Ernst von Wolzogen
Die Erbschleicherinnen. Band 2
Ernst von Wolzogen

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Siebzehntes Kapitel.

Erzählt, wie Lizzi die Bekanntschaft ihres neuen, grimmen Kerkermeisters macht und wie sie mit ihm umspringt, des weiteren auch, wie sie unvermutet zu Vermögen kommt. Zusamt etlichen Betrachtungen über Wahrheit, Lüge und Schulmeisterei.

Am andern Tage kam ein Brief von Kathi. Das arme Ding hatte arge Schelte gekriegt von der Tante Ida, weil sie wieder einmal ihre Abwesenheit benutzt habe, um ihren armen, kranken Mann aufzuregen. Es sei doch schrecklich, daß sie keine Stunde lang das Haus verlassen könne, ohne die Gewißheit, daß hinter ihrem Rücken erbschleicherische Attentate begangen würden. Im Hinblick auf die nahe Erlösung aus der abscheulichen Sklaverei und um nicht etwa die Schwester durch ein unvorsichtiges Wort mit hineinzuziehen, hatte Kathi auch diese häßliche Verdächtigung schweigend hingenommen. Die Köchin hatte nichts gesagt von Lizzis Flucht über die Hintertreppe. Sie werde auch später nichts verraten, denn sie stehe treu zu ihr und könne, wie alle Dienstboten, die geizige, ewig unzufriedene Herrin nicht leiden. Und dann berichtete Kathi ein Näheres von dem Eindruck, den sie von ihrem zukünftigen Herbergsvater, dem Oberlehrer Doktor Hartmann empfangen habe. Er hatte bei ihnen zu Mittag gespeist und nach Tische sie zu einem kleinen Spaziergang aufgefordert. Bei dieser Gelegenheit habe sie zu ihrer freudigen Ueberraschung bald herausgefunden, daß er nichts weniger als ein beschränkter, hochmütiger Schultyrann, sondern im Gegenteil ein höchst warmherziger, vernünftiger und heiterer Mensch sei. Im Handumdrehen hätte er ihr Vertrauen soweit gewonnen, daß sie ihm rückhaltslos ihre ganze Lebens- und besonders die Leidensgeschichte der letzten Wochen anvertraut und sich auch Mühe gegeben habe, die böswilligen Anschuldigungen gegen sie, Lizzi, als elende Verleumdungen darzustellen. Sie beschwor zum Schlusse die Schwester, doch ja ihre tollen Pläne aufzugeben und mit ihr zu Doktor Hartmann zu gehen, wo sie es ganz gewiß gut haben würden. Er sei übrigens auch ein großer Litteraturkenner und Theaterfreund, von dem sie gewiß viel Nützliches lernen könnte. Morgen nachmittag wolle er sie zu einem Spaziergang abholen. Sie solle sich nur nicht fürchten und ganz offen gegen ihn sein. Er werde ihr ganz bestimmt auch gefallen.

Lizzi hatte den Brief erhalten, als sie gerade von ihrer Unterrichtsstunde bei Fräulein Orjes zurückgekehrt war. Das klang ja alles recht schön und gut; aber die liebe Kathi war halt ein bißchen sehr bescheiden in ihren Ansprüchen – und jetzt gerade von Berlin fortzugehen, wo ihr Plan, sich der Bühnenkunst zu widmen, just anfing, einigermaßen greifbare Gestalt zu gewinnen – das wäre doch am Ende auch Leichtsinn gewesen. Die bethränte Königin war nämlich mit ihren Fortschritten sehr zufrieden. Ihr musikalisches Ohr befähigte sie, die ihrem Münchener Schnabel so fremden Laute der hohen Tragödiensprache ohne Mühe nachzuahmen. Schon nach den wenigen Stunden, die sie gehabt hatte, vermochte sie Verse fast ganz dialektfrei zu recitieren. Nur mit der Prosa haperte es noch und ihre Anstrengungen, auch im täglichen Umgang reines Hochdeutsch zu sprechen, blieben bisher noch ziemlich vergebliche. Das Münchener Kindl schlug immer wieder siegreich durch. Aber immerhin war doch ein Anfang gemacht und ein Ende abzusehen. Wenn sie Zeit gehabt hätte, noch ein paar Monate hindurch neben dem Stelzengang des Fräulein Orjes mit Milka Grönroos das moderne Drama mit seiner Wirklichkeitssprache und seiner Betonung des Charakteristischen an Stelle des sogenannten Schönen fleißig zu studieren, so getraute sie sich wohl, bis zum nächsten Frühjahr wenigstens ihre Sprechwerkzeuge richtig handhaben zu können. Dann gedachte sie für den Sommer ein Engagement an einer kleinen Bühne anzunehmen, um das Stehen und Gehen zu erlernen – und dann, meinte sie, müßte die Künstlerin wohl fertig sein.

Sie setzte sich hin, um der Schwester sogleich zu antworten. Aber sie kam über die Eingangsredensarten nicht hinweg. Das, was die Kathi am allermeisten anging, konnte sie ihr doch nicht schreiben. Ihr die Begegnung mit Pastor Werkmeister mit dem ganz unvermuteten, aufregenden Ausgang wahrheitsgetreu zu berichten, das wäre doch zu grausam gewesen. Wenn sie seine Werbung auch abgelehnt und ihn auch, sogar ziemlich deutlich, auf die Schwester hingewiesen hatte, so blieb doch die Thatsache bestehen, daß er ihr seine Liebe gestanden und sie sogar in leidenschaftlicher Hingerissenheit geküßt hatte. Wenn das Kathi erfuhr, dann würde sie in ihrer Engelsgüte ganz gewiß sich für die Schwester opfern wollen und vielleicht selbst darüber elend hinsiechen. Was hätte es denn auch viel geholfen, wenn sie, Lizzi, von vornherein erklärte, den Mann nicht zu lieben? Er liebte ja doch einmal sie und hatte keinen Gedanken für die Schwester übrig. – Und noch etwas Schlimmes kam hinzu, etwas wirklich Beängstigendes: die robuste Lizzi hatte thatsächlich eine fast schlaflose Nacht hinter sich und der sie ihr eingebracht hatte, war niemand anders als eben dieser Pastor Werkmeister. Vorher hatte sie ihn gar nicht beachtet, wenn auch immer recht angenehm gefunden; aber in der Einsamkeit ihres Schlafzimmers klang ihr sein schönes, weiches Organ berauschend in die Ohren und sie fühlte sich von seinen zitternden Armen heiß umfangen und ihre Lippen öffneten sich schwellend im Nachgenusse seiner Küsse. Alles, alles, was er gesagt und wie er es gesagt, war aus tiefster Seele, aus ernster männlicher Ueberzeugung emporgequollen – so sprach die wahre Liebe – so mußte sie von einem selig überraschten Mädchenherzen nachempfunden werden! Hätte sie gestern von Kathis Liebe nichts gewußt, so würde sie diesem mächtigen Ansturm der Leidenschaft wohl nicht widerstanden haben. Sie hätte sich willig dem Zauber des Augenblicks hingegeben und den starken Zauberer selbst gewiß bald lieb gewonnen, so lieb, wie er es verdiente! War sie denn aber nun sicher? Konnte sie wirklich der Gedanke an die Schwester dauernd beschützen vor der starken Versuchung, die reiche Gabe anzunehmen, die ihr geboten wurde? Der armen Schwester entzog sie ja in Wirklichkeit nichts. Sie gingen nur beide leer aus, wenn sie nicht annahm. Aber auf der andern Seite konnte sie doch nicht erwarten glücklich zu werden mit dem Bewußtsein, ihre treue, gute Kathi um ihre schönste Hoffnung betrogen zu haben. Jetzt schon plagte sie ja ihr Gewissen, bloß weil sie sich einem süßen Traume hingegeben und sich einmal das Hindernis als nicht vorhanden vorgestellt hatte.

Wenn nun aber Kathi die ganze Geschichte von jemand anderm erfuhr? Dann gewann ja ihr Schweigen ein ganz schlimmes Aussehen. Zwar hatte sie der Majorin das Versprechen abgenommen, jedermann gegenüber das Geheimnis zu bewahren; aber welche Frau hält denn solche Versprechungen! Und gar die schwatzhafte Majorin! Ob es nicht am besten war, dem Pastor selbst ganz offenherzig zu schreiben: es thut mir herzlich leid und Ihre Liebe rührt mich sehr, aber meine Schwester liebt Sie noch viel mehr. Wenden Sie sich doch lieber an diese. Aber nein, das war brutal und wäre der zartfühlenden Kathi gar zuwider gewesen; hätte ihr auch nichts genützt. Wenn sie nur den Pastor gar nicht wieder zu sehen brauchte! Aber der war sicherlich nicht der Mann danach, sich so leicht abschütteln zu lassen. Und wenn sie ihn noch öfters wiedersah, dann mußte er ihr gefährlich werden. Sie fühlte, daß das gar nicht anders möglich war. – Schrecklich, schrecklich! Wie in aller Welt sollte sie sich aus dieser Zwickmühle heraushelfen? Und niemand, dem sie sich anvertrauen konnte! Fräulein Grönroos vielleicht? – Ach Gott, die würde ja hohnlachen, wenn sie hörte, daß es sich um einen Geistlichen handelte! – Aber sie wollte doch zur Grönroos gehen, an die sie die Feiertage über kaum mehr gedacht hatte. Sie würde sie wenigstens auf andre Gedanken bringen. Sie wollte sich mit heißem Eifer auf das Studium stürzen, vielleicht gewann sie dadurch Klarheit oder gar – Vergessen.

Am frühen Nachmittag stellte sich wirklich der Doktor Hartmann ein, um Lizzi zum Spaziergang abzuholen. Die Majorin lud ihn zwar sehr freundlich ein, sich doch lieber im warmen Zimmer und bei einer Cigarre mit Lizzi auszusprechen, aber davon wollte er nichts wissen. Seine Mittel erlaubten ihm so selten einmal nach der Reichshauptstadt zu kommen, daß er jede Stunde ausnützen müsse, um etwas zu sehen. Jede Straße, jedes Schaufenster sei ihm als Kleinstädter interessant. Am 1. Januar müsse er ja schon wieder heim und dann könnte es Jahre dauern, ehe er Berlin wieder einmal zu sehen bekäme. Die Majorin lud ihn sehr freundlich ein, an ihrem Sylvesterfest teilzunehmen. Sie hätte auch ein Kostüm für ihn bereit, falls er sich nicht genierte, seine Kniee zu zeigen – ein Paar wunderbar echte Tiroler Lederhosen, denen man es auf den ersten Blick glauben mußte, daß sie über fünfzig Jahre in einer Familie gewesen waren, samt Lodenjoppe, Wadenstrümpfen und allem Zubehör. Nur auf die Nägelschuhe müsse er ihrem Parkettboden zuliebe verzichten. Der Oberlehrer nahm mit Vergnügen an und versprach, daß seine Kniee der Familienhose Ehre machen sollten. Seine Bedenken wegen der Stilwidrigkeit einer goldenen Brille wurden auf die leichte Achsel genommen. Bei ihrem letzten Fest sei der Lieutenant Graf Pfordten-Bombst als athenischer Jüngling sogar mit einem Monocle erschienen, und man habe sich auch daran im Laufe des Abends gewöhnt.

Lizzi hatte sich, als der Besuch angemeldet wurde, davon gemacht, um sich ein andres Kleid anzuziehen. Sie wollte doch einen möglichst günstigen Eindruck erwecken, umsomehr, als der Herr bisher nicht viel Gutes von ihr gehört haben mochte. Und als sie nun hereintrat in ihrem knapp sitzenden, schwarzen Seidenkleide, hübsch frisiert, rund und rosig, da riß der Herr Oberlehrer freilich die Augen auf. Er hielt ihre Hand eine ganze Zeit lang in der seinigen und weidete sich mit ungenierter Bewunderung an ihrem Anblick. Endlich faßte er sein Urteil in die bedeutungsvollen Worte zusammen: »Na – da muß ich wirklich sagen . . .!«

Lizzi errötete geschmeichelt und kicherte vergnügt über diesen eigenartigen Willkomm. Und der Oberlehrer fiel mit einem lauten Lachen ein, als hätte er einen ausgezeichneten Witz gemacht.

Fünf Minuten später standen sie schon zusammen auf der Straße und schlugen die Richtung nach dem Brandenburger Thor ein. Er sah sie fortwährend von der Seite an und dann eröffnete er das Gespräch mit den Worten: »Jetzt wollt' ich bloß, daß uns irgend ein Bekannter aus Pyritz-Kyritz begegnete! Jöses, Jöses, der Neid!«

»Wieso?« fragte Lizzi naiv.

»Na, Kindchen,« versetzte er vergnügt und kniff sie dabei leicht in den Arm. »So was gibt's doch bei uns nicht! Meine Frau wird Augen machen!«

»Na,« dachte Lizzi bei sich, »da hat sich die Tante Ida aber schön brennt, wenn's meint, daß s' uns an recht an strengen Zuchtmeister rausg'sucht hätt'. Wenn sei Alte net schlimmer is wie der, na werd' ich's Gruseln fei net lernen.« Und sie lachte ihn freundlich an und sagte: »Na und vor meiner schwarzen Seel' hab'n S' kei Angst, Herr Professor?«

»Ei, woher denn!« gab er lustig zur Antwort. »Das Fräulein Käthchen hat mich schon vollkommen beruhigt über die schwarze Seele. Na, wie gesagt, meine liebe Alte wird sich freuen. Die frißt euch einfach auf.«

»Ja, was denn, is denn so bös?«

»Nein, im Gegenteil. Nur auf hübsche junge Mädchen ist sie ganz wild. Wir haben nämlich keine Tochter, nur drei nichtsnutzige Rangen von Jungens.«

»Was? Bub'n sind im Haus? Hoffentlich doch nur ganz kloane?«

Er bemühte sich ihr nachzusprechen: »Ganz kloane? Nu, der kloanste ist dreizehn und der größte sechzehn. Und wenn sie sich nicht alle drei in euch verlieben, dann kriegen sie einfach Prügel.«

Lizzi blieb stehen und schaute den kleinen Herrn verwundert an. »Na dees muß i sag'n, Sie hab'n Kurasch, Herr Professor. Wissen denn Sie net, daß mi d' Frau Majorin grad weg'n ihrem Bubi seiner Verliebtheit 'nausthun will? Ja sag'n S', wenn wir jetzt aber Ihre Bub'n net mög'n, krieg'n nachher wir d' Prügel?«

»Ich denke, das wird nicht nötig sein. Eine Liebe ist doch der andern wert, nicht wahr?«

»Ui jesses, wann die Tante Ida unsern Diskurs mit anhören müßt!« lachte Lizzi ausgelassen.

»Pscht,« machte der Oberlehrer und sah sich ein wenig ängstlich um. »Nicht so laut, es gibt merkwürdige Zufälle. Denken Sie, ich kenne die Tante Ida nicht? Der macht man ein bißchen was vor, um ihre Gefühle zu schonen. Uebrigens – gestern gegen Abend habe ich noch mit dem armen Geheimrat eine Unterredung unter vier Augen gehabt. Da hat er mir sein Herz ausgeschüttet, so gut es gehen wollte mit seinem Sprachfehler. Geweint hat er, wie er mir erzählt hat, daß er ein Testament zu euren Gunsten machen wollte und wie das verhindert worden ist. Und das ganze Leidwesen mit der Familie Vogel – ich hab' mich wahrhaftig zusammennehmen müssen, daß ich nicht auch mitgeheult hab'. Das Käthchen hat er so lieb – und Sie auch, Fräuleinchen – ja, wirklich. Er soll es gar nicht wissen, daß die Käthe auch zu mir soll. Er freut sich schon so drauf, sie mit sich nach Italien nehmen zu können. Ich hab' zwar der Geheimrätin versprochen gehabt, nichts davon zu verraten, aber das hab' ich einfach nicht übers Herz gebracht.«

»Also haben Sie's ihm wirklich g'sagt, daß d' Kathi net mitgeht? Ja, wie hat er's denn aufg'nommen?«

»Ach – schrecklich war's. Es hat ihn so aufgeregt, daß er fast kein Wort mehr hat richtig finden können. Aber er traut sich ja nichts gegen seine Frau, die setzt ja alles durch. Und dabei thut sie immer so süß und liebevoll. Es ist empörend mit anzusehen – und doch, wer kann wissen, ob es ihr nicht wirklich Ernst ist? Was man so Liebe nennt, zeigt eben ein gar verschiedenes Gesicht und in der Psychologie der Frauen hört überhaupt die Logik auf – das heißt ausgenommen bei meiner: die ist gut, die ist logisch. Es gibt überhaupt für mich nur eine Frau – und das ist meine. Kommen Sie, Fräulein Lizzi, wollen wir nicht irgendwo einkehren in einer Konditorei und ihr eine Postkarte schreiben? Ich schreibe ihr täglich zwei bis drei Postkarten und jeden dritten Tag einen Brief.«

Sie waren gerade am Potsdamer Platz angekommen und traten bei Josti ein. Sie fanden einen Platz in der glasgedeckten Veranda und der Oberlehrer bestellte Kaffee und Apfelkuchen mit Schlagsahne. Dafür ließe er sein Leben, erklärte er begeistert. Und dann schrieb er mit Bleistift eine Postkarte an Frau Dr. Barbara Hartmann in Pyritz:

»Geliebtes Bärbelchen!

»Im schwarzen Seidenkleide – tout Berlin zum Neide – Sitzt hier an meiner Seite – Die schönste Augenweide. Von Mödlingers die Lizzi – die Jüngste und ich bitt' sie – Dieweil grad Mokka kost i – Mit ihr im Kaffee Josti – Dein Wohl darin zu trinken – Verzeih die Verse hinken – Doch munter auf zwei Beinen – geht es dem ewig Deinen

G. H.«

Er legte eine kindliche Freude über diese Improvisation an den Tag, die Lizzi mit Hinzufügung eines schönen Grußes unterzeichnen mußte und vertraute ihr bei der Gelegenheit an, daß er Poet, Komponist, Sänger, Pianist, Mimiker, Gymnastiker und Spezialist für Naturheilkunde und Massage in einer Person sei. Ganze Bände habe er schon mit Lyricis und Dramaticis angefüllt, aber bisher noch nichts veröffentlicht, weil er immer gewissenhaft das horazische nonum prematur in annum befolgt habe – aber nach neun Jahren hatten ihm seine Sachen immer selbst nicht mehr genügt. Von seinen eigenen dramatischen Versuchen kamen sie dann auf das Theater im allgemeinen und auf Lizzis Bühnenpläne im besonderen zu sprechen. Er war als junger cand. phil. selbst eine Zeitlang bei einer reisenden Gesellschaft als erster Liebhaber thätig gewesen und hielt sich seitdem für einen alten Praktikus in Theaterdingen. War auch in Pyritz der nicht zu umgehende Regisseur aller dramatischen Veranstaltungen seitens des Gymnasiums und der besseren Bürgerkreise. Wenn Lizzi wirklich Talent besaß, so konnte das keine bessere Förderung erfahren als gerade durch ihn.

Sie war so freundlich zu thun, als ob sie davon fest überzeugt sei, obwohl sie aus seinen Urteilen über die Berliner Theater bereits herausgemerkt hatte, daß er in der langen kleinstädtischen Verbannung von dem Strome moderner Anschauungen kaum berührt worden war und den Maßstab für die gegenwärtigen Leistungen der Bühnenkunst doch wohl verloren habe. Aber ein liebenswürdiger, herzlicher Mensch blieb er auf alle Fälle, und Kathi hatte ganz recht, man mußte ihm Vertrauen schenken. So weihte sie ihn denn in alle ihre Pläne ein und erwähnte auch der Rolle, welche sie Milka Grönroos in ihrer theatralischen Erziehung zugeteilt hatte.

Von diesem Fräulein hatte Doktor Hartmann noch nichts gehört. Er fragte Lizzi weiter aus. Die Beschreibung, die sie von ihr gab, reizte seine Neugier aufs höchste. Ein weiblicher Freigeist, künstlerische Zigeunerin und Nihilistin obendrein – so etwas hatte er noch nie mit Augen gesehen! In seiner kleinen Stadt galt er selber für einen revolutionären Kopf. Sein stark pietistisch angehauchter Direktor traute ihm nicht über den Weg, und in der Bürgerschaft gab es Leute, die ihn für einen Narren oder ein Genie hielten – was so ziemlich auf dasselbe hinausläuft. Das schmeichelte ihm gar sehr. Er wollte gar zu gern etwas Besonderes vorstellen und hütete sich ängstlich, den guten Leuten zu verraten, daß er sich seiner gänzlichen Harmlosigkeit recht wohl bewußt war, besonders dann, wenn aus Zeitungen oder neuen Büchern der respektlose Geist der Modernen ihm heiß und kalt entgegenwehte und ihm eine Gänsehaut um die andre über den soliden Leib jagte. Es hatte einen prickelnden Reiz für ihn, solch einen furchtlosen fin de siècle-Menschen kennen zu lernen, und nun gar ein junges Mädchen, welches mit Explosivkörpern, die er kaum unter Glas zu betrachten wagte, so rücksichtslos umsprang, wie seine Frau mit den Morgensemmeln! Er äußerte den lebhaften Wunsch, die merkwürdige Finnin kennen zu lernen, und Lizzi hatte nichts dagegen einzuwenden.

So machten sie sich denn nach der Landsbergerstraße auf. Sie fanden Fräulein Grönroos daheim. Um die Kohlen zu, sparen, lag sie mit ihrem alten Schlafrock angethan im Bett, las und rauchte. Ohne besonderes Erstaunen sah sie den fremden älteren Herrn mit hereintreten und reichte ihm ihre schmale, durchsichtige Rechte zum Willkomm hin.

»Sie erlauben wohl, daß ich bleibe, wo ich bin,« sagte sie, ehe noch Lizzi Zeit gefunden hatte, ihren Freund vorzustellen. »Es ist hundemäßig kalt hier. Behaltet nur eure Ueberkleider an und macht euch ein bißchen Bewegung, daß ihr keine kalten Füße kriegt. Ich wärme mich an meinem Nietzsche. Ich sitze hier im Funkenregen seines Geistes und lasse mir es wohl sein. – Lizzichen, bitte, geben Sie dem Herrn was zu rauchen. Es ist sehr hübsch von Ihnen, daß Sie mich doch nicht vergessen haben. Ich dachte schon . . . äh nitschwo! Haben Sie Ihr bißchen Christentum mit Marzipan und Honigkuchen gefüttert, auf daß es stark werde wider die Anfechtung? Wen bringen Sie mir denn übrigens da? Ist das etwa schon wieder ein Bräutigam – oder nur ein Theaterdirektor?«

Lizzi stellte ihn lachend einfach als Doktor Hartmann vor und fügte hinzu, daß dieser Herr den Mut habe, sie bei sich aufzunehmen, trotzdem sie nun bereits zum zweitenmal wegen Erbschleicherei und Männermords in Acht und Bann gethan sei. Und im Anschluß daran berichtete sie kurz, was ihr seit dem letzten Besuch alles widerfahren sei und verschwieg nur, ebenso wie vorher dem Oberlehrer gegenüber, die jüngste Verwickelung mit dem Pastor. Sie wollte nicht, daß die Grönroos sich über ihn lustig machen sollte – dazu war ihr der Mann zu schade.

Doktor Hartmann hatte sich währenddessen neugierig in dem ungemütlichen Raume umgesehen. Die Spuren von Lizzis jüngstem Ordnungsversuch waren längst verwischt, das alte Chaos wiedergekehrt. Durch den dicken Tabaksqualm vermochte er kaum die Bilder an den Wänden zu erkennen, nur die dem Bett zugekehrte Staffelei bekam von der elenden, schmutzigen Petroleumlampe ein wenig Licht ab. Und darauf stand Milkas letztes Werk, das halbnackte Weib auf rotem Grunde, aus dessen Lippen die Schlange hervorkroch.

Das Fräulein bemerkte, wie der alte Herr in ratloser Verwunderung dies seltsame Gemälde anstaunte und rief mit einem schwachen Versuch zu lachen: »Ja, nicht wahr, das ist was Rares? Hier bitte, nehmen Sie doch die Lampe, sehen Sie sich es genauer an, Sie sind gewiß Kunstkenner, vielleicht gar Sammler. Kaufen Sie mir das Ding ab, ich gebe es billig.«

Doktor Hartmann bekam einen solchen Schreck über die Zumutung, dies schauerliche Gemälde zu kaufen, daß die Lampe, die er ihr eben aus der Hand genommen hatte, bedenklich ins Wackeln geriet.

»Ich und Bilder kaufen – o Jöses!« Und nachdem er sich das Kunstwerk noch ein Weilchen scheu betrachtet hatte, wagte er die Frage: »Sagen Sie, Fräulein, was – was stellt denn das eigentlich vor?«

»Ja, was stellt das vor?« echote die Grönroos. »Die Wahrheit oder die Lüge, was Sie wollen!«

»Na, dann doch wohl eher die Lüge,« mischte sich jetzt Lizzi ein. »Ein so ein garstig's Weibsbild – hu, da graust's einem ja! Net wahr, Herr Doktor, ein sehr moralisches Bild? Daß m'r von der Lug recht abg'schreckt soll werden.«

»Hm, ja – ich meine auch die Lüge wäre der richtige Titel,« gab jener zögernd zu.

»Ich möchte mich jetzt gerade für die Wahrheit entscheiden!« trumpfte Milka auf. »Die Lüge müßte rund und fett und rosig sein. So verführerisch im drum und dran, daß man die Hauptsache, die Schlange gar nicht gewahr würde. Aber die Wahrheit – das ist so ein eckiges Knochengerassel von einem Frauenzimmer, vor dem jedermann davonläuft. Auch wenn die Schlange in ihrem Munde nicht da wäre, um anzudeuten, wie sie beißen kann und verwunden auf den Tod. Die Schlange ist also eigentlich überflüssiger, allegorischer Plunder, vieux jeu. Ich werde die Schlange auskratzen und der Dame lieber ein großes Vorlegeschloß durch die Korallenlippen bohren. Dann wäre es doch wenigstens klar, was das Ding vorstellen soll, nicht wahr, Herr Doktor? Eine menschenfreundliche Mahnung an die hoch zu verehrenden Zeitgenossen, dem Weibsbild endlich einmal gründlich das Handwerk zu legen – oder vielmehr das Mundwerk. Seht sie euch doch an! Die spitzen Schulterknochen, eitel Haut und Beinwerk. Und diese kümmerlichen, schlaffen Brüstlein – das ist der Götze Wahrheit, vor dem ein paar Narren immer noch Weihrauch verbrennen! Oder ich könnte auch eine ganz geschlechtslose Wahrheit meinen; aber die müßte einen Zettel aus dem Munde hangen haben, darauf zu lesen: 2 × 2 = 4. Das ist die eigentliche Wahrheit, kreuzbrav und nützlich. Aber für die wär' die Farbe zu schad, das wäre eine Holzschnittwahrheit. – Sie, Herr Doktor, wissen Sie wirklich keinen Kommerzienrat, der mir das Ding abkauft? Sie müssen wissen, es ist das allererste Bild, das ich fertig gemacht habe – heißt das, was ich so fertig nenne. Und es wird auch das letzte bleiben, also eine Seltenheit ersten Ranges, haha! Außerdem Selbstporträt – nur ein bißchen idealisiert natürlich. Ich bin damit bei den Kunsthändlern herumgelaufen, aber es will's keiner bei sich aufhängen. Wenn Sie mir keinen Käufer verschaffen, dann kann ich mir nicht einmal Rattengift kaufen. Und Sie sehen doch, wie sehr ich der kräftigen Nahrung bedarf.«

Dabei streifte sie den Aermel ihres Gewandes und ihres Nachthemdes hoch und reckte ihren Arm empor, der wirklich nur noch ein mit Haut überzogener Knochen war.

Der gute Oberlehrer war so erschrocken, daß er sich gar nicht hinzusehen traute und Lizzi konnte sich nicht enthalten, einen Schrei des Entsetzens auszustoßen. Sie hatte sich zu Milka aufs Bett gesetzt und warf sich nun über sie und flüsterte: »Aber naa, naa, i bitt' Sie, net a so wild daher reden. Is denn gar so schlimm? Gar kei' Hoffnung mehr? Müssen S' denn wirklich – Hunger leiden?«

»Nicht so drücken, Liebchen,« stöhnte Milka matt lächelnd unter Lizzis stürmischer Umarmung. »Ich bin ein bißchen schwach auf der Brust. Sie sehen ja, ich habe noch zu rauchen. So lange geht's immer noch. Ich habe die letzten Tage von Brot und billiger Wurst gelebt. Aber die Wurst kann ich schon nicht mehr sehen. Ich will es jetzt ein paar Tage lang mit der Volksküche versuchen. Die war mir bisher zu luxuriös. Aber es ist doch besser, ich mache ein paar Tage früher ein Ende mit einer kräftigen Bohnensuppe im Magen, als daß ich warte, bis das Licht von selber ausgeht, aus Mangel an Fett. Außerdem bin ich eitel. Ich möchte doch, daß mein Körper nach der Trennung von seiner sogenannten Seele einen einigermaßen vorteilhaften Eindruck mache.«

»Ja ist denn das Geld ganz hin, was ich Ihnen letzt geb'n hab'?« fragte Lizzi rücksichtsvoll flüsternd.

»Das hat mir alles mein Drache abgenommen. Fünf Mark habe ich bloß übrig behalten, um mir vergnügte Feiertage damit zu machen.«

»Und i hab' Sie da elend und allein sitzen lassen und gar net einmal an Sie gedacht,« klagte Lizzi, »Ich bin ein selbstsüchtiges, herzloses Frauenzimmer. Jesses, und wenn i denk', daß ich um ein Haar reich g'worden wär'! Tausend Mark hätt' i jetzt haben können, wenn der Deixel net die Frau Geheimrätin fünf Minuten z'früh heimg'führt hätt'.«

»Was ist das?« meldete sich der Oberlehrer aus seiner finsteren Ecke, in welche er sich in ängstlicher Biedermannsscheu vor dem häßlich nackten Jammer zurückgezogen hatte, der sich ihm in dieser kalten Kammer enthüllte. Auch die Grönroos richtete sich neugierig empor und bat Lizzi zu erzählen. Doktor Hartmann mußte ihr erst heilig versprechen, der Tante Ida nichts zu verraten, bevor Lizzi sich entschloß, ihr Geheimnis preiszugeben. Und dann entnahm sie zum Beweise der Wahrheit ihrem Portemonnaie das vielfach zusammengefaltete Stückchen Papier, das sie zum Andenken dort aufheben wollte und reichte es dem Oberlehrer hin.

Der entfaltete es mit wichtiger Miene und beguckte es von vorn und von hinten durch seine goldene Brille. »Hm, hm, richtig, eintausend Mark. Das nenn' ich Schicksalstücke,« brummte er, indem er das Papier zurückreichte. Er hatte nie in seinem Leben einen Check gesehen und war unwissend wie ein Kind in solchen Dingen.

Fräulein Milka bog sich mit einem Ruck vor und entriß ihm das Papier: »Erlauben Sie mal,« rief sie etwas erregt. »Laß doch mal sehen!« Sie hielt es gegen die Lampe und überflog den Inhalt. Dann lächelte sie verächtlich und schlug mit ihrem Taschentuch, das auf dem Deckbett vor ihr lag, nach Lizzi: »Fräulein Mödlinger, Sie sind ein kleines Schaf, nehmen Sie mir es nicht übel. Da, nehmen Sie die Lampe, irgendwo werden Sie Feder und Tinte finden. Setzen Sie sich an den Tisch, schreiben Sie auf die Linie, wo die Klexe sind, schön deutlich Ihren Namen hin, dann ist die Geschichte in Ordnung.«

Lizzi traute ihren Ohren nicht und wollte es durchaus nicht glauben, daß sie wirklich für dies beklexte Papier tausend Mark herausbezahlt kriegen würde. Und nachher meinte sie, die Grönroos wolle sie am Ende gar zur Urkundenfälschung verleiten. Und als ihr endlich auch dieser Zweifel benommen war, da wollte sie wenigstens die beiden garstigen Tintenflecke, die wie Ochsenköpfe aussahen, ausradieren.

Darob ergrimmte schließlich Fräulein Milka, sprang aus dem Bett wie sie war, in zerrissenen Strümpfen, Hemd und Schlafrock, stippte die Feder in die Tinte, drückte sie Lizzi energisch in die Hand und hieß sie ihren Namen schreiben. Das verschüchterte Kind hätte sich nicht im mindesten gewundert oder beklagt, wenn sie eine Watschen obendrein bekommen hätte. Das Fräulein verpflichtete sich übrigens gleich morgen früh selbst mit Lizzi an die Kasse der Deutschen Bank zu gehen, um das Geld zu erheben.

Lizzi tanzte vor Freude im Zimmer herum und klatschte in die Hände. »Jesses, jesses naa, dees Papierl hätt' i bald wegg'schmissen. Dees is ja rein wie g'schenkt! Und Sie haben mir's g'schenkt, Fräulein Milka, jawohl. Geh'n S' her, tanzen m'r amal miteinander.« Und sie faßte frischweg die vergeblich Widerstrebende um den Leib und wirbelte sie ein paarmal auf dem Fleck herum.

Die Grönroos fiel keuchend vor Mattigkeit rücklings über ihr Bett, als sie das freudentolle Mädchen losließ. Und der gute Doktor Hartmann rang die Hände und stöhnte leise vor sich hin: »O Jöses, Jöses nein! Geniert euch doch ein bißchen, meine Damen!«

»Was stell'n m'r denn jetzt an?« rief Lizzi unternehmend. »Kinder, a Gaude muß dees geb'n! Ihr könnt's essen, was ihr wollt's, und Schlampancher trink'n, soviel ihr mögt's, i zahl' alles. Der Frau Majorin schick'n m'r an Dienstmann, daß i heut' gar nimmer heimkomm', und nachher geh'n m'r ins Theater, dees heißt, natürlich m'r fahr'n Droschken erster Klass. Und d' Milka wird nudelfett g'macht und nachher – na wart' S' no, 's fallt m'r scho noch was ein. Richtig, ins Deutsche Theater geh'n m'r.«

Der Herr Oberlehrer machte schwache Einwendungen, weil seine Kasse, und Milka, weil ihre Garderobe dergleichen nicht erlaube. Lizzi erklärte, daß sie dann einfach auf die Galerie gehen wollten, schon zur Erinnerung an ihre erste Bekanntschaft. Nun wurde der alte Herr mit dem Gesicht gegen die Wand gestellt, damit Milka ihre Toilette vervollständigen konnte, was sehr bald geschehen war. Und dann machten sich die drei Herrschaften auf den Weg. Der Schulmann war riesig stolz mit seinen zwei Mädchen am Arm. Sie gingen zunächst noch einmal in eine Konditorei, wo die halb verhungerte Milka mit Schokolade bewirtet wurde und der Oberlehrer abermals Apfelkuchen mit Schlagsahne aß. Nachdem sie also sich leiblich gestärkt hatten, nahm sich die Nihilistin bedeutend menschlicher aus, und der kleine Herr, der droben in dem kalten, verräucherten Zimmerchen eine wahre Heidenangst vor ihr gehabt und sich kaum den Mund aufzuthun getraut hatte, wurde jetzt ganz munter und gesprächig. Er war bald im lebhaftesten Disput über philosophische und ästhetische Fragen und merkte es gar nicht, daß die radikale Finnin eigentlich nur aus Höflichkeit sich Mühe gab, seine etwas veralteten Anschauungen zu bekämpfen. Nur einmal wurde sie ein wenig grob, als er mit selbstgefälligem Schmunzeln über seine eigene Gefährlichkeit scherzte. »O Jöses, wenn das mein Direktor wüßte, was ich hier für hochverräterische Ansichten laut werden lasse, er würde mich sofort als Verführer der Jugend denunzieren. Ich bin ihm so schon zu fortschrittlich, obgleich ich meinen Jungens gegenüber natürlich manches für mich behalten muß.«

Da fuhr Fräulein Milka zornig heraus: »Eine Schande ist es, eine erbärmliche Feigheit! Immer wieder wagt man es, neue Geschlechter mit dem alten Kohl zu füttern, der wahrhaftig schon bald fürs liebe Vieh ungenießbar geworden ist. Was jeder denkende Mensch sich längst an den Schuhsohlen abgelaufen hat, das soll die Grundlage der Erziehung für neue, denkende Menschen abgeben. Schämt ihr euch denn gar nicht eurer Heuchelei? Ihr habt ja Angst, alle zusammen, vor dem Denken. Verdummen wollt ihr die Menschheit und nicht erleuchten. Darauf läuft euer ganzes Latein hinaus. Chinesen wollt ihr erziehen, damit es nachher die Machthaber leicht haben, ihre gebildeten Unterthanen der höheren Stände mit ihren Zöpfen aneinander zu binden. Und wir Unglücklichen, die wir Mut und Kraft zum eignen Denken in uns fühlen, wir müssen die zeugungskräftigsten Jahre unsres Lebens hinopfern, Hirn und Nerven aufzehren in der groben Arbeit des Einreißens von alten Trümmerhaufen, des Urwaldlichtens. Wenn wir endlich freie Bahn vor uns sehen, und anfangen wollen, was Neues hinzustellen auf den mühsam gewonnenen Bauplatz, dann sind wir alt und müde geworden und haben die Kraft nicht mehr und die Hoffnung. Wann werdet ihr uns endlich einmal ein Geschlecht erziehen, ihr Schulmeister, das gesund und stark und mit leichtem Gepäck ins Leben hinaustritt; das gleich damit anfangen kann, neu aufzubauen, weil es voll Glaubens an sich selbst und an die Menschheit sich auf den freien Plan gestellt sieht und endlich einmal die harte Kärrnerarbeit gethan findet!«

Der gute Oberlehrer saß ganz geknickt da, wie ein gescholtener Schulbube. »Ja, aber die historische Grundlage?« wagte er endlich schüchtern einzuwenden. »Man muß doch wissen, wie die Jahrhunderte vor uns gedacht haben. Wie kann man denn einen richtigen Maßstab gewinnen für das Neue, wenn man nicht in sich die ganze Entwickelung mit durchgekämpft hat!«

»Ja, das wäre auch ein rechtes Unglück,« fuhr Milka höhnend dazwischen, »wenn einmal der demütige Respekt vor dem Alten aufhörte, nicht wahr? Natürlich soll die Jugend die Entwickelungsgeschichte kennen lernen, aber es wäre wirklich an der Zeit, daß ihr Schulmeister einmal diese Dinge mit überlegenem Humor behandeltet. Doziert doch die Geschichte der menschlichen Dummheit und Niedertracht! Dann werdet Ihr den jungen Menschen Heiterkeit und Mitleid anerziehen. Menschen, die dazu dressiert werden, die Dummheiten ihrer Vorväter zu verehren, müssen ja Kinder oder Greise bleiben ihr Leben lang. Verständnis für die Gegenwart ist wahrhaftig wichtiger, als das für die Antike. Und ihr lehrt die Gegenwart verachten und zieht die Grenzlinie zwischen dem gebildeten Menschen und dem Pöbel da, wo der Respekt für die Gegenwart beginnt. Ihr zieht euren Jungens Scheuklappen über die Augen und bohrt ihnen künstliche Gucklöcher nach hinten hinaus, wo der Schädel am dicksten ist. Ja, ja, wie ich schon sagte: Chinesenzucht, darauf läuft euer ganzes Bestreben hinaus.«

Hier fiel endlich Lizzi ungeduldig ein: »Ja, liebstes Fräulein, dees is zwar alles sehr schön und interessant, und Sie haben so unrecht net, aber mir kommen ganz b'stimmt z'spät zum Theater, wann S' jetzt net aufhören.«

Damit war denn die Diskussion vorläufig beendet, und sie brachen lachend auf, um sich »Romeo und Julia« anzusehen. Einen Dienstmann mit einem Billet an die Majorin, der die Hausschlüssel nach dem Theater bringen sollte, hatten sie schon vorher abgeschickt. –

Der gute Oberlehrer war ordentlich erschrocken über den ungezogenen, wilden Buben, den Kainz aus dem Romeo machte. Aber da Lizzi und die Grönroos ihn über die Maßen herrlich fanden, so glaubte er es schließlich selber. Er hatte halt einen heillosen Respekt vor diesen modernen Menschen gekriegt. – Nach dem Theater mußte er ein üppiges Abendessen in einem Münchener Bierhaus im Gesamtbetrage von vier Mark und siebzig Pfennigen aus seiner Tasche auslegen, da Lizzi, die Kapitalistin, so viel Kleingeld nicht bei sich trug. Er mußte auch noch eine Droschke für die Finnin spendieren, während er Lizzi zu Fuß heimbrachte. Nichtsdestoweniger versicherte er ihr aus voller Ueberzeugung, daß dies einer der schönsten Tage seines Lebens gewesen sei. Er umarmte sie väterlich und versprach morgen vormittag wiederzukommen, sobald er den eingehenden Bericht an sein Bärbelchen abgelassen habe.

Lizzi stahl sich möglichst geräuschlos ins Haus hinein und schlief die Nacht ganz ausgezeichnet.

Ob sie wohl ebenso gut geschlafen hätte, wenn sie gewußt hätte, daß an diesem selben Nachmittag, der sie nicht nur im Bewußtsein ihrer Macht gestärkt, sondern ihr auch noch tausend Mark unvermutet in den Schoß geworfen hatte, der Herr Pastor Werkmeister bei Kathi gewesen war, um sie zur Vertrauten seiner glühenden Liebe zu ihrer Schwester zu machen, und sie um ihre Fürsprache zu bitten? Wie hatte dem armen Mädchen das Herz geklopft in bang-sehnlicher Erwartung, als der angeschwärmte Mann sie um eine Unterredung unter vier Augen bat und wie war dieses heiße, sehnsüchtige Herz plötzlich still gestanden vor namenlosem Schmerz, als der Mann ihr mit so beredten Worten seine Liebe zur Schwester schilderte! – Alles, alles in der Welt für Lizzi! Schönheit, Liebe, Bewunderung, Talent – alles für sie! Und ihr, dem armen Aschenbrödel, ward nicht mal ihre erste, heimliche Liebe gegönnt. Zu Magddiensten, zur Selbstaufopferung war sie gut genug! Und sie opferte sich, als müßte es so sein. Geduldig hörte sie den Mann an, wie er mit fiebernder Begeisterung von seiner Leidenschaft sprach. Sie drängte gewaltsam die Thränen zurück und zwang sich zu reden und zu lächeln sogar. Ihr Bestes versprach sie zu thun für den Mann, der ihr das Grausamste angethan hatte!

Und in der nämlichen Nacht, als Lizzi lustig kichernd über die neue, leichte Eroberung, die sie an dem fröhlichen alten Herrn aus Pyritz gemacht, einschlief, um süß zu träumen von dem Veroneser Liebespaar, vermochte Kathi kaum ein Auge zuzuthun. Und am andern Morgen um halb sieben Uhr schon rüttelte die Köchin sie am Arm und riß sie aus ihrem unruhigen Halbschlaf. Aufstehen, reine machen, einheizen! Das gäbe schön was von der Geheimrätin, wenn sie um acht Uhr die Zimmer noch nicht warm fände!


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