Ernst von Wolzogen
Die Erbschleicherinnen. Band 2
Ernst von Wolzogen

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Sechzehntes Kapitel.

Handelt von Verschwörungen, Hintertreppen und geistlicher Liebe. Ein sehr aufregendes Kapitel, sintemalen Lizzi sich zum drittenmal nicht verlobt und dennoch am hellen Tage Polterabend feiert.

Kaum ein Wort hatte die Majorin während des Abendessens mit Lizzi gewechselt, aber feindselige Blicke hatte sie genug aufgefangen. Und der Heldenjüngling Rudi war auch just nicht dagesessen wie einer, der auf Freiersfüßen geht und guter Hoffnung voll ist. Die Mama paßte ihm überdies noch scharf auf den Dienst und schlug jedesmal, so oft er seine wässerigen Aeuglein verliebt auf seinem holden Gegenüber ruhen ließ, mit Messer und Gabel auf ihrem Teller Zapfenstreich, so daß er eiligst die feurigen Pfeile seiner Blicke wieder hinter dem Vorhang seiner gelben Wimpern versteckte. Und nach Tische wußte die Gestrenge das junge Paar sehr einfach dadurch zu trennen, daß sie sich mit ihrem Sohne in den Saal zurückzog, während sie Lizzi mit Briefschreiben und Kostümflickerei für einige Stunden Beschäftigung gab. Einen kühnen Versuch Lizzis, eine Aussprache herbeizuführen, wies sie kurz zurück. Sie werde morgen alles Nötige erfahren.

Und dieser Morgen kam. Ein sonnenheller, krystallen glitzernder Wintertag. Um elf Uhr wurde Rudi spazieren geschickt, ohne daß es ihm vorher gelungen war, allein ein Wort mit Lizzi zu wechseln. Um halb zwölf Uhr klingelte es, und Friedrich führte ohne vorherige Anmeldung die Frau Geheimrätin Riemschneider und einen fremden Herrn herein, einen untersetzten, kleinen Mann mit kurz geschorenem grauen Haar, ebensolchem Vollbart und goldener Brille. Die Zusammenkunft war also offenbar schon schriftlich verabredet.

Lizzi neigte nur ein ganz klein wenig den Kopf gegen die Tante Ida, um über deren eisiges »Guten Tag« zu quittieren. Dann wandte sie sich mit fragendem Ausdruck dem alten Herrn zu, welcher mit einem buntleinenen Sacktuch hastig seine Brillengläser putzte, die ihm beim Eintreten in die warme Stube beschlagen waren. Mit blöden Blauaugen starrte er sie an. Er war offenbar sehr kurzsichtig. Aber Frau von Goldacker schien es nicht für nötig zu halten, sie vorzustellen, sondern gab ihr nur einen nicht mißzuverstehenden Wink.

Da war nichts zu thun, sie mußte sich hinaustrollen. Aber giften that sie sich! Sie blieb in dem kleinen Nebenzimmer dicht an der Thür stehen und horchte. Wenn man sie so behandelte, dann brauchte sie sich auch nicht hervorragend anständig zu benehmen, kalkulierte sie.

Sie traute ihren Ohren nicht. Mit süßen Schmeicheltönen dankte die Majorin der Frau Geheimrätin, die sie doch oft ausgesprochenermaßen für den Tod nicht ausstehen konnte, für die große Freundlichkeit ihrer Bitte um eine Unterredung entsprochen zu haben, trotzdem sie sich so wenig liebenswürdig gegen sie benommen. Sie habe leider nur zu bald einsehen müssen, daß sie sich im Charakter Lizzis völlig getäuscht und daß die Geheimrätin vollkommen recht gehabt habe, sie so eindringlich vor ihr zu warnen. Und dann dämpfte sie die Stimme und Lizzi vermochte nur noch einzelne Worte zu verstehen, von mangelndem Taktgefühl, vom Herrn Krajesovich mit der saloppen Moral, vom Bubi, vom Duell und vom Kopfverdrehen. Das war also ihr Sündenregister und man schickte sie hinaus, um ihr die Gelegenheit, sich zu verteidigen zu entziehen. Abscheulich war es! – Sie wollte nichts mehr hören.

Doch da wurde eine sonore Männerstimme laut. Der fremde Herr hatte also das Wort ergriffen. Sie wollte doch gerne wissen, was der eigentlich bei der Geschichte zu thun hätte. Und so blieb sie noch ein Weilchen.

»Ja warum nicht?« hörte sie ihn sagen. »Wenn gnädige Frau mir das Teufelsmädel anvertrauen wollen. Bisher habe ich immer nur schwer zu traktierende Jungens in Behandlung gehabt. Ein paar problematische junge Damen – na, ist doch eine kleine Abwechslung in dem öden Einerlei unseres Krähwinkeldaseins. Da kann mal meine Frau ihre Künste spielen lassen. Ich sage Ihnen, die hat eine Energie – ha, süperbe! Und damit die beiden jungen Damen beisammen sind . . . ich kann nur sagen, Fräulein Käthchen macht einen recht vorteilhaften, sanften Eindruck. Jedenfalls gibt es bei uns nichts erbzuschleichen, hahahahaha!«

Jetzt flötete die Geheimrätin etwas Unverständliches, aber Lizzi hatte schon genug gehört. Sie sollte mit Kathi zusammen aufs Land, in die Besserungsanstalt, zu dem Herrn Gymnasiallehrer. Oho! So ohne weiteres ließ sie sich doch nicht verschicken. Die sollten einmal was erleben! Und sie huschte leise hinaus auf den Gang, zog sich im Hui an – und fort war sie.

Sie hatte das Stelldichein mit Kathi an der Ecke der Bendler- und Tiergartenstraße verabredet, aber die Schwester war noch nicht zur Stelle, als sie Schlag zwölf dort anlangte. Da fiel ihr ein, daß sie höchst wahrscheinlich in Abwesenheit der Tante den Onkel nicht werde allein lassen dürfen, und rasch von Entschluß, wie sie war, kehrte sie um und eilte, so schnell sie konnte ohne gerade zu laufen, nach dem Schöneberger Ufer. Sie wollte die gute Gelegenheit, dem armen Onkel Riemschneider doch wenigstens Lebewohl zu sagen, sich nicht entgehen lassen. Ob sie dabei ertappt wurde, war ihr jetzt gleichgültig. Mehr wie hinausgeworfen konnte sie nicht werden – und daran begann sie sich allmählich zu gewöhnen.

Ganz außer Atem zog sie die Klingel bei Geheimrats. Kathi selbst öffnete ihr und war so erschrocken, sie vor sich zu sehen, daß sie sie gar nicht herein lassen wollte. Lizzi mußte sie mit Gewalt beiseite schieben, um sich den Eintritt zu erzwingen. Und dann zog sie sie mit sich in das Berliner Zimmer und erzählte ihr in fliegender Hast, was sie soeben von der gegen sie angezettelten Verschwörung der Tanten erlauscht hatte, und was sie dagegen zu unternehmen gedachte. Sie wollte abermals durchbrennen, auf ein paar Tage mit Fräulein Grönroos zusammenziehen und sich durch einen Theateragenten ein Engagement besorgen lassen, bei einer reisenden Gesellschaft, wenn's sein müßte. Alles, meinte sie, sei doch besser, als sich willenlos in die Sklaverei verkaufen lassen. Von ihrem Gelde hatte sie noch einige siebzig Mark und sie war der Ansicht, daß sie davon mindestens einen Monat leben könne. Kathi aber sollte heim nach München und schauen, ob sie nicht beim Großonkel unterkommen konnte, bis sie eine Beschäftigung gefunden hätte, die sie auf eigene Füße stellte.

Aber Kathi wollte von diesen kecken Plänen durchaus nichts wissen. Durchbrennen und eine untergeordnete Stellung annehmen, das dürfe sie nicht, denn sie müsse vor allen Dingen sich strengstens davor hüten, irgend etwas zu thun, was sie in den Augen der Welt zur Frau eines Geistlichen ungeeignet machen könne. Und weit von Berlin fort wollte sie auch nicht gehen. Sie müsse den Geliebten zum mindesten in erreichbarer Nähe haben.

Jetzt wurde aber Lizzi ganz wild. Sie schalt die Schwester grad heraus eine Närrin und erlaubte sich einige kräftige Bemerkungen über Pastor Werkmeister, der höchst wahrscheinlich die Hauptschuld trage an der plötzlichen Sinnesänderung der Majorin – und wie sie denn überhaupt so kindisch sein könne, gleich von lieben und heiraten zu reden, nachdem sie den Mann ein einziges Mal gesehen und er auch nicht die leiseste Andeutung gemacht habe, als hätte er dergleichen mit ihr im Sinne. Und nachdem sie ihr dergestalt ihre Meinung gesagt hatte, war der Gegenstand für sie erledigt und sie unterbrach Kathis betrübte Widerrede rücksichtslos, indem sie auf die Thür zuschritt und sagte: »Jetzt geh' i amal zum Onkel.«

Kathi lief ihr nach und wollte sie zurückhalten. Sie stellte ihr vor, was es für eine fürchterliche Scene geben könnte, wenn die Tante sie hier überraschte und wie das den kranken, alten Herrn aufregen müßte. Aber sie ließ sich nicht abhalten, sondern schritt rasch durch den Salon hindurch und klopfte an die Thür des Studierzimmers.

Ein leises »Herein« antwortete ihr und sie trat über die Schwelle, von Kathi auf dem Fuße gefolgt. Der Professor saß in dem großen, ledernen Lehnsessel am Fenster und las in einem Buche. Er hatte seinen langen Schlafrock an und seine Beine waren trotz der Wärme im Zimmer mit einer Decke umwickelt. So mager war sein Gesicht geworden! Die wachsbleiche Haut der Wangen durchscheinend, das lange Haupthaar fast weiß. Es gab Lizzi einen Stich ins Herz, ihn so traurig verändert, so gealtert wieder zu finden nach so wenigen Wochen. In tiefer Bewegung schritt sie auf ihn zu und streckte ihm mit einem herzlichen »Grüß Gott, lieber Onkel!« die Hand entgegen.

Er ließ das Buch in den Schoß sinken und blickte blöd zu ihr auf. Dann huschte ein Lächeln des Erkennens über seine welken Züge. Er griff nach ihrer Hand, drückte sie matt und sagte: »Ach, sieh da, die El– El– Eleonore!«

»Elisabeth willst du sagen, lieber Onkel,« kam ihm Kathi zu Hilfe, indem sie rasch hinter seinen Stuhl trat und ihm über die Schulter strich. »Die Lizzi möcht' nur g'schwind Abschied nehmen von dir, weißt.«

»Ja, ja – ich weiß schon – die, die Lizzi, das sag' ich ja. – Hmnja – das ist sehr schön von dir, mein Kind – ich habe gar nichts vergessen – o nein, ich habe immer gedacht, ob die . . .« Er konnte wieder das Wort nicht formen. Nur ein langes »Llll« vermochte er zu lallen, dann gab er es auf und vollendete, indem er errötete vor Scham über seine Schwäche: »Ob das gute Kind nicht einmal kommen wird, um sich nach mir zu – v–v–verteidigen.«

Er war sich offenbar bewußt, wieder ein falsches Wort gebraucht zu haben und schaute mit bebenden Lippen Lizzi halb ängstlich, halb ärgerlich an. Das griff ihr so ans Herz, daß sie nicht mehr an sich zu halten vermochte. Sie sank neben seinem Stuhle in die Kniee, brach in Thränen aus und wimmerte, indem sie seine zitternde, gelähmte Linke ergriff und mit Küssen bedeckte: »Ach lieber guter Onkel, net wahr, du bist mir net bös? Du weißt, daß ich nix Böses gethan hab'. Ich bin doch wirklich net Schuld dran, bei Gott! – Bitte – bitt' schön, sag's doch, daß du mi net auch für schlecht hältst.«

Der Professor sah sich unruhig, wie Hilfe suchend, nach Kathi um und flüsterte: »Ist sie nicht da? Ist sie ganz bestimmt fort?«

Kathi nickte nur und begann ihm beruhigend über den Kopf zu streichen.

»Ah!« seufzte er erleichtert. »Das ist schön. Ihr wißt, sie ist sehr gut – meine – meine Frau, aber sie weiß ja nicht . . . das mit dem Te– Te– Temperament. – Ich will's doch noch machen, jawohl – hnmja – wenn ich ganz gesund bin. Geht schon viel besser. – Nicht doch, Kind, nicht doch weinen, du – du bist ja auch gut – ich weiß. Käthchen kommt mit nach Rom – hmnja – wir wollen sehr lustig sein.« Er versuchte zu lachen und trommelte mit den mageren Fingern der Rechten auf dem Buchdeckel. Dann ließ er den Kopf langsam vornüber sinken und starrte die immer noch leise weinende Lizzi nachdenklich an. Plötzlich hellte sich seine Miene auf und indem er seine Rechte Lizzi auf den Kopf legte, sagte er: »Ich will etwas für dich thun, dafür, daß du nicht mit nach – nach Dings – nach Idealien – reisen darfst. Warte!« Und er versuchte sich von seinem Stuhl empor zu raffen.

»Laß doch, Onkel, laß doch,« rief Kathi, ihn sanft niederdrückend. »Soll ich etwas für dich holen?«

»Ja, Kind, bitte,« versetzte er, von der kleinen Anstrengung schon ermattet. »In meinem Schreibtisch – rechts oben, da ist ein – so ein . . .« Er zeichnete ein längliches Rechteck in die Luft und holte dann aus seiner Schlafrocktasche ein Schlüsselbund hervor, aus dem er mit zitternden Fingern den rechten hervorsuchte.

Kathi nahm ihm den Schlüssel ab, öffnete die bezeichnete Schublade und zeigte ihm verschiedene Gegenstände daraus vor. Er wurde ganz ungeduldig darüber, daß sie nicht gleich das Rechte brachte und vermochte es doch nicht genauer zu beschreiben. Endlich brachte sie ein längliches Büchlein mit graublauem Deckel zum Vorschein. Das war's. Er begehrte Feder und Tinte und dann füllte er mit vieler Mühe eines der im Buche enthaltenen Formulare aus. Mit ziemlich fester Hand schrieb er in Zahlen erst und dann in Worten »Eintausend Mark« und setzte seinen Namen unter den Check. Nur auf Lizzis Namen schien er sich durchaus nicht besinnen zu können. Er setzte mehrmals an und dann gab er es ärgerlich auf und sagte verlegen: »Deinen Namen kannst du selbst hierhersetzen. Das Schreiben wird mir schwer heute.«

Die beiden Mädchen sahen sich ängstlich an und Kathi wagte endlich zu sagen: »Ja, i weiß net, lieber Onkel, was dees is. Darf m'r dees auch?«

»Ja, gewiß,« versetzte er ungeduldig, indem er Lizzi den Schein in die Hand drückte. »Ich werd' Euch doch nicht be – be . . . Einfach bei der Deutschen Bank präsentieren. Wenn Ihr aber denkt . . .« Und mit plötzlicher Heftigkeit riß er Lizzi den Schein wieder aus der Hand und setzte aufs neue zum Schreiben an. Es gab einen Klex.

»Da, das kommt davon,« rief er heftig und schickte sich eben an den Schein zusammen zu ballen, als draußen die Flurglocke ertönte.

Alle drei fuhren erschrocken zusammen wie ertappte Sünder. Ohne daß jemand es aussprach, hatten sie die Gewißheit, daß das die Tante sein müsse. Kathi nahm dem Onkel rasch das Checkbuch und die Feder ab, verschloß ersteres in den Schreibtisch und steckte ihm das Schlüsselbund wieder in die Tasche. Der Schein war seiner zitternden Hand entfallen. Lizzi hob ihn auf, küßte noch einmal seine beiden Hände, trotzdem er ungeduldig abwehrte, und dann sprang sie auf die Füße und sah Kathi hilfeflehend an.

»Komm nur g'schwind,« flüsterte die, nahm sie bei der Hand und zog sie zum Zimmer hinaus. Sie rannte mit ihr durch den Salon in die Berliner Stube, durch den langen Gang bis zur Küche. Dort küßte sie sie flüchtig und schob sie, der höchst erstaunten Köchin nicht achtend, zur Hinterthür hinaus.

Lizzi sprang die enge steile Treppe hinunter, als ob die Polizei mit dem Ruf »Haltet den Dieb!« hinter ihr her wäre. Aber der Schreck war ihr so in die Glieder gefahren, daß ihr die Kniee zitterten. Auf dem ersten Absatz mußte sie einen Augenblick niedersitzen. Sie drückte verzweifelt die Fäuste in ihre Augenhöhlen und biß die Zähne fest aufeinander. Was in aller Welt hatte sie denn begangen, daß sie so hart gestraft wurde. Tausend Mark – ein ganzes Vermögen nach ihren Begriffen – sollten ihr in den Schoß fallen – und da kam wieder diese Frau, ihre unversöhnliche Feindin dazwischen. Sie griff in ihre Manteltasche und holte das zerknitterte Papier hervor. Der Klex hatte sich beim heftigen Zusammenraffen auch auf der andern Seite abgedrückt. Wie zwei Ochsenköpfe ungefähr sah es aus – oder auch Teufelsfratzen – jedenfalls hatte das Ding zwei Hörner und war sicher keinen Pfennig wert!

Schrecklich, schrecklich – unfaßbare Grausamkeit des Schicksals! – Sie wollte das Papier doch wenigstens behalten zum Andenken an die Güte des armen Onkels. Da hörte sie oben auf der Treppe Schritte, raffte sich eilends auf und verließ durch das Hofthor das Haus.

Lizzi hatte nicht übel Lust, gar nicht mehr zur Majorin zurückzukehren. Ihr kleines Vermögen trug sie ja bei sich. Und weshalb sollte sie Rudis dummverliebtes Geäugel noch länger über sich ergehen und sich von der gnädigen Frau als Verbrecherin behandeln lassen? Sie fühlte sich freilich vollkommen unschuldig – sie hatte in diesem Falle nicht einmal den Schein eines Unrechts auf sich geladen, wie damals, als der Zusammenstoß mit Tante Ida erfolgte; aber ihre sieben Wochen alte Lebenserfahrung hatte sie bereits darüber aufgeklart, daß von erzürnten Frauen niemals Gerechtigkeit zu erwarten ist, am wenigsten von einer Frau, in die sich niemand verliebt gegenüber einer solchen, in die sich alle verlieben! Je ruhiger und vernünftiger sie über die ganze Sache nachzudenken versuchte, desto unbegreiflicher wurde ihr der Zusammenhang. Ihre moralischen Qualitäten änderten sich doch nicht dadurch, daß der Gegenstand ihrer Neigung nicht wie ein grüner Junge, sondern wie ein besonnener, ehrlicher Mann handelte? Daß der Herr von Krajesovich sich nicht Hals über Kopf verloben wollte, wurde ihm als Verbrechen ausgelegt, und daß ihr eigener Sohn sich sofort bereit erklärte, gewissermaßen zur Sühne, diese Dummheit statt seiner zu begehen, das wurde gar ihr, dem unschuldigen Opfer, als Verbrechen ausgelegt! Die Majorin hatte doch von Anfang an Bubis Verliebtheit durchschaut und sogar ein herzliches Vergnügen daran gefunden, welches sich in allerhand kleinen Neckereien unzweideutig äußerte. Es war doch gänzlich unfaßbar, wie diese warmherzige, doch sonst durchaus nicht kleinlich denkende Frau sich auf einmal so in diesen Urwald von Unsinn verirren konnte. Ein Irrlicht mußte sie da hinein gelockt haben, und das konnte ihr niemand anders aufgesteckt haben, als dieser verwünschte Pfaff, indem er sie seiner Gönnerin als eine verlorene Seele darstellte, welche eine moralische Ansteckungsgefahr ins Haus hinein brächte.

Soweit war sie mit ihren Folgerungen und auf ihrem Wege bis zur Matthäikirche gekommen, als plötzlich an ihrer linken Seite eine bekannte Männerstimme sie aus ihrem Sinnen aufschreckte. Sie blickte auf und erkannte in dem Herrn, der ihr soeben »Guten Tag« geboten hatte, den Pastor Werkmeister. Kurz und unfreundlich gab sie ihm seinen Gruß zurück.

»Welch ein glücklicher Zufall,« begann der Geistliche, an ihrer Seite bleibend. »Sie sind auf dem Heimwege, nicht wahr? Ich wollte mir auch eben erlauben, bei Ihnen vorzusprechen, in einer wichtigen Angelegenheit.«

»Ja, bitt' schön, Sie finden Frau von Goldacker jetzt bestimmt daheim, in einer halben Stund' geh'n wir zu Tisch,« sagte Lizzi gleichgültig.

»Ja, aber es handelt sich um Sie, mein verehrtes Fräulein,« versetzte der Pastor. »Ich wollte Sie eigentlich sprechen, und zwar womöglich allein. Die Frau Majorin hätte mir das vielleicht nicht gestattet, aber nun ich das Glück habe, Sie hier zufällig zu treffen, darf ich mir vielleicht die Bitte erlauben, einen kleinen Umweg mit mir zu machen. Es liegt mir wirklich sehr am Herzen.«

Lizzi sah überrascht zu ihm auf. Er sprach so eigentümlich bewegt und sein entschieden hübsches, männlich offenes Gesicht war von tiefer Röte bedeckt. Ob das nur die frische Kälte machte – oder vielleicht der heilige Eifer? Ein Verdacht stieg in Lizzi auf und sie konnte sich nicht enthalten, ihm Ausdruck zu geben durch die ironische Frage: »Ach, Sie wollen mich wohl bekehren? Meine Seele retten noch geschwind vor Tische?«

Er bewegte verneinend den Kopf und warf ihr einen Blick so voll ernster Betrübnis zu, daß sie nun ihrerseits errötend die Augen niederschlug.

»Was habe ich Ihnen gethan, mein liebes Fräulein, daß Sie so . . .« Er brach seufzend ab und nach kurzem Nachdenken fuhr er fort: »Ah, ich kann mir denken . . . hat vielleicht die Frau Majorin, als sie gestern von ihrem Besuch bei mir zurückkam, irgend etwas geäußert, was Sie verletzen mußte?«

Lizzi antwortete nicht, aber an ihren vibrierenden Nasenflügeln, an der Art, wie sie ihre Lippen nagte, mußte er wohl bemerken, daß er mit seiner Vermutung das Richtige getroffen habe. Und er fuhr wärmer und geläufiger also fort: »Wenn es zu einer unliebsamen Auseinandersetzung gekommen ist, dann fürchte ich allerdings, daß ich die Ursache davon bin. Meine gestrige Unterredung mit der Frau Majorin hat mir eine schlaflose Nacht eingetragen. Ich fühle, daß ich Ihnen eine Erklärung schuldig bin, mein liebes Fräulein, und deshalb bin ich auch gleich gekommen. Bitte, hören Sie mich an.«

Lizzi nickte leicht mit dem Kopfe. Sie war nun wirklich sehr neugierig. Außerdem bemerkte sie, daß sie bereits achtlos an der Thür ihres Hauses vorübergegangen waren.

»Darf ich Sie vielleicht bitten,« fuhr Pastor Werkmeister fort, »mir zuerst zu sagen, was gestern geschehen ist, nachdem die Frau Majorin von mir zurückkam. Ich möchte die gute Dame nicht gern unnützerweise bloßstellen. Sie können mir wirklich Vertrauen schenken, Fräulein Mödlinger. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, was Sie mir auch sagen mögen, ich will es bewahren, wie ein Beichtgeheimnis.«

Das klang so seltsam feierlich und der Mann war so tief bewegt – der konnte unmöglich ihr Feind sein. Und so erstattete sie ihm unumwundenen Bericht von allem, was gestern nachmittag und heute früh im Hause vorgegangen war, und hielt auch nicht mit dem Geständnis zurück, daß sie seinem Einfluß die sonst unerklärliche Sinnesänderung der Majorin zuschreibe.

Der Pastor hatte ihre Erzählung mehrfach mit kurzen Aeußerungen seines Erstaunens, seines teilnehmenden Unwillens unterbrochen. Ohne daß sie wußten, wer eigentlich die Richtung angegeben habe, waren sie mittlerweile bei einem einsamen Fußweg des Tiergartens angekommen. Als sie ihre kleine Erzählung beendet hatte, blieb er stehen und streckte ihr beide Hände entgegen. Seine Augen blickten sie groß und feuchtglänzend an und sie fühlte sich sanft gezwungen, ihre Rechte aus dem kleinen Pelzmuffchen herauszuziehen und sie dem warmen Druck seiner beiden großen Hände für längere Zeit zu überlassen.

»Aber, mein liebes Fräulein,« rief er heftig bewegt, »das ist ja Wahnsinn! Das haben Sie alles über sich ergehen lassen müssen – und zwar um meinetwillen! Mein Gott, mein Gott, was sind doch die Frauen . . .! Ja, Sie haben ganz recht gehabt, ich bin thatsächlich daran schuld; aber nicht so, wie Sie meinen. Und jetzt muß ich reden um Ihretwillen. Ich darf die Majorin nicht mehr schonen. Also hören Sie. Frau von Goldacker kam gestern nachmittag, offenbar in heftiger Aufregung, zu mir, um mich in Ihrer Angelegenheit um Rat zu fragen. Durch den Brief des Herrn Krajesovich glaubte sie sich selbst ebenso beleidigt, wie Sie. Sie habe die Herbeiführung einer Verlobung zwischen Ihnen in der herkömmlichen anständigen Form für ihre Pflicht gehalten, und nun werde sie zum Dank dafür von dem Herrn wie eine frivole Kupplerin behandelt. Und Sie, mein liebes Fräulein, hielt sie durch die Absage dieses Herrn für schwer kompromittiert. Ich habe mir, bei Gott, alle mögliche Mühe gegeben, ihr die Unvernunft solcher Ansichten klar zu machen. Ich muß Ihnen ganz offen gestehen, daß mir persönlich der serbische Herr keinen sehr günstigen Eindruck gemacht hat, und Sie werden begreifen, die Verschiedenheit unsrer Ansichten, überhaupt das so ganz Fremde in seinem Wesen . . . Aber darauf kommt es ja natürlich hier gar nicht an. Und ich vermag auch wirklich in seinem Absagebrief nichts zu finden, was Ihre Ehre kränken könnte, oder was dem Herrn selbst zur Unehre gereichte. Daß die gute Frau von Goldacker sich etwas verletzt fühlte – nun ja, das sind so kleine, weibliche Schwächen. Ich gab mir die redlichste Mühe, sie von ihrer vorgefaßten Meinung zurückzubringen. Es schien aber wenig Eindruck zu machen, was ich ihr sagte. Sie war auffallend zerstreut. Und auf einmal brach sie in Thränen aus und sagte: da könnte ich nun sehen, was man einer schwachen, schutzlosen Frau mit einem weichen, arglosen Herzen alles zuzumuten wage. Ich war wirklich schon ganz verzweifelt. Aber beste gnädige Frau, wer mutet Ihnen denn etwas Ungebührliches zu? rief ich sie an, nehmen Sie doch nur Vernunft an! – Und was erwiderte sie mir? Na, da sehen Sie, nun sagen Sie es ja selbst. Es ist wirklich, um den Verstand zu verlieren. Ich fühle es jetzt zu deutlich: ich muß unbedingt wieder heiraten. Ich kann nicht warten, bis mein Sohn selbständig wird. Was raten Sie mir, lieber Herr Pastor? Oder glauben Sie, daß ich jetzt schon zu alt und zu garstig bin, um noch einem Manne gefallen zu können – einem Manne nämlich, der nicht nur auf mein Vermögen ausgeht? – Sie werden mir zugeben, liebes Fräulein, die Situation war für mich ein wenig – wie soll ich sagen – genierlich. Als Seelsorger konnte ich ihr doch nur zureden, ihren Frieden da zu suchen, wo ihr Herz sie hinzog, und als höflicher Mann konnte ich ihr doch auch nicht sagen, sie wäre zum Heiraten zu alt oder zu häßlich. Und nun wurde sie über meine Zustimmung so gerührt und erregt – ich wußte gar nicht wie . . .«

»Und da hat s' g'sagt: bitt schön, möchten S' net vielleicht gar selber so freundlich sein und sich meiner erbarmen?« fiel ihm Lizzi lustig in die Rede. »Nein, wissen S', das wundert mi gar net. Mir hat s' schon eh g'sagt, daß s' gern einen Geistlichen heiraten möcht, wann s' kein' Maler derwischen könnt. Na, dees is jetz gut! Was haben denn Sie d'rauf g'sagt. Herr Pfarrer?«

Er war wieder rot geworden und kraute sich verlegen in seinem Backenbarte. »Ach, mein liebes Fräulein,« sagte er, »ich habe ja an dergleichen gar nicht gedacht. Meine Gedanken waren ganz wo anders. So direkt, wie Sie meinen, hat sie mich natürlich auch nicht herausgefordert, aber ich hätte es doch merken müssen, worauf sie hinaus wollte, wenn ich nicht, wie gesagt. . . . Erst später, nachdem sie in heller Wut mein Zimmer verlassen hatte, fiel mir die Binde von den Augen und ich sah, welch eine Dummheit ich angerichtet hatte.«

»Ja, thut's Ihnen denn jetzt leid, möchten Sie s' denn gern heiraten?« fragte Lizzi naiv. Sie dachte an Kathi und blickte ihn mit ihren großen Augen ein wenig traurig und dabei sehr gespannt an.

»O, nein, nein, nicht um alle Millionen!« rief der Pastor mit komischer Entschiedenheit. »Nein, denken Sie nur, was ich für eine fürchterliche Dummheit begangen habe! Bloß um dem peinlichen Gespräch eine andre Wendung zu geben, ließ ich mich hinreißen, ihr zu gestehen, daß ich seit vorgestern Abend eine heftige Neigung zu einem jungen Mädchen gefaßt habe, das ich in ihrem eigenen Hause kennen lernte.«

»Ist das wahr?« rief Lizzi aufs freudigste überrascht, indem sie unbefangen eine Hand auf seinen Arm legte und ihn mit großen lachenden Augen anstrahlte.

»Bei Gott, das ist wahr!« versicherte er mit feierlichem Ernst. Und dann bemächtigte er sich wieder ihrer Hand und drückte sie fest zwischen seinen beiden. »Ich habe Tag und Nacht seither an nichts andres denken können. Das liebliche Bild wollte nicht von mir weichen. Soviel ich mir auch vorhielt: das ist ja unmöglich – dieser plötzliche Rausch, der da über dich gekommen ist, kann nicht das Rechte sein. Aber ich weiß es jetzt, es ist doch das Rechte. Dies heiße tiefe Gefühl, das plötzlich mein ganzes Inneres so gänzlich erfüllt hat, das ist wirklich die Liebe, nach der ich mich schon lange gesehnt habe. Die erste ernste Liebe eines Mannes, der längst kein Kind mehr ist. Ich weiß, es ist unzart, es ist vermessen, so zu Ihnen zu sprechen – zu Ihnen, der noch das Herz blutet von der frischen Wunde einer schmerzlichen Enttäuschung. Es wäre mir gar nicht eingefallen, jetzt schon mich Ihnen zu offenbaren, wenn nicht zufälligerweise ich die unschuldige Ursache dieser unglückseligen Eifersucht geworden wäre, die sie jetzt schon wieder vertreiben will aus dem kaum gefundenen Heim.«

»Ah, wissen S', deswegen können S'schon frei von der Leber weg reden,« rief Lizzi lustig. »Mi druckt gar nix mehr. Ich bin nur froh, daß ich mei Freiheit wieder hab' und daß mein serbischer Freund ein solch vernünftiger Mensch is.«

Und der geistliche Herr vergaß aller seiner Würde und rief mit bebenden Tönen, trunken wie ein Jüngling, die zitternden Arme ausgestreckt, sie zu umfangen und an seine Brust zu pressen: »Dann darf ich es also wirklich wagen, Ihnen zu gestehen, liebes, süßes, einziges Mädchen, daß ich Sie liebe mit aller Kraft meiner Seele? Können Sie mir Hoffnung geben, daß Sie . . .«

»Ich?!« fiel ihm Lizzi ins Wort und starrte schier versteinert mit schreckensweiten Augen zu ihm auf.

Er aber wußte sich ihre Miene nicht zu deuten. Eitel und siegesgewiß, wie alle starken Männer, mochte er wohl glauben, dieses »Ich« sei der Ausdruck seligen, mädchenhaften Erschreckens gewesen über die große Auszeichnung, die ihr zu teil wurde. Oder auch, er dachte gar nichts und konnte es einfach nicht länger aushalten. Kurz, er schloß seine Arme um ihre üppige Gestalt und drückte sie fest an sich.

»Nicht doch, nicht doch, lassen S' mi aus,« klagte Lizzi weinerlich.

Aber er hielt sie so fest, daß sie sich nicht loszureißen vermochte und sprach ihr tröstend zu, wie einem kleinen Kinde. »Fürchte dich nicht, Geliebte. Hier ist weit und breit kein Mensch. Niemand sieht uns als nur Gott allein und der hat seine Freude daran, wenn zwei Menschenherzen sich zum ewigen Bunde finden, und zwei warme Lippenpaare das Bündnis besiegeln im ersten bräutlichen Kuß.«

Herrgott, wie schön der Mann reden konnte! Lizzi ward es ganz wirr im Kopf. Es ruhte sich so gut und warm an dieser breiten Brust und er hielt sie so fest und sicher. »Elisabeth,« hörte sie ihn dicht an ihrem Ohr flüstern, »glaubst du, daß du mir wieder Liebe schenken kannst?«

Mühsam suchte sie ihrer Verwirrung Herr zu werden. Er drückte sie so, daß sie kaum zum Sprechen Luft hatte und sie stammelte kurzatmig: »Aber, Herr Pfarrer – naa, i bitt Ihne! – dees geht doch net, dees kann doch net wahr sein. Mich kennen S' doch schon lang und Sie haben doch von einer gred't, die S' erst am heiligen Abend . . .«

Er ließ sie gar nicht ausreden und unterbrach sie mit heißem Flüstern: »Ja, gewiß, so ist es auch. Ich habe dich schon immer reizend gefunden, mein geliebtes Mädchen, seit ich dich zum erstenmal sah. Aber kennen gelernt habe ich dich doch erst vorgestern abend. Da hab' ich zum erstenmal einen Blick in deine Seele thun dürfen. Als jener Mann über die ernstesten und heiligsten Dinge zu spotten wagte – o, ich habe wohl bemerkt, wie weh dir das that und wie du es doch für deine Pflicht hieltest, seine Partei zu ergreifen und so klug und mutig gegen uns alle auftratest. Da hab' ich erkannt, welch schöne Seele in diesem lieblichen Körper wohnt. Da mußte sich mein Schicksal erfüllen. Ja, du süßes Kind, ich liebe dich!« Und dann bedeckte er ihr Mund und Wangen mit brennenden Küssen, soviel sie sich auch sträubte und flüsterte heiß: »Glaubst du mir nun? Willst du die Meine werden?«

Lizzi wußte nicht, ob es Schreck oder Zorn war, was sie auf einmal so gewaltig packte und ihr die Kraft verlieh, sich aus seiner festen Umarmung loszureißen. Sie trat ein paar Schritte von ihm zurück, streckte abwehrend die Hände gegen ihn aus, stampfte zornig mit dem Fuß auf und knirschte mit funkelnden Blicken: »Was nennen S' mi denn alleweil du? Sie, i verbitt mir das!«

Pastor Werkmeister fiel aus allen seinen Himmeln und machte ein Gesicht, das der Ausdruck maßlosen Erstaunens nicht eben geistreich erscheinen ließ. Sprachlos starrte er sie an.

Plötzlich traten Lizzi die Thränen in die Augen. Sie preßte mit beiden Händen ihr Muffchen ans Herz, blickte zum Himmel auf und jammerte verzweifelt: »Ui jegerl, jegerl, lieber Herrgott, womit hab i nur dees verdient? Ich hab' doch ganz g'wiß an nix Böses denkt – und da kommt der Mann daher und dutzt mi mir nix, dir nix und küßt mi auf öffentlicher Promenad. Dees is doch scho wirklich zu arg!«

»Aber liebes Fräulein Mödlinger,« stotterte der Pastor verwirrt, »ich glaubte doch ein Entgegenkommen. . . . Ich bitte Sie, verzeihen Sie mir, wenn ich Sie gekränkt habe. Ich bin wohl zu rasch – mein Gott, die Leidenschaft . . . ich glaubte doch in Ihren Augen zu lesen . . .«

»A was,« fuhr Lizzi ärgerlich auf. »Ich hab' g'meint, Sie reden von meiner Schwester.«

»Von Ihrer Schwester?!« Er machte ein Gesicht, als ob er sich auf gar keine Schwester besinnen könne. »Ja, mein Gott, fühlen Sie denn gar nichts für mich? Können Sie mir gar keine Hoffnung geben?«

»Nein, nein – ich mag nicht, ich kann nicht,« stieß sie scharf und atemlos hervor. Mit niedergeschlagenen Augen stand sie vor ihm und ihre Brust wogte heftig. Dann wandte sie sich entschlossen von ihm ab und schritt rasch davon, den Weg, den sie gekommen waren, zurück.

Mit großen Schritten eilte er ihr nach und flehte sie an: »Rauben Sie mir doch nicht alle Hoffnung, ich kann ja nicht ohne Sie leben!«

»Nein, i mag net, lassen S' mi los. I darf net – nie nie, um kein Preis!«

Und damit raffte sie ihre Röcke zusammen und setzte sich in Laufschritt. Eine Strecke weit verfolgte er sie weit ausschreitend. Wenn er hätte traben wollen, hätte er sie mit leichter Mühe eingeholt. In der großen Querallee waren aber Leute. Da gab er's auf. Doch Lizzi trabte fast unausgesetzt bis zum Eingang der Matthäikirchstraße. Und erst, als sie ihn dort nicht mehr hinter sich sah, verfiel sie in einen ruhigeren Schritt. –

Friedrich öffnete ihr mit vertraulichem Grinsen die Thür. »Au weh, Fräulein, heute jibt's aber was. Die Herrschaften sind schon beim Braten!« flüsterte er schadenfroh. Die Sklavenseele wußte wohl schon, daß sie in Ungnade gefallen sei und da meinte sie, den Respekt als überflüssig beiseite lassen zu dürfen.

Lizzi würdigte ihn keiner Antwort. Sie legte hastig ihre Sachen ab und betrat das Eßzimmer. Eine Entschuldigung murmelnd, setzte sie sich auf ihren Platz. Ihre Wangen glühten, ihre Augen glänzten, und ihr Busen wogte immer noch heftig von dem raschen Lauf.

Rudi verschwendete umsonst seine feurigsten Blicke an sie. Sie hielt hartnäckig die Augen auf ihren Teller gesenkt und sprach kein Wort.

»Du wirst wohl entschuldigen, wenn wir ohne dich angefangen haben,« sagte Frau von Goldacker kalt und scharf, sobald der Diener hinaus war, um die Suppe für Lizzi zu holen. »Du wirst wohl nicht verlangen, daß wir dir zu Gefallen das ganze Diner verderben lassen.«

Lizzi zuckte nur leicht die Achseln. Ui je, wenn sie schon ihr bescheidenes Mittagessen »Diner« benannte, da mußte sie freilich sehr böse sein!

»Wir konnten ja nicht wissen, ob du überhaupt wieder zu kommen beabsichtigtest,« fuhr die Majorin nach kurzer Pause fort. »Ich wollte dich dem Herrn Oberlehrer Doktor Hartmann vorstellen, der so liebenswürdig sein will, dich und deine Schwester in Pension zu nehmen, bis ihr eine anständige Lebensstellung gefunden haben werdet. Aber da warst du ausgeflogen, niemand wußte wohin. Darf man vielleicht fragen, wo du warst?«

»Ich war mit Herrn Pastor Werkmeister im Tiergarten spazieren,« versetzte Lizzi kurz und warf ganz verstohlen einen scharf beobachtenden Seitenblick auf die Majorin.

Sie sah, wie sie zusammenzuckte, wie Messer und Gabel in ihren Händen zitterten bei dem vergeblichen Bemühen, ein offenbar sehr hartes Stück Huhn zu zerkleinern. Die Köchin hatte nun einmal kein Talent fürs Geflügel!

»Wie kamst du denn dazu, mit Pastor Werkmeister . . .« stieß die aufgeregte Dame tonlos hervor.

»Ich traf ihn zufällig auf der Straße und er bat mich um eine Unterredung.«

»So, wirklich? Was wollte er denn von dir?«

»Er wollte mich heiraten.« –

Erst sprachloses Erstaunen. Die Majorin zitterte am ganzen Körper derart, daß sie Messer und Gabel loslassen und die Hände auf den Schoß legen mußte. Und Bubi ward leichenblaß und klammerte sich mit beiden Händen an die Tischkante. Plötzlich sprang er auf, schlug mit den Knöcheln auf den Tisch und keuchte ganz außer sich: »Das ist – das ist eine Gemeinheit. Ich werde . . .«

Da trat Friedrich mit der gewärmten Suppe herein und Bubi plumpste wieder auf seinen Stuhl zurück, daß es nur so krachte. Es war einer von den echten. Er griff eilig nach seinem Besteck, um sich vor dem Diener nichts merken zu lassen, aber er brachte keinen Bissen mehr hinunter. Seine Mutter ebensowenig.

Eine Schicksalsfrage schwebte ihr auf den Lippen und drückte ihr schier das Herz ab vor Ungeduld. Der Friedrich mit seinen neugierigen Blicken war recht unangenehm und die Lizzi aß so langsam, pustete an jedem Löffel voll so lange herum.

»Sie können das hier abnehmen,« sagte die Majorin endlich, »und gleich den Pudding bringen. Inzwischen kann die Köchin für das Fräulein etwas Braten wärmen.«

Sobald Friedrich mit dem Tablette hinaus war, that die Majorin ihre schwere Frage: »Nun – und? Da hast du dich wohl nicht lange besonnen?«

»O nein,« versetzte Lizzi, ironisch, lächelnd. »Gründlich hab' ich'n abfahr'n lassen. Der traut sich net wieder.«

Rudi sprang abermals von seinem Stuhl auf und zwar so ungeschickt, daß das wacklige alte Möbel umstürzte und die hohe, morsche Lehne abbrach. Er rannte um den Tisch herum auf Lizzi zu, stammelte allerlei unzusammenhängenden Unsinn und wollte sich vor ihr niederwerfen, um seinem überschwänglichen Danke Ausdruck zu geben.

Seine Mama aber war schnell genug bei der Hand, um die Ausführung dieses Vorhabens zu verhindern. Sie nahm ihn einfach beim Kragen und führte ihn aus dem Zimmer. Es war gut, daß sie diese Ablenkung bekommen hatte, sonst wäre sie wahrscheinlich vor freudiger Ueberraschung der Lizzi gleich um den Hals gefallen.

Das merkwürdige Mädchen benutzte das kurze Alleinsein dazu, um vor Vergnügen auf seinem Stuhle zu hüpfen. Der aber fühlte sich zu alt, um noch auf solche Scherze einzugehen. Außerdem war er ein Bruder des jenseits eben zu Schaden gekommenen und entschloß sich darum kurz, dessen Schicksal zu teilen. Seine beiden bresthaften Vorderbeine gingen aus den Fugen und mit einem kurzen Krach sank er mit seiner süßen, aber doch schweren Last vornüber unter den Tisch.

Die Sache kam Lizzi so überraschend, daß sie sich eines erschrockenen Aufschreis nicht erwehren konnte. Und im selben Augenblick traten von rechts die Hausfrau und von links der Diener herein.

»Aber Lizzi, was machst du denn da unter dem Tisch?« rief die Majorin erstaunt, und Friedrich war trotz seines mehrjährigen Verkehrs in herrschaftlichen Häusern nicht gebildet genug, um seine plebejische Schadenfreude angesichts dieses merkwürdigen Stilllebens zurückzuhalten. Er prustete laut heraus und ein wahres Wunder war's, daß er dem gefallenen Fräulein nicht die Puddingschüssel unter dem Tisch servierte. Bei einem Haar wäre sie von dem Tablette heruntergerutscht.

So endete Lizzis dritte Verlobung. Die Majorin warf ihr zwar hinterher vor, sie müsse überhaupt kein Herz haben, wenn sie einen Mann wie Pastor Werkmeister zurückweisen könne, aber innerlich war sie doch dem sonderbaren Mädchen innigst dankbar dafür, daß es sie so prompt und wirksam an dem Undankbaren gerächt hatte. Und sie wurde auf einmal wieder sehr freundlich und wollte durchaus nichts davon hören, daß Lizzi sogleich ihre Sachen packte und davon ging. Zum mindesten müßte sie noch bei ihrem Zauberfest mitwirken. Das versprach sie denn auch. Und damit war vorläufig der Friede zwischen den Damen des Hauses wieder hergestellt.

Die Kosten mußte der Heldenjüngling Rudi bezahlen. Er war nun der allerseits in Ungnade gefallene und wurde angewiesen, seinen gekränkten Stolz möglichst viel in freier Luft spazieren zu führen.


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