Wilhelm Wundt
Erlebtes und Erkanntes
Wilhelm Wundt

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16.

Die Entwicklung der modernen Physiologie. Die physiologische Bedeutung des Kymnographion. Die Schüler Johannes Müllers. Berlin vor 65 Jahren. Übergang Berlins zur Großstadt. Die Berliner Universität vor 65 Jahren. Das Berliner physiologische Institut. Johannes Müller und du Bois-Reymond. Untersuchung der Muskeleleastizität. Universität und Akademie. Berliner Gelehrtenleben in älterer Zeit. Verkehr süd- und norddeutscher Hochschu-len. Der Geist des Berliner Gelehrtentums.

Während meiner Studienzeit hatte ich mich mannigfach mit Physiologie beschäftigt, aber was man damals »moderne Physiologie« nannte, war mir im wesentlichen unbekannt geblieben. Ein Blick in die in den Revolution-Jahren 1848 und 1849 erschienenen »Untersuchungen über tierische Elektrizität« von E. du Bois-Reymond und die Lektüre von Ludwigs Physiologie, dessen erster Band 1852 und der zweite 1856 erschien, hatten mich zwar durch ihren exakten Charakter mächtig angeregt, aber beide, auch das Ludwigsche Lehrbuch, boten kein Ganzes. Auch dieses mußte sich, wenn es, wie die Titel der ersten Kapitel lauteten, eine Physiologie der Atome und der Aggregatzustände geben wollte, mit Entlehnungen aus der Physik begnügen, und selbst für die im eigentlichen Sinne physiologischen Teile blieb nichts anderes übrig, als aus der bisherigen Physiologie die bekannten Tatsachen möglichst unter physikalischen Gesichtspunkten zu ordnen. Ernst Brücke, der dritte der Zuhörer Johannes Müller, dem neben du Bois-Reymond und Helmholtz Ludwig sein epochemachendes Lehrbuch widmete, hat hauptsächlich kleinere Arbeiten zur physiologischen Optik und zur allgemeinen Bewegungslehre geliefert; aber es ist überhaupt nicht der Umfang, sondern die exakte Form, die diesen Männern in allen ihren Arbeiten eigen, und durch die diese Form, wie man wohl sagen darf, zum Schulcharakter geworden ist. Wollte man ein einzelnes Instrument als besonders bezeichnend für das ganze Zeitalter der nun kommenden physiologischen Forschung hervorheben, so würde als ein solches vielleicht am treffendsten Ludwigs »Kymnographion« genannt werden können. Auch den Physiologen der älteren Schule hat es ohne Frage mehr imponiert als alles andere. Noch erinnere ich mich, daß Friedrich Arnold, der geniale Anatom, der aber selbst kaum das Kymnographion zu handhaben wußte, uns Zuhörern auseinandersetzte, dies sei das Instrument, welches berufen sei, den Physiologen auf allen seinen künftigen Wegen zu begleiten, denn es sei dazu beistimmt, das Verhältnis der physiologischen Funktionen, der Ursachen zu ihren Wirkungen im Gebiet der tierischen Lebenserscheinungen, zu verfolgen. Eben darum sei es nach der Darstellung dieser Funktionen in Kurven »Wellenzeichner« genannt. Er hatte, ohne selbst auf den Namen eines modernen Physiologen Anspruch machen zu können, die Bedeutung dieses Instrumentes richtig erkannt. Die Darstellung der funktionellen Beziehungen durch Kurven ist in der Tat der erste und nicht selten in komplizierten Fällen der einzige Weg des mathematischen Ausdrucks der Funktion auf physiologischem Gebiet. Eben darum aber ist er auch der vielseitigste, und das Kymnographion gehört daher zu den physiologischen Instrumenten, denen kein Gebiet der Lebenserscheinungen verschlossen ist. In den Arbeiten der anderen Begründer der modernen Physiologie finden sich, namentlich in denen des hervorragendsten unter ihnen, Helmholtz, zahlreiche originale Ideen und Methoden, aber keine in ähnlichem Sinne universale wie das Ludwigsche Kymnographion. Darum haben Instrumente ähnlicher Art, längst bevor die Physiologen an das Kymnographion dachten, in physikalischen und technischen Anwendungen existiert, aber in keiner Wissenschaft haben sie sofort und in so vielseitigen Verwendungen eine gleich bedeutsame Rolle gespielt wie in der modernen Physiologie, in der sie die merkwürdige Schnelligkeit, mit der diese selbst sich durchsetzte, so treffend kennzeichnen.

Als ich nach der Zurücklegung meiner kurzen medizinischen Assistentenlaufbahn mich durch eine Vereinigung glücklicher Umstände, nämlich durch das für die Schrift über die Durchschneidung des Lungenmagennerven errungene Preisstipendium und durch eine kleine Summe, die meine Mutter flüssig zu machen vermochte, in der Lage sah, noch einmal auf ein Semester eine auswärtige Universität zu besuchen, war die Frage, welche ich vorziehen sollte, ganz in meine Wahl gestellt. Doch diese Wahl schwankte zwischen zwei Möglichkeiten. Auf der einen Seite war es Karl Ludwig, der damals als beginnender Ordinarius der Anatomie und Physiologie in Zürich tätig und dessen zweibändiges Lehrbuch soeben erschienen war. Aber Ludwig stand in Zürich allein; es gab dort keinen Forscher auf gleichem oder ergänzendem Gebiete, der mich anziehen konnte. Anders in Berlin. Hier war es vor allem Johannes Müller, der noch ganz in alter Weise alle Gebiete der anatomisch-physiologischen Forschung in sich vereinigte; auch war er derjenige, der mir durch die Aufnahme meiner Preisschrift in sein damals die Literatur dieser Wissenschaften beherrschendes Archiv und durch einen ermunternden Brief, mit dem er mich beglückte, den Eintritt in diese Wissenschaft erleichtert hatte. Und neben ihm wirkte als Extraordinarius Emil du Bois-Reymond, der in den vorangegangenen Jahren durch seine »Untersuchungen über tierische Elektrizität« eine gewiß nicht endgültige, aber doch mustergültige Untersuchung von exaktem Charakter geliefert hatte. Beide hatten physiologische Übungen zusammen angekündigt. Hier konnte ich daher hoffen, meine beiden Wünsche, die Einführung in die vergleichende Physiologie und die Teilnahme an Arbeiten in experimenteller Physiologie verwirklicht zu finden. Damit waren die Würfel für Berlin gefallen.

Von dem Berlin der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hat man gesagt, es sei ein großes Dorf gewesen. Der Ausdruck ist nicht ganz zutreffend. Es glich eher einem Komplex zusammengebauter Dörfer und erinnerte darin, abgesehen von der Größe und der Zahl dieser Dörfer, mehr an die mittelalterliche Stadt, wie sie etwa Willibald Alexis im Roland von Berlin schildert, als an eine moderne Großstadt. Noch standen sogar von jener eine Anzahl alter Festungstore, die die Stadt von ihren Vororten trennten. Nur das Schloß und seine nächste Umgebung hob sich ab von der aus einem Gemisch kleiner und großer schmuckloser Häuser bestehenden übrigen Stadt, deren schlechtes Pflaster und langsam fahrende Droschken selbst den Kleinstädter, der nach Berlin kam, überraschten. Das wunderbarste Merkzeichen Berlins vor anderen Städten, wie München oder Hamburg, ist aber die Schnelligkeit, mit der es sich innerhalb ungefähr 10 Jahren von der Mitte der fünfziger Jahre, wo ich zum ersten Mal nach Berlin kam, bis nach der Mitte der sechziger, wo ich es zum zweitenmal sah, aus dem großen Dorf in die elegante imponierende Großstadt umwandelte. Das Jahr 1866 bezeichnet hier offenbar den Wendepunkt dieser rapiden Entwicklung. Im Jahr 1856 konnte man noch in der Dorotheenstraße dicht bei der Universität in einem von Handwerkern bewohnten Häuschen eine bescheidene Studentenwohnung mieten, und Schlafstellen, in denen mehrere Proletarier im gleichen Raum kampierten, waren in der gleichen Gegend reichlich zu finden. Ich wählte ein kleines Stübchen bei einer Handwerkerswitwe, weil das Häuschen, dem es zugehörte, durch einen großen Baum, der vor ihm mitten auf der Straße stand, gekennzeichnet war. Eine Schmiede war im unteren Stock, und im Hof befanden sich die für die gesamte Bewohnerschaft erforderlichen und gemeinsam benutzten Nebenräume. Meine Wirtin gab durch ihre überreiche Beredsamkeit Gelegenheit, die Sitten des Berliner Kleinbürgerstandes an der Quelle zu studieren, so daß ich die Lokale und die Gärten, in denen des Sonntags die Familien Kaffee und Weißbier tranken, am besten aus eigener Anschauung kennen lernen konnte. Unter den Vorzügen meiner Wohnung rühmte meine Wirtin vor allem, daß sie durch die Wand an Wand neben ihr liegende Küche von selbst geheizt werde, was freilich für die Sommermonate keine erfreuliche Zugabe war. Auch genoß ich als einziger Mieter den Vorzug eines Hausschlüssels, während die Inhaber anderer Quartiere den Nachtwächter herbeirufen mußten, um eingelassen zu werden. Im übrigen war diese Stadtgegend damals durch auffallende Stille ausgezeichnet. Kehrte man etwa einmal nach 10 Uhr abends aus einer Professorengesellschaft zurück, in welcher man stehend mit einem Glase Wein in der Hand einige Stunden lang zugebracht hatte, so konnte es vorkommen, daß man in einem unterwegs gelegenen Lokale seinen Hunger vergebens zu befriedigen suchte, weil man keines mehr offen fand.

Auch die Universität war nach heutigen Begriffen kaum von mittlerer Größe, obgleich sie und neben ihr die Akademie eine große Zahl hervorragender Forscher vereinigte. So sah ich noch, um nur die mich hauptsächlich interessierenden Naturforscher zu nennen, Karl Ritter den Geographen, Alexander Braun den Botaniker, Gustav Magnus den Physiker, die Brüder Heinrich und Gustav Rose u. a.. Auch Lichtenberg, den berühmten Reisenden aus dem Anfang des Jahrhunderts, lernte ich kennen, der mich mit großer Liebenswürdigkeit in die mineralogische Sammlung einführte, ebenso Ehrenberg, den Vorläufer der modernen Infusorienforschung, der das Rektorat bekleidete. Die Universität hat ebenfalls erst in dem Jahrzehnt vor und nach 1866 allmählich den Wandel aus einer kleineren in einer großen erfahren, ja dieser ist hier verhältnismäßig langsamer als in den sonstigen Attributen der Großstadt eingetreten. Fast schien es, als zögen die Süddeutschen, ehe sie die norddeutsche Universität aufsuchten, zunächst Leipzig als mitteldeutsche Zwischenstation vor, als wenn sie noch einiger Zeit bedürften, um für einen solchen dauernden Aufenthalt das alte Widerstreben gegen das Preußentum zu überwinden. Ein Berliner Professor meinte in dieser Zeit, Berlin sei gerade noch von der richtigen Größe, Leipzig aber beginne zum Wasserkopf einer Universität zu werden. Die Äußerung war etwas voreilig, denn bald überflügelte Berlin, ebenso wie durch den Strom der Norddeutschen nach München dieses, das hinter beiden allmählich zurückbleibende Leipzig. So ist dieser in Mitteldeutschland beginnende Austausch der süd- und norddeutschen Universitäten ein wichtiges, in seiner Bedeutung für den Verkehr der verschiedenen deutschen Bevölkerungen vielleicht nicht hinreichend gewürdigtes Moment für die Ausgleichung der provinziellen Gegensätze gewesen. Bei der gebildeten Jugend hat diese Ausgleichung begonnen, um allmählich in die übrigen Volksklassen einzudringen.

Als ich im Frühjahr 1856 nach Berlin kam, lag diese Zukunft noch ferne. Wenn ich nach dem Eindruck, den die neu entstandene Physiologie aus der Schule Johannes Müllers auf mich machte, erwartet hatte, hier ein großes, den chemischen oder mindestens physikalischen gleichwertiges Laboratorium mit zahlreichen Arbeitern vorzufinden, so sollte ich daher enttäuscht werden. Waren doch damals auch die chemischen Laboratorien Berlins noch von recht bescheidenem Umfang, und Gustav Magnus hatte die physikalische Sammlung, die er in seinen Vorlesungen benutzte, in seiner eigenen Wohnung untergebracht; für einen Studierenden war es daher überhaupt kaum möglich, in diesem Laboratorium zu arbeiten. Wenn die Ankündigung im Lektionskatalog für die Physiologie solche Aussichten zuließ, so blieb aber auch hier das Laboratorium hinter der Erwartung zurück, die jene erwecken konnte. Johannes Müller arbeitete im Wintersemester in der alten Anatomie, wo er zugleich die Präparierübungen leitete, im Sommer waren ihm ein paar Zimmer in einem oberen Stockwerk der Universität überwiesen, nahe bei der in dieser einen großen Raum einnehmenden zoologischen Sammlung, die unter der Direktion von W. Peters stand. Eine Treppe über den Müller eingeräumten Zimmern lag du Bois-Reymonds sogenanntes Laboratorium. Es bestand eigentlich nur aus einem Korridor, in welchem die bei du Bois arbeitenden Schüler untergebracht waren, und in einem Zimmer, in welchem er selbst arbeitete. Nahe von Müllers Laboratoriumsräumen lag das Auditorium, in welchem er in diesem Sommer Physiologie, vergleichende Anatomie und Entwicklungsgeschichte las; den Räumen du Bois-Reymonds benachbart war sein Auditorium für eine Vorlesung über allgemeine Physiologie. Beide Abteilungen des Laboratoriums waren übrigens völlig unabhängig voneinander, und in beiden zugleich arbeitete außer mir niemand. Die Zahl der Arbeitenden war klein: bei Müller waren etwa vier bis fünf Laboranten mit zootomischen Arbeiten beschäftigt, bei du Bois-Reymond war ich der einzige.

Johannes Müller war klein von Statur, aber dabei eine durch sein ausdrucksvolles Gesicht imponierende Persönlichkeit. Ein düsterer Ernst war ihm auf die Stirne geprägt, und der Eindruck der schwermütigen Falten dieser Stirn wurde durch die nie rastenden zuckenden Bewegungen seines Angesichtes noch verstärkt. Und doch konnte die Schwermut dieses Angesichts in der Unterredung für Momente dem Ausdruck der Güte und Teilnahme weichen. Dasselbe geschah, wenn er, angeregt durch den Gegenstand, aus dem Auditorium kam. Mir begegnete er mit großer Freundlichkeit und suchte sofort auf meine besonderen Interessen einzugehen, indem er mir Versuche über die Wirkungen der Exstirpation der Nervenzentren bei niederen Wirbellosen vorschlug. Ich führte diese Versuche wirklich aus, besonders in, wie ich glaube, gründlicher Weise bei der Teichmuschel, aber sie sind nicht veröffentlicht worden, denn sie blieben ergebnislos, insofern merkliche Funktionsstörungen, namentlich solche der Tätigkeit des Schließmuskels der beiden Muschelschalen, die man etwa erwarten konnte, ausblieben.

Eine ganz andere Persönlichkeit war Emil du Bois-Reymond. Von jugendlicher Beweglichkeit trug seine Rede etwas den Charakter der französischen Abstammung, den er auch in seinen späteren populären Akademiereden in dem nicht selten übertriebenen Schmuck dieser Reden nicht verleugnete. Er war ebenso mitteilsam wie Johannes Müller schweigsam und scheute sich nicht, seinen noch jugendlicheren Schülern Dinge anzuvertrauen, die höchstens für die Ohren seiner akademischen Kollegen geeignet waren. Ihn selbst experimentieren zu sehen bot einen eigenartigen Genuß, indem er die gleichgültigsten Manipulationen, wie z. B. die Magnetisierung einer Stahlnadel, mit höchst ausdrucksvollen Gebärden vornahm. Auch du Bois war sofort bereit, mir ein geeignetes experimentelles Thema vorzuschlagen. Er wählte dazu die Prüfung einer Streitfrage, die zwischen Ed. Weber in Leipzig und A. W. Volkmann in Halle über die Phänomene der Muskelkontraktion schwebte. Ich wurde bei der Ausführung dieser Arbeit freilich sogleich bei einer Vorfrage aufgehalten, die jene Forscher unbeachtet gelassen hatten, indem ich auf die Phänomene der sogenannten elastischen Nachwirkung feuchter Gewebe stieß und dadurch gezwungen wurde, deren Einfluß auf die Beobachtung der Dehnungen und Kontraktionen der Muskeln in Betracht zu ziehen. Die Arbeit ist 1857 in Müllers Archiv erschienen und weiter ausgeführt hat sie dann einen Bestandteil meiner in Heidelberg vollendeten Untersuchungen zur Lehre von der Muskelbewegung (1858) gebildet. Der wichtigere Teil, der sich auf die elektrischen Wirkungen auf Nerven und Muskeln bezieht, und bei dem merkwürdigerweise früher als auf den allgemeineren rein physikalischen Gebieten bei diesen sogenannten physiologischen Reizerscheinungen der Gegensatz der Phänomene an der positiven und negativen Elektrode eine bedeutsame Rolle spielt, ist freilich hier erst hinzugekommen.

An dritter Stelle habe ich endlich des früh verstorbenen Dr. Lehmann zu gedenken, der als zootomischer Assistent bei Johannes Müller tätig war und mich durch die Mitteilung seiner Untersuchungen an Mikrozoen wie nicht minder durch die Einführung in die gesellschaftlichen Kreise des jüngeren Berliner Gelehrtentums zu dauerndem Dank verpflichtete. Insbesondere führte er mich auch in die großenteils aus solchen jüngeren Mitgliedern bestehende naturforschende Gesellschaft ein, in der ich auch Alexander Braun kennen lernte, der mich als einen badischen Landsmann freundlich begrüßte. Du Bois-Reymond verfügte auf seiner Abteilung des physiologischen Laboratoriums über keinen Assistenten, sondern er begnügte sich mit einem Amanuensis, der aus dem Kreis seiner Zuhörer genommen war.

Nimmt man die Eindrücke zusammen, die Berlin in jenen Tagen als Zentrale deutscher Wissenschaft ausübte, so war ihr Charakter ein eigentümlicher. Er bestand in einer Vereinigung des Großartigen mit dem Bescheidenen und in mancher Beziehung Kümmerlichen. Akademie und Universität umfaßten eine Anzahl hervorragender Forscher, wie sie sich sonst nirgends in Deutschland und kaum in irgendwelchen anderen Ländern zusammenfanden. Waren doch beide Körperschaften so reich an Sternen ersten Ranges, daß damals mehr noch als heute jede von ihnen auf die Mitglieder der anderen verzichten konnte. So sind die beiden großen Philosophen Berlins, Fichte und Hegel, niemals Mitglieder der Akademie gewesen, und umgekehrt hat Schleiermacher unter den drei Hauptstätten seiner Wirksamkeit, Universität, Akademie und Predigeramt, die Akademie wissenschaftlich als die wichtigste betrachtet. Endlich die Tradition der reinen Akademiker, die nur gelegentlich von der Erlaubnis, an der Universität lesen zu dürfen, Gebrauch machen, hat sich bis zum heutigen Tage erhalten. Gegenüber dieser Verschwendung an bedeutenden Persönlichkeiten war im vorigen Jahrhundert noch über dessen Mitte hinaus, die Ausstattung mit Lehr- und Forschungsmitteln eine äußerst bescheidene; und wo sie für den Gelehrten als Hilfsmittel in Betracht kamen, wie die Königliche Bibliothek, da waren sie wieder für sich bestehende Institute. Professoren wie Akademiker waren daher weit mehr, als es heute der Fall ist, gewohnt, sich die Hilfsmittel, deren sie bedurften, selbst anzuschaffen, und um so mehr waren sie bei der Knappheit der Geldmittel, über die sie verfügten, darauf bedacht, ihr Leben auf einem möglichst sparsamen Fuß einzurichten. Darum schied sich äußerlich das Leben des Gelehrten viel weniger als heute, wo ihm Berufungen und Reisen ein besonderes Gepräge geben, von dem bürgerlichen Leben überhaupt. Der Gelehrte wie der Künstler verkehrte, mit Ausnahme etwa einiger spezifischer Berufsreisen, in einer Zeit, in der es noch kaum Sommerfrischen und Ferienreisen gab, im Kreise seiner Nachbarn. Hegel soll seine wöchentliche Erholung in einem mit Bürgern verschiedenster Berufe verbrachten Kegelabend gefunden haben, und Gesellschaften, in denen sich Professoren mit Journalisten, Künstlern und Privatgelehrten der verschiedensten Art zusammenfinden, haben sich noch heute in der Reichshauptstadt mehr als in anderen Universitätsstädten, in denen die Professoren leicht eine Art geschlossener Kaste bilden, erhalten. Bei allem dem galt aber in jener Zeit die Berufung nach Berlin in ganz Deutschland als ein Vorzug, der den akademischen Lehrer nicht leicht eine solche ablehnen ließ, was heute, wo an die Stelle dieser vielseitigen Geselligkeit mehr eine gewisse Vereinsamung in der über eine reiche Zahl von Vororten zerstreuten Großstadt getreten ist, keineswegs mehr gesagt werden kann. Dennoch ist dieser erst 1809 gestifteten, also verhältnismäßig jungen Universität eine Eigenschaft noch lange erhalten geblieben, von der man wohl sagen darf, sie habe ihre letzte Wurzel in den Traditionen ihrer Gründung. Diese Traditionen sind aber gebunden an die Bevölkerung des alten Berlin, die nur nach verschiedenen Seiten dasselbe Bild deutscher Tüchtigkeit und selbstbewußter Beschränkung in allen seinen Teilen bot, das den deutschen Charakter überhaupt kennzeichnet. Dieser Charakter ist heute nicht mehr derselbe wie in der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Er ist mit der Bevölkerung ein anderer geworden. Aber im Hintergrund lebt doch immer wieder das alte märkische Geschlecht und harrt vielleicht seiner Wiederauferstehung ebenso, wie der deutsche Geist selbst zu einer Wiederauferstehung bestimmt ist.

Als ich um die Mitte August 1856 in meine süddeutsche Heimat zurückkehrte, war es mir klar bewußt, daß ich nicht gefunden, was ich erwartet hatte. Doch, wenn auch dunkler bewußt, war in mir schon der Eindruck lebendig, daß das wirklich Gefundene eigentlich wertvoller sei als das Erwartete. Der Charakter der deutschen Wissenschaft in seiner Tiefe und Vielseitigkeit war in Berlin ein reinerer als auf den Süddeutschen Universitäten. Was mir aber mehr galt, der Charakter des deutschen Geistes trat mir hier in der gesamten Volksart und vornehmlich im gebildeten Bürgertum, wie ich glaubte, klarer ausgeprägt entgegen als in irgendeiner der mir bekannten deutschen Städte. Dabei konnte ich allerdings nicht verkennen, daß gerade im gelehrten Berlin die Süddeutschen, die in Berlin angesiedelt waren, eine bedeutsame Stellung Einnahmen. Sie waren es, die diesen Charakter deutscher Wissenschaft zumeist am reinsten repräsentierten. So unter den Philologen August Böckh, Franz Bopp, die Brüder Grimm, unter den Naturforschern Alexander Braun und nicht an letzter Stelle Johannes Müller, der vielseitigste und genialste Physiologe seines Zeitalters. Will man den Kreis dieser nach dem Norden gewanderten Süddeutschen weiter ziehen, so kann man ja auch Goethe und Schiller hierher zählen. Wenn Schiller die Spuren der Selbsterziehung in Leben und Dichtung am deutlichsten an sich trägt, so darf man doch vielleicht noch mehr fragen, ob Goethe für die Geschichte des deutschen Geistes jemals zu dem sich entwickelt hätte, was er uns geworden, wenn er es zum Ratsherrn oder Bürgermeister seiner Vaterstadt Frankfurt gebracht hätte, statt nach Weimar gewandert zu sein. Und noch eins trat mir schon damals deutlich entgegen: gerade diese nach dem Norden übergesiedelten Süddeutschen brachten den Charakter des deutschen Geistes in seiner Verbindung von Süddeutscher Unternehmungslust mit norddeutschem Tiefsinn am vollkommensten zum Ausdruck, in einer Form zugleich, in der diese Verbindung zu einer organischen Einheit verschmolzen war. Das galt ebenso für Jakob Grimm und August Böckh unter den Vertretern der Geisteswissenschaften wie für Johannes Müller und Alexander Braun unter den Naturforschern. Unter diesen, mit denen ich selbst in nähere Beziehung getreten, war es vor allen anderen Johannes Müller, der das Berliner Gelehrtentum in seiner ernsten Geschlossenheit und seiner staunenswerten Vielseitigkeit am vollkommensten repräsentierte. Sprechend trat dies zugleich in dem Gegensatz zu dem zweiten meiner physiologischen Lehrer zutage, zu Emil du Bois-Reymond, der wohl als der Repräsentant jener zweiten nationalen Mischung betrachtet werden konnte, die durch die französische Einwanderung zu Anfang des Jahrhunderts zu der deutschen Bevölkerung Berlins hinzugekommen war. Hatten sich Nord und Süd in den Akademikern der verschiedensten deutschen Länder zu einem unteilbaren Ganzen vereinigt, das den Charakter des deutschen Geistes erst recht zum Ausdruck brachte, so hatten die französischen Abkömmlinge umgekehrt fortan zum Teil selbst in Sprache und Sitte ihren Charakter als Franzosen bewahrt, so gute deutsche Patrioten und so wertvolle Elemente auch in ihrem geistigen Wesen sie meist geworden sind. Wenn daher du Bois-Reymond beim Ausbruch des deutsch-französischen Kriegs von 1870 in sein Auditorium mit der Entschuldigung trat »verzeihen sie meinen französischen Namen«, so hätte er fast diese Entschuldigung dahin erweitern können, daß er trotz seiner deutschen Gesinnung ein Franzose geblieben sei; nur war für diese unabänderliche Eigenschaft eine Entschuldigung nicht am Platze. Sie war eine solche, die in gewissem Grade jedem Mitglied der französischen Kolonie zukam und die in ihrer Art nicht ohne Wert gewesen ist.


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