Ernst von Wolzogen
Die Erbschleicherinnen. Band 2
Ernst von Wolzogen

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Elftes Kapitel.

In welchem die Majorin ein wenig Vorsehung spielt und das Krajesovicherl bedenklich wird, zusamt einer kurzen Nachricht von den Leiden des jungen Rudi.

Die Majorin von Goldacker war wirklich eine gute Frau. Die übliche aristokratische Frömmigkeit, welche im Schlepptau irgend eines strebsamen Geistlichen Konzerte und Bazare zu wohlthätigen Zwecken, öffentliche Theeabende mit leichtem Gebäck, dünnen Butterschnitten und Gott wohlgefälliger Unterhaltung arrangiert, würdige, das heißt körperlich und sittlich reine Arme besucht, unter geistlicher Leitung stehende Vereine unterstützt und Lose für Kirchenbauten nimmt, die trug zwar auch sie mit derselben wohlanständig gemilderten Selbstgefälligkeit zur Schau, wie die meisten Damen ihres Standes, aber bei ihr war die Mildthätigkeit doch Herzensbedürfnis. Trotz ihres vertrockneten, etwas kümmerlichen Aeußeren zählte sie in der That erst die siebenunddreißig Jahre, die sie sich gab, in ihrem Denken und Empfinden aber war sie sogar noch jünger. Ihre guten Werke entsprangen ebenso wie ihre Thorheiten einer fast kindlich zu nennenden Begeisterungsfähigkeit. Hätte sie mehr gelernt gehabt und einen tieferen Geist besessen, so hätte sie mit ihrer ästhetischen Naschhaftigkeit, ihrer Sammelwut, ebenso wie mit ihrem stets dem Mitleid offenen Herzen weit Wertvolleres ausrichten können, als es so geschah, und dann wäre es ihr auch nicht so leicht passiert, wie jetzt gar oft, daß sie bei jeder kleinen Enttäuschung, die sie an den Menschen erlebte, von der Höhe ihres Enthusiasmus gleich in oft geradezu komische Ungerechtigkeit herabpurzelte.

Ihrer liebenswürdigen Schwäche für die Schönheit hatte es Lizzi wohl zumeist zu danken, daß sie von der guten Frau mit offenen Armen aufgenommen wurde. Wie die frommen Leute im Märchen das feenhaft schöne Findelkind, so betrachtete die Majorin das blühende robuste Münchener Mädel als eine direkte Sendung der ihr wohlgesinnten himmlischen Mächte. Wäre die Lizzi rechtschaffen garstig gewesen, dann hätte die scharfe Dressur des Anstandsgefühls, in der die Majorin aufgewachsen war, ihr höchstwahrscheinlich verboten, eine Durchgängerin, von deren sittlichen Qualitäten sie eigentlich gar nichts wußte, bei sich aufzunehmen. Daß ihrem leichtentzündlichen Bubi aus der vertraulichen Nähe so blühender jungfrischer Weiblichkeit Gefahr erwachsen könnte, bekümmerte sie keinen Augenblick. Im Gegenteil – sie freute sich schon darauf, ihn sterblich verliebt zu sehen. Das passierte ihm nämlich öfters und sie fand ihn in solchem Zustande ganz besonders süß. Sich anspinnende Liebesverhältnisse zu beobachten, Brautpaare um sich zu sehen und Ehen zu stiften, das gehörte nämlich auch zu ihren Passionen.

In der engen, vollgepfropften Wohnung einen unerwarteten Gast unterzubringen, und noch dazu einen, der sich auf voraussichtlich längere Zeit hier heimisch zu machen wünschte, das war wahrlich keine leichte Aufgabe. Aber die Majorin löste sie mit einer gewissen Genialität. Hinter dem unvermeidlichen Berliner Zimmer befand sich nämlich noch ein kleiner, fensterloser Raum, der sein Licht durch die Glasthür der Veranda empfing. Dieses Zimmerchen diente im Sommer gewöhnlich zum Speisen, wenn keine Gäste da waren, und bei den winterlichen großen Festen als traulicher Zufluchtsort für liebende Pärchen. In diesen »Cul de sac«, wie sie es nannte, wußte sie mit großer Verschmitztheit die schüchternen Herren und die Damen, welche sie in Verdacht hatte, einer Veränderung ihres Civilstandes nicht abgeneigt zu sein, hineinzulocken, um sie alsbald mit schadenfroher Grausamkeit ihrem Schicksale zu überlassen. Drei Verlobungen wären auf diese Weise schon beinahe zu stande gekommen und die letzte, vierte, die wirklich öffentlich erklärt wurde, war leider wieder zurückgegangen. Seitdem hatte die Majorin eine heftige Abneigung gegen den »Cul de sac« gefaßt und ihn zu einer Art Wintergarten degradiert, der jedoch, weil sie keine glückliche Hand und keine Geduld für Blumen hatte, mit den ruppigen Strünken und dem dürftigen Blattwerk, das allein die zahlreichen Blumentöpfe erfüllte, einen recht kümmerlichen Eindruck machte. Um so leichter wurde es ihr, das Stübchen preiszugeben. Fast der ganze Plafond desselben wurde von einem auf vier orientalischen Säulen ruhenden Baldachin eingenommen, der aus einer erzbischöflichen Residenz stammen sollte. Unter dem Baldachin stand an der äußeren Wand ein zierliches, kleines Rokokosofa, davor ein schwerer Tisch mit Marmorplatte aus den zwanziger Jahren. Die Wand über dem Sofa bedeckte ein schadhafter Gobelin. Ein hoher, chinesischer Wandschirm rechts und eine künstliche Epheuwand links, in deren Grün wunderlicherweise einige Orangen, Attrappen aus Pappe, mit Draht befestigt waren, schützten das Sofaplätzchen vor neugierigen Blicken, wie vor dem Zug von der Glasthür her. Sessel und Taburetts in den verschiedensten Stilen, eine geschnitzte Kleidertruhe, fast schwarz und morsch im Holz, eine Chiffonniere mit Meißner und chinesischem Porzellan besetzt, ein paar hölzerne Kandelaber, zwei Meter hoch, die zu beiden Seiten der Eingangsthür standen, und statt der Kerzen bunte Illuminationsgläschen auf ihren Armen trugen, einige von der Decke herabhängende chinesische Stofflaternen und schließlich, neben einigen schlechten gerahmten Kupferstichen, eine italienische Wanddekoration aus getrockneten Südfrüchten, einem Tambourin und einer Mandoline ohne Saiten bestehend – all dies wunderbare Sammelsurium erfüllte den winzigen Raum. Der Marmortisch wurde hinausgeschafft, das kleine Sofa beiseite gerückt und unter dem Baldachin ein wackeliges altes, aber schön geschnitztes Bettgestell aufgeschlagen, das bisher unbenutzt auf dem Speicher gestanden war, und mit Hilfe von flüssigem Fischleim und einigen Nägeln von Frau von Goldacker höchst eigenhändig in brauchbaren Zustand versetzt. Da aber für das Gestell weder Rahmen, noch Matratze, noch Betten zur Hand waren, mußte sie zu allerhand sinnreichen Listen ihre Zuflucht nehmen. Die herausziehbare Polsterung eines Schlafsofas, das sich in Rudis Zimmer befand, wurde auf vier ungefähr gleich hohe Schemel innerhalb der Bettstatt niedergelegt, die tiefe Höhlung, die einige geplatzte Federn verursacht hatten, durch ein paar alte Shawls ausgefüllt und statt des nicht aufzutreibenden Keilkissens aus einem Stück alten Läuferstoffes ein zweckentsprechendes Pentaëder oder dreiflächiges Prisma von leidlicher Elastizität hergestellt, und über den ganzen frommen Betrug ein Laken von unschuldiger Weiße gebreitet. Ein Kopfkissen war vorhanden und einige, in das nötige Weißzeug eingenähte Reisedecken vermochten ganz gut den Mangel eines Deckbetts zu ersetzen. Ein einfaches Waschgeschirr wurde gekauft und auf der altersschwarzen Truhe aufgestellt, am Tage jedoch, um die Harmonie nicht zu stören, hinter dem chinesischen Schirm versteckt. Die Majorin war außerordentlich stolz auf ihr Werk und nannte es ein Schlafgemach für eine Prinzessin.

Lizzi schlief auch tatsächlich sehr gut darin. Das geheimrätliche Bett hatte sie noch nicht verwöhnt, und außerdem konnte sie sich in ihrer ganzen Länge ausstrecken, was doch immer die Hauptsache blieb. Nur ein Uebelstand machte sich gleich von vornherein recht unangenehm bemerkbar – das war die Kälte. Lizzi liebte die frische Luft und das Stübchen war klein. Da mußte denn oft die ins Freie führende Glasthür geöffnet und die ganze winterliche Kälte hereingelassen werden. Zwar befand sich ein eisernes Oefchen in dem Zimmer, aber das verbreitete sofort eine höchst unangenehme Hitze nebst üblem Geruch, so daß man doch gleich wieder genötigt war, die Thür zu öffnen; und dann hielt wieder die Wärme keine zwei Stunden vor. Ueberhaupt der Geruch! Frau von Goldacker öffnete nur selten ein Fenster, so daß der Duft all der aufgehäuften Altertümer und des schwer davon zu entfernenden Staubes alle Räume des Hauses schier atembeklemmend erfüllte. Da sie selbst auf die Reinlichkeit keinen übergroßen Wert legte, so bemühten sich auch die Dienstboten, die ehrwürdige Staub- und Schmutzpatina der Möbel und Stoffe möglichst zu schonen. Leider ging die gütige Hausfrau in ihrem Idealismus sogar so weit, gegen die Freuden der Tafel völlig gleichgültig zu sein. Es wurde, gerade herausgesagt, recht schlecht bei ihr gegessen. Auch daß kein ordentliches Instrument vorhanden, war für Lizzi, die gern fleißig geübt hätte, recht schmerzlich, und der Umstand, daß auf dem alten Wiener Clavicymbel die Königin Luise gespielt haben sollte, vermochte sie für den Mangel an Ton nicht zu entschädigen.

Aber was wollten alle diese kleinen Uebelstände und Seltsamkeiten bedeuten gegen das Glück, daß sie nun doch wieder eine Art Heim besaß unter Menschen, die ihr mit Liebe entgegenkamen und die, weitentfernt sie ihre Abhängigkeit, ihre Armut, ihre Unbedeutendheit fühlen zu lassen, im Gegenteil ihr für ihre Anwesenheit dankbar waren, wie für ein unverdientes Geschenk und sie mit Schmeicheleien überhäuften. Und dann, was das Beste war: ihre geliebte Kathi so nah zu haben, daß sie sich mehrmals in der Woche sehen und sich auf Spaziergängen oder auch daheim nach Herzenslust ausschwatzen konnten. –

Die Besserung des Onkels machte jetzt gute Fortschritte. Er war wieder vollständig im Besitz seiner Geisteskräfte und die Lähmung stellte sich als nicht ganz so schlimm heraus, wie man anfänglich gefürchtet hatte. Nur die Sprachstörung war noch nicht gehoben und bereitete dem armen Patienten selbst die allergrößte Sorge. Er verzweifelte an der Möglichkeit, seine Lehrtätigkeit je wieder aufzunehmen und hatte sich mit dem Gedanken, seine Professur niederzulegen, bereits vertraut gemacht. Als Frau Ida, um ihn von seinen trüben Gedanken abzulenken, ihm einen längeren Aufenthalt in Italien vorschlug, hatte er Kathi, sobald er mit ihr allein war, in rührender Weise seine Befriedigung darüber ausgedrückt, daß er nun doch wenigstens im Stande sein werde, ihr eine schöne und nachhaltige Freude zu bereiten. Auch nach Lizzi hatte er sich erkundigt und sich mit der Auskunft zufriedengegeben, daß man sie eine Freundin in Hamburg habe besuchen lassen, damit sie während der Zeit seiner Krankheit nicht im Wege sei. Tante Ida verhielt sich immer noch eisig kalt gegen Kathi, aber sei es nun, daß sie durch deren festes Auftreten ihren unwürdigen Beschuldigungen gegenüber doch eingeschüchtert war, oder weil sie fühlte, daß sie die guten Dienste der Nichte während dieser schweren Zeit nicht entbehren konnte – jedenfalls hatte sie sich inzwischen davor gehütet, mit ihr zu zanken und ihr auch stillschweigends die Freiheit gelassen über ihre Zeit zu verfügen. Daß Lizzi bei der Majorin untergekommen, hatte sie sichtlich geärgert, wenn sie auch nur ein paar gleichgültige Bemerkungen darüber gemacht hatte. Die gute Kathi lebte in der steten Furcht, daß sie in ihrer Rachsucht gewiß alles aufbieten würde, um die Verhaßte aus ihrem freundlichen Asyl zu vertreiben.

Die böse Ahnung erfüllte sich rasch genug. Lizzi war kaum vierzehn Tage im Hause, als Frau von Goldacker eines Vormittags sehr aufgeregt von einem Besuch bei Riemschneiders zurückkehrte. Sie hatte bisher nur immer ihren Diener hingeschickt, um Erkundigungen über das Befinden des Professors einzuholen. Jetzt aber hatte sie es für an der Zeit gehalten, selbst vorzusprechen, in der Erwartung, nun doch endlich als Verwandte an das Krankenbett gelassen zu werden und auch in der Hoffnung, Gelegenheit zu finden der lieben Tante Ida über ihr abscheuliches Verhalten den Nichten gegenüber einmal gründlich die Meinung zu sagen. Ins Krankenzimmer hatte sie nun zwar nicht vordringen, wohl aber die Geheimrätin sprechen können. Die hatte kaltlächelnd ihre Anklagen angehört und zu dem begeisterten Lobe Lizzis nur höhnisch den Mund verzogen, um, nachdem Frau von Goldacker sich ganz außer Atem geendet, kurz und scharf zu erwidern, daß sie über den wahren Charakter ihres Schützlings bald genug zu ihrem Schaden aufgeklärt werden würde. Und dann, beim Abschied, als der Besuch schon auf der Schwelle stand, hatte sie scheinbar gleichgültig die Frage hingeworfen, ob ihr denn Lizzi auch erzählt habe, wo sie die erste Nacht nach ihrer Flucht zugebracht, nachdem sie mit ihrem Freunde, dem Studiosus von Krajesovich allein im Deutschen Theater gewesen sei. Frau Professor Rümpelmann und Fräulein Tochter, die auch im Theater gewesen, hätten die beiden Arm in Arm auf der Straße gesehen. Eine Verwechslung sei ausgeschlossen, denn die beiden Damen hätten sich absichtlich unter einer hellen Laterne in der Karlsstraße nach dem Pärchen umgedreht und es starr angeblickt, seien aber von ihm in seiner verliebten Versunkenheit gar nicht bemerkt worden. Wenn es der Frau Majorin Spaß mache, ein so verdorbenes Geschöpf bei sich zu beherbergen, so wolle sie sie in ihrem Vergnügen nicht stören.

Die gute Frau von Goldacker war so ehrlich, Lizzi sofort die ganze Anklage wortgetreu zu wiederholen, ohne etwa den Versuch zu machen, sie durch unbestimmte Fragen in eine Falle zu locken. Und Lizzi vergalt Ehrlichkeit mit Ehrlichkeit und teilte ihr rückhaltlos die ganze Wahrheit mit. Auch daß sie sich habe küssen lassen, verschwieg sie nicht. Frau von Goldacker glaubte ihr ohne weiteres und machte ihr nur sanfte Vorwürfe darüber, daß sie ihr nicht eher gebeichtet habe, wenn sie es auch begriff, daß sie ihr damals, als sie um Aufnahme bat, das bedenkliche Abenteuer zu verschweigen für richtig hielt. Ihrer korrekten Denkungsart mußte es freilich als sündhaft erscheinen, wenn ein junges Mädchen aus den besseren Kreisen sich von einem jungen Manne, der noch nicht ihr Verlobter war, küssen ließ und sie bemühte sich auch, dies Lizzi mit mütterlicher Strenge klar zu machen; aber der Ernst der Predigt wurde doch durch zärtliches Mitgefühl bedeutend gemildert. Ihrem romantischen Sinn behagte im Grunde genommen das Abenteuer gar sehr und wob eine Art Gloriole um Lizzis hübschen Kopf. Sie war sogar ein klein bißchen neidisch, die gute Majorin, wie es minder schöne Frauen auf die Abenteuer ihrer bevorzugteren Geschlechtsgenossinnen immer sind. Bei ihr daheim in Pommern, im weitesten Umkreis des väterlichen Gutes trieben sich keinerlei Krajesovicher herum, und feine Kellerrestaurants mit Nischen gab es erst recht nicht. Auch in ihrer blühendsten Mädchenzeit war sie höchstens von langweiligen Vettern geküßt worden, und auch das nur unbedeutend.

Jetzt hieß es die Sünde wieder gut machen. Wenn Herr von Krajesovich, der Edle von Nemes-Pann überhaupt ein Epouseur war, der ernstlich in Frage kommen konnte, so mußte er dran glauben! Sie fand es unverantwortlich, daß er bisher noch nicht Besuch gemacht habe und beschloß, falls er das nicht binnen drei Tagen thäte, ihn ernstlich an seine Pflicht zu erinnern. So feierlich versprach sie, für Lizzi wie eine Mutter zu sorgen, daß das gute Kind nicht wenig erschrak.

»Du liebst ihn doch?« fragte die Majorin ziemlich nebenher am Ende ihrer ernsthaften Unterredung, bei welcher von beiden Seiten reichliche Thränen vergossen worden waren.

Und Lizzi fuhr ordentlich erschrocken zusammen bei der unvermuteten Frage, besann sich ein Weilchen und erwiderte endlich ziemlich unsicher: »I mein schon.« – –

Ja, liebte sie ihn denn eigentlich wirklich? Lizzi wälzte während der nächsten vierundzwanzig Stunden diese schwierige Frage in ihrem Gehirn herum, ohne doch eine völlig zufriedenstellende Antwort darauf zu finden. Er war gewiß ein recht lieber Mensch und wenn er nicht so brav gewesen wäre, hätte es ihr an jenem gefährlichen Abend recht schlimm ergehen können. Sie war ihm von Herzen dankbar für seine edle Zurückhaltung. Das war einmal eins. – Und dann war doch auch der Abend zu schön gewesen – der schönste ihres ganzen Lebens! Erst die Vorstellung im Deutschen Theater, die sie in ein wunderbares, unbekanntes Märchenland versetzt hatte – und dann das gute Essen, die feurigen Weine – und gar das süße Dessert von Küssen! Daß ein Mann mit einem so wilden, schwarzen Schnauzbart so warm und weich, so – vornehm busseln könnte, hätte sie eigentlich nicht gedacht, Auch das sprach dafür, daß er etwas recht Besonderes sein mußte. Oft noch des Nachts im Halbschlaf oder auch tagüber in wachen Träumen spürte sie jenes leise Zucken und Schwellen der Lippen, das als süßester Nachgeschmack von wirklich guten, echten Küssen zurückzubleiben pflegt. Und in solchen Stunden sehnte sie sich fast schmerzlich danach, ihren schönen schwarzen Gregor wieder zu sehen und wieder ihren Kopf so vertrauensvoll an seine Schulter lehnen zu dürfen, in hingebender Erwartung der guten Gaben, die sein Mund austeilen würde. Trotz alledem aber konnte sie sich nicht recht als seine Frau vorstellen, besonders wenn sie daran dachte, daß sie ihm ja dann in das unbekannte ferne Land folgen müßte, wo die Leute nicht einmal deutsch, viel weniger münchnerisch verstanden. Daß sie durch eine rasche Heirat aller Sorgen für die Zukunft enthoben und besonders von der Bevormundung unangenehmer Tanten befreit war, das war freilich eine herrliche Aussicht. Aber war's nicht doch noch schöner und ehrenvoller zugleich, wenn es ihr wirklich gelang, sich auf eigene Füße zu stellen, durch Fleiß und Talent sich Geld und Ruhm zu erringen? Sie hatte nämlich den Gedanken zur Bühne zu gehen, der an jenem Abend im Deutschen Theater so heftig von ihr Besitz ergriffen hatte, noch keineswegs aufgegeben, wenngleich die bequeme Behaglichkeit, die sie für den Augenblick gefunden, ihn ein wenig in den Hintergrund gedrängt hatte. Das Endergebnis ihrer sorgfältigen Beratung mit ihrem Herzen war, daß sie vorläufig nächst dem Andenken an ihre Mutter und ihrer Kathi allerdings den Gregor am meisten liebte, aber doch möglichst ruhig abwarten wollte, wie sich diese Geschichte von selbst weiter entwickelte. Ihr gesundes, natürliches Gefühl sträubte sich gegen den Gedanken, durch freundliche Hilfe wohlmeinender Damen in die Ehe hineingeschoben zu werden, und darum mochte sie es auch nicht leiden, daß Frau von Goldacker an Gregor schrieb, um ihn, wie sie es nannte, an seine Pflicht zu mahnen. So raffte sie sich denn zwei Tage nach jener Unterredung selbst dazu auf, dem Herrn Kandidaten ein Briefchen zu schreiben – mit »Sie« und in recht kindlichem Stile – in welchem sie ihm mitteilte, daß sie sich in ihrem neuen Heim recht wohl fühle und daß sie sowohl, wie Frau von Goldacker sich sehr freuen würden, wenn er sie einmal besuchte. – –

Am andern Tage schon ließ sich Herr Krajesovich von Nemes-Pann zur etikettemäßigen Visitenstunde bei der gnädigen Frau melden. Lizzi war spazieren gegangen und die Majorin wie gewöhnlich noch in ihrem alten Morgenrock. Die Gelegenheit war aber so wichtig, daß sie es doch für angemessen hielt, ein würdigeres Gewand anzulegen. Der junge Mann, der sehr elegant angezogen war und seinen Paletot draußen abgelegt hatte, mußte daher recht lange in dem kalten Salon warten und etlichermaßen zähneklappernd die lackierten Engel und sonstigen Kostbarkeiten bewundern, bis endlich die Dame des Hauses erschien in einem rauschenden Seidenkleide, weitbauschig und mit Watteaufalte auf dem Rücken, welches augenscheinlich aus der Zeit der Pompadour stammte.

Sie hatte Mitleid mit ihm und lud ihn in ihr geheiztes Schreibstübchen nebenan ein, denn er sah ganz blaß und steif aus, sei es nun, daß er nur äußerlich fror oder daß ihm überhaupt bei diesem Gange nicht recht wohl zu Mute war.

»Sie finden Fräulein Mödlinger nicht zu Hause,« begann die Majorin, sobald die ersten Förmlichkeiten ausgetauscht waren und sie sich im warmen Zimmer gegenüber saßen. Und dann fügte sie lächelnd hinzu: »das ist mir auch, offen gestanden, sehr lieb, denn ich möchte Sie doch erst ein wenig ins Gebet nehmen, mein lieber Herr, ehe ich Ihnen das Kind anvertraue. Sie hat mir alles gesagt, müssen Sie wissen – auch von dem Souper und – na und so weiter.«

Gregor zuckte leicht zusammen und konnte sich nicht enthalten in seiner Muttersprache etwas vor sich hin zu brummeln, was auf Deutsch wahrscheinlich »ach verflucht!« oder so etwas Aehnliches hieß. Dann setzte er mit etwas nervösen Fingern seinen Schnurrbart auf, zwang seine Miene zu einem liebenswürdigen Lächeln und sagte mit heuchlerischer Unbefangenheit: »O, Gnädige, was wollen Sie? Das ist die Liebe!«

»Ja, die Liebe, das ist ja eine ganz schöne Sache,« rief die Majorin, indem sie ihm lächelnd mit dem Finger drohte. »Aber sind Sie sich auch bewußt, daß man ein anständiges junges Mädchen nicht so mir nichts, dir nichts abküßt, wenn man nicht ernste Absichten hat?«

Dem guten Gregor war offenbar sehr unbehaglich zu Mute. Er guckte eifrig auf seine blanken Stiefelspitzen hinunter und stammelte verlegen: »O, meine Gnädigste – wie können glauben! Ich habe Fräulein Mödlinger gleich auf ersten Blick serr – serr äh. . . . Wir haben uns ganz zufällig getroffen – ganz zufällig, versichere auf Ehre – und gnädiges Fräulein hatte solchen Hunger – war doch Kavalierspflicht. . . .«

»Sie sollen sich auch gar nicht entschuldigen, daß Sie ihr etwas zu essen gegeben haben,« unterbrach Frau von Goldacker sein Gestotter. »Beantworten Sie mir nur gefälligst eine Frage. Wissen Sie, daß sie gar kein Vermögen hat?«

»Jawohl, sie hat mir gesagt!«

»Na, sind Sie denn in der Lage, eine Frau zu ernähren?«

»Bitte, wie befehlen? Ach so, pardon – ja . . ., das heißt – nein. Ich will sagen, mein Vater ist serr wohlhabend, aber er wird mir nicht genug geben zum heiraten. Ich bin im Examen. Ich will Arzt werden, Sie wissen. Und wenn ich selber genug Geld verdiene, dann will ich versuchen. . . .«

»Ja, aber wie lange kann denn das noch dauern?« fiel ihm die Gnädige rücksichtslos ins Wort.

»O, ich hoffe gar nicht lange: ein, zwei . . .«

»Drei, vier, fünf Jahre!« ergänzte die Majorin ungeduldig. »Und inzwischen soll das arme Mädchen hier sitzen und warten, und Sie kurieren derweilen die schönen Damen in Belgrad oder so wo. Ja, mein lieber Herr, was denken Sie sich denn dabei?«

Er wußte nichts zu erwidern und blickte nicht eben allzu geistvoll drein.

Die Majorin seufzte tief auf und strich mit einiger Heftigkeit über ihr seidenes Gewand, so daß es förmlich drohend knisterte. Sie besann sich ein Weilchen, bevor sie weiter sprach: »Wissen Sie was: schreiben Sie an Ihren Herrn Vater und stellen Sie ihm die Sache ordentlich vor. Vielleicht gibt er Ihnen dann gleich so viel, daß Sie mit bescheidenen Ansprüchen haushalten können. Ein junger Arzt muß ja doch verheiratet sein, wenn er Vertrauen finden will. Wenn Sie mir das versprechen, dann will ich Ihrem weiteren Verkehr mit Lizzi nicht in den Weg treten – das heißt natürlich: in gewissen Grenzen.«

Er küßte ihr die Hand, versprach, was sie wünschte und bedankte sich für ihr liebenswürdiges Entgegenkommen.

So war denn vorläufig der Friede geschlossen und sie plauderten noch ein Viertelstündchen unbefangen über dieses und jenes, bevor Gregor sich erhob, um seinen Besuch abzubrechen. Gerade als er durch den kalten Salon der Ausgangsthür zuschritt, hörte er draußen im Flur Lizzis lustiges Gelächter, in welches eine zweite, männliche Stimme hineinklang.

»Da haben wir sie ja!« rief die Majorin, indem sie an ihm vorbei nach der Thür eilte. »Nun werden Sie doch noch etwas da bleiben?« Und sie steckte den Kopf aus der Thür mit den Worten: »Lizzi, Rudi, kommt geschwind einmal herein, es ist jemand da!«

Neugierig wie zwei Kinder, die einen guten Schenkonkel aus der Provinz zu finden erwarten, kamen die Gerufenen herein, Rudi noch mit seiner Büchermappe unterm Arm, Lizzi im Mantel und Regenschirm. Die scharfe Luft draußen hatte ihre Wangen gerötet und nun noch die Verlegenheit der Ueberraschung – sie sah wirklich reizend aus.

Gregor trat ihr rasch zwei Schritte entgegen und hob unwillkürlich seine beiden Arme empor, wie um sie an die Brust zu ziehen. Doch als er sah, wie sie mit scheuem Blick auf die beiden Zeugen ihm nur schüchtern die Rechte entgegenstreckte, nahm auch er sich zusammen und begnügte sich damit, ihr die Hand zu drücken.

»Grüß Gott,« sagte Lizzi leise und sehr verschämt.

Und er, ihre Hand noch festhaltend, versetzte lächelnd: »Ja, nun wird mir gnädiges Fräulein Lizzi gewiß serr bös sein, daß ich nicht früher gekommen bin. Aber du – Sie können mir glauben, es war mir unmöglich. Ich habe so viel zu thun!«

Lizzi war bei dem »Du« erschrocken zusammengefahren. Frau von Goldacker hatte es lächelnd bemerkt und kam ihr zu Hilfe, indem sie ihr sowohl wie Gregor wohlwollend auf den Arm klopfte und sagte: »Ihr braucht euch gar nicht zu genieren, meine jungen Herrschaften.« Und dann zog sie ihren Bubi am Aermel herbei und stellte vor: »Herr Rudolf von Goldacker, Obersekundaner – Herr Doktor von Krajesovich.«

»Pardon, so weit sind wir noch nicht. Gnädige Frau Mutter greifen hoher Prüfungskommission vor – nur cand. med. vorläufig.« Damit reichte er dem jungen Manne die Hand entgegen.

Rudi that, als bemerkte er es nicht und verbeugte sich nur steif ein klein wenig, um sich dann, ohne ein Wort zu sprechen, mit seinem Schulsack hinauszutrollen.

Die Majorin beachtete sein Benehmen nicht weiter und forderte das Liebespaar auf, doch wieder in die warme Stube hereinzukommen.

Lizzi entledigte sich rasch ihres Hutes und Mantels und ging hinaus, um die Kleidungsstücke im Flur aufzuhängen.

Da trat ihr in dem engen finstern Raum Rudi entgegen und flüsterte dicht an ihrem Ohr, so dicht, daß sie sein aufgeregtes Atmen wahrnehmen konnte: »Wer ist der Herr? Von dem hab' ich ja noch nie was gehört!«

»Mama hat ihn dir ja vorgestellt,« entgegnete Lizzi kurz, indem sie einen Schritt von ihm zurücktrat und ihm, ein wenig unangenehm überrascht, ins Gesicht sah. Sein schroffer Ton hatte sie verletzt.

Rudi ging ihr wieder nach, und während sie noch ihre Sachen an den Haken hängte, ergriff er sie beim Handgelenk und flüsterte: »Soll das etwa dein Zukünftiger sein?«

»Was geht denn das dich an?« versetzte Lizzi ärgerlich, indem sie mit einem Ruck ihre Hand von seinem Griff befreite.

Und er stand rasch atmend und die hellblauen Aeuglein fast drohend aufreißend, vor ihr und sagte: »So, das geht mich also nichts an? Ich denke, wir haben doch Brüderschaft getrunken, und wir wollten doch wie Bruder und Schwester . . . ich dachte doch . . . ich hab' dir doch auch von mir alles erzählt; und überhaupt . . .«

»A geh, du bist ein dummer Bub'!« unterbrach Lizzi kurz sein aufgeregtes Gestammel und ging, ohne sich weiter um ihn zu bekümmern, ins Zimmer der Majorin. –

Solange die wohlwollende Beschützerin anwesend war, konnte natürlich weder eine besonders tiefsinnige noch hervorragend zärtliche Unterhaltung zwischen den Liebenden in Fluß kommen. Lizzi war wie auf den Mund gefallen und ärgerte sich über sich selbst, daß sie so dumm dabei saß, während Gregor mit krampfhafter Anstrengung über Theater und Kunst, über das Wetter, die Aussichten fürs Schlittschuhlaufen und dergleichen sprach. Und als nach etwa zehn Minuten dieser überflüssigen Wortmacherei die Entreeklingel ertönte, unterbrach sich die Majorin mitten in ihrem Satz und alle drei horchten gespannt hinaus in der Hoffnung auf eine gnädige Aufhebung der fruchtlosen Sitzung.

Der Diener kam und meldete Herrn Pastor Werkmeister an.

»Ah, sehr angenehm!« rief die Majorin vergnügt vom Sofa aufhüpfend. Und dann nahm sie Lizzi beiseite und forderte sie mit einem schlauen Lächeln auf, derweilen mit ihrem Gregor sich in das Berliner Zimmer nebenan zurückzuziehen. Es werde ihnen wohl beiden augenblicklich wenig an der Bekanntschaft des Pastors gelegen sein.

Die Liebesleute beeilten sich, diesem freundlichen Rate zu folgen, und Gregor benutzte die Gelegenheit, um sich eilfertig zu empfehlen, da er nur noch wenige Minuten Zeit habe.

Der Diener, der eben noch mit Tischdecken beschäftigt war, zog sich alsbald diskret zurück, und nun war das Pärchen endlich allein. Das erste war natürlich, daß Gregor seine Lizzi beim Kopfe nahm und nach allen Regeln der Kunst abküßte. Dazu benötigte er mindestens fünf Minuten, während deren der sonore Baß des geistlichen Herrn nebenan die gedämpfte musikalische Begleitung zu der sinnigen Pantomime abgab. Schließlich mußte doch aber auch wieder ein Wort geredet werden. Es war Gregor, der zuerst das selige Schweigen brach, indem er Lizzi neckend den Vorwurf machte, sie habe ihn da in eine schöne Falle gelockt,

»Was denn, was is denn?« fragte Lizzi unbefangen.

»Ja, siehst du, Schatzel meiniges,« versuchte er zu lachen, »ich weiß doch noch gar nicht, wie lange dauern wird, bis ich eine Praxis habe, um eine kleine Frau zu ernähren – und du willst doch gut genährt werden, nicht wahr? Was mein Vater sagen wird, der Herr Vicegespan, wenn ich jetzt schon komm' und will heiraten – o du guter Herrgott! Wie kann ich denn so unverschämt sein und mich jetzt mit dir verloben, wo doch noch kann viele Jahre dauern, bis wir heiraten. Aber die Frau von Goldacker natürlich, die möchte am liebsten bei dem Herrn Pfarrer da drin gleich die Traurede bestellen. O, überhaupt, mein lieber Schatz, es ist doch zu furchtbar dumm, daß wir uns sollen nur hier sehen unter dem Schutz von hoher Geistlichkeit und verehrter Frau Majorin.«

Lizzi hatte mit wachsendem Erstaunen zugehört, ihre Augen wurden immer größer und ihr Gesicht immer länger. Sie drückte ihre heißen Wangen zwischen ihre beiden Hände und strich sich das Haar aus der Stirn, und dann fragte sie kleinlaut: »Ja, was is denn jetzt dees, san m'r denn jetzt net verlobt? I man' doch, abbusselt ham m'r uns scho g'nug!«

»A geh, du bist ein kleiner Narr,« versetzte er, etwas mühsam lächelnd, indem er sie am Ohrläppchen zupfte. »Warum hast du auch der Gnädigen gleich alles sagen müssen! Heimliche Liebe ist doch viel, viel schöner, und jetzt wissen wir gar nicht, was wir sind. Wenn wir sagen verlobt, so ist es gelogen, denn ich kann mich nicht verloben, ehe ich weiß, wovon ich heiraten will. Es gibt ein Weaner G'sang'l, das heißt:

›Der Mensch, der Mensch, der Mensch ist kein Krawat, Kra–wat,
Er lebt, er lebt allein nicht von Salat, Sa–lat.
Er will auch sein gut's Bibi Babi ham, ham, ham,
Sonst demoliert der Kerl eam alles z'samm!‹«

Die Hände in die Hosentaschen versenkt, stand er vor ihr, summte die Melodie leise durch die Zähne und wippte dazu im Takt auf den Fußspitzen und Hacken hin und her.

Lizzi wandte sich rasch ab, trat ans Fenster und rieb die weiße Stirn gegen den Riegel. Ihre vollen Lippen zuckten halb vor Schmerz, halb vor Aerger, und sie verspürte nicht übel Lust zu weinen.

Er wartete eine ganze Weile, daß sie etwas sagen sollte. Als sie aber hartnäckig schwieg, trat er hinter sie, legte den Arm um sie und küßte sie leise auf den Nacken. »Nicht wahr, mein Schatzel will doch auch so ein gut's Bibi Babi haben?«

»A lassen S' mi aus, i mag gar nix mehr von Ihne wissen!« schmollte sie, indem sie sich mit einer brüsken Bewegung seinem Arm entzog. Dabei schaute sie zufällig in schräger Richtung durchs Fenster und bemerkte Rudis düster gespanntes Gesicht hinter dem Fenster seines kleinen Zimmers, welches dicht neben der Eingangsthür gleichfalls nach dem Hof hinaus lag und dessen Außenwand mit der des Eßzimmers einen rechten Winkel bildete. »Da, jetz hat uns der Rudi g'sehn,« fügte sie ärgerlich hinzu und trat dann drei Schritte vom Fenster weg.

»Der Rudi? Wer ist das?« fragte Gregor ziemlich gleichgültig. »Ah so, der Schulbub'.«

»Jawohl, der Schulbub'!« versetzte Lizzi spitz. »Aber der meint's ehrlicher wie Sie, mein Herr.«

»Oho, ein Konkurrent?« lachte Gregor. »Das wird ja ganz gefährlich! Komm, Schatzel, sei nit so bös. Jetzt nennst du mich gar schon ›Sie‹! Kannst du mich denn gar nicht mehr leiden?«

Und Lizzi sagte knapp und klar: »Nein!«

Er versuchte die Sache ins Scherzhafte zu ziehen, aber sie schaute so ernsthaft böse drein, daß er es aufgab. So streckte er ihr denn endlich mit einem tiefen Seufzer seine Hand hin und sagte: »Also, dann leb' wohl, Lizzi. Ich will mir alles noch einmal gründlich überlegen und auch an den Herrn Vicegespan schreiben, und dann sprechen wir uns wieder, nit wahr? Aber allein – im Tiergarten oder bei deiner Freundin, der verdrehten Malerin. Komm, einen Kuß zum Abschied.«

Aber sie wollte nicht. Sie gab ihm nur die Hand und zuckte die Achseln, als er »auf Wiedersehen« sagte. Damit ging er hinaus. – –

Frau von Goldacker mußte gehört haben, wie die Thür ins Schloß fiel, denn gleich darauf steckte sie den Kopf herein und rief leise: »Bist du allein, Kind? Komm herein und sag dem Herrn Pastor guten Tag.«

Lizzi strich sich wieder mit der Hand über die Stirn, holte tief Atem und zwang sich zu einem überaus freundlichen Lächeln, während sie gleich darauf das Zimmer der Majorin betrat und ihren Knix vor dem fremden Herrn machte.

Pastor Werkmeister war ein großer, stattlicher Mann mit einem frischen, germanisch-ehrlichen Gesicht. Glatt rasiert, mit kurzem, hellbraunen Kotelettenbart. Da er ganz schlicht civil gekleidet war und sogar die übliche goldne Brille fehlte, so sah er nicht unbedingt pastoral aus, eher wie ein Mittelding zwischen Hotelier und Sportsman.

»Da, lieber Herr Pastor, da sehen Sie das Findelkind, das mir der liebe Gott beschert hat,« rief die Majorin enthusiastisch, nachdem sie Lizzi vorgestellt hatte.

Der geistliche Herr ließ seinen Blick mit unverhohlenem Wohlgefallen auf dem großen Mädchen ruhen und dann sagte er: »Man sieht, gnädige Frau, Sie haben bei unserm Herrgott einen Stein im Brett und Ihr Schönheitssinn ist höheren Ortes auch schon bekannt, hahaha!« Dann neigte er sich gegen Lizzi und fügte mit weltmännischer Gewandtheit hinzu: »Denken Sie, mein gnädiges Fräulein, die Frau Majorin hat die ganze Zeit über nichts andres gethan, als mir von Ihnen etwas vorgeschwärmt, und jetzt sehe ich, daß sie diesmal wenigstens nicht übertrieben hat in ihrer bekannten liebenswürdigen Begeisterung.«

Das war ein hübsches Kompliment und Lizzi quittierte darüber mit einem Erröten, das sie nur noch reizender erscheinen ließ. Der Pastor gefiel ihr überhaupt gut, und der flotte, harmlos scherzende Ton, den er der ganzen Unterhaltung zu geben wußte, sagte ihr just zu, um ihren frischen Schmerz verwischen zu helfen. Sie schämte sich der bitteren Enttäuschung, die sie eben erlebt hatte. Sie wollte sich nichts merken lassen, nicht als genasführtes Gänschen bemitleidet werden. Und es gelang ihr wirklich so gut die Unbefangene zu spielen, daß die Majorin wie auch der junge Geistliche von ihrem natürlichen Humor, ihrer munteren Anmut ganz entzückt waren. Der Pastor blieb ziemlich lange und vergaß über der angenehmen Unterhaltung ganz und gar, daß er eigentlich in Armenangelegenheiten gekommen war. Erst als ihn die Majorin zur Flurthüre begleitete, beim Abschiednehmen, erinnerte er sich daran.

Sobald die beiden hinaus waren, sank Lizzi auf den nächsten Stuhl, legte ihren Kopf in die hohlen Hände auf den Tisch und murmelte leise vor sich hin: »O, mein Gott – jetzt hab' i aber gut Komödi g'spielt!« Und die Thränen stürzten ihr unaufhaltsam aus den Augen.

Gleich darauf trat Frau von Goldacker wieder herein, hochrot im Gesicht von all der Aufregung der letzten Stunde. Sie war außerordentlich vergnügt, tänzelte in dem engen Stübchen herum und klatschte in die Hände. Lizzis sonderbare Stellung, in der sie unbeweglich verharrte, schien ihr gar nicht weiter aufzufallen. »Kind, du bist ja ein ganz gefährlicher Racker!« rief sie lustig. »Weißt du auch, daß du unsrem guten Pastor ganz und gar den Kopf verdreht hast? Ein wahres Glück, daß du Braut bist! – Na, wie ist dir denn jetzt zu Mute? Daß die Sache zwischen euch im reinen ist, das hab' ich dir ja gleich angesehen, wie du so strahlend hereinkamst. Was machst du denn da? Heulst du ein bißchen? Ja, ja, das hat man so: das ist das Glück! – Wo steckt denn bloß der Bubi? Warum hat sich denn der Schlingel gar nicht sehen lassen?«

Und wie der Wirbelwind rauschte die lebhafte Dame in ihrem verschossenen Pompadourkostüm hinaus und, alle Thüren hinter sich offen lassend, in das Zimmer ihres Sohnes hinein.

Der saß auch am Tisch, einen kleinen Spiegel in der Hand, und quetschte mit einem Uhrschlüssel seine unglückseligen Wimmerln aus, während ihm die hellen Thränen über die Backen liefen.

»Ja, Herrgott himmlischer Vater, was ist denn mit dir los, Bubi?!« rief die zärtliche Mutter ganz entsetzt bei diesem traurigen Anblick. »Komm zu Tisch, die Suppe ist schon da.«

»Ich habe heute keinen Appetit, Mama,« schluchzte der große Bursche, indem er sein Handwerkszeug auf den Tisch legte und sich eiligst die Augen trocknete.

»Ja, aber sag mir bloß, Junge, warum weinst du denn? Ist dir in der Schule was passiert?«

Und mit hohler Grabesstimme erwiderte Rudi pathetisch: »O nein, Mutter, darum weint ein Mann nicht.«

Jetzt ging der Majorin ein Licht auf. Sie rang die Hände ineinander, schüttelte den Kopf und seufzte: »Ach, du Grundgütiger – Gott sei Lob und Dank, daß sie wenigstens verlobt ist! Mein armer süßer Bubi!« Und sie drückte seinen strohigen Blondkopf an ihr grünseidenes Mieder und ließ ihn dort sich ausschluchzen.


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