Ernst von Wolzogen
Die Erbschleicherinnen. Band 2
Ernst von Wolzogen

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwanzigstes Kapitel.

In welchem für die Münchner Mädeln die Herrlichkeit einen glücklichen Anfang und diese wahrhaftige Geschichte einen glücklichen Ausgang nimmt.

Am andern Morgen fand Kathi, als sie von einem kleinen Spaziergang mit dem Pastor heimkehrte, zwei Briefe vor. Des einen Aufschrift zeigte Lizzis große steile Kinderhand, und den öffnete sie zunächst. Er war nur drei Seiten lang:

»Liebstes Katherl!

Gleich überschlagen möcht' ich mich dreimal in der Luft vor Freude! Umeinandergestupft haben mich die Herren auf der Probe, daß ich gar nimmer aus und ein gewußt und gemeint hab, ich hätt hundsmiserabel gespielt. Aber wie's aus gewesen ist, da hat mir der Herr Direktor die Backen gestreichelt und gesagt: ›Na, das war sehr nett, Kleine. Ich denke, wir probieren es einmal.‹ Denkt's Euch bloß: am Samstag ist schon die Aufführung und auf dem Zettel wird zu lesen sein: Anna Birkmeier, ein Dirndl aus St. Jakob . . . Lizzi Mödlinger a. D., welches aber weder außer Dienst, noch aus Dummheit, sondern vielmehr als Debüt bedeuten soll. Einen Kontrakt hab ich vorgelegt gekriegt, wonach ich, wenn ich am Samstag gefalle, mit dreihundert Mark monatlich auf zwei Jahre engagiert werden soll. Denkt's Euch nur, dreihundert Mark und am Deutschen Theater in Berlin! Ist das nicht zuckrrrig? Natürlich müßt's Ihr alle kommen. Ich zahl's! Zwei Proben werden noch gemacht meinetwegen, und wegen dem österreichischen Dialekt muß ich noch zu einem von den Herren hin, der sich auskennt darin. Er macht den Wurzlsepp. Grüß Dich Gott, Katherl, und schreib, wann Ihr kommt. Es umarmt Dich

Deine überglückliche

Lizzi.«

»Nachschrift. Sollte am Ende gar der Herr Pastor gekommen sein, dann sag ihm einen schönen Gruß, und er möcht mir nicht bös sein – und Du auch nicht.«

Kathi hatte den Brief erst für sich überflogen und dann der Frau Hartmann und dem Pfarrer vorgelesen. In der Nachschrift hatte sie sich aber eine kleine Korrektur erlaubt. Statt: »einen schönen Gruß« las sie: »einen rechten schönen Gruß« und die letzten vier Worte ließ sie ganz fort. Sie freute sich von ganzem Herzen über Lizzis gute Aussichten und wünschte ihr den allerbesten Erfolg, um so mehr, als sie dann hoffen durfte . . . Aber nein, sie wollte den selbstsüchtigen Gedanken nicht zu Ende denken. Sie wurde ganz rot und griff eiligst nach dem andern Brief, während der Pastor und die Frau Oberlehrer noch über die Sache weiter sprachen.

Sie konnte den Poststempel nicht entziffern und die Hand kannte sie auch nicht. Eine Schrift war das – ach! Sie ging ans Fenster und begann mühsam zu buchstabieren. Eine Viertelstunde beinahe brauchte sie zu den vier eng beschriebenen Seiten. Und als sie endlich damit fertig war, knüllte sie ärgerlich das Papier zusammen und warf es heftig auf den Boden.

»Ja Käthchen, was gibt's denn? Was hast du denn? Du bist ja ganz . . .« sagte Frau Hartmann erstaunt. Sie hatte das sanfte Fräulein noch nie so bös gesehen.

»A was, da kann m'r sich auch giften über so eine . . .« Und sie stieß mit dem Fuß nach dem Brief, daß er bis unter das Sofa flog. »Ein Heiratsantrag ist's. Ja Schnecken, der könnt' m'r grad passen!«

»Was denn?« rief Frau Hartmann neugierig, »Doch nicht etwa hier aus Pyritz vom dick . . .?«

Kathi unterbrach sie rasch, indem sie errötend den Pastor mit einem verlegenen Blick streifte: »A was denn, geh'n S' zu. Der macht doch so Dummheiten net! 's ist vom – i mag's gar net sag'n, Sie wer'n mich auslachen.«

Frau Hartmann wollte sich unter das Sofa bücken, um das zerknüllte Schreiben hervorzuholen. Aber da fiel ihr Kathi rasch in den Arm und flüsterte ihr ins Ohr: »Naa, bitt' schön, lassen S' 'n nur liegen, ich steck's nachher schon ins Feuer, 's ist vom Herrn Emmerich Vogel.«

»Emmerich Vogel?« rief die große Dame laut. »Nein, ist die Möglichkeit! – Du, da steckt was dahinter – oder sollte man wirklich glauben, daß du den Menschen so . . . hihi! Ich kenn' ihn ja nicht – aber was du mir so erzählt hast, da würde ich auch danken. Verkracht soll er ja doch auch sein.«

Kathi setzte sich auf den nächsten Stuhl und stieß ärgerlich mit den Fußspitzen aus und dann sagte sie so vor sich hin: »Wenn m'r nur aus Rom amal die Wahrheit zu hören bekäm' über den armen Onkel. Der Herr Vogel schreibt, es ging ihm recht schlecht und er würde wohl kaum den Sommer noch erleben. Der thät' grad nach mir fragen, der saubere Herr, wenn er net auf eine Erbschaft spekulieren thät'. Der Onkel meint's ja so gut mit mir, so gern möcht' 'r mir was verschreiben – und 's ist doch bei Gott net wahr, daß mir uns aufs Erbschleichen verlegt haben! Lieber möcht' i schon kein Pfenning krieg'n, wenn i wüßt, daß s' den armen Mann wieder so plagen deswegen. Wenn er wirklich ein neues Testament g'macht hat, nachher hätt'n m'r ja kei ruhige Stund' mehr vor der Frau Tante. Die thät's auf der Straß' ausschrei'n, daß mir Erbschleicherinnen wär'n. Ui jegerl, wenn i d'ran denk', was s' mit mir für a wüst's Wesen g'macht hat, wie's aufkommen is mit der Lizzi ihre tausend Mark'ln – o mei! Lieber möcht' i betteln geh'n, als wie an so an schiechen Kerl . . . Nehmen S' mir's net in Uebel, Herr Pfarrer, i kann m'r net helfen, i hab' an solchen Zorn auf den Menschen, i kann's gar net sag'n. I hab's ihm scho immer deutlich g'nug zeigt, daß i nix mit ihm z'thun hab'n will. Dees is überhaupts a Beleidigung, mi d'rnach noch z'fragen, ob i 'n heiraten will! Grad als ob er m'r gar noch a Ehr damit anthät, schreibt er – und die allergrößt' Frechheit is, daß er auch noch glei sein Bruder für d' Lizzi empfiehlt, den Troddel den schlacketen, der seine Knochen immer nummeriert hab'n muß, daß er's nur net verliert. Zwei Kinder hat er, eins ist bucklet und 's andre blöd und von seiner Frau müßt er sich überhaupts erst scheiden lassen. Jesses, jesses, dees wär a nette Gaude! I antwort' gar net auf den Fetzen.«

Nein, diese Kathi! In einen solchen Zorn hatte sie sich hineingeredet – und sie schien gar nimmer aufhören zu wollen. Ein herzliches Gelächter des Pastors brachte endlich ihren Redefluß zum Stillstand. Ganz erhitzt war sie. Ihre Schuhspitzen hatte sie schon fast abgestoßen und daß ihr Sacktüchel nicht in Fetzen gerissen war bei dem heftigen Herumzerren, das war ein reines Wunder. Sie erinnerte Pastor Werkmeister auf einmal so lebhaft an Lizzi. Gerade so hätte die auch aufbegehren können, wenn ihr jemand zu nahe getreten wäre. Gar nicht zugetraut hätte er ihr diese Lebhaftigkeit, dieses Sprühfeuer in Blick und Miene. Die sanfte stille Kathi, wie ähnlich sie doch ihrer entzückenden Schwester sein konnte! Ja, ja, es gibt so stille Menschenkinder, die man erst einmal in der Trunkenheit des Zorns oder der Liebe gesehen haben muß, ehe man sich eine halbwegs richtige Vorstellung von ihrer Seele machen kann.

»Ja, was lachen S' denn nur a so?« schmollte Kathi, indem sie stirnrunzelnd zwischen dem Pastor und der Frau Oberlehrer hin und her blickte, denn die letztere hatte alsbald mit eingestimmt in die Heiterkeit des Gastes.

Frau Hartmann zog Kathi von ihrem Stuhle auf und umarmte sie stürmisch.

»Ich muß dir einen Kuß geben, Herzchen,« sagte sie und führte diesen Vorsatz sofort gründlich aus, ohne sich auf eine weitere Erklärung der merkwürdigen Notwendigkeit einzulassen.

Und Pastor Werkmeister sah zu und rief munter: »Ja, potztausend, das möcht' ich auch!«

Da lief Kathi blutrot zum Zimmer hinaus.

»Ach, das thut mir leid, jetzt habe ich sie aber wirklich böse gemacht,« sagte der Pfarrer etwas verlegen.

Und die Frau Oberlehrer versetzte mit eigentümlicher Betonung: »So, glauben Sie?« –

Um Mittag etwa kehrte Doktor Hartmann mit seinen drei Buben von der Fußwanderung um die Madüe zurück. Da gab's ein Erzählen und eine Freude über Lizzis Brief und ein Beratschlagen, wie man es wohl einrichten könne, um bei der Aufführung des »Pfarrer von Kirchfeld« zugegen zu sein. Uebrig hatten sie es ja wahrlich nicht, die guten Hartmanns, und die Reisekosten von Lizzi geschenkt nehmen mochten sie auch nicht gern, denn es war doch noch sehr die Frage, ob das Engagement wirklich zu stande kommen würde. Und ihre tausend Mark würden bei ihrer leichtsinnigen Großmut auch nicht weit reichen. Die schenkte sich ja das Hemd vom Leibe fort, wenn sie noch mehr Freundinnen wie Fräulein Grönroos fand! Aber der Oberlehrer war im Grunde nicht minder leichtsinnig. Er entschied sich kurz dafür, am Sonnabend mit Gattin und Kathi nach Berlin zu fahren. Er wollte bei der Gelegenheit für einen ausgewählten Band seiner Gedichte einen Verleger suchen. Das Honorar dafür würde schon die Reisekosten decken, meinte er zuversichtlich.

Am Nachmittag reiste Pastor Werkmeister wieder zurück, von Kathi und dem Oberlehrer an die Bahn begleitet, und beide trugen sie ihm eine Menge schöner Ausrichtungen für Lizzi auf. Er wollte aber davon nichts wissen.

»Geben Sie's ihr nur lieber schriftlich,« sagte er wehmütig lächelnd. »Ich glaube, es ist nicht meines Amtes, die junge Künstlerin in ihren Vorbereitungen für den entscheidenden Abend zu stören. Aber am Sonnabend bin ich selbstverständlich auch im Theater. Auf Wiedersehen also! Und schönsten Dank für die freundliche Aufnahme, Herr Oberlehrer. Und Ihnen auch, mein liebes Fräulein.«

Er drückte ihr sehr warm die Hand und sah ihr einige Sekunden lang tief in die Augen.

Sie hielt den Blick aus und öffnete errötend die Lippen.

Wie wunderschöne weiße Zähne doch das liebe Mädchen hat! das war der letzte Eindruck, den Pastor Werkmeister aus Pyritz mit fortnahm. Dann setzte sich der Zug in Bewegung. –

Bis wenige Minuten vor Beginn der Vorstellung hielten die Majorin von Goldacker und Kathi am Samstag abend bei Lizzi in der Garderobe aus. Sie waren in einer furchtbaren Aufregung – die beiden Damen nämlich, welche Trost zu spenden und den Mut aufrecht zu erhalten gekommen waren, während Lizzi selbst bis zum letzten Augenblick so übermütig scherzte und lachte, daß die alte bucklige Garderobiere mißbilligend den Kopf schüttelte über solch unpassendes Benehmen. Ein solcher Grasaff, der noch nie auf der Bühne gestanden und die hohe Ehre genoß, auf dem Deutschen Theater seine ersten Gehversuche anzustellen, nahm sich solchen Uebermut heraus! Das konnte nicht gut enden!

Die Majorin fühlte sich heute ganz als Mutter der Debütantin, und hatte sich's natürlich auch nicht nehmen lassen wollen, ihr aus ihrer Sammlung die besten und echtesten Stücke zu ihrem Kostüm als Annerl herzuleihen. Sie war daher nicht wenig gekränkt, ihre Lizzi abends in der Garderobe in einem andern Rock und Mieder zu finden, ganz gewöhnlichen neuen und gut sitzenden Kleidungsstücken. Die Direktion hatte ihr die echten Sachen einfach verboten, weil sie doch nicht wie eine Vogelscheuche herausgehen sollte. Auch von dem prächtigen Geschnür war ihr nur wenig gelassen worden, weil sie doch einmal ein ganz armes Dirndl und nicht etwa eine reiche Bäuerin vorstellte. Schließlich blieb eigentlich nur die seidene Schürze vom Eigentum der Majorin übrig, und diese gute Dame konnte sich nicht enthalten, in der Mißachtung ihrer Altertümer eine üble Vorbedeutung zu sehen. Im übrigen interessierte sie natürlich das Treiben hinter der Scene auf das lebhafteste. Ihre Erwartungen wurden aber arg enttäuscht. Sie hatte geglaubt, so ungefähr hinter jeder Coulisse so ein leichtes Dämchen mit einem eleganten Kavalier schäkern zu sehen und wer weiß was noch für angenehm aufregende Greuel. Von alledem gab es jedoch nichts, es ging vielmehr sehr still und ernsthaft zu. Theaterarbeiter in Leinwandkitteln huschten auf Filzsohlen einher und auf der Bühne wie hinter dem Prospekt liefen einige finsterblickende Gestalten auf und ab, gedämpft vor sich hinmurmelnd, die offenbar ihre Rollen noch einmal durchgingen und für gar nichts andres Sinn hatten.

Kathi kam sich ungefähr so vor, als ob sie von der unglücklichen Schwester kurz vor der Hinrichtung in der Gefängniszelle Abschied zu nehmen habe und ihr grell aufgeschminktes Gesicht mit den dicken schwarzen Strichen um die Ränder der Lider und den Scharlachtupfen in den Augenwinkeln flößte ihr geradezu Grauen ein.

Dann erschien der Regisseur, beschaute sich Lizzi stirnrunzelnd von allen Seiten und meinte, es sei gut so. Dann ersuchte er die beiden Damen höflich, aber entschieden, sich nunmehr schleunigst zu entfernen. Er geleitete sie selbst nach der kleinen eisernen Thür, die vom Bühnenraum ins Parkett führt. Kein Mensch beachtete sie unterwegs.

Als sie das Klingelzeichen zum Aufziehen des Vorhangs vernahm, verließ Lizzi die Garderobe, um ihren Auftritt zwischen den Coulissen abzuwarten. Ihre Lustigkeit war nur eine Art Fieberdelirium gewesen. Sie war in einer furchtbaren Aufregung. Alle ihre Pulse hämmerten, als wollte das Blut die Adern sprengen, und das Mieder beengte sie, obwohl sie sich gar nicht arg geschnürt hatte, dermaßen, daß sie kaum zu atmen vermochte. Sie hielt sich an dem Holzgerüst einer Coulisse fest, um nicht umzusinken und starrte in die hell beleuchtete Scene hinein. Aber es schwamm ihr vor den Augen, nur in ganz unbestimmten Umrissen vermochte sie die beiden Gestalten da zu erkennen. Von dem, was gesprochen wurde, verstand sie kein Wort. Die Scene zwischen dem Grafen Finsterberg und dem Pfarrer, die wohl noch kein Mensch besonders kurzweilig gefunden hat, schien ihr überhaupt gar kein Ende zu nehmen, und wenn ihr jemand zugeflüstert hätte: »Sie haben ja Ihren Auftritt versäumt, machen Sie, daß Sie raus kommen,« so wäre sie sicherlich in die Scene hinausgestolpert und hätte coram publico zu heulen angefangen. Ihre Kniee zitterten ihr, die Beine wollten sie nicht mehr tragen und sie sah sich angstvoll nach Hilfe um.

Ein alter Theaterarbeiter, der sie schon eine ganze Zeit lang mißtrauisch und mitleidvoll beobachtet hatte, ergriff sie beim Arm und führte sie, oder schleppte sie vielmehr beinahe, nach der Garderobe zurück. Kaum dort angekommen, mußte sie sich fürchterlich übergeben. Der alte Mann hielt ihr den Kopf und die bucklige Garderobiere das Waschbecken vor.

»So is recht, Freileinchen, man immer raus mit de wilde Katze, des wird Ihnen jut thun,« sagte der Coulissenschieber mit unerschütterlicher Ruhe.

Aber die Garderobiere machte ein bitterböses Gesicht und flüsterte dem Alten zu: »Na, wissen Se, Plaschke, das muß ich sagen, unser Direktor hat auch manchmal Einfälle, wie'n olles Haus. Passen Se auf, die schmeißt die Vorstellung.« Und dann brummte sie noch leiser vor sich hin: »Ich bin überhaupt engagiert, um Künstlerinnen zu bedienen und nicht zum kleine Kinder warten. So 'ne Schweinerei!«

Es dauerte wohl eine Viertelstunde, bis Lizzi sich einigermaßen wieder erholt hatte und die Spuren des Unglücksfalles mittels Puder und Schminke aus ihrem Gesicht getilgt waren. Aber etwas leichter war ihr jetzt doch zu Mute. Sie konnte wenigstens wieder klar aus den Augen schauen und freier atmen. Als sie wieder auf die Bühne hinauskam, war gerade die Scene mit der Begegnung der beiden Chöre zu Ende. Die Kirchfelder Hochzeiter kamen die Treppe hinuntergestiegen und die letzten Töne ihres Schelmenliedes verhallten. Die Damen vom Chor starrten im Vorbeigehen der Lizzi neugierig ins Gesicht. Sie nahm sich krampfhaft zusammen – man sollte ihr nichts anmerken.

Nun war nur noch eine Scene abzuwarten, dann mußte sie hinaus. O Gott, und über diese gefährlichen Stufen hinunter und über den Steg! Ganz bestimmt würde sie irgendwo hängen bleiben, hinunterpurzeln zum Gaudium der Zuschauer und mit einer blutigen Nase ihre Laufbahn als Bühnenkünstlerin eröffnen und – vielleicht auch beschließen. Wie fing doch gleich ihr Auftrittslied an? Herrgott, sie hatte ja alles vergessen! Sie dachte an diese und jene ihrer langen Reden – aber nur ein paar zusammenhangslose Zeilen fielen ihr ein, wie wenn sie an ein Buch dächte, das sie einmal vor Jahren gelesen. Und sie lief wieder nach der Garderobe und holte ihre Rolle herbei. Richtig, richtig: »Dö Fischerln im Bach und d'Vögerl am Boam, dö wissent, wo's hing'hörn . . .« Ja, wahrhaftig – und sie gehörte in die Kleinkinderbewahranstalt, aber nicht auf die Bretter, die die Welt bedeuten! Jetzt konnte es höchstens noch zwei Minuten währen, bis sie hinaus mußte und singen – ach, singen! Die Zunge klebte ihr schon wieder am Gaumen, obwohl sie eben noch einen Schluck Wasser getrunken hatte. – Und wahrhaftig, da war schon der Herr Inspizient und flüsterte ihr zu: »Gehen Sie 'rauf, Fräulein, es ist Zeit.«

Sie drückte dem Inspizienten ihr Rollenheft in die Hand und begann hastig die schmale Stiege emporzuklettern, die auf die Felspartie hinaufführte. Auf der dritten Stufe schon stolperte sie und stieß sich empfindlich am linken Knie.

»Los, los, los!« raunte ihr der Inspizient von unten zu. »Wenn Sie den zweiten Vers anfangen, gehen Sie erst raus.«

»Au, mei Knie! I Hab' mi doch so g'stoßen! – Wie fangt's denn an?« jammerte Lizzi kläglich.

»Man keinen Beinbruch vorschützen, Sie! Herrjott, Herrjott – nu singen Se doch!«

Und Lizzi drückte die Hand gegen den heftig wogenden Busen, holte tief Atem und begann:

»Dö Fischerln im Bach
Und d' Vögerln am Boam,
Dö wissent wo s' hing'hörn
Und hab'n ihr Dahoam.
Nur 'n Menschen treibts G'schick
Oft hinaus in die Fremd,
Wenn er glei vor Hoamweh
Und Herzload dakämmt,
Duliödiö diridiö!«

So, das war glücklich heraus, aber jammervoll kurzatmig und schluckrig mußte es geklungen haben – wenn es überhaupt geklungen hatte. Lizzi wußte von gar nichts. Sie sah nur den Inspizienten unten stehen, wütend gestikulierend und heiser: »Raus, raus, raus!« flüstern. Krampfhaft krallten sich ihre Finger in das Bündel ein, das sie in der Rechten trug, und dann schritt sie hinaus auf die taghell beleuchtete Scene. Und nur ganz leise, mit halb erstickter Stimme, vermochte sie den zweiten Vers zu singen:

»Dahoam hat mi ang'lacht
Beim Bacherl der Steg –«

Sie stand gerade auf dem kleinen Steg und umklammerte zitternd mit der linken Hand das Geländer. Au, das Knie that so weh!

»Dö Häuserln im Dörfl,
Jed's Stoanderl am Weg –«

Sie wagte drei Schritte vorwärts zu gehen, bis wo das Geländer zu Ende war.

»Doch weit von dahoam
Schaut jetzt fremd alles her –«

Sie wagte aufzublicken und sah in das dunkle Haus hinein, wo eine schwarze Menschenmasse dicht gedrängt bei einander saß. Lauter Henkersknechte, mitleidlose Bestien, die sich ein Vergnügen daraus machen würden, sie auszulachen, wenn's jetzt nicht weiterging. Und Pastor Werkmeister saß auch mitten drin. Wie der sich freuen würde, wenn sie sich auf ewige Zeiten blamierte! Das Herz schlug ihr in der Kehle und sie sang weiter:

»Als ob i schon selber
Vergangen lang wär'.
Duliö . . .«

Der Jodler erstickte im Halse, sie brachte ihn nimmer zusammen.

»Du, Deandl!« hörte sie plötzlich eine Stimme, und sie erhob erstaunt den Kopf. Wer hatte denn hier vor all den Leuten mit ihr zu reden?

»Hat's dich leicht a bei der Falten, 's Unglück, weilst so traurig singst?«

Mein Gott, ja, der Mann hatte recht. Ob sie's ihr denn alle ansahen, die Leut' da drunten, wie völlig verdattert sie war? Ach so, richtig, das war ja der Wurzlsepp aus dem Stück. Sie mußte ihm jetzt antworten; aber was denn nur? Der Mann da unten im Kasten schrie ihr etwas zu und sie schnappte ein oder zwei Worte davon auf. Das Summen in ihren Ohren hörte plötzlich auf, es war ihr, wie wenn etwas wie eine Blase irgendwo in ihrem Kopfe gesprungen wäre, wonach es ihr leicht und hell darin ward. Und auf einmal konnte sie reden: »'s is ma wohl nie gut gang'n, ab hitzt weiß i gar nimmer was wer'n wird.«

Sepp (bietet ihr den Krug).
»Trink eins!«

Annerl (legt die Hände ans Mieder).
»I dank' schön, i kann net.«

Sepp.
»Dir verschnürt 's Mieder ja völlig die Red', bist g'wiß g'loffen wie nit g'scheit?«

Annerl.
»Ah na!«

So, jetzt war sie völlig darin, ganz und gar nur die Anna Birkmeier. Und daß sie das alles erst kürzlich auswendig gelernt, kam ihr gar nicht zum Bewußtsein. Es war ihr überhaupt alles wie im Traum. Sie redete darauf los und wußte nicht was und wie. Und dann stand sie auf und ging mit dem Wurzlsepp davon und der Vorhang fiel – und draußen hörte sie ein ganz merkwürdiges, dumpfes Geräusch, wie wenn ein heftiger Platzregen auf einem dünnen Pappdach trommelt.

»Ja, was is denn jetzt dees?« fragte sie erstaunt, aus ihrem Traum auffahrend, den Kollegen Wurzlsepp.

»Die Leute klatschen halt, mein Kindchen,« sagte der Herr mit wohlwollendem Lächeln. »Ja gelt, da sperrst die Ohren auf! Das gilt für dich auch mit.«

»Ui jegerl, muß i jetzt naus und an Knix machen?«

»Um Gottes willen, das gibt's hier net,« rief der Wurzlsepp, ihr nacheilend und sie am Arme festhaltend, denn sie war gleich auf die Bühne gelaufen in ihrer freudigen Aufregung.

»Ja, hab' ich denn wirklich alles richtig gesagt? Hab' ich denn gut gespielt?«

»Wie ein Engerl hast g'spielt, mein Herzel. Und g'sungen hast so rührend, daß m'r's selber fast schwummrig wor'n is.«

»Ah na, is wirklich wahr?« rief Lizzi, ungläubig die Augen aufreißend. Und als er bestätigend nickte, quietschte sie laut auf vor Vergnügen, klatschte in die Hände und drehte sich dreimal auf dem Absatz herum, daß ihr die Röcke bis über die Kniee flogen.

Der Herr Direktor kam gerade dazu, jagte sie lachend von der Bühne herunter, wo sie den Arbeitern im Wege stand, klopfte sie freundlich auf die Schulter und sagte: »Na, na, na, nur nicht gleich Purzelbäume schießen; es ist noch nicht aller Tage Abend, aber bis jetzt war's sehr hübsch. Es ist eine warme Stimmung im Publikum. Ein paar gefühlvolle Damen haben gleich beim Auftrittslied die Taschentücher 'rausgezogen. Fahren Sie so fort, Mödlingerin – jetzt geht's weiter.«

Und es ging gar glücklich weiter. Beim ersten Auftreten zwar saß ihr jedesmal der verwünschte Angstknödel in der Kehle, aber sobald sie ein paar Worte herausgebracht hatte, ging es auch wieder glatt weiter. Am Schluß des ersten Aktes gab es wieder einen starken Beifall. Und die Schnaderhüpferln, die sie beim Beginn des zweiten zu singen hatte, gelangen ihr so gut, daß sie bei offener Scene lebhaft beklatscht wurde. War das ein Gefühl! Als ob die tausend Hände, die sich da draußen regten, sich alle unter ihre Füße breiteten und sie zu den Wolken emporhöben. Sie wandelte gar nicht mehr auf festem Boden und eine Kraft, eine Lust, ein Uebermut kam über sie – sie hätte jetzt der Tante Ida einen Nasenstüber geben mögen, so couragiert wie sie auf einmal geworden war! Und ihre übermütige Stimmung paßte so recht für die lustige Scene mit der alten Brigitte.

Der dritte Akt sollte ihren Triumph entscheiden. Roseggers reizendes Liedchen vom Deandl, das fragt, ob's es Büberl lieb'n derf, sang sie so allerliebst, daß ein wahrer Beifallssturm durch das Haus brauste und Brigitte ein ganzes Weilchen warten mußte, ehe sie zu reden anheben konnte. Bei dem langen Selbstgespräch verfiel sie in einen etwas eintönigen Singsang und merkte das auch selbst ganz wohl. Aber was konnte sie dafür, daß der Dichter den schlechten Geschmack hatte, mitten in seinen frischen Dialog hinein eine ganze Seite Phrasenwerk einzusticken – wie aus einer sentimentalen Kalendergeschichte herausgerissen! Sie schlug ein viel zu geschwindes Tempo an, bloß damit die Geschichte ein rasches Ende haben sollte, denn jetzt kam ja die reizendste Scene des ganzen Stückes, die zwischen ihr und dem Michl, und sie wußte ganz genau, daß sie die nicht schlecht spielen würde.

Und sie gelang ihr ausgezeichnet. Die ganze flotte Lieblichkeit, die schalkhafte Lust am Unfug, die von Natur in ihrem Wesen lag, kam, ganz unverdorben durch komödiantische Routine, zum herzerquicklichen Ausdruck. Und als sie das Gebetbuch an ihre Brust preßte und mit aufsteigenden wirklichen Thränen sagte: »Michel, du bist a grundguter Bua«, da ging eine Bewegung durch das ganze Haus, ein Rücken, ein Rascheln, unterdrückte leise Ausrufe, vorsichtig verlegenes Geschneuz, ein allgemeines tiefes Aufatmen – – und das glückliche Kind da oben auf der Bühne verspürte es wohl, wie zwischen ihr und der fremden Menschenmenge da draußen im Hause ein dichtes Netz von elektrischen Drähten ausgespannt lag, fühlte, daß ihm die Macht gegeben war mit einer einfachen Handbewegung, mit einem leichten Hauch seines Mundes alle die Herzen höher schlagen zu machen.

In diesem Augenblicke wußte Lizzi, daß sie zur Künstlerin geboren sei und daß nichts sie mehr von dem Wege abbringen könnte, den sie heute mit Zittern und Zagen betreten. Alle Angst war von ihr genommen und auch die langen Reden mit dem Pfarrer, mit denen sie selbst innerlich nichts anzufangen wußte, gelangen ihr wenigstens äußerlich ganz gut.

Schon nach dem dritten Akt war der Direktor mit strahlender Miene auf sie zugekommen und hatte gesagt: »Na, mein Fräuleinchen, jetzt können wir meinetwegen den Kontrakt unterschreiben. Das Tageblatt ist weg und der Börsencourier lacht übers ganze Gesicht.«

Und dann waren die Kollegen und Kolleginnen von allen Seiten auf der Bühne zusammengeströmt, so viel ihrer im Hause anwesend waren, hatten sich ihr vorstellen lassen und ihre Glückwünsche dargebracht – natürlich mit Ausnahme einiger Damen, die selbst gerne die Rolle gespielt hätten. Agnes Sorma, zu der sie gestern noch wie zu einem unerreichbaren Ideal aufgeschaut, hatte sie umarmt und ihr viele schöne Sachen gesagt, und von Kainz hatte sie gar einen Kuß gekriegt. Sie flog überhaupt von einem Arm in den andern, ohne zu wissen, was mit ihr geschah. Die Kollegen waren alle so lieb und gut, sie hätte sie am liebsten alle hintereinander abgebusselt – bloß den Wurzlsepp nicht, der sah zu scheußlich aus, wie ihm die dicken Schweißtropfen so über das greulich verschmierte Antlitz rannen.

Als die Komödie aus war, wurde die Bühne gestürmt von ihren Lieben und Getreuen. Außer Kathi und der Majorin erschienen jetzt auch Herr und Frau Doktor Hartmann, die bethränte Königin Amanda Orjes, und zum Schluß gar noch der gänzlich aufgelöste Bubi. Trotz der strengen Hausordnung ließen die beiden Mannsbilder, das alte und das junge, sich nicht abhalten, mit den Damen gleichzeitig in Lizzis Garderobe einzubrechen, sehr zum Entsetzen der buckligen Ankleiderin, der solche Familientage hinter den Coulissen etwa ebenso unpassend dünkten, wie einem Meßner Hundebesuch in der Kirche. Das Annerl war bereits abgelegt, aber die Lizzi noch nicht wieder angezogen. Im Unterrock und Leibchen stand sie noch da und rieb sich heftig mit einem alten Handtuch die Schminke vom Gesicht. Mit einem Juchzer sprang sie der kleinen Gesellschaft entgegen und fiel einem nach dem andern um den Hals. Das war eine Seligkeit und ein Jubel und des Glückwünschens und Umarmens und Küssens gar kein Ende! Immer wieder nahte von hinten die Bucklige mit dem zum Ueberstreifen aufgehobenen bürgerlichen Gewande, und immer wieder entwischte ihr Lizzi unter den Fingern, um noch was Neues von Wichtigkeit ihrem aufgeregten Geschwätz hinzuzufügen. Schließlich setzte sie sich gar hin und zog ihren linken Strumpf halb herunter, um der andächtigen Versammlung die Stelle unterhalb des Kniees am Schienbein zu zeigen, wo sie sich so empfindlich gestoßen hatte beim ersten Auftritt.

»O mei, dees thut fei weh,« sagte sie kindisch den Mund verziehend und sich mitleidig streichelnd. »In der Aufregung hab' i's gar net g'spürt, aber jetzt möcht' i, daß dees a schön's blau's Fleckerl gäb', dees gar nimmer verschwinden thät. Wißt's, i mein, dees hat m'r Glück bracht, daß i so g'stürzt bin.«

»Aber, Lizzi, schamst di denn gar net,« flüsterte Kathi ihr zu, indem sie sich breit vor sie hinstellte. »Der Bub schaut ja her wie net g'scheit!«

»Ah was, der schaut m'r nix runter,« versetzte die Lose leichthin, indem sie ihr hübsches Knie wieder verschwinden ließ. »Geh'n S' zu, Frau Puhlmann, mein Kleid, mi friert's schon.«

»Na, ich dächte auch,« zischelte die Alte, »'ne halbe Stunde steh' ich hier schon. Ich habe meine Zeit auch nich jestohlen!« Und dabei warf sie ihr den Rock über den Kopf und gab ihrem Aerger noch kräftigeren Ausdruck dadurch, daß sie beim Zuhaken die Lizzi herumriß, wie ein Bündel Stroh.

Wenige Minuten später stand das neueste Mitglied des Deutschen Theaters schon fix und fertig in Hut und Mantel da, und die kleine Gesellschaft setzte sich in Bewegung. Jetzt erst fiel es Lizzi ein, nach Fräulein Grönroos und dem Pastor zu fragen, die doch auch im Theater gewesen waren, und sie bekam den Bescheid, daß diese beiden am Ausgang auf sie warteten.

»Jesses, die Milka!« rief Lizzi. »Der müßt' ich doch z'allererst um 'n Hals fallen. Der verdank' ich ja am allermeisten.« Und sie lief so rasch voraus, daß die andern gar nicht zu folgen vermochten. Fräulein Orjes fühlte sich gekränkt. Sie war doch schließlich ihre Lehrerin und bei ihr hatte sich Lizzi noch gar nicht bedankt. Auch der Oberlehrer war ein klein bißchen verstimmt, denn er meinte doch das Meiste zu ihrer Ausbildung beigetragen zu haben.

Am Ausgang fanden sie Pastor Werkmeister und Lizzi, aber kein Fräulein Grönroos. Die war davongelaufen, ohne so recht einen Grund anzugeben, warum sie an dem festlichen Abendschmaus, zu dem Frau von Goldacker die ganze Gesellschaft eingeladen hatte, nicht teilnehmen wollte.

Lizzi war auf einmal ganz niedergeschlagen. »Der hab' ich am End net g'fallen,« sagte sie kleinlaut. »Der Herr Pfarrer sagt's auch, das s' ihm schon den ganzen Abend über so merkwürdig vorkommen is, wie s' neben ihm g'sessen is.«

»Ach was, laß' sie laufen, die wird bloß neidisch sein,« rief die Majorin, indem sie sie beim Arm ergriff und mit sich fortzog.

Sie nahmen zwei Droschken und fuhren davon. Lizzi war sehr still unterwegs. Das ging ihr im Kopf herum, warum die Grönroos wohl fortgelaufen sein mochte. Sie hatte ihr doch ein neues Kleid geschenkt, in dem sie sich ganz gut in Gesellschaft sehen lassen konnte.

Erst beim Abendessen lebte sie wieder auf. Die Majorin hatte sogar ein paar Flaschen Sekt spendiert und der Herr Oberlehrer hielt so eine schöne Rede auf sie in Knüttelversen, unvorbereitet, wie er sich hatte. Das heißt, seine Gattin wußte es anders, denn sie hatte ihm kurz vor dem Theater die Rede, die noch von Pyritzer Luft inspiriert war, überhören müssen. Auch Pastor Werkmeister sprach einige sehr hübsche Worte, und zwar auf ihre Lehrmeister. Fräulein Amanda meinte natürlich, er würde mit einem Hoch auf sie enden, und bereitete sich schon auf eine kleine Bescheidenheitskomödie vor. So war es aber nicht gemeint gewesen. Er sprach vielmehr von der herrlichen Gottesgabe der frischen, fröhlichen, unverdorbenen Natur, die sie befähigt habe, ein Kind jenes urwüchsigen, prächtigen deutschen Volksstammes, welchem sie selber angehörte, so echt und ergreifend darzustellen. Er sprach von dem goldenen Herzen, welches wie eine Glocke nur leicht angeschlagen zu werden brauchte von verwandten Gefühlen, um mit goldenen Tönen andre Herzen zu rühren. Er sprach von dem Erbe des schönen Talentes, das sie ihrem Vater verdanke, und welches getreulich zu verwalten und zu vermehren die gesunde, vernünftig freie Erziehung ihrer Mutter ihr so leicht gemacht habe. Und er schloß also: »Mit dem Segen eines edlen Priesters schloß die schöne Dichtung, die Sie heute mitgestalten halfen. Möge es einem andern Priester erlaubt sein, Sie in der Welt der Wirklichkeit auch mit einem Worte des Segens zu begrüßen. Die Welt des schönen Scheines wird von jetzt an vielleicht Ihre wirkliche Welt bedeuten. Wenn Sie Ihren Beruf hoch auffassen wollen, so ist es ja auch ein priesterlicher Beruf, wenn er auch weit abseits führt von dem Wege, der den Frauen im allgemeinen gewiesen ist. Möchten Sie Ihr Glück da finden, wo der innere Beruf sie hingestellt hat. Möchten Sie die Kraft finden, das reiche Erbe, das Ihnen zu teil ward, treu zu verwalten, und möchten Sie nie bereuen, daß Sie . . .« Er vermochte den Satz nicht zu vollenden, seine Stimme bebte vor innerer Erregung und er schloß rasch mit einem leisen »Gott segne Sie, Fräulein Lizzi«.

Den Champagnerkelch, den er in der erhobenen Hand hielt, stellte er, ohne zu trinken, so rasch auf den Tisch nieder, daß der Fuß abbrach und der perlende Wein sich über die Tafel ergoß. »O, ich bitte um Entschuldigung!« hauchte er mit verlegen niedergeschlagenem Blick.

Niemand sprach ein Wort, denn sie alle ahnten, welch tiefer Schmerz die Seele des Mannes bewegte, der mit seinem Segen zugleich seiner schönsten Hoffnung den Abschied gab. Selbst das gekränkte Fräulein Orjes war ergriffen – und Kathi standen gar die hellen Thränen im Auge. Lizzi aber erhob sich langsam, schritt um den Tisch herum und trat dicht vor den Pastor hin, der immer noch hoch aufgerichtet dastand. Sie wollte ihren Dank stammeln, aber die Stimme versagte ihr, und so drückte sie ihr Gefühl denn einfacher und ebenso verständlich dadurch aus, daß sie ihre Arme auf seine Schultern legte und sich ganz leise an ihn schmiegte.

»Bitte – bitte, nicht – ich kann nicht mehr!« flüsterte er ihr ins Ohr und drückte sie sanft von sich ab.


Es war gegen zwei Uhr, als die letzten Gäste aufbrachen, und Lizzi fiel todmüde in ihr Himmelbett; aber schlafen konnte sie doch nicht. Ihre Rolle ging ihr im Kopfe herum die ganze Nacht, und im unruhigen Halbschlummer hatte sie alle die fürchterlichen Aengste des Lampenfiebers noch einmal durchzumachen. Der Morgen dämmerte bereits, als endlich wohlthätige Bewußtlosigkeit ihre schwarzen Engelsfittiche über sie breitete. Bis nach elf Uhr lag sie in festem Schlaf.

Die Majorin hatte schon in aller Frühe den Friedrich nach dem nächsten Zeitungskiosk geschickt, um alle Morgenblätter zusammenzukaufen, und als die Uhr elf schlug, ohne daß sich in Lizzis Zimmer etwas regte, da konnte sie es vor Ungeduld nicht mehr aushalten, sondern lief hinein, schüttelte die Langschläferin am Arm und rief: »Du, Lizzi, steh doch endlich auf. Großartige Kritiken!«

Da wurde sie aber schnell munter und in einer Viertelstunde war sie angezogen. Ein ganzer Haufen von Zeitungen und verschiedene Briefe lagen auf ihrem Platz am Kaffeetisch. Waren doch schon zwei Posten eingelaufen! Sie machte sich über die Kritiken her und quiekte einmal über das andre vor Vergnügen, wenn sie wieder einmal auf einen kräftigen Superlativ stieß. Ueber den Pfarrer von Kirchfeld war ja nichts Neues mehr zu sagen. Die Besprechungen waren alle kurz und galten nur der Darstellung, in erster Reihe natürlich der glücklichen Debütantin. »Reizende Erscheinung – verblüffende Sicherheit des Auftretens für einen ersten Versuch – Töne echtester Empfindung – unzweifelhaftes Talent, wenngleich abzuwarten sein wird . . .« in dieser Tonart ging das so weiter die ganze Berliner Presse hindurch.

Zwei-, dreimal überflog sie strahlenden Auges die ihr gewidmeten Zeilen, die die Majorin schon vorher zur Bequemlichkeit blau angestrichen hatte, und dann seufzte sie drollig auf und sagte überzeugt und befriedigt: »So, jetzt wär' also die Lizzi Mödlinger schon amal berühmt. O mei, ob's dees wohl auch in die Neuesten Nachrichten schreiben? Die Münchner wer'n schau'n!«

Dann erst nahm sie die Briefe zur Hand. Sie waren alle aus Berlin. Ein paar Lieutenants, die sie bei dem Sylvesterfest der Majorin kennen gelernt hatte, schickten ihre Visitenkarten mit herzlichem Glückwunsch, und dann kam ein längerer Brief, den mußte sie aufmerksam lesen, denn es stand »Milka Grönroos« darunter. Sie hielt das Schreiben mit einer Hand vor ihre Augen, während sie mit der andern die Semmel in den Kaffee stippte und von Zeit zu Zeit abbiß.

Da stieß sie plötzlich einen lauten Schrei aus, taumelte wie vor den Kopf geschlagen in ihren Stuhl zurück und starrte mit entsetzensweiten Augen in den Brief hinein, der in ihrer ausgestreckten Hand zitterte.

»Mein Gott, was ist denn?« rief die Majorin erschrocken und nahm ihr das Blatt aus der Hand.

»Sie ist tot – lies!« stöhnte Lizzi und erhob sich mühsam von ihrem Sitz. »Bitte, laß mir eine Droschke holen – ich muß gleich hin. Vielleicht ist . . . Ach Gott, nein, die schreibt net bloß so, die thut's.« Und damit wankte sie hinaus, um sich anzukleiden für den schweren Gang.

Unterdessen las die Majorin:

»Meine liebe Lizzi!

Verzeihe mir, daß ich gestern nach der Vorstellung nicht mehr mit euch fröhlich sein konnte. Ich hätte nur euer Vergnügen gestört und mir die Sache unnötig schwer gemacht. Daß ich Deinem Triumphe beiwohnen durfte, hat mir noch eine wirkliche herzliche Freude gewährt. Du hast ihn verdient und ich beglückwünsche Dich aufrichtig dazu. Freilich, eine große Kunstleistung war das noch nicht, denn Du brauchtest Dich nur einfach gehen zu lassen – Deine liebenswürdige Natur that das Beste für Dich; aber das andre wird auch kommen, davon bin ich fest überzeugt. So ungefähr denke ich mir, muß sich wohl der Genius im Wickelkissen benehmen. Wer zum Schaffen geboren ist, der nützt sein Gehirn nicht im Grübeln ab. Verzeihe mir, wenn ich mit einem schrillen Mißton in die Jubelaccorde hineinfahren muß, die Dir morgen früh noch in den Ohren klingen werden; aber Du warst die einzige Menschenseele, die sich in diesen letzten Monaten liebevoll herabgeneigt hat zu meinem Elend, darum mußt Du alles wissen.

Also höre: Gestern nachmittag trat ganz unvermutet in mein Zimmer jener Mann, den ich nie mehr im Leben zu sehen erwartet hatte, jener Mann, dem ich mein höchstes Glück, die Freiheit meines Geistes, aber auch mein tiefstes Elend verdanke – ein gänzlich heruntergekommener, vom Trunk verwüsteter Mensch. Wie er mich aufgefunden hat, weiß ich nicht. Kurz und gut, er forderte Geld von mir – und ich gab ihm, was ich hatte. Da wollte er weich werden und die Erinnerung an den kurzen süßen Rausch heraufbeschwören, der mich in seine Arme getrieben hatte. Aber das machte ihn mir vollends ekelhaft und ich wies ihm die Thür. Bis es Zeit war, ins Theater zu gehen, hatte ich eine reichliche Stunde zum Nachdenken. Mein Entschluß war gefaßt, bevor ich das Theater betrat. Dein Triumph konnte ihn nur in mir bestärken und mir das Ende leichter machen. Ja, das Ende! Du hast mühelos erreicht, wonach ich mein Leben lang in heißem Bemühen gerungen habe. Ich sehe es jetzt endlich ein, daß ich gar nicht das Recht hatte, so hartnäckig nach dem Lorbeer des Künstlers zu streben. Dich, Du süßes, harmloses Geschöpfchen, das mit den Schwalbenflügelchen der Einfalt so lustig in die blaue Luft hinaufflattern kann, Dich haben böswillige Menschen Erbschleicherin gescholten! – Nein, ich bin in Wahrheit eine Erbschleicherin gewesen, mein Leben lang: der Kunst habe ich was abschmeicheln und abtrotzen wollen – ich, die ich zu ihrer edlen Familie nur in aller entferntester Verwandtschaft stehe, als ein mißratener Bastard der Wissenschaft und eines unbekannten Vaters! Du aber darfst von dem, was Du legitim ererbt hast, aus dem Vollen leben – und weißt es gar nicht anders. Ich danke Dir ehrlich, daß Du mir geholfen hast, das einzusehen. Ich habe nie in irgend einer Kunst auch nur das Geringste erreicht – und so müßte es notwendig auch immer bleiben. Einen neuen Weg einzuschlagen, dazu ist es für mich zu spät. Meine Kraft ist gänzlich verbraucht; also mache ich lieber kurzen Prozeß. Morgen früh bin ich tot! Thu mir die Liebe und besorge das Nötige – Benachrichtigung der Eltern u. s. w. Die Adressen habe ich aufgeschrieben. Meinen elenden Körper möchte ich am liebsten der Anatomie zum Geschenk machen; soll er aber verscharrt werden, dann sorge wenigstens dafür, daß man mein Andenken nicht mit frommen Lügen verhöhnt. Im übrigen setze ich Dich zu meiner Universalerbin ein. Das soll kein schlechter Witz sein. Die paar Bilder und Bücher magst Du meinetwegen in den Ofen stecken, aber mein Andenken wirst Du vielleicht in Ehren halten können, und die Erinnerung an manches ernsthafte Wort, das ich Dir über die Kunst und das Leben gesagt habe, nicht gering schätzen, weil es von mir kam. Von klein auf habe ich es zu hören bekommen, daß ich kein Herz hätte. Mag sein; aber die Wahrheit habe ich doch immer inbrünstig lieb gehabt – und ich glaube auch Dich, Du Gute. Leb wohl und ›Dank für das bißchen Feuer!‹

Milka Grönroos.«


Lizzi war Hals über Kopf davongefahren. Unterwegs aber fiel ihr ein, daß es doch wohl nötig wäre, für die Verhandlungen mit der Polizei und andre mögliche Schwierigkeiten sich einen männlichen Beistand mitzunehmen. So fuhr sie denn zunächst nach dem Hotel, in welchem Hartmanns mit Kathi abgestiegen waren. Die Herrschaften waren bereits ausgegangen. So blieb ihr nichts übrig, als den Auftrag zu hinterlassen, daß der Herr Oberlehrer sofort ihr nachkommen möge, sobald er heimkehrte, und allein nach der Landsbergerstraße hinauszufahren. –

Frau Rösicke, umgeben von einer ansehnlichen Schar alter und junger Weiber aus dem Hause und der nächsten Nachbarschaft empfing sie mit schrecklichem Gejammer und Geschimpfe. Das hätte ihr das Frauenzimmer bloß zum Tort angethan. Wie sollte sie denn jetzt bloß das Zimmer noch vermieten, wo es morgen doch in allen Zeitungen stehen würde, daß sich eine drin umgebracht hätte. Anständige Leute gingen in den Tiergarten, wenn sie sich erschießen wollten. Dazu hätte man nun so lange Geduld gehabt mit der übergeschnappten Person, die weiter nichts konnte, als die Miete schuldig bleiben und die ganze Wohnung mit Terpentin und Tabaksrauch einstänkern. In dieser Tonart ging es noch eine ganze Weile fort und der Chor der andern Hexen stand der würdigen Vorsängerin würdig bei. Noch war es Lizzi nicht gelungen, in Milkas Zimmer einzudringen und erst das Versprechen einer guten Belohnung bewog Frau Rösicke, ihr die Weiber vom Halse zu schaffen.

Nun war sie endlich mit der Toten allein. Die lag im Bett, nur mit ihrem alten Morgenrock zugedeckt, da die Zimmervermieterin schleunigst ihr Deckbett in Sicherheit gebracht hatte. Der Kopf war etwas zur Seite geneigt und an dem feinen Gesichtchen kaum eine Veränderung zu bemerken, außer dem stehen gebliebenen Schmerzenszug. Die Leichenstarre war noch nicht eingetreten, der Mund auch noch geschlossen.

Lizzi trat zaghaft näher, es überlief sie so kalt, daß ihr die Zähne aufeinander schlugen und es dauerte eine ganze Zeit, ehe sie wagte, den Morgenrock zurückzuschlagen. Das Nachthemd war am Halse nicht zugeknöpft und ließ die ganze Brust frei. Sie hatte sich ins Herz geschossen – und gut getroffen. Der Tod mußte wohl fast augenblicklich eingetreten und die Blutung eine sehr schwache gewesen sein. Einige Flecken im Hemd und ein paar bereits erstarrte Tropfen auf der weißen Haut – das war alles. Es war auch nicht das Blut, noch die kleine, kaum bemerkbare Wunde, vor der Lizzi sich so entsetzte, daß ihr selber fast das Herz still stand und der Atem versagte – nein, es war der trostlose Anblick dieses elenden Körpers selbst. Das war ein Mädchen von siebenundzwanzig Jahren, das mit seiner Schönheit und mit seinem Geiste eine Welt sich hätte zu Füßen sehen können – und nun durch Hunger und namenloses Elend so herabgekommen war! Deutlich konnte man das ganze Knochengerüst durch die bläulichweiße Haut schimmern sehen. Die Höhlungen über dem Schlüsselbein waren so tief, daß eine Kinderfaust bequem darin Platz hatte und ihre Brüste waren nur welke Hautfalten.

Lizzi schlug ihre Hände vor das Gesicht und das Grauen schüttelte sie so, daß sie sich nicht aufrecht zu halten vermochte. Sie sank neben dem Bett in die Kniee und zog, ohne aufzublicken, den Morgenrock wieder über die Leiche. So gab es also doch wohl so etwas wie eine ewige Feindschaft zwischen der Leiblichkeit und dem Dämon Geist. Das höchste Leben des Geistes verzehrte den Körper mit seiner Glut von innen heraus, er zerstörte sein eigenes Gefäß, während er unermüdlich die Steine herbeischleppte zu dem weiten, hohen Tempelbau, in welchem der starke befreite Geist der Menschheit in ferner Zukunft wohnen sollte. Der heitere Genuß, das liebliche Erdenparadies, welches die gesunde Sinnlichkeit sich schafft, das war den einsamen stolzen Denkern nicht beschieden. Sie kreuzigten sich selbst, wenn es die blöde Menge nicht that! – –

Lizzi ging von dem Totenbett dieser Selbstmörderin, die in Verzweiflung und ohne die kindlichen Hoffnungen des Glaubens gestorben war, davon wie aus einem feierlichen Hochamt, sich ernst und demütig ihrer eigenen Kleinheit bewußt und doch voll frommer Dankbarkeit gegen ihr Geschick, das ihr den furchtlosen Adlerblick des freien Geistes gnädig versagt hatte. – –

Zwei Tage später begruben sie Milka Grönroos ohne geistliches Geleite, wie sie es gewünscht hatte, und nur Lizzi und ihre Schwester folgten dem schmucklosen schwarzen Sarge bis zur engen Grube und warfen ihm ein paar Hände voll Erde nach.


Doktor Hartmann und Frau waren schon am Sonntag abend wieder heimgereist, da Montag die Schule wieder anfing, und hatten sich betrübten Herzens entschließen müssen, auch Kathi zurückzulassen, die nun mit der Schwester zusammen eine bescheidene kleine möblierte Wohnung in der Nähe des Deutschen Theaters bezog. Da hausten sie bald ganz glücklich und zufrieden miteinander. Kathi kochte und Lizzi studierte fleißig. Nicht nur die paar Rollen, die ihr zugeteilt worden waren, sondern auch noch andre, für die sie sich besonders geeignet glaubte. Vorläufig hatte sie allerdings wochenlang nur im Pfarrer von Kirchfeld zu thun, der aber durch die Anziehungskraft, die sie ausübte, häufig gegeben werden konnte. Später fielen noch einige zweite Backfischrollen in modernen Salonstücken und dritte Hofdamen in klassischen Werken für sie ab, die sie alle zur Zufriedenheit spielte, ohne sich natürlich darin besonders hervorthun zu können. Unter ihren Kollegen war Lizzi bald der allgemeine Liebling, und die Einladungen zu Gesellschaften und Bällen, zur Mitwirkung bei Wohlthätigkeitsveranstaltungen und dergleichen regneten nur so auf sie hernieder. Auch an Blumenspenden und Annäherungsversuchen eleganter Herren fehlte es durchaus nicht; aber die Versuchung war für Lizzi keine große. Sie war viel zu zufrieden mit ihrem Dasein und mit der herzlichen Teilnahme, die ihr von allen Seiten entgegengebracht wurde, als daß sie sich nach besonderen Aufregungen gesehnt hätte. –

Nur eine schwere Stunde, eine ernstliche Versuchung hatte sie gehabt – und zwar gleich in der ersten Zeit ihres Alleinwohnens mit Kathi. Pastor Werkmeister, der die Schwestern öfters besuchte, hatte eines Tages Lizzi allein daheim gefunden, und da war seine Leidenschaft, die er sich so lange zu bekämpfen ehrlichste Mühe gegeben hatte, doch noch einmal mit furchtbarer Gewalt zum Ausbruch gekommen und hatte Lizzi unwiderstehlich mit hineingerissen in ihre schäumenden Wirbel.

Sie hing willenlos an seinem Halse und duldete seine glühenden Küsse, und als er immer wieder, immer drängender die Schicksalsfrage that, da rief sie endlich, ganz außer sich vor Erregung: »Was willst du denn, was fragst du denn? Du hast mich ja toll gemacht. Ich kann ja nicht mehr . . . Mach doch mit mir was du willst – ich kann dich ja nicht so leiden sehen! Aber verlang nur das nicht von mir, daß ich meine Kunst aufgeben soll. Ich kann nicht, ich darf nicht heiraten und einem Manne gehören. Ich bin ja frei – ich kann mich ja verschenken – aber von meiner Kunst laß ich nicht – die ist mir heiliger als alles andre!«

»Ja versteh ich dich denn recht, soll ich denn meinen Beruf aufgeben und nur der Mann von Fräulein Mödlinger sein?«

»Nein, nein, nein!« jammerte sie verzweifelt und hielt den Kopf mit beiden Händen. »Das will ich nicht – du bist zu gut dazu. Ich möcht schon lieber, daß du mich verachtest, als daß du dich so unglücklich machst.«

Da hatte er sie plötzlich mit einem unterdrückten Aufschrei losgelassen, ganz entsetzt angestarrt – und war dann wortlos davongegangen. Sie waren an der Grenze angekommen, die die freie Künstlerin von den festgewurzelten Moralbegriffen der bürgerlichen Welt trennt. Hier verstanden sie sich nicht mehr, und selbst das Fieber der Leidenschaft vermochte den Mann nicht über diese Grenze hinauszutreiben. Es war aus zwischen ihnen. Er kam nicht wieder. –

Wenige Wochen bevor Lizzi in die Ferien ging, empfingen die Schwestern die Nachricht vom Tode ihres Onkels, Geheimrat Riemschneider. Und am andern Tage schon traf ein Schreiben vom Oberlehrer Hartmann ein, worin er ihnen – zu ihrer Erbschaft gratulierte! Noch wußte die Geheimrätin nicht, daß ein zweites Testament doch wirklich existierte. Der Oberlehrer hatte es selbst aufgesetzt, nach dem Diktat des Kranken, damals in Berlin am Sylvester des vorigen Jahres, als er zum letztenmal mit seinem Vetter allein gewesen war. Er und die Köchin hatten als Zeugen unterschrieben und beide ihr heiliges Ehrenwort gegeben, nichts davon zu verraten. Für Kathi waren fünfundzwanzigtausend Mark und für Lizzi neunzehntausend Mark ausgesetzt worden. Das übrige, immer noch gegen hunderttausend Mark betragende Vermögen war der Witwe verblieben und einige kleinere Legate für wissenschaftliche Stiftungen abgefallen.

Es brauchte gar nicht des eifrigen Zuredens der Gebrüder Vogel, um ihre Schwester zu bestimmen, dies Testament anzufechten mit der Begründung, daß der Verstorbene zur Zeit der Abfassung nicht im vollen Besitze seiner Geisteskräfte gewesen wäre. Sie fiel aber gründlich damit durch, denn das Zeugnis der Ärzte sowie des Oberlehrers bestätigte das Gegenteil. Tante Ida zog es vor, nach dieser Blamage Berlin zu verlassen und zu ihrem lieben Bruder Emmerich zu ziehen, welcher das Geschäft hatte liquidieren müssen und sich drein ergab, sich von seiner Schwester mit durchfüttern zu lassen. Auch die Versuche, sich durch eine reiche Heirat aufzuhelfen, erneuerte er nicht wieder. Über die durchtriebenen Erbschleicherinnen und den sauberen Vetter Oberlehrer, der das in ihn gesetzte Vertrauen so schändlich getäuscht hatte, herrschte zum mindesten vollkommene Übereinstimmung zwischen der Witwe und ihrem Bruder, wenn auch im übrigen ihr Zusammenleben nicht immer ein Idyll zu nennen war.


Während der Theaterferien trennten sich die Schwestern. Lizzi ging mit einer Kollegin, mit der sie sich sehr angefreundet hatte, und deren Mutter in die bayerischen Berge, während Kathi die Majorin in ein Nordseebad begleitete. Und im August wurde von dort aus, auf feinen Karton gedruckt, eine Anzeige verschickt, in der sich der Diakonus licentiatus theologiae Bernhard Werkmeister und Fräulein Kathi Mödlinger als Verlobte empfahlen. Die Lizzi war fast so glücklich darüber wie die Braut selbst.

Leichten Herzens kehrte sie im September nach Berlin zurück, in Begleitung ihrer guten alten Gredl, die ihr jetzt wieder echt münchnerisch kochen durfte. Sie hatte in diesem Winter noch einen großen Erfolg in Anzengrubers »G'wissenswurm«. Besonders die reizend naive Stelle, wo sie auf die Frage des alten Bauern, was sie eigentlich zu ihm führe, zu antworten hat: »Ich soll halt a weng erbschleichen,« erregte jedesmal den größten Jubel, und der Spitzname »Erbschleicherin« blieb im Kreise ihrer Kollegen und nächsten Freunde auf ihr sitzen. –

Auf die Dauer wollte jedoch ihrem Ehrgeiz das ewige Deandl-spielen nicht genügen, und so unterzeichnete sie denn einen Vertrag mit einem ersten Wiener Theater. Dort ist sie heute noch als eines der beliebtesten und meist beschäftigten Mitglieder. Man will sie neuerdings viel in Gesellschaft eines sehr hübschen Ungarn oder Serben, was er nun sein mag, gesehen haben, der sich kürzlich erst in Wien als Arzt niedergelassen hat und man munkelt . . . ja, was sagen die Leute nicht alles einer so hübschen und feschen Schauspielerin nach! Es wird wohl nicht wahr sein.

In ihrem Schlafzimmer hat Fräulein Mödlinger an der dunkelsten Wand ein Oelbild hängen mit einer grünseidenen Gardine darüber. So lustig sie sich auch immer in guter Gesellschaft zu geben pflegt – sie hat doch auch ihre ernsten, nachdenklichen Stunden. Und dann zieht sie den grünen Vorhang beiseite und schaut sich das Bild an und fragt sich: ist es nun eigentlich die Wahrheit oder die Lüge – dies magere Weib mit den feinen roten Lippen, zwischen denen die garstige Schlange hervorkriecht?

Ach, gute Lizzi Mödlinger – du wirst das wohl nimmer entscheiden!

 

Ende.

 


 << zurück