Wilhelm Wundt
Erlebtes und Erkanntes
Wilhelm Wundt

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42.

Verhältnis des Idealismus zur Romantik. Fechners Methaphysik und Religionsphilosophie. Deutsche und westeuropäische Philosophie. Wandel der philosophischen Richtungen des 19. Jahrhunderts. Schleiermachers Reden über Religion. Schleiermachers Glaubenslehre. Antiidealistische Strömungen. Pufendorf und Leibnitz.

Die Historiker des 19. Jahrhunderts pflegten die drei Hauptrepräsentanten des deutschen Idealismus, Fichte, Schelling und Hegel als die Romantiker in der Philosophie zu bezeichnen. Nichts kann aber eigentlich, wenn man die gesamte Stellung dieser epochemachenden Philosophen näher betrachtet, irriger sein als dieser Ausdruck. Höchstens Schelling berührt sich in seinen der Kunst zugekehrten Bestrebungen mit der Romantik. Fichte und Hegel stehen ihr von Anfang an eher als Gegner gegenüber, und auch Schelling's Entwicklung liegt, wenn man sie als Ganzes betrachtet, außerhalb derselben. Wenn einzelne der Romantiker von dem Idealismus, namentlich von der idealistischen Naturphilosophie beeinflußt worden sind, so hat dies mit der eigentlichen Bedeutung dieser Philosophie, die nach einer ganz anderen Seite, in erster Linie nach der geschichts- und religionsphilosophischen liegt, nur wenig zu tun. Viel eher kann man sagen, daß die romantische Literaturströmung in einzelnen jenem Idealismus abgeneigten Denkern ihren Ausdruck findet, wie etwa in Christian Krause, dem lebenslänglichen Privatdozenten, der aber immerhin trotz der phantastischen Verstiegenheit seiner religions- und rechtsphilosophischen Ideen namentlich in der juristischen Welt manche Anhänger fand. Für ihn wirkte vor anderen Heinrich Ahrens durch sein Lehrbuch des Naturrechts (1850) und durch seine auf der letzten Stätte seiner Tätigkeit, in Leipzig, gehaltenen Vorlesungen über die verschiedensten Teile der Philosophie. Bei meiner Ankunft dort, wo er kurz zuvor gestorben war, begegneten mir noch zahlreiche Verehrer dieses gemäßigten Krausianers.

Ungleich stiller und bescheidener lebte hier zu dieser Zeit noch ein Mann, der am ehesten zur Romantik hätte gezählt werden können, wäre er dazu nicht allzu selbständige Wege gegangen, überdies aber als Physiker außerhalb des Kreises der eigentlichen Philosophen gestanden. Das war Gustav Theodor Fechner, der Schöpfer der Psychophysik, der durch sein Werk »Zendavesta« oder »über die Dinge des Himmels und des Jenseits« (1851) neben zahlreichen kleineren Schriften ohne Frage die Stellung des originellsten Denkers dieses ganzen Zeitalters einnimmt. In einer Zeit, in der das öffentliche Ansehen und der Einfluß der Philosophie überhaupt im Niedergang begriffen waren, fand er aber wenig Beachtung. Seinen Fachgenossen, den Naturforschern, blieb das geistvolle Werk zumeist unbekannt, die Philosophen standen ihm verständnislos gegenüber. Wenn wir ihn heute in die Richtungen der vergangenen Philosophie einordnen wollen, so ist es vor allem die ältere Mystik, der seine Gedanken verwandt sind. Doch schlagen die Werke Fechner's ihre durch die Naturwissenschaft der Zeit beeinflußte, dabei aber in ihrem ganzen Aufbau durchaus eigenartige, mehr durch die lebendige Phantasie dieses originellen Denkers als durch die Rücksicht auf überkommene philosophische Lehren bestimmte Richtung ein. Wenn man einen diesem bedeutendsten Mystiker neuerer Zeit verwandten Denker zur Vergleichung herbeiziehen wollte, so würde es etwa Jakob Böhme, der Görlitzer Schuster des 17. Jahrhunderts sein, an den man denken könnte, so fern sich auch im einzelnen gerade durch ihre Unabhängigkeit wie nicht minder durch die Zeitbedingungen, diese beiden großen Mystiker der deutschen Philosophie stehen.

Alle diese um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Leipzig als der großen antiidealistischen philosophischen Zentrale Deutschlands, wie man damals Leipzig nennen konnte, vereinigten Richtungen überwog übrigens weitaus der Einfluß Johann Friedrich Herbart's und seiner Schule, der noch bis an die Grenze des Jahrhunderts nachwirkte. Das ist um so bemerkenswerter, als die Herbart'sche Philosophie in ihrem streng individualistischen und intellektualistischen Aufbau nicht weniger zu dem von ihr besonders heftig bekämpften Idealismus wie zu den gegen denselben gerichteten geschichts- und rechtsphilosophischen Strömungen einen scharfen Gegensatz bildet. Was aber zwischen ihnen und dem Idealismus selbst immerhin ein geistiges Band ist, das ist die Tatsache, daß alle diese schon durch die Mannigfaltigkeit ihrer Gestaltungen sich auszeichnenden Richtungen der deutschen Philosophie durchweg der Metaphysik zugewandt sind. Darum hängen, abgesehen von den nebenbei allmählich sich geltend machenden Einflüssen englischen und französischen Denkens in den spezifisch deutschen Systemen die übrigen philosophischen Probleme, vor allem Erkenntnistheorie und Ethik, eher mit dem vorherrschenden metaphysischen Gedankenkreis zusammen, als umgekehrt, wie in dieser Zeit vornehmlich in der westeuropäischen Philosophie die logischen und ethischen Fragen maßgebend für die Philosophie überhaupt sind.

Hier hat nun im Laufe des 19. Jahrhunderts eine der merkwürdigsten Umkehrungen in der allgemeinen Geltung der philosophischen Richtungen stattgefunden, die wohl jemals gesehen worden sind. Um die Mitte des Jahrhunderts war der Idealismus, wie er vornehmlich durch die drei hervorragendsten Vertreter desselben, Fichte, Schelling und Hegel, repräsentiert ist, so sehr zurückgetreten, daß er in dem ganzen Bereich der Wissenschaften fast nur noch als eine überwundene Abirrung betrachtet wurde. Jeder, der überhaupt philosophische Bedürfnisse empfand, hatte sich irgendeiner der sonst geltenden Lehren zugewandt. Namentlich von dem Herbartianismus als dem strengsten Gegner des Idealismus konnte es eine Zeitlang scheinen, als sei er dazu bestimmt, die künftige deutsche Philosophie gegenüber der Wissenschaft der anderen europäischen Völker zu vertreten. Da wandte sich plötzlich unter dem Einfluß einer zunächst nur leise beginnenden Rückkehr zu Kant völlig die Situation. Diese abweichenden Richtungen deutscher Metaphysik hatten jedoch bald ihre Rolle ausgespielt, und in dem Maße als sie im Kampfe miteinander vom Schauplatz zurücktraten, erlangten die idealistischen Strömungen, zunächst zum Teil selbst gegeneinander gerichtet, dann aber mehr und mehr miteinander in Verbindung tretend, ihr verlorenes Ansehen wieder. Schon gegen Ende des 18., vornehmlich aber vom Beginn des 19. Jahrhunderts an waren die auseinanderstrebenden Richtungen realistischer und mystisch-phantastischer Metaphysik im vollen Niedergang begriffen. Der anscheinend auf Kant weiterbauende Idealismus in seinem Zusammenhang von Fichte bis Hegel war mit einer gewissen Plötzlichkeit als der letzte große Erwerb der deutschen Philosophie seit Leibniz zur Anerkennung gelangt. Deutsche Philosophie und deutscher Idealismus begannen nun, als die einzigen in diesem Zeitalter errungenen Werte in der ganzen Zeit von Leibniz an als die großen Schöpfungen des germanischen Denkens im Gebiete der Metaphysik anerkannt zu werden, hinter denen die anderen deutschen metaphysischen Systeme beinahe als vergängliche Schattenbilder zurücktraten, zuletzt unter ihnen das System Herbart's, das nicht lange mehr dieser Neuerhebung des eigentlichen Idealismus, in welchem man schließlich doch die wahre Fortsetzung nicht bloß der Kant'ischen, sondern auch der Leibniz'schen deutschen Philosophie erkennen mußte, standhielt.

Eine einzige Gestalt machte hier vermöge der durch die eigentümliche Lage der Einzelwissenschaften gebotenen Bedingungen eine gewisse Ausnahme: das war Friedrich Schleiermacher. Seine Philosophie blieb eine längere Zeit die einzige, die namentlich dem während einer kurzen Periode omnipotenten System Hegels gegenüber im Kreise der religionsphilosophisch gerichteten Männer der Wissenschaft und daneben in gewissen innerhalb der populären philosophischen Strömungen verbreiteten Metaphysik, die dem Idealismus von mehr einheitlichen Standpunkten aus widerstrebte, eine eigentümliche, wesentlich abweichende Stellung einnahm. Es war nicht eigentlich eine einheitliche Philosophie, die Schleiermacher gegenüber den sonstigen zeitgenössischen Richtungen behauptete, sondern es war höchstens der unbestimmte psychologische Begriff des »Abhängigkeitsgefühls«, den er in sinnreicher Weise zu einer Art Verschmelzung seiner beiden Betrachtungsweisen anwandte, der bei ihm diese scheinbare Einheit bewirkte. In Wahrheit war aber sein erstes, auf das allgemeine Problem der Religion gerichtete System, wie er es in den »Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern« von 1801 dargestellt hatte, eine nebenbei nur künstlich mit der Betrachtung auch des Christentums verbundene Untersuchung des religiösen Problems überhaupt, die in dieser Jugendschrift niedergelegt war. Ein ganz anderes Ziel verfolgte dagegen sein zweites religionsphilosophisches Werk, »Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche« von 1821. In ihm handelte es sich ihm nicht um die Religionswissenschaft überhaupt, sondern er wollte, wie aus den verschiedenen Einleitungen zu diesem Werk hervorgeht, lediglich eine Darstellung der Art und Weise geben, in der er selbst seiner Aufgabe eines auf dem evangelischen Standpunkte stehenden Religionslehrers gerecht zu werden suchte. Das erste Werk war also, wie man sich wohl am treffendsten ausdrücken könnte, eine allgemeine und dabei populäre Religionswissenschaft, das zweite ein Lehrbuch der Religionsphilosophie für evangelische Theologen. Diesem Lehrbuch schlossen sich dann die übrigen seiner Schriften, neben der von ihm selbst herausgegebenen über die Sittenlehre die aus seinem Nachlaß erschienenen über die anderen Teile der Philosophie, namentlich die Metaphysik, an. So teilte sich denn auch in Wahrheit die Anhängerschaft dieses zweiseitig gerichteten philosophierenden Theologen in zwei Teile. Der eine umfaßte neben einzelnen Theologen ein allgemeineres Publikum, das der Fachtheologie ferne stand, der andere die studierende evangelische Jugend, und dem entsprechend zerfiel auch die spätere Anhängerschaft Schleiermacher's, die noch während einer längeren Zeit den Einflüssen der Wirksamkeit Hegel's die Waage hielt, nach diesen zwei Richtungen, von denen sich die eine in der allgemeinen, namentlich auch der romantischen Literatur verbreitete, während die andere streng auf die Gefolgschaft seiner christlichen Glaubenslehre beschränkt blieb. Dieser zweite Teil ist es aber, der wesentlich allein diejenige Richtung der Philosophie des 19. Jahrhunderts zusammensetzt, die man die philosophische Schule der »liberalen Theologie« nennen kann. Darum ist es im letzten Grunde vielmehr eine theologische Richtung, die sich unter dem Namen dieser Schule der wissenschaftlichen Geltung des idealistischen Systems entgegenstellt, als daß die Anhängerschaft der Schleiermacher'schen Philosophie selbst die Vertretung eines unabhängig bestehenden philosophischen Systems genannt werden könnte.

Zu allen diesen Strömungen, dem Idealismus, den ihm widerstrebenden antiidealistischen Resten vorangegangener oder gleichzeitiger metaphysischer Systeme, den Nebeneinflüssen der Theologie Schleiermachers ist nun endlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etwa von derselben Zeit an, in der sich der früher erwähnte Ruf der Rückkehr zu Kant erhob, ein letzter Einfluß hinzugetreten, der der nunmehr beginnende und bis zum heutigen Tag noch nicht ganz vollendete Einfluß der Philosophie der westeuropäischen Völker zuerst allmählich vorbereitet und der dann zu einer wachsenden Zersetzung des ursprünglichen Gehalts dieser Philosophie geführt hat. Im Gegensatze zu den metaphysischen Richtungen des deutschen Denkens ist es gerade die vorherrschende Bedeutung, die in England und Frankreich, besonders in England, das sich infolge der äußeren Kultur dieses Landes sehr bald zur Herrschaft über die französische Geistesbildung erhoben hatte, die Fragen des materiellen Lebens und eben unter ihrem Einfluß die Probleme der Erkenntnis, des menschlichen Verkehrs und des sittlichen Lebens gewonnen hatten, die in ihrem Übergewicht über die im eigentlichen Sinne geistige Kultur auch in die deutsche Philosophie mehr und mehr ihren Einzug gehalten haben. Schon im 17. Jahrhundert hatte in dieser Beziehung Samuel Pufendorf als der Hauptanhänger der Lehren von Thomas Hobbes über den Ursprung von Staat und Gesellschaft der Rezeption des durch und durch individualistisch und intellektualistisch gerichteten römischen Rechts und der gesamten auf diesem Recht aufgebauten westeuropäischen Weltanschauung im Sinne der Angleichung der deutschen an diese zu wirken gesucht und vor allem in dem juristischen Gelehrtentum diesem Streben eine mächtige Gefolgschaft gewonnen. In England selbst hatte es von Bacon an bis zu Cumberland und Shaftesbury nicht an Männern gefehlt, die neben dem strengen Individualismus dem Gemeinwohl sein gebührendes Recht zuteil werden ließen. Doch über alle diese vermittelnden Richtungen hatte schließlich das in der öffentlichen Moral sie überwindende, ganz und gar auf den natürlichen Egoismus gegründete System des Thomas Hobbes den Sieg davongetragen. Es war, wie man wohl sagen darf, namentlich in der Praxis des öffentlichen Lebens, wie sie mit nur wenigen scheinbaren Konzessionen in der Philosophie John Locke's zum Ausdruck gekommen war, gleichzeitig zur allgemeinen Philosophie und zum Inhalt der Sitte und ihrer Ergänzungen durch die öffentliche Meinung und durch die praktische Religion geworden. Das gestaltete diese nun, teilweise durch die über ganz Europa sich erstreckende Aufklärungsphilosophie vorbereitet, zum mächtigsten Verbündeten einer europäischen Universalphilosophie, die bei den Philosophen ihre etwaigen Sonderrichtungen begleitete, in der öffentlichen Meinung aber mehr und mehr zur wirklichen Universalphilosophie geworden ist. Konnte sich doch selbst ein Leibniz, so sehr er die geistigen Güter fortan als die höchsten rühmte, die auch der Staat zu fördern habe, doch in dem einen Punkte der überwältigenden Macht der von der Pufendorf'schen Schule ausgehenden unitarischen Bewegung nicht entziehen, daß er das strenge Recht (Jus strictum) als die schließlich maßgebende Norm für alles menschliche Handeln anerkannte, neben der er die beiden anderen Motive, die Billigkeit (Aequitas) und die Frömmigkeit (Pietas), als die zwar mehr äußerlichen auffaßte, sie aber doch als ihre notwendigen Ergänzungen anerkannte. Damit ist schließlich der Zustand erreicht worden, den heute mehr noch als die deutsche Philosophie die deutsche Ethik namentlich in ihrer Gestaltung im öffentlichen Leben gewonnen hat, und in der sich die Überwältigung des deutschen Idealismus durch den Individualismus der an Kultur älteren europäischen Nationen bekundet.


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