es war eine Zeit, in der unter dem Einfluß des Streites um das badische Konkordat Volksversammlungen stattfanden. Aus Anlaß einer Rede, die ich bei einer solchen in Offenburg gehalten hatte, stellte mich eine Anzahl von Freunden und Bekannten als Kandidaten der zweiten badischen Kammer für die Stadt Heidelberg auf, während die bekannte Pfälzer Leichtherzigkeit es fertig brachte, daß ein bereits sicher zum Deputierten ausersehener Mitbürger unerwarteterweise nachträglich durchfiel. Ich brachte von nun an etwa 4 Jahre in Karlsruhe zu, wo ich großenteils im Kreise der allen möglichen Ständen vom Landmann bis zum Beamten und Advokaten angehörenden Landtagsabgeordneten verkehrte. Ein größerer Kreis, dem der Minister August Lamey und die beiden Führer der damals sogenannten Fortschrittspartei, Karl Eckhart und Friedrich Kiefer, angehörten, versammelte sich täglich mit etwa einem Dutzend weiterer Deputierter an der Mittagstafel des Darmstädter Hofs, während die Abende meist zu Kommissionssitzungen oder anderen Arbeiten beistimmt waren. Das badische Gesetzgebungswerk war in ein beschleunigtes Tempo geraten. Es war in jenen Jahren inspiriert von dem genialen Lamey, der soeben von der Stellung eines Freiburger Professors zum leitenden Staatsmann berufen war und ein gewaltiges Reformwerk während weniger Jahre bewältigte. Eine neue Verwaltungsorganisation, ein Polizeistrafgesetzbuch, ein Gesetz über die bürgerliche Gleichstellung aller Staatsbürger ohne Unterschied der Religion, ein Niederlassungsgesetz, später ein Gesetz über die Aufhebung der akademischen Gerichtsbarkeit, mit dessen Kommissionsbericht ich selber beauftragt war, wurden geschaffen. Die Beratung über dies letztere Gesetz bot ein Kuriosum, das vielleicht mit der wahrscheinlich in die Anfänge der badischen Verfassung zurückreichenden akademischen Sitte des zwischen allen Abgeordneten geltenden vertraulichen Du und Du zusammenhing. Es bestand darin, daß bei der Beratung dieses Gesetzes die sonst bestehenden Parteien völlig aufgehoben und durch neue ersetzt waren: die Kammermitglieder, die dereinst Korpsburschen gewesen waren, bildeten nämlich eine kleine, gegen das Gesetz stimmende Minorität, während alle anderen selbstverständlich ihm zustimmten. Schließlich entstand als das wichtigste ein Gesetz, das die Verhältnisse zwischen Staat und Kirche regelte, und ein umfassendes Schulgesetz, das die Volksschulen auf einen neuen Boden stellte, indem es den ganzen Organismus derselben in den Kreisschulräten der Schule selbst entnahm und der geistlichen Schulaufsicht ein Ende machte. An den lang dauernden Kommissionsberatungen über dieses letztere hatte ich ebenfalls teilzunehmen. Dieses neue Schulgesetz hat es bewirkt, daß im Lauf der nächsten Jahre in einzelnen Städten die Volksschule von selbst zur Einheitsschule wurde, indem viele Eltern ihre Kinder wenigstens in den niederen Klassen in die Volksschule schickten, ein Brauch, der übrigens, wie mein eigenes Beispiel zeigt, für die Einwohner der ländlichen Bezirke lange schon vorher bestand. Aber hatte in früherer Zeit dies nur ausnahmsweise gegolten, so war es immerhin die städtische Schule, die dies jetzt zum erstenmal Da und Dort erlebte, und ich halte es nicht für unmöglich, daß sich diese Gewohnheit fortgesetzt und befestigt haben würde, wenn nicht in der Folgezeit die in diesen Gegenden in ihren Anfängen erst um 1870 sich regende und vollends erst 1875 endgültig konstituierte sozialdemokratische Partei diesen Frieden gestört und damit auch die Schule wieder in ihren früheren Zustand zurückgeworfen hätte. Welche Umstände in Süddeutschland gegenüber den Wandlungen jenseits der Mainlinie den Übergang der alten harmlosen Bildungsvereine in sozialdemokratische Arbeitervereine verzögert haben, steht dahin. Die im ganzen bessere Lage der Arbeiter sowie die in den unteren und mittleren Teilen Badens nicht seltene Erscheinung, daß der auf einem kleinen Acker sitzende Bauer zugleich in der benachbarten Fabrik oder Stadt als Industriearbeiter tätig ist, mag das meiste dazu beigetragen haben. Auch wird wohl die größere Blüte, die sie in Süddeutschland erlebt haben, immerhin die Bildungsvereine hier etwas längere Zeit in dem Stadium festgehalten haben, das die Vereine der nördlichen Länder schon längst überschritten hatten. Ebenso mag der demokratischere und darum zur Ignorierung der Klassenunterschiede geneigtere Charakter des Süddeutschen dabei eine gewisse Rolle spielen.

Mehr als ein ausgeprägtes Standesbewußtsein fehlte aber dem Süddeutschen von damals ein fest bestimmtes Nationalbewußtsein. Als Deutscher fühlte sich jeder, aber ob Preußen oder Österreich als die deutsche Vormacht anzusehen sei, darüber herrschte große Unsicherheit, und die Mehrzahl der Bevölkerung stand wohl auf österreichischer Seite. Auch gingen die Sympathien naher Freunde und Verwandter manchmal weit auseinander. In dieser zweifelhaften Lage hatte die Kammer der Landstände durch die Rückwirkung, die sie auf weitere Kreise übte, eine nicht geringe Bedeutung, und vom Tag von Königgrätz an standen die führenden Mitglieder der Landstände, in der ersten Kammer Bluntschli, in der zweiten Eckhart und Kiefer, entschieden auf preußischer Seite. Diese feste Haltung der Volksvertretung trug aber wesentlich dazu bei, der übrigen Bevölkerung die gleiche Haltung mitzuteilen, soweit nicht konfessionelle Gegensätze entgegenwirkten. Das war jedoch in den beginnenden sechsiger Jahren verhältnismäßig wenig der Fall, da hier die liberale Gesetzgebung Lameys alle Kreise mitgerissen hatte. Charakteristisch dafür ist der gewaltige Wandel der Parteiverhältnisse, der sich in der badischen Kammer in den Jahren von 1860 bis 1870 und nach 1870 vollzog. In dem ersten dieser Jahrzehnte zählte die katholische Partei in der zweiten badischen Ständekammer zwei Mitglieder unter im ganzen 65. Der eine war ein Kaufmann, der andere ein Mitglied des obersten Gerichts. Beide repräsentierten charakteristisch verschiedene Typen der sogenannten ultramontanen Partei. Der Kaufmann verkündete seine Gesinnung in tunlichst schwarzer Färbung. Von dem Richter, der sehr lange Reden hielt, behauptete man, er rede gemäßigt bis zu dem Moment, wo die Kammerkollegen vor dem Strom seiner Rede in die Vorhalle geflüchtet waren. Diese Situation, die den Kampf gegen die Ultramontanen zu einer harmlosen Beschäftigung gemacht hatte, veränderte sich gewaltig nach dem Jahre 1870: jetzt hatte sich das Verhältnis derart gewandelt, daß die ultramontane Partei so lange die absolute Majorität hatte, bis das oben erwähnte Wahlkartell der Liberalen und Sozialdemokraten zustande gekommen war.

Anders standen die Dinge im Anfang des ereignisreichen Sommers 1866. Hier war die allgemeine Stimmung gegen Bismarck und außerhalb Preußens gegen Preußen gerichtet, die man als die Urheber der schleswig-holsteinischen Verwicklungen und der aus ihnen entsprungenen Kriegsgefahr ansah. Selbst die preußischen Städte mit einziger Ausnahme Breslaus und das preußische Abgeordnetenhaus erhoben laute Proteste gegen einen deutschen Bruderkrieg, und in den nichtpreußischen Staaten entstand eine lebhafte Bewegung für strenge Neutralität, falls der Krieg zwischen den beiden Großstaaten wirklich ausbrechen sollte. Vor allem im Monat Mai hatte sich diese antipreußische Bewegung auf das äußerste zugespitzt. Auch bestand in der Süddeutschen Bevölkerung von Anfang an aus Anlaß der nahen verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Großherzog und dem preußischen Königshaus ein Verdacht gegen Baden, nach welchem sich dieses in einer schwankenden Lage zwischen seiner Pflicht als Bundesstaat und seiner Hinneigung zu Preußen befinden sollte. Dieser Verdacht, der gelegentlich auch in der Presse seinen Ausdruck fand, war jedoch zweifellos unbegründet. Vielmehr ließ der Großherzog vollkommen frei seine Minister walten, und diese hatte er genau, wie sie der Konflikt der beiden Großstaaten vorgefunden, in ihren Stellungen belassen. Ihre Wahl aber war durch die inneren Verhältnisse des Landes bestimmt gewesen. In dieser Beziehung stand in Baden alles unter dem Einfluß der im Jahr 1860 vorangegangenen Volksbewegung, die durch das mit der Kurie geschlossene Konkordat veranlaßt worden war. Gegen dieses Konkordat waren aus dem ganzen Lande zahlreiche Petitionen eingegangen, die den Großherzog veranlaßten, den leitenden Minister Stengel zu entlassen und den der liberalen Partei angehörigen August Lamey zum Minister des Innern zu ernennen. In der gleichen Zeit konstituierte sich dann die liberale Partei der badischen Kammer nach dem Vorbild der führenden Mehrheitspartei des preußischen Abgeordnetenhauses als »Badische Fortschrittspartei«. Hier kam nun die gegen den Krieg gerichtete Bewegung in einer vertraulichen Beratung zum Ausdruck, zu der das gesamte Ministerium in dieser Zeit eine Anzahl Abgeordneter, zu denen auch ich gehörte, einlud. Dabei bot das Ministerium selbst in seiner Zusammensetzung ein treues Bild der in dieser seit überall in Deutschland herrschenden Ratlosigkeit, aber auch im ganzen einer gegen Preußen gerichteten Stimmung. Das Wort führte der Minister des Auswärtigen Freiherr von Edelsheim. Seine Reden bildeten eine Fortsetzung der Polemik, die er seit vielen Tagen in der solcher Dinge sehr ungewohnten offiziellen Karlsruher Zeitung gegen Bismarck richtete. Diesem Baron von Edelsheim, einem Herrn von überwältigender Körpergröße, dem Bruder eines österreichischen Dragonergenerals, sprach die Überzeugung von dem Recht Österreichs und von der bevorstehenden Niederlage Preußens aus jedem seiner Worte. Um so stiller hielt sich Lamey, der Minister des Innern. Er spiegelte in seinem ganzen Wesen die Verwirrung dieser Stunden; und von ganzem Herzen, in seinem Tun und Wesen ein echter Süddeutscher, hatte er seine großdeutsche Gesinnung in den vorangegangenen Kammerverhandlungen nicht verleugnet. Eine besonders charakteristische Figur war sodann der Finanzminister Vogelsang, der in einem fort versicherte, er könne noch immer nicht glauben, daß es wirklich zum Kriege kommen werde, und der allerdings, als ein an eine lange Friedenszeit gewöhnter Bürokrat ohne politische Neigungen, sich in seinen finanziellen Maßregeln allzu wenig um die bedrohliche Lage gekümmert hatte. Dazu kam als ein weiterer schlechthin bürokratischer Bestandteil der Regierung der Justizminister Stabel, ein bedeutender Jurist, aber spezifisch badischer Politiker, der den sich vorbereitenden Weltereignissen fremd und ängstlich gegenüberstand. Das weitaus hervorragendste Mitglied dieses Ministeriums war endlich Karl Mathy als damaliger Handelsminister, der die Reden Edelsheims und die finanzpolitischen Entschuldigungen seines Kollegen Vogelsang nur durch wenige, meist ironische Bemerkungen unterbrach, im übrigen aber dem Redestrom des österreichisch gesinnten Außenministers freien Lauf ließ.

In den gleichen Tagen spielte sich in der ersten Kammer der Landstände zwischen den beiden ihr angehörigen Staatsmännern, Robert von Mohl, der seinen Posten als Bundestagsgesandter in Frankfurt verlassen hatte, um dieser politischen Aktion beizuwohnen, und Bluntschli, dem Abgesandten der Universität Heidelberg, eine inhaltsreiche Debatte ab, der beide ihre weit voneinander abweichenden Ansichten über die Zukunft aussprachen. Mohl blickte düster in diese. Ein langer, vielleicht jahrelanger Krieg werde die deutschen Staaten in zwei feindliche Lager zwingen, um als wahrscheinlich letzten Erfolg die bleibende Spaltung des deutschen Bundes in zwei feindliche Staatengruppen herbeizuführen. Aus völlig entgegengesetzter Tonart klang Bluntschlis Rede. Mit einer merkwürdigen Voraussicht der Wirklichkeit prophezeite er, dieser Krieg werde der kürzeste sein, den die Welt seit langem gesehen, denn Bismarck sei ebenso den österreichischen Staatsmännern wie die preußische Armee in ihrer musterhaften Disziplin dem buntscheckigen österreichischen Heer überlegen.

Wenige Tage Später, am 20. Mai, trat endlich in Frankfurt a. M. ein deutscher Abgeordnetentag zusammen, um eine laute Kundgebung des gesamten deutschen Volkes gegen den bevorstehenden Krieg zu veranstalten. Im großen Saal des Frankfurter Saalbaues fand sich eine Versammlung von Mitgliedern der Abgeordnetenkammern zusammen, wie sie Deutschland seit den Tagen der Paulskirche nicht wieder gesehen hatte. Die Süddeutschen waren vollzählig, die Mitteldeutschen sehr zahlreich vertreten, und aus Preußen und Norddeutschland waren mehrere Abgeordnete erschienen. Diese Kundgebung gegen den Krieg konnte daher als die eindrucksvollste gelten, die überhaupt stattfand, um so mehr als die Resolution, nach der der drohende Krieg als ein nur »dynastischen Zwecken dienender Kabinettskrieg« verurteilt wurde, noch die mildeste Fassung war, die schließlich Annahme fand, nachdem eine schärfere, die den Eintritt in den Krieg für Österreich und gegen Preußen als eine patriotische Pflicht verlangte, abgelehnt worden. Verstärkt wurde der Eindruck durch den Verlauf der Versammlung. Er ist unter allen parlamentarischen Versammlungen ein so tumultarischer gewesen, wie ich ihn sonst niemals gesehen habe, und wie er zu jener Zeit überhaupt deutschen Gewohnheiten fremd war. Als nach erregter Debatte zwischen den Vertretern der beiden Anträge der bayrische Abgeordnete Völk den Majoritätsantrag begründete, erklangen plötzlich von der Galerie aus mehrere Kanonenschläge. Alles erhob sich, Völk trat vom Podium zurück. Im Parterre erhob sich Blumschli mit dem Ausruf: »Fort nach Heidelberg zur Fortsetzung der Debatte!« Da sprang Schultze-Delitzsch auf das Podium und rief mit Stentorstimme in den Saal hinaus: »Hierbleiben, niemand rühre sich von der Stelle!« Das Wort wirkte momentan. Die Debatte wurde wirklich zu Ende geführt und die vom Ausschuß vorgeschlagene Resolution mit großer Majorität angenommen. Die Kanonenschläge stellten sich als harmlose Pedarten heraus, die außer dem beabsichtigten Schrecken kein Unglück herbeiführten. Aber unmittelbar nach der Versammlung wurde von den Demokraten der Galerie, denen sich eine große zusammengelaufene Menge anschloß, eine Volksversammlung abgehalten, die eine den Minoritätsantrag noch übertrumpfende Resolution annahm. Sie erklärte die preußische Politik für eine verbrecherische, der gegenüber Neutralität Feigheit oder Verrat sei!

Mit dieser dreifachen Demonstration hatte die antipreußische Bewegung in Deutschland ihren Kulminationspunkt erreicht. Dennoch, als wenig über einen Monat später die Schlacht von Königgrätz die Niederlage der österreichischen Armee besiegelt und jene Voraussage Bluntschlis in der Sitzung der ersten badischen Kammer glänzend bestätigt hatte, da trat nicht minder eine beinahe ganz Deutschland ergreifende Umwälzung der Volksstimmung ein, wie sie in so kurzer Zeit wohl niemals gewaltiger erfolgt ist. Nun war plötzlich Preußen der Hort der Zukunft, Bismarck, der vorher bestgehaßte deutsche Staatsmann, der Wiederhersteller des alten deutschen Reichs in neuer, verheißungsvoller Form geworden! Und jetzt vollzog sich allerdings diese Wendung verhältnismäßig am schnellsten in Baden. Das badische Bundeskontigent war getreu seiner Bundespflicht unter dem Kommando des Markgrafen Wilhelm, des Bruders des Großherzogs, gegen Preußen ins Feld gezogen. Immerhin hatte schon der Anfang des Feldzugs, wie es schien, eine retardierende Wirkung auf die kriegerischen Bewegungen dieser Armeeabteilung ausgeübt. Wenigstens die Süddeutsche Presse war geneigt, als ein Telegramm des Prinzen mit den lakonischen Worten »Staubwolken, daher Rückzug« einlief, diesen Armeebericht auf ein Scheinmanöver zu deuten, das darauf berechnet sei, kriegerische Verwicklungen zu vermeiden. Dieser Verdacht war vielleicht unbegründet. Jedenfalls trat die öffentliche Wendung der Dinge auch in Baden erst nach dem Friedensschluß ein. Das Ministerium, das uns Abgeordnete durch den Mund des Herrn von Edelsheim über die Zukunft des Landes belehrt hatte, löste sich auf. Zum leitenden Minister wurde Mathy, der während des Krieges entlassen worden war, zum Minister des Auswärtigen von Freydorf ernannt, die von da an der Regierung ihren in erster Linie den Anschluß an den norddeutschen Bund erstrebenden Charakter gaben und zu diesem behalf, wo immer es möglich war, die Einführung übereinstimmender Einrichtungen, vor allem in der Wehrverfassung, erstrebten.

Die Lage des badischen Landes in der dem Jahre 1866 folgenden Zeit war keine beneidenswerte. Napoleon III. verfolgte den Plan, aus den Süddeutschen Staaten unter dem Vorsitz Bayerns eine Art Pufferstaat herzustellen, der eine bis zu einem gewissen Grad neutrale Zone zwischen Preußen und seinen Alliierten und Frankreich bilden sollte. Bayern war nicht abgeneigt, diese Stellung zu übernehmen, wie dies noch ein Jahr später, im Oktober 1867, eine von dem bayrischen Minister Hohenlohe, dem späteren Reichskanzler, in der bayrischen Kammer gehaltene Rede deutlich erkennen ließ. Die badische zweite Kammer reagierte auf diese Rede sofort mit einer Interpellation, in der sie dieses Programm weit von sich wies, und durch die sie eine natürlich in gleichem Sinne lautende Äußerung des Ministers von Freydorf provozierte. Da ich selbst diese Interpellation einbrachte, so weiß ich, daß sie, wie die meisten Interpellationen ähnlicher Art, mit dem Ministerium verabredet war, um jenem Projekt ein für allemal ein Ende zu machen. Übrigens ließ der Norddeutsche Bund, soviel ich mich erinnere, die offizielle Bitte Badens um Aufnahme unbeantwortet. Auch als später Mathy noch einmal persönlich sich an Bismarck mit der gleichen Bitte wandte, antwortete dieser bedauernd, aber ablehnend.

Es war eine trübe Zeit, die nun folgte, und in der das Land Baden jahrelang die Rolle eines verstoßenen Kindes spielte, anscheinend ein selbständiger Staat und doch in allem dem Vorbild des norddeutschen Bundes folgend, jeden Augenblick bereit, diesem Bund beizutreten und doch immer wieder ablehnend beschieden. Nirgends ist wohl die Unhaltbarkeit dieser deutschen Zustände bis zum Ausbruch des Krieges von 1870 so fühlbar gewesen wie in Baden, und am drückendsten machte sich dieser Zustand in der Ständekammer geltend, die mehr und mehr die eigene Tätigkeit, soweit sie sich auf die allgemeineren deutschen Verhältnisse bezog, als eine überflüssige empfand. Mir persönlich wurde diese Lage schließlich unerträglich, und im Jahre 1868 legte ich mein Mandat nieder, um wieder ganz zu meinem akademischen Beruf zurückzukehren. Eines der letzten Ereignisse, die ich in Karlsruhe erlebte, war die Trauerfeier für Karl Mathy. Er hatte trotz einer heftigen Erkältung keine der täglichen Kammersitzungen versäumt, da erlag er am 3. Februar 1868 in wenigen Tagen einer Lungenentzündung. Der Zug, der seinem Sarg durch die Straßen Karlsruhes folgte, war eines der größten Leichenbegängnisse, die ich je gesehen habe. An der Spitze ging der Großherzog Friedrich, ihm folgten die Minister, die Landstände beider Kammern, die höheren Offiziere und Beamten der Stadt und zuletzt eine große Zahl von Karlsruher Bürgern und auswärtigen Verehrern und Freunden. Das Gefühl war in allen lebendig, daß in Mathy ein Mann geschieden sei, in welchem die politische Zukunft des Deutschen Reichs einen ihrer Besten verloren habe. Sein Gedächtnis ist uns in zwei Dokumenten aufbewahrt, die der Freundschaft ihren Ursprung verdanken, welche er, als er während mehrerer Jahre die Direktion der Leipziger Allgemeinen Kreditanstalt führte, mit Gustav Freytag geschlossen hatte. Das eine dieser Dokumente ist die im letzten Band der »Bilder aus der deutschen Vergangenheit« enthaltene, von Mathy selbst verfaßte Schilderung seines Lebens als Volks- schullehrer, das er, vor der trüben Reaktionszeit der dreißiger Jahre fliehend, in einem Dorf des Kantons Solothurn zubrachte. Das zweite Dokument ist die lesenswerte Biographie, die Freytag dem Andenken Mathys gewidmet hat.


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