Wilhelm Wundt
Erlebtes und Erkanntes
Wilhelm Wundt

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

24.

Das Problem der Sinneswahrnehmung in der modernen Sinnesphysiologie. Johannes Müllers Nervenphysik. Ernst Heinrich Webers sinnesphysiologische Arbeiten. Hermann Lotze und der Begriff des Lokalzeichens. Der Begriff des Lokalzeichens und seine Wandlung. Der Begriff der unbewußten Schlüsse. Nativistische und empirische Theorien der Sinneswahrnehmungen.

Die Theorie der Sinneswahrnehmung hat in der modernen Sinnesphysiologie eine höchst interessante Entwicklung zurückgelegt, die ihr charakteristisches Gepräge dadurch empfängt, daß sie mit einer streng physiologischen Auffassung der Erscheinungen beginnt, dann Schritt für Schritt zu einer Verbindung dieser mit psychologischen Hilfsbegriffen übergeht, um schließlich den ursprünglichen rein physiologischen Standpunkt vor dem Richterstuhl einer unbefangenen Kritik als einen unmöglichen darzutun. Indem dabei von den verschiedenen Physiologen die einen mehr bei der anatomisch-physiologischen Betrachtung zu verharren suchten, die anderen freigebiger mit den hinzugefügten psychologischen Ergänzungen verfuhren, konnte es jedoch geschehen, daß beide Theorien nicht mehr als Stadien einer und derselben Entwicklung, sondern als Gegensätze erschienen. So ist es gekommen, daß Helmholtz, der annähernd am Ende dieser von der physiologischen zur psychologischen Seite übergehenden Physiologen steht, zwei einander bekämpfende Theorien unterschieden hat, die er die »nativistische« und die »empiristische« nannte. Daß diese Umwandlung der Stufen der Entwicklung in Gegensätze höchstens teilweise zutrifft, erhellt aber bei näherem Zusehen daraus, daß der Nativismus ebensowenig gewisser psychologischer Hilfshypothesen wie der Empirismus der nativistischen Zugaben in Gestalt anatomisch-physiologischer Einrichtungen der Sinneswerkzeuge entraten kann. So führen z. B. Ernst Mach und Ewald Hering, die man gegenwärtig zu den extremsten Nativisten zu zählen pflegt, die Lokalisation eines gereizten Punktes der Netzhaut auf einen Akt des Willens, also auf eine psychische Handlung zurück, und Helmholtz, der Hauptvertreter der empiristischen Theorie, betrachtet die Netzhautelemente als die notwendigen anatomischen Substrate der räumlichen Gesichtsempfindungen.

Den Ausgangspunkt dieser Geschichte der neueren Sinnesphysiologie bildet Johannes Müllers genial entworfene »Nervenphysik«. Der Ausdruck ist kennzeichnend, weil er auf die Grundvoraussetzung hinweist, auf der Müllers mit strengster Folgerichtigkeit vertretene rein physiologische Auffassung der Sinnesfunktionen beruht. Die Empfindung ist nach ihm eine allgemeine Eigenschaft des Nervensystems. In den Sinnesnerven findet sie nur ihre besondere Ausprägung als spezifische Sinnesqualität. Die Mannigfaltigkeit der Sinne ist daher eine Folge der spezifischen physiologischen Energie der Sinnesnerven, die nach den verschiedenen Körperteilen differiert, dabei aber doch ein zusammengehöriges Ganzes darstellt, dessen Einheit auf der allgemeinen Eigenschaft der Nerven beruht, sich selbst zu empfinden. Zu dieser Eigenschaft gehört die räumliche Selbstauffassung aller Körperteile, aus der unmittelbar auch die räumliche Auffassung der Körperbewegungen hervorgeht. Der objektive Raum ist darum nichts anderes als eine Projektion der räumlichen Eigenschaften des eigenen Leibes in die Außenwelt, und Raumsinne sind nicht bloß der Tast- und der Gesichts-, sondern auch alle anderen Sinne, wahrscheinlich selbst der Gehörssinn, bei dem diese räumliche Selbstempfindung nur durch die Tonqualitäten zurückgedrängt erscheint. Was für den Raum, das gilt aber auch für die Zeit, die eine ähnliche unmittelbar an die Sinneselemente und in besonders intensivem Grade an die Muskelbewegung gebundene physiologische Funktion ist.

Diese Vorstellungen der Müllerschen Nervenphysik sind ein einflußreiches Vorstadium der modernen Sinnesphysiologie. Von ihren zwei Bestandteilen, der spezifischen Energie der Sinnesnerven und der Raum- und Zeitanschauung als extensiver körperlicher Energien, ist in der Tat der erste bis zum heutigen Tag für die meisten Physiologen maßgebend geblieben, und er wird sogar in der Regel, obgleich er offenbar nur ein unbestimmter Name für eine unbekannte Sache ist, für eine Erklärung oder sogar für die einzig mögliche Erklärung der Verschiedenheit der Sinnesqualitäten gehalten. Dagegen hat allerdings frühe schon die Beziehung von Raum und Zeit auf Energien des ganzen Nervensystems eine wesentliche Einschränkung erfahren, indem man den Raum ausschließlich dem Tast- und dem Gesichtssinn, die Zeit dem Tast- und dem Gehörssinn zuteilte. Daran hat sich dann die weitere Vorstellung geknüpft, daß der Tast- oder, wie ihn Johannes Müller nannte, der Gefühlssinn gegenüber den übrigen oder sogenannten Spezialsinnen in doppelter Beziehung die Bedeutung eines allgemeinen Sinnes besitze: erstens insofern er über den ganzen Körper verbreitet, und zweitens weil er nach seiner Entwicklung der ursprünglichste Sinn ist, der schon bei den niedersten Tieren besteht, während die Spezialsinne erst einer späteren Entwicklung angehören.

In dieser Richtung hat vornehmlich Ernst Heinrich Weber die physiologische Theorie der Sinneswahrnehmung weitergebildet. Aber während Johannes Müller sein System im wesentlichen noch ganz auf anatomische Betrachtungen und die mit ihnen verbundenen Begriffe der Sinnesenergien gegründet hatte, war es Weber, der zum ersten Male das physiologische Experiment für eine solche Systematik benutzte. Dies veranlaßte ihn, den Begriff der Sinnesenergie, den Müller bloß auf die Sinnesqualitäten angewandt hatte, auf die allgemeinen Eigenschaften der Nerven, insbesondere auf die Eigenschaft der räumlichen Auffassung, die er in erster Linie dem Tastsinn zuschrieb, auszudehnen und diesem den Druck- und den Temperatursinn der Haut als weitere spezifische Sinnesenergien hinzuzufügen. Maßgebend war für ihn bei dieser Unterscheidung der Energien des allgemeinen Sinnes nicht, wie für Müller, die Qualität der Empfindungen, sondern die Feinheit ihrer Funktionen in quantitativer Beziehung. Demnach zerfiel ihm der Tastsinn in drei Spezialsinne: den Drucksinn, den Temperatursinn und den Orts- oder Raumsinn. Hier hatte er schon im Jahre 1829 den wichtigen Unterschied ermittelt, daß der an der Feinheit der Unterscheidung von Gewichten gemessene Drucksinn und ebenso der an der Unterscheidung nach Graden der Temperaturskala bestimmte Temperatursinn an der ganzen Körperoberfläche nahezu übereinstimmen, während der nach der räumlichen Unterscheidung zweier voneinander entfernter Eindrücke an verschiedenen Stellen der Haut gemessene Ortssinn sehr große Unterschiede aufweist. Damit gewannen für ihn die verschiedenen Energien des Tastsinns eine wesentlich abweichende Bedeutung. Druck und Temperatur stellten sich ihm als allgemeine, allen Gefühlsnerven gleichmäßig zukommende Qualitäten dar, wogegen der Raumsinn als ein von Ort zu Ort abgestuftes System von Raumwerten aufgefaßt werden konnte. Der berühmte Zirkelversuch Webers, bei dem nach der Distanz zweier eben noch zu unterscheidender Zirkelspitzen die Feinheit des Ortssinns von ihm geschätzt wurde, bildete den Maßstab für diese Abstufung der Raumauffassung. Damit enthüllte sich aber auch der Ortssinn als der einzige unter den dem allgemeinen Tastsinn unterzuordnenden Spezialsinnen, der gewissermaßen als eine Selbstauffassung der Ausbreitung der Nerven im Sinne der Müllerschen anatomischen Theorie festgehalten werden konnte. Druck und Temperatur verwandelten sich in Energieformen, die allen Sinnesnerven gleichförmig zukommen sollten, die Lokalisation an einem bestimmten Ort wurde dagegen zu einem äußeren Ebenbild der im Gehirn vorauszusetzenden Verteilung der Tastnervenendigungen. Je eine solche Endigung nannte Weber einen Empfindungskreis, und die wesentliche Eigentümlichkeit des Raumsinns der Haut bestand ihm daher nach der ursprünglichen anatomischen Form seiner Theorie in der ungeheuren Verschiedenheit der Größe der Empfindungskreise, wonach diese z. B. an der Fingerspitze 2 mm, an Rücken und Oberschenkel 68 mm betrage. Das Wesen eines Empfindungskreises bestand ihm daher darin, daß ein solcher genau dem Verbreitungsgebiet einer Nervenfaser entspreche oder im Gehirn durch den Ursprungspunkt dieser Faser vertreten sei. Analog dachte er sich die Endigungen der Sehnervenfasern.

Gegen diese erste Form der Weberschen Theorie erhoben sich jedoch schwere Bedenken, da sie nicht begreiflich machte, wie in der Mitte und an der Grenze eines Empfindungskreises die Raumempfindlichkeit die gleiche war, und wie zwar jeder Punkt der Haut Druck- und Temperatur-, an den meisten Stellen aber nur in ziemlich weiten Abständen Raumunterschiede empfindet. Er änderte daher später die Theorie dahin ab, daß er erklärte, zur Auffassung von Raumunterschieden sei jedesmal eine unbestimmte Vielheit zwischen den Eindrücken liegender Empfindungskreise erforderlich, und auf die Zahl dieser letzteren sei zugleich die Übung von entscheidendem Einfluß. Denn mit zunehmender Übung vermindere sich die Zahl dieser zwischenliegenden Kreise. Hier mündet, wie man sieht, die anatomische direkt in eine empiristische Theorie. Wird doch nicht bloß in der Übung ein psychologischer Faktor von Weber eingeführt, sondern es wird von ihm eigentlich schon eine Art numerischer Abschätzung der für eine isolierte Raumempfindung erforderlichen Raumelemente vorausgesetzt.

Nun ist es bemerkenswert, daß diese Umwandlung einer rein anatomischen in eine empiristische Auffassung in allen späteren Theorien der Physiologen wiederkehrt. Die Rolle eines eigentümlichen Hilfsbegriffs bei dieser Umwandlung hat dabei ein Wort gespielt, das charakteristischerweise von einem Autor zuerst eingeführt worden ist der selbst genau eine Mittelstellung zwischen den Physiologen und Psychologen einnahm, nämlich von Hermann Lotze in seiner »Medizinischen Psychologie«. Das war der Begriff des »Lokalzeichens«. Dieses wurde von Lotze als irgend ein Hilfsmittel aufgefaßt, das den physiologischen Sinnesreiz in einen Raumwert umwandle. Als ein solches wurde er aber bereits von ihm dem Zwischengebiet entnommen, das in der herrschenden Physiologie und Psychologie die Bedeutung von Begriffen besaß, denen gleichzeitig ein physischer und ein psychischer Wert zugeschrieben wurde: den Sinnesempfindungen und den meist an solche gebundenen Bewegungen. Lotze meinte daher geradezu, es könne wohl, je nach Umständen, einmal eine Sinnesempfindung, und ein anderes Mal, z. B. speziell beim Auge, eine Bewegung des Organs die Funktion des Lokalzeichens übernehmen. War somit dieses von seinem Urheber gleichzeitig als ein physischer und ein psychischer Begriff gedacht, so bot es nun auch ebenso für die physiologischen Theorien die Möglichkeit, es als ein rein physisches, wie für die empirischen dasselbe als ein psychisches Hilfsmittel zu denken. Dieser doppelseitigen Anwendbarkeit verdankt der Begriff seine Verbreitung und den Beifall, den er in der folgenden Zeit innerhalb der sonst einander widerstreitenden Theorien gefunden hat. Als später die Physiologen die nativistische Auffassung geflissentlich wieder in den Vordergrund stellten, wie das vornehmlich von Ewald Hering geschehen ist, brauchten sie daher nur den unbestimmten Begriff des Lokalzeichens durch den einer unmittelbaren physiologischen Energie zu ersetzen, und ebenso konnten die Empiristen den Ausdruck leicht für den psychischen Akt adoptieren, der den Sinnesreiz in eine psychische Qualität oder, was damit zusammenfiel, in eine objektive Tatsache umsetze. Das lag um so näher, als die Auffassung der Sinnesempfindungen als Zeichen für äußere Gegenstände der Physiologie schon bisher geläufig war.

In der Tat war der Ausdruck, die Sinnesempfindungen seien Zeichen oder Signale, die uns die Kenntnis der in dem uns umgebenden Raum befindlichen realen Objekte vermitteln, seit alter Zeit ein Bestandstück der im gewöhnlichen Leben herrschenden und der diesem entnommenen vulgären Psychologie der Physiologen. Für sie ist eben dies maßgebend, daß die Empfindung als solche überhaupt keinen Wert besitzt, sondern diesen erst insofern gewinnt, als sie auf ein äußeres Objekt hinweist. Sie ist lediglich Hilfsmittel. Zunächst für den Menschen überhaupt, dann aber auch für den Naturforscher, um die Außenwelt zu erkennen. Wo irgend einmal die Frage gestreift wird, wie denn die Empfindung zu dieser Funktion eines Zeichens für ein ganz heterogenes Objekt komme, da lautet dann die Antwort, nicht in der Empfindung selbst, sondern in demjenigen Teil der Außenwelt, der diese Zeichenrolle vermittele, in dem Sinnesorgan liege dieselbe begründet, und die sogenannten nativistischen Theorien bestehen daher durchweg darin, daß man aus fest gegebenen Einrichtungen der peripherischen und zentralen Sinnesapparate diejenigen Eigenschaften der Sinnesempfindungen abzuleiten sucht, denen sie jene Objektivierung verdanken. Als die Vorgänge, die von dem Zeichen auf das bezeichnete Objekt hinweisen, gelten aber schon in der praktischen Vulgärpsychologie das Schließen und Urteilen. Noch heute pflegt die gewöhnliche Psychologie dieses in dem Sinnesorgan selbst lokalisierte Schließen, dessen Prämissen gewissermaßen die Empfindungen sein sollen, mit den bewußten logischen Prozessen zusammenzuwerfen. Da geschieht endlich ein weiterer Fortschritt, indem für die Sinneswahrnehmung der Begriff eines unbewußten Schließens eingeführt wird. In ihm liegt eigentlich schon das Eingeständnis, daß es in Wirklichkeit kein logischer Prozeß sei, sondern sich erst, wenn er als willkürliche Transformation eines Zeichensystems aufgefaßt wird, in einen solchen verwandle. Hier sind nun aber wieder zwei Auffassungen möglich. Die eine bleibt bei dem Begriff der Sinnesempfindung als eines Zeichens von unmittelbarer objektiver Bedeutung stehen: das ist die physiologische Auffassung, die von Helmholtz in verschiedenen Wandlungen durchgeführt worden ist, und die, weil Sie dem Begriff des Zeichens fortan eine reale Bedeutung beilegt, im Grunde bis zuletzt einen Nativismus in empiristischer Gewandung festhält. Die andere ist die psychologische, die von Anfang an sowohl die Sinnesempfindung wie ihre Objektivierung als psychische Prozesse von mehr oder weniger elementarer Beschaffenheit und damit den gesamten Wahrnehmungsvorgang als ein psychologisches Problem behandelt. In ihr hat demnach die Formulierung der Wahrnehmungsprozesse als unbewußter Schlüsse einen wesentlich anderen Sinn als in ihrer nativistischen Begründung durch den Begriff des Zeichens. Ist sie in dieser ein bloßer Hilfsbegriff der Physiologie, so wird sie in jener zu einem Versuch, die einfachsten psychischen Vorgänge, als welche die Sinneswahrnehmung anzusehen sind, als psychische nachzuweisen und damit innerhalb der Psychologie ihre Stelle anzuweisen. Demgemäß haben denn auch die beiden Formen, in denen hier und dort der Begriff des unbewußten Schlusses entwickelt worden ist, nicht nur von Anfang an eine verschiedene Bedeutung, sondern auch die Konsequenzen, zu denen er beidemal geführt hat, sind wesentlich voneinander abweichende. Auf die psychologische Wendung des Begriffs, die ich in meiner ersten Arbeit über die Theorie der Sinneswahrnehmung vertrat, werde ich unten zurückkommen. Hier haben wir zunächst die Auffassung von Helmholtz zu betrachten, die eine Art Abschluß der bis dahin erörterten physiologischen Wahrnehmungstheorien bildet. Im Hinblick auf diese verschiedene Bedeutung der logischen Einkleidungen der Wahrnehmungsvorgänge besitzt aber die weitere Entwicklung der Theorien ein allgemeineres Interesse für die Psychologie überhaupt. Hier bietet die empiristische Theorie der Physiologie der Sinne unverkennbar das Schauspiel einer allmählichen Selbstauslösung der Versuche, die Sinneswahrnehmung auf physiologischem Wege zu interpretieren, während die rein psychologische Theorie als ein Versuch sich darstellt, die elementaren psychischen Prozesse dem allgemeinen Zusammenhang des geistigen Lebens einzuordnen.


 << zurück weiter >>