Ernst von Wolzogen
Die Erbschleicherinnen. Band 2
Ernst von Wolzogen

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Vierzehntes Kapitel.

In welchem es eine schöne Bescherung gibt

Lizzi sah wohl ein, daß sie die Unglückliche nur quälen würde, wenn sie noch weiter auf sie einzureden versuchte, und so sagte sie denn nur herzlich »Auf Wiedersehen!« und schlich traurig hinaus.

Einige Tage vor dem Fest sagte die Majorin beim Dessert ganz unvermittelt zu Lizzi: »Ich wundere mich übrigens, daß du mich noch gar nicht gebeten hast, dir deinen Bräutigam zum heiligen Abend einzuladen. Oder hast du gemeint, das verstände sich von selbst?«

Lizzi wurde rot und protestierte eifrig. Sie fühlte, daß sowohl Frau von Goldacker wie ihr Bubi in diesem Augenblick den Ausdruck ihres Gesichtes scharf beobachteten. Es entstand eine kleine verlegene Pause.

Dann begann die Majorin aufs neue: »Ich habe natürlich nichts dawider, im Gegenteil – ein Bräutigam gehört unbedingt unter den Christbaum. Also, ich werde heute noch schreiben. Aber das sage ich dir, wenn er wieder ablehnt wie neulich, dann ist's aus mit uns.« Auf ihren Wangen zeigten sich rote Zornesflecke und sie strich etwas nervös mit den knochigen Fingern die Brotkrümchen neben ihrem Teller zusammen. »Ich bin dem Herrn freundlich genug entgegengekommen. Er kann aber nicht von mir verlangen, daß ich ihm nachlaufe! – Herrje! Bubi, was fällt denn dir ein, rappelt's bei dir?«

Der Bubi hatte nämlich urplötzlich ziemlich derb auf den Tisch geschlagen. Mit einem ganz roten Kopf saß er da und rollte die Augen. »Pardon, Mama,« gab er kurzatmig zur Antwort. »Ich meinte nur . . .«

»Was denn, mein Sohn?«

»Nein, nachlaufen thun wir ihm nicht!«

»Ui jegerl, Rudi,« platzte Lizzi heraus: »Gar so g'schwollen brauchst a net daher z' reden. Was bild'st denn du dir ein von wegen 'm Nachlaufen? Meinst vielleicht, daß ich ihm nachlauf'?«

»Zankt euch nicht, Kinder,« rief die Majorin streng über den Tisch hinüber. Und dann, eine Viertelstunde später, nachdem die Tafel aufgehoben war, nahm sie die Lizzi heimlich beiseite und sagte: »Hör mal, Kind, ich werde nicht recht klug aus dir. Liebst du den Mann nun eigentlich oder nicht?«

Lizzi sagte nur: »Oh!« und zwar mit einem recht zweifelhaften Gesichtsausdruck.

Die Majorin zuckte die Achseln und ging mit verschränkten Armen ein paarmal auf und ab. Dann blieb sie wieder vor Lizzi stehen und sagte: »Das ist übrigens jetzt ziemlich Wurst. Aber da ich mich einmal mit der Sache eingelassen habe, so bin ich gewissermaßen mit kompromittiert, wenn er sich nicht bald erklärt. Jeder anständige Mensch verlobt sich zu Weihnachten – das kannst du nach den Feiertagen in allen Zeitungen sehen. Also müssen wir ihn einladen, um ihm die Chance zu geben.«

»Aber liebe Tante,« wandte Lizzi bescheiden ein – sie hatte sich in letzter Zeit daran gewöhnt, die Majorin »Tante« zu nennen – »das thät' ja grad ausschaun, als ob ich von ihm absolut was g'schenkt hab'n möcht'. Na, und dann überhaupts – mir g'fallt's net recht. Wenn er net von selber kommen mag, soll er's halt bleib'n lassen.«

»Kind, das verstehst du nicht,« versetzte die Majorin, ihre schwachen Brauen wichtig hochziehend. »In der anständigen Gesellschaft heiraten die Männer fast nie von selber. Sie müssen immer ein bißchen energisch dazu gestupst werden.«

»Jesses!« entfuhr es Lizzi.

»Ja, so ist es einmal,« bekräftigte die Majorin. »Außerdem mußt du bedenken, daß du dich hast küssen lassen. Du kannst also überhaupt nicht mehr zurück.«

Lizzi machte ein sehr erstauntes Gesicht und rief ganz erschrocken: »A geh, naa, wegen so a paar Busseln.«

Die Majorin nahm eine sehr strenge Miene an und sagte spitz: »Liebes Kind, so redet eine junge Dame der guten Gesellschaft nicht. Das ist laxe Moral. In München mag man meinetwegen zu seinem Vergnügen busseln. Bei uns zu Lande ist das eine ernste Sache.« Damit schritt sie hoheitsvoll aus der Thür und ließ die gänzlich verwirrte Lizzi allein, damit sie Muße fände über ihre »laxe Moral« nachzudenken und in sich zu gehen.


Der heilige Abend war gekommen. Bis um sechs Uhr war die Majorin mit Lizzi bei der Bescherung für arme Kinder in einem Krippenverein anwesend. Dann kehrten sie heim, um ihren eigenen Christbaum anzuzünden. Kathi hatte schon eine halbe Stunde lang in Junker Rudis Gesellschaft auf sie gewartet.

Lizzi umhalste sie stürmisch, als sei sie ihr nach einer langen Abwesenheit wieder zurückgekehrt. Sie hatten sich wirklich in den letzten vierzehn Tagen nur ein einzigesmal auf ein kurzes Stündchen gesehen, und die Geheimrätin hatte gar noch viel Wesens daraus gemacht, daß sie Kathi die Erlaubnis erteilt, den heiligen Abend außer dem Hause zuzubringen.

»Was hat sie dir geschenkt?« war Lizzis erste Frage nach der Begrüßung.

»O, zwanzig Mark und Stoff zu einem schwarzwollenen Kleide.«

»Is wirklich wahr? Alle Six, dees is fei' nobel für ein Stubenmädel, wo erst drei Wochen im Dienst is!« rief Lizzi mit bitterer Ironie. »Na und der Onkel?«

»Der hat mir noch gar nix geben. Weißt, mir is so vorkommen, wie wann er mir hätt' den ganzen Tag was sag'n woll'n. Aber sei' Frau hat uns kane zwei Minuten lang allein g'lassen, weil S' gewiß a g'merkt hat, daß 'n Onkel was druckt. Wie i hab' Abschied nehmen woll'n, da hat s' g'sagt, ich sollt 'n net stör'n, weil er grad schlaft. I glaub's fei' net, daß er g'schlaf'n hat, denn weißt, um die Zeit is er g'wöhnlich grad am allermuntersten. Für dich hab' ich aber nix mitkriegt.«

Lizzi zuckte die Achseln: »Meinst vielleicht, von der hätt i was erwart'? A geh zu, red'n m'r von was anderm.«

»Ja, recht hast,« versetzte Kathi rasch, zog Lizzis Arm durch den ihren und begann mit ihr umherzuwandern. Sie waren im Berliner Zimmer miteinander allein geblieben, während die Majorin im Saal mit Hilfe ihres Bubi die Kerzen anzündete.

»Eins mußt m'r sag'n, du: is dees wahr, daß heut abend der Herr Krajesovich kommt und daß gleich Verlobung g'feiert wer'n soll?«

Lizzi blickte zur Seite und that möglichst gleichgültig. »Eing'laden is er,« erwiderte sie, »und zug'sagt hat er auch. Aber mit dem Verloben, weißt, dees wird net so g'schwind geh'n – ha!«

»Aber der Rudi hat's doch g'sagt, ganz bestimmt. Und a G'sicht hat er dazu aufgesteckt, ich sag' d'r so giftig, als wenn er di mit samt dei'm Schatz glei umbring'n möcht'. Was hast denn nur ang'stellt mit dem Buben? Der is ja rein närrisch. Dem hast a 'n Kopf verdreht, du schlecht's Ding, du! I weiß gar net, wies d' mir vorkommst; du mußt doch furchtbar aufg'regt sein? Ui jegerl, wann i mi heut verloben sollt', i meinet, i laufet wie damisch umanand'.«

Da ließ Lizzi die Schwester los und setzte sich mit einem Seufzer auf dem Drehsessel vor dem Klavier der Königin Luise nieder. Sie stützte ihren Kopf auf die Hand und pochte mit ihrer Fußspitze nervös auf den Teppich. »I weiß selber net, wie m'r z' Mut is,« begann sie nach einer kleinen Pause. »Sag mir nur, Katherl, was soll i jetzt anfang'n, wann er mir wirklich an feierlichen Antrag macht?«

»Ja, was is denn jetzt dees?« rief die Schwester verwundert. »Hast 'n denn epper net gern? Ich hab' g'meint, ihr seids schon völlig im reinen mit 'nander?«

»Gel, jetzt fangst du a no mit die dalketen Busseln an,« schmollte Lizzi in weinerlichem Ton. »Kann denn i da was dafür? Dees is von weiter nix kommen, als weil i den Abend den vielen Wein trunken hab'. Was wär' denn sonst, wenn dees net wär'? I hab' 'n ja nur dreimal g'sehn, und so an wildfremden Mann kann m'r do net glei heiraten.«

»Ja, wennst du 'n doch aber liebst!«

»Na ja, i mag 'n schon ganz gern leiden, aber . . . weißt, die ganze G'schicht g'fallt m'r nimmer. I hab' d'r's bisher net sag'n mög'n – aber seit sich d' Majorin so arg d'rum ang'nommen hat, schaut er mi mit ganz andre Aug'n an. I wär' recht froh, wenn er gar net kommen möcht'. Sixt's, er is am End' doch a Fremd's. Wenn's a Landsmann wär', thät' i mi gar net weiter b'sinnen. Aber denk doch nur, a ungarischer Serbe, dees is bald a so wie a Kineser. Thät'st denn du epper so ein' nehmen?«

Kathi besann sich nicht lange und erwiderte, ihre Hand mütterlich auf Lizzis Schulter legend: »Na weißt, wann i net wüßt', daß ich 'n über alles in der Welt lieb hätt', thät' i nein sagen – unbedingt!«

»Ja, aber d' Majorin thät' nachher sag'n, i wär' unmoralisch!« rief Lizzi händeringend.

In diesem Augenblick ertönte die Entreeglocke. Lizzi sprang auf die Füße, packte die Schwester erschrocken bei beiden Armen und flüsterte: »Dees is er. I lauf' davon. I mag 'n net seh'n. I sperr mi in mei' Zimmer ein. Sag du 'm, i hätt' Zahnweh.«

Kathi mußte lachen und wirklich das zappelige Ding mit aller Gewalt festhalten, damit es nicht davon lief. Endlich versprach Lizzi zu bleiben und vernünftig zu sein, unter der Bedingung, daß Kathi den ganzen Abend nicht von ihrer Seite wiche.

Da ließ der Diener auch schon Herrn Krajesovich von Nemes-Pann eintreten. Der junge Herr war kaum weniger befangen, als die beiden Mädchen, welche nur schüchtern knicksten und es gänzlich ihm überließen, die Unterhaltung zu eröffnen.

Es wurde dem guten Gregor sichtlich schwer, auch nur die nächstliegenden Redensarten zu finden. In seiner Verlegenheit machte er sich ungewöhnlich viel mit seinem Schnurrbart zu thun und was er sagte, war nichts weniger als geistreich.

Sie atmeten alle drei erleichtert auf, als ein Viertelstündchen später die Majorin mit einer großen Kuhglocke, die sie einmal als Andenken aus den Alpen mitgebracht haben mochte, das Zeichen zum Beginn der Bescherung gab. Gregor reichte den beiden Mädchen die Arme und führte sie, steif wie zu einem feierlichen Diner, in den glänzend erleuchteten Saal. Rudi, der hinter seiner halb geöffneten Zimmerthür gewartet hatte, bis sie vorbei waren, schloß sich ihnen leise auftretend an. Zuletzt kam Friedrich, die Köchin und das Stubenmädchen.

Sämtliche Kerzen auf den beiden Kronleuchtern brannten und der vom Fußboden bis zur Decke reichende Tannenbaum erstrahlte im Glanze von mindestens hundert Wachskerzchen und funkelte feenhaft durch den Widerschein des dicht über die Zweige hinübergesponnenen Silberdrahtes. Rings in dem weiten Raume waren mehrere größere und kleinere Tische verteilt, weiße Damastservietten darüber gedeckt und Armleuchter darauf gestellt, um die ausgebreiteten Gaben zu beleuchten. Die gute Frau von Goldacker hatte wirklich etwas sehr Hübsches zu stande gebracht und so komisch genau sie auch oft in Kleinigkeiten war, wenn es galt ihren Nächsten eine Freude zu machen, so scheute sie keine Kosten.

Das Harmonium war für die Gelegenheit in den Saal gebracht worden, und bevor jemand an seinen Tisch treten durfte und schauen, was ihm das Christkind gebracht, setzte sich die Hausfrau an das Instrument und stimmte das allbekannte Weihnachtslied »Stille Nacht, heilige Nacht« an. Sie selbst sang mit heller, etwas scharfer Stimme, vom Chor jedoch nur mäßig unterstützt: denn die Dienstboten scheuten sich in Gegenwart ihrer Herrschaft von ihren Lungen ausgiebigen Gebrauch zu machen, Rudi hatte überhaupt keine Stimme und die beiden großen Mädchen genierten sich vor dem ausländischen Eindringling. Lizzi machte kaum den Mund auf beim Singen und konnte sich nicht enthalten, ihren eventuell Zukünftigen ein wenig mißtrauisch anzuschielen. Er machte in der That ein etwas sonderbares Gesicht – nicht etwa höhnisch, nein, vielmehr etwa so, wie ein Europäer, der zum erstenmal zwei Samoaner zum Gruß ihre Nasen aneinander wetzen sieht und den Entschluß faßt, aus Höflichkeit demnächst ihrem Beispiele zu folgen. Natürlich sang er nicht mit, da er weder Text noch Melodie kannte, aber Lizzi glaubte doch ein leises Gebrumm zu vernehmen, welches wahrscheinlich seinen guten Willen bezeigen sollte.

Als der Gesang beendigt war, wies die gütige Hausfrau jedem den Tisch, wo er die für ihn bestimmten Gaben fand. Den Rudi geleitete sie selbst an der Hand nach seinem Platze. Lizzi fand eine Menge hübscher und nützlicher Dinge vor, die, wenn sie auch nicht eben kostbar waren, doch bewiesen, wie liebevoll die gute Majorin ausgekundschaftet hatte, was sie an kleinen Notwendigkeiten sich am meisten wünschte. Sie fiel ihr gerührt um den Hals und küßte sie in herzlicher Dankbarkeit. Jetzt war sie wieder ganz das Kind am Weihnachtsabend und hatte im Nu ihre Bangigkeit und Kümmernis vergessen. Leise aufjauchzend zeigte sie Kathi ihre Herrlichkeiten und wies ihr dann die Dinge, die für sie selbst bestimmt waren und von denen die Majorin das meiste bezahlt hatte, weil sie zu Fräulein Grönroos' Bestem gar zu tief in ihre Kasse gegriffen. Dann bewunderte sie den reichen Gabentisch Rudis und verfehlte nicht, ihn eindringlichst auf ihr Geschenk aufmerksam zu machen, einen Bierkrug mit dem Münchner Kindl darauf.

»Sixt es, das bin i,« lachte sie, auf die Figur des Mönchleins deutend und dann packte sie den schlanken Jüngling am Arm und schüttelte ihn tüchtig. »Ja, Rudi, was machst denn du für a G'sicht? Freust denn du dich gar net?«

»O ja, ich freue mich schon,« gab er mit dumpfer Grabesstimme zur Antwort. »Es war sehr freundlich von dir, daß du sogar an mich gedacht hast.«

Lizzi hörte den versteckten Sinn aus diesen Worten nicht heraus. Ihr fuhr schon ganz etwas anderes durch den Kopf. Sie ließ den Bubi ohne Antwort stehen und lief auf Gregor zu, der die ganze Zeit über etwas verlegen lächelnd beiseite gestanden war. Sie zog ihn an der Hand nach ihrem Tisch, wo, unter einer Serviette verborgen, ihr kleines Geschenk für ihn lag. Es war ein hübsches, mit Seide gefüttertes Portefeuille, in dessen innere Seite sie mit Goldfaden seinen Namenszug gestickt hatte. Dann hatte sie auch ein Bild von sich hinein gesteckt, ein freilich nicht sehr gutes Photogramm, auf dem sie ein bißchen gar gewöhnlich aussah.

Gregor dankte ihr mit einem Handkuß und dann holte er aus seiner Tasche ein Etui hervor und stammelte etwas verlegen, indem er es ihr überreichte: »Hab' ich mir auch erlaubt – kleines Andenken . . .«

Lizzi öffnete es hastig und stieß ein lautes »Ah!« freudiger Ueberraschung aus. Es war ein ganz schmaler goldner Armreif mit sechs grünen Steinen in einfachster Fassung darauf.

Die Majorin und Kathi traten neugierig näher, die Brautgabe zu besichtigen und die Dienstboten in ihrer Ecke des Saales steckten tuschelnd die Köpfe zusammen. Sie hatten sich natürlich längst über die einzig mögliche Erklärung für die Anwesenheit dieses Fremden geeinigt. Ein Bräutigam im Hause am Weihnachtsabend – das war besonders für das weibliche Personal ein äußerst interessantes Ereignis.

Dies war der kostbarste Schmuckgegenstand, den Lizzi je besessen hatte und sie zeigte ihn ganz glücklich überall herum, stolz über die Bewunderung, die er fand. Nur Rudi hatte die Lippen fest zusammengebissen und hatte nichts gesagt, aber sie achtete nicht weiter darauf in ihrer Erregung. Wenn Gregor sie in dieser Stimmung vor aller Ohren gefragt hätte: »Willst du die Meine sein?« so hätte sie höchstwahrscheinlich ja gesagt.

Er that aber nichts dergleichen, sondern bewegte sich nur unfrei und befangen im Zimmer herum und fühlte sich offenbar in dem Bestreben, sich in die fremden Sitten zu fügen und möglichst liebenswürdig zu sein, recht unbehaglich.

Nach einer Stunde etwa ging man zu Tische, ohne daß er eine Gelegenheit gesucht hätte, das entscheidende Wort zu sprechen. Und als es Frau von Goldacker kurz vor dem Aufbruch gelang, die Lizzi auf einen Augenblick allein zu erwischen, konnte sie sich nicht enthalten, ihr zuzuflüstern: »Weißt du, ein ganz einfaches goldenes Ringlein ohne Stein hätte ich passender gefunden. Na, mach' deine Sache gut und gib ihm Gelegenheit. Der junge Herr kennt sich, scheint's, in den Landessitten nicht aus.«

Just als die Herrschaften den Gang überschritten, um sich ins Eßzimmer zu begeben, ertönte die Entreeglocke.

»Ah, vielleicht noch ein verspäteter Postbote,« rief die Majorin und ging selbst die Thür zu öffnen.

Es war der Pastor Werkmeister, der mit Lebhaftigkeit sein spätes Kommen entschuldigte. Amtsgeschäfte hätten ihn so lange aufgehalten. Jetzt erst erinnerte sich die Majorin, daß sie den Pastor, der keine Familie in Berlin besaß, schon vor einiger Zeit aufgefordert hatte, den heiligen Abend bei ihr zu verbringen. Sie bat die kleine Gesellschaft noch für einige Minuten in den Saal zurückzukehren und eilte davon, um noch ein Couvert für den vergessenen Gast auflegen zu lassen.

Der Pastor schüttelte Lizzi wie einer alten Freundin die Hand, behauptete, sich außerordentlich zu freuen, auch Kathis Bekanntschaft zu machen und bat dann, dem fremden Herrn vorgestellt zu werden. Da keine der Schwestern hierzu Miene machte, besann sich Rudi auf seine Pflicht als Vertreter der Hausfrau und besorgte die gegenseitige Vorstellung der beiden Herren.

Sie sahen einander ein wenig verwundert an und hätten offenbar beide gerne gewußt, in welchen Beziehungen der andere zur Herrin des Hauses oder zu den beiden jungen Damen stand, denn Rudi hatte nur die Namen ohne weitere Erläuterung genannt. Jeder wartete ab, ob nicht der andere den Anfang zu einer Unterhaltung machen werde. Da aber keinem etwas Gescheites einfallen wollte, so entstand eine recht unbehagliche Pause, welcher endlich Lizzi dadurch ein Ende machte, daß sie den Pastor zu ihrem Tische geleitete und ihm ihre Geschenke zeigte.

Der geistliche Herr war so liebenswürdig, eine lebhafte Teilnahme an den Tag zu legen. Er nahm diesen und jenen der zierlichen Toilettengegenstände in die Hand und lobte den guten Geschmack. Und dann griff er nach dem Etui und schickte sich an, auf den Verschlußknopf zu drücken, als er bemerkte, daß Lizzi eine Bewegung machte, wie um ihn daran zu verhindern.

»O, darf man das nicht sehen?« fragte er lächelnd.

Lizzi wurde ein wenig rot und dann sagte sie mit raschem Entschluß: »Da is ja eh nix drin. Ich hab's schon an. Da, schaun S', dees hab' i von dem Herrn da!« Und dabei hielt sie ihm ihr Handgelenk entgegen, an dem bereits der goldene Reif mit den grünen Steinen prangte, und deutete gleichzeitig mit einer leichten Kopfbewegung über die Schulter hin auf den unweit hinter ihr stehenden Gregor.

Pastor Werkmeister hatte ihre Hand erfaßt, während er das Armband aus der Nähe bewunderte, und hielt sie etwas lange fest – ganz in Gedanken. Er wußte nicht recht, wie er es anstellen sollte, um herauszubekommen, wer »der Herr da« denn nun eigentlich sei. Aber schließlich – eine bescheidene Frage konnte man ihm nicht verübeln. Er ließ langsam die Hand des Mädchens sinken und sagte: »Wohl ein alter Freund Ihres Elternhauses aus München?«

»O nein!« versetzte Lizzi rasch. »Wir kennen uns erst seit ganz kurzem. Bei mei'm Onkel haben wir uns z'erst gesehen und seither nur ein-, zweimal troffen. Ja, sehn S', Herr Pastor, bei die einen geht's halt g'schwind mit der Freundschaft und bei die andern langsamer – dees is halt so, gelt, Gregor?«

Der Angerufene trat einen Schritt näher, lächelte etwas gezwungen und sagte: »O, das wird Hochwürden gar nicht wundern. Er ist ja auch schon guter Freund, nicht wahr? Und kennt dich doch erst kürzer wie ich.«

Der Pastor erbleichte. Das war eine Weihnachtsüberraschung, von der er sich nichts hatte träumen lassen. Er war mit großer Freude der Einladung der Majorin gefolgt und hatte sich vorgenommen, die Stimmung des trauten Familienfestes zu benutzen, um womöglich einen Einblick in Lizzis Herz zu bekommen. Nun saß da schon ein andrer darin. Das war bitter! Er nahm sich zusammen, so gut es gehen wollte, und murmelte verlegen: »Entschuldigen Sie, Herr . . . Ich wollte mir durchaus kein Urteil anmaßen. Ich – also dann darf ich wohl . . .«

»Herr Pastor,« fiel hier Rudi laut ein, »wollen Sie sich meine Sachen nicht auch ansehen?«

Er vermochte kaum einen Seufzer der Erleichterung zu unterdrücken und wandte sich, ohne seinen Satz zu vollenden, eifrig an den Sohn des Hauses. Fast im selben Augenblicke erschien die Majorin und rief zu Tische.

Kathi benutzte die Gelegenheit, um Lizzi unbemerkt tüchtig in die Seite zu puffen und ihr zuzuflüstern: »Jesses, was machst denn du nur für G'schicht'n? Schämst di denn gar net? Mir sagst, du willst nix'n mehr wissen von dei'm Schwarz'n und jetza nennst'n beim Vornamen und dutzt'n a no! Was soll jetzt der Herr Pfarrer von dir denken? Und was willst denn nachher sagen, wenn er dir zur Verlobung gratuliert? Er hat so scho halbet dazu ang'fangen!«

Lizzi zuckte die Achseln und gab trotzig zurück: »No sag' i halt: net wahr is.«

»So – ja was bist denn du nachher? Sei Schatz? Dees kannst doch 'm Pfarrer net sag'n.«

»Warum denn net? Evor i lüg'.«

»A, geh zu, du wirst dei' Lebtag net g'scheit.«

Pastor Werkmeister hatte sich beeilt, der gnädigen Frau seinen Arm zu bieten. Sie hatte jedoch dankend abgelehnt, mit dem Bemerken, daß heute die jungen Paare zusammenhalten müßten, und ihn an Kathi gewiesen, um an seiner Statt den Herrn Sohn an ihre Seite zu kommandieren. Der kleine Zug ordnete sich rasch zum zweitenmal, die Hausfrau mit Rudi voran, dann der Pastor mit Kathi, und zuletzt die Verlobungskandidaten.

Gregor blieb absichtlich etwas zurück, um, als sie gerade die Schwelle überschritten, Lizzis Arm fest zu drücken und ihr zuzuraunen: »Lieber, herziger Schatz! Find ich serr komisch, nicht wahr?«

»Was denn komisch?« gab sie verwundert zurück.

»Daß Pastor jetzt denkt, wir wären verlobt, haha!«

»Das find ich gar nicht komisch, Herr von Krajesovich,« stieß Lizzi zornig zwischen den geschlossenen Zähnen hervor, indem sie dabei einen nichts weniger als zärtlichen Blick von oben an ihm herabgleiten ließ, mit einem Ausdruck und einer Kopfbewegung, wie keine Schauspielerin ein vornehm abweisendes Gekränktsein besser hätte darstellen können. – –

Der Pastor sprach das Tischgebet und dann setzte man sich zu der landesüblichen Weihnachtsmahlzeit nieder, bei welcher der Karpfen den feststehenden ersten Gang bildet. Wenn ein Fischessen schon im allgemeinen wegen der damit verknüpften Lebensgefahr nicht gerade geeignet ist, zu lebhafter Unterhaltung anzuregen, so schien die Beschäftigung des Grätensuchens heute doch ganz besonders lähmend auf die Sprechwerkzeuge zu wirken. Die Frau des Hauses war befangen, weil sie den geistlichen Freund nicht erwartet hatte und nun nicht wußte, wie sie ihm gegenüber die Erscheinung des fremden Gastes erklären sollte. Der Pastor selbst war noch vor Ueberraschung einigermaßen geistesabwesend und richtete zweimal kurz hintereinander dieselbe gleichgültige Frage an Kathi. Diese wiederum besaß sowieso keine hervorragende Unterhaltungsgabe. An Rudis schöner Seele nagte das grünäugige Scheusal Eifersucht und machte ihn überhaupt für menschliche Gesellschaft ungeeignet. Der schöne Serbe fühlte sich in diesem trauten Familienkreise so wenig zu Hause, wie nur irgend denkbar, und vermochte weder die Vorliebe für weihnachtliche Karpfen noch Verlobungen mit den Anwesenden zu teilen. Und Lizzi endlich nahm Aergernis an allen und allem, nicht zum mindesten an sich selbst. Der alte Trotz regte sich in ihr, mit dem sie von Kindesbeinen an zu kämpfen gehabt hatte, und machte sie so zapplicht und nervös, daß eine kaum bezwingbare Lust sie überkam, irgend welchen groben Unfug zu ihrer Abkühlung zu verüben. Die Rotweinflasche über das reine Tischtuch hinzugießen, oder dem Pastor einen Karpfenkopf in die Rocktasche hineinzupraktizieren, dem schönen Gregor plötzlich einen der langen Zipfel seines Schnauzbartes aufzuwichsen, oder so etwas dergleichen. Sie fühlte es ganz deutlich, wenn sie jetzt nicht bald eine himmelschreiende Dummheit anstellte, dann fing sie an zu heulen – und die Blamage wäre doch zu fürchterlich gewesen!

Nachdem der Karpfen ohne Unfall, aber auch ohne hervorragende Genußfreudigkeit bewältigt war, machte sich die kleine Tafelrunde an die festliche Gans heran. Mit den Gänsen passierte gewöhnlich ein Unglück in dem Haushalt der Majorin. In diesem Falle nun hatte die Köchin, trotzdem sie, um die große Verantwortlichkeit nicht ganz allein tragen zu müssen, das gnädige Fräulein mit auf den Markt genommen hatte, just die würdige Stammmutter eines zahlreichen Geschlechts jüngerer Gänslein erwischt, die vermutlich in dieser selben Stunde Herz und Magen andrer frommer Christen erfreuten. Die Ehrfurcht, die man dem Alter schuldig ist, vermochte nicht zu verhindern, daß das Mißfallen über das leibliche Teil der Verewigten bei sämtlichen Anwesenden unzweideutigen Ausdruck fand. Die Kauwerkzeuge wurden mit einer Energie in Bewegung gesetzt, welche sämtliche Muskeln des Gesichtes in Mitleidenschaft zog. Man sah peinvoll zusammengezogene Brauen, durch die schwierigsten Kinnbackenverrenkungen in Mitschwingung versetzte Nasenspitzen, in langsamem Takt sich auf und nieder bewegende Ohrmuscheln und kannibalisch gefletschte Zahnreihen. Lizzi, die sich als Mitschuldige fühlte, that, als ob sie nie ein so vorzügliches Gansel gekostet habe, und schluckte, um sich nicht an den unästhetischen, zahnathletischen Uebungen beteiligen zu müssen, die Stücke ungekaut hinunter und spülte mit großen Schlucken Weines nach.

Die Majorin legte, wie schon früher erwähnt, kein großes Gewicht auf die Tafelfreuden; aber da es ihr in diesem Falle unmöglich entgehen konnte, daß sie ihren Gästen denn doch etwas zuviel zugemutet hatte, so fühlte sie sich veranlaßt, zu ihrer Entschuldigung etwas vorzubringen. Sie wandte sich an Lizzi, räusperte sich und sprach: »Du sagtest mir doch, mein liebes Kind, daß du in München deine Mama immer auf den Viktualienmarkt begleitet hättest und ein angeborenes Verständnis für Gänse besäßest. Es scheint, daß dich dein Scharfblick diesmal im Stich gelassen hat. Man sollte doch meinen, daß die Symptome der Jugend bei den Berliner Gänsen in derselben Weise hervortreten, wie bei den Münchnern. Darf ich dir vielleicht noch 'n Stückchen anbieten?«

»Ja, bitt' schön,« sagte Lizzi resolut. »Gar so jung mag ich die Ganseln net amal.«

Entsetzt ob solcher Tollkühnheit hielten sämtliche übrigen Anwesenden einen Augenblick mit dem Kauen inne und starrten Lizzi mit einem Gemisch von Grausen und Bewunderung an, wie etwa einen Zuschauer in einer Menagerie, der plötzlich den Wunsch äußern würde, den Löwenkäfig betreten zu dürfen. Der gute Bubi besonders zeigte ein so ängstlich besorgtes Gesicht und sperrte in hilflosem Schrecken seinen Mund so weit auf, daß Gregor, der ihm gerade gegenübersaß, sich ein kurzes Auflachen nicht versagen konnte.

Lizzi sah ihn mißbilligend von der Seite an und dann gewahrte sie, der Richtung seines Blickes folgend, Rudis Gesicht, welches nunmehr einen komischen Ausdruck mühsam verhaltenen Zornes hatte. Da packte sie plötzlich die so lange unterdrückte Begier, was anzustellen, so unwiderstehlich, daß sie im Nu einen ihr gerade erreichbaren Rotweinpfropfen ergriff und ihn Rudi, ohne lange zu zielen, ins Gesicht warf. Er traf ihn gerade auf die Nase, prallte zurück und flog unglücklicherweise just in eine Sauciere hinein, einen kleinen Sprühregen von Fett über das Tischtuch verspritzend.

Bubi griff erschrocken an die Nase und dann fixierte er wütend den ungeniert lachenden Krajesovich, als ob er der sichere Schütze gewesen wäre. Kathi kicherte und Hochwürden wußte nicht recht, ob er mehr mißbilligend oder belustigt dreinschauen sollte. Frau von Goldacker aber war einfach entrüstet und rief, indem sie das Tranchierbesteck, mit dem sie just der Großmutter ein Bein absägen wollte, ermattet sinken ließ, über den Tisch hinüber: »Pfui, Lizzi, schämst du dich nicht? Solche Kindereien schicken sich doch für dein Alter nicht mehr. Was kann denn mein Sohn dafür, daß du uns eine alte Gans gekauft hast?«

Die Sünderin ließ ihre Hände in den Schoß sinken und schlug mit einem sehr drolligen Ausdruck die Augen nieder, ohne etwas zu erwidern.

Gregor wollte ihr unter dem Tisch aufmunternd die Hand drücken, erfuhr jedoch eine sehr entschiedene Zurückweisung. Aller Blicke waren jetzt erwartungsvoll auf Lizzi gerichtet. Sie fühlte das, obwohl sie nicht aufschaute. Ihr war jetzt etwas besser, nachdem ihre nervöse Ueberspannung sich in der Unthat mit dem Pfropfen entladen hatte. Nur das allgemeine Stillschweigen berührte sie peinlich, und auf einmal hob sie den Kopf, blickte lieblich lächelnd umher und sagte: »A geht's, red'n m'r von was anderm.«

Die ganze Tischgesellschaft, selbst den schwergekränkten Bubi und die Majorin nicht ausgeschlossen, brach in ein herzliches Gelächter aus, und damit war endlich der seltsame Bann gebrochen, der bisher keine Feststimmung hatte aufkommen lassen wollen, Pastor Werkmeister besonders konnte sich gar nicht wieder beruhigen. Er lachte, daß ihm die Augen feucht wurden, und während er sich mit dem Taschentuch darüber tupfte, drückte er seiner Nachbarin die Hand und flüsterte ihr zu: »Ihr Schwesterchen ist wirklich allerliebst.«

Eine Blutwelle ergoß sich über Kathis Wangen und versetzte ihr für einen Augenblick den Atem. Schüchtern äugte sie von der Seite zu dem frischen, stattlichen Mann empor, der ihr so wohl gefallen hatte, wie noch nie ein Mann beim ersten Begegnen. Und wieder war es die bevorzugte Schwester, welche, ohne sich im geringsten darum zu bemühen, auch ihn durch ihre Lieblichkeit gefangen hatte! Wie er sie ansah! Solche Augen hatte ihr noch nie ein Mann gemacht. Sie liebte ihre Lizzi so von Herzen, sie war so selbstlos von Natur – und doch, jetzt packte sie etwas . . . nein, sie wollte sich nicht erniedrigen! Und sie nahm alle Kraft zusammen und eröffnete ein Gespräch mit ihrem Nachbar. Es glückte ihr, und sie waren bald in lebhafter Unterhaltung.

Auch der Edle von Nemes-Pann war aufgetaut und begann allmählich das unbehagliche Bewußtsein, hier nicht recht am Platze zu sein, von sich abzuschütteln. Er hatte sich auch Mut gemacht, indem er von dem bösartigen Kunstgetränk, welches die harmlose Wirtin für Wein hielt, mehrere Gläser hinunterstürzte. Die Unglücksgans wurde zudem bald von einer leidlich wohlgelungenen, süßen Speise abgelöst, zu welcher sogar eine Flasche Sekt, wenn auch nur Unstrutsekt, spendiert ward. Nun war eine lebhafte, allgemeine Unterhaltung im Gang, an der einzig der Bubi sich nicht recht beteiligen wollte.

Frau von Goldacker fragte Gregor nach seinen heimatlichen Weihnachtsgebräuchen. Er gab ihr eine kurze, anschauliche Schilderung, und dabei kam es heraus, daß die Bevölkerung bei ihm daheim griechisch-katholisch sei.

»Sind Sie denn etwa auch griechisch-katholisch?« warf die Majorin zaghaft ein.

Er nickte lächelnd mit dem Kopf. »Gewiß, Gnädige, ich bin orthodox getauft.«

»Das ist ja schrecklich!« fuhr die Majorin naiv heraus, hielt sich aber fast gleichzeitig mit einem erschrockenen »Pardon« den Mund zu.

»O, fürchten Sie nichts, Gnädigste,« lachte Gregor gutmütig. »Ich glaube nicht, daß es meine Seele beschädigt hat. Hab' ich jedenfalls von meiner Konfession bisher keinen Gebrauch gemacht und keinen Popen bemüht,«

Die süße Speise wurde eben zum zweitenmal herumgereicht und Friedrich bot sie just Herrn von Krajesovich an.

»O, bitte, nehmen Sie doch noch etwas,« nötigte die Hausfrau, »Oder lieben Sie Schlagsahne nicht?«

Er machte eine ablehnende Handbewegung und erklärte, daß er selten Süßigkeiten genieße.

»Aber ein Christ sind Sie doch wenigstens?« nahm die Majorin mit kühnem Gedankensprung den Faden wieder auf.

Lizzi häufte sich einen großen Berg Schlagsahne auf den Teller und Pastor Werkmeister unterbrach sein Gespräch mit Kathi, um sich, auf Gregors Antwort begierig, ein wenig über den Tisch hinüberzulehnen. Der junge Herr strich sich lächelnd den Schnurrbart und erwiderte nach kurzem Besinnen: »Das kommt auf die Auffassung an, nicht wahr, Hochwürden? Das Wesen des Christentums ist doch die Liebe – nicht? Sehr wohl: ich glaube an die Liebe!« Und dabei sah er Lizzi mehr verschmitzt als zärtlich von der Seite an,

Lizzi that, als ginge sie diese Sache nichts weiter an, und schmauste eifrig ihre Schlagsahne mit Mohn und Schwarzbrot.

Pastor Werkmeister aber gefiel das nicht. Er wurde rot, setzte eine ernste Miene auf und sagte, dem Serben frei ins Auge sehend: »Gegen Ihre Definition des Christentums habe ich nichts einzuwenden. Es kommt nur darauf an, was für eine Art Liebe Sie meinen?«

Ohne Besinnen versetzte Gregor: »O, natürlich die freie Liebe!«

Mit einem leisen Entsetzensschrei lehnte sich Frau von Goldacker in ihrem echten Stuhl zurück, daß es nur so krachte, und dachte nicht daran, ein Schaumflöckchen, das an ihrer Nasenspitze hängen geblieben war, zu entfernen,

»Die freie Liebe?« flüsterte sie entsetzt, indem sie ihren Sohn anstarrte und dabei ihre Hände auf die Ohren deckte. »Sie meinen doch nicht etwa . . .«

»O nein, die freie Liebe, welche die Sozialdemokraten predigen, wird der Herr wohl schwerlich meinen,« suchte Pastor Werkmeister zu Hilfe zu kommen.

Gregor wandte sich ihm lebhaft zu: »Gewiß nicht, wenn Sie an Anarchie und gar Kommunismus in der Liebe denken. Aber ich glaube nicht, daß irgend ein anständiger Mensch das wirklich will – am wenigsten bei den Sozialdemokraten. Ich glaube, dieses Ideal existiert nur in der allerfeinsten Gesellschaft.«

Die Majorin ließ ihren Löffel sinken, schob ihren Teller zurück und schaute Herrn von Krajesovich entsetzt an.

Gregor lachte. »Hab' ich etwas sehr Schreckliches gesagt, nicht wahr? Aber hab' ich nicht recht? Kennt man nicht die allerfeinste Gesellschaft, die serr, serr reichen Menschen, die nichts zu thun haben, als sich zu amüsieren? Die eleganten Lebemänner und die großen Weltdamen? Nun, ist nicht wahr? Sind sie nicht Kommunisten in der Liebe? Fragen Sie jemals, wem gehört der Mann, wem gehört die Frau? Ist ihnen irgend etwas heilig?«

Die Majorin, die er bei dieser Frage liebenswürdig lächelnd anblickte, wußte nichts zu antworten, und der Geistliche nahm wieder für sie das Wort.

»Ja, da haben Sie freilich recht; aber ich verstehe nicht recht, wie Sie sich für die sogenannte freie Liebe begeistern können, wenn Sie doch die Heiligkeit der Ehe anerkennen?«

»Pardon!« versetzte Krajesovich rasch. »Ich finde gar nicht, daß die Ehe heilig ist – ich meine – unbedingt. Sie ist nur eine gesetzliche Form; aber die Liebe ist heilig, und wenn die heilige Liebe in der Ehe ist, dann ist die Ehe heilig – wenn nicht, dann nicht. Ist serr einfach! Das Gesetz und die Religion und die Moral, welche die unheilige Ehe unterstützt, ist schlecht. Und eine gute Liebe ohne Ehe ist viel besser, als eine schlechte Ehe ohne Liebe. Ist auch serr einfach.«

Die Majorin rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, schüttelte seufzend den Kopf und ließ ihre erschrockenen Augen zwischen ihrem Sohne und den beiden jungen Mädchen hin und her wandern. Rudi schoß düstere Blicke nach dem Serben hinüber. Lizzi löffelte ruhig an ihrer Speise weiter und Kathi blickte erwartungsvoll zu ihrem Nachbar auf.

Der Pastor ließ nicht lange auf seine Antwort warten. Er lächelte ein wenig überlegen und sprach: »Sie sagen da nichts Neues. Die schönen Theorieen bekommen wir alle Tage zu hören von unsern jungen Herren, die sich für freie Geister ausgeben. Das klingt ganz gut, hat aber für die Praxis gar keinen Wert; denn sobald Sie diese Theorie von der heiligen Liebe zum Gesetz erheben wollten, würden Sie sofort die Anarchie einreißen sehen, die Sie doch selbst verurteilen. Diese unruhige, genußsüchtige Jugend von heute will nichts mehr wissen von Pflicht und Verantwortlichkeit, darum spottet sie über das bürgerliche Gesetz gerade so gern, wie über die geoffenbarte Religion, und treibt dafür ihren Götzendienst mit philosophischen und poetischen Schlagworten. Sie gehören wohl auch zu den Uebermenschen, die sich jenseits von Gut und Böse fühlen?«

Der ironische Ton, in welchem das vorgebracht wurde, verletzte Gregor. Er zuckte leicht die Achseln und sagte: »Ich weiß serr wohl, es ist schwer, von den geistlichen Herren eine einfache Antwort auf eine einfache Frage zu bekommen. Ich frage Sie: Ist eine Ehe heilig, die aus frivolen, materiellen Gründen geschlossen ist, und wo der Mann die Frau prostituiert und die Frau den Mann herunterzieht, oder wo sie beide sich unglücklich fühlen und ihren Kindern ein schlechtes Beispiel geben – ist eine solche Ehe auch heilig? Und Sie antworten mir: Sie bilden sich wohl auch ein, daß [Sie] was Besseres sind, wie andre Leut. Sagen Sie, gnädige Frau, oder meine jungen Damen, glauben Sie auch, daß die göttliche Weltordnung verlangt, sie müßten sich jedes Schicksal in der Liebe – oder sagen wir Ehe – gefallen lassen, was Ihnen der Zufall bringt? Wenn Sie fühlen, daß Sie unschuldig gemißhandelt werden, werden Sie nicht weglaufen? Die meisten von Ihnen werden doch überhaupt verkauft, und selbst wenn Sie einen Mann heiraten, in den Sie serr verliebt sind, wie wollen Sie wissen, ob er so ist und so bleiben wird, wie Sie ihn denken. Wir spielen ja alle bißchen Komödie, wenn wir geliebt werden wollen. Die Wahrheit kommt immer erst nach der Hochzeit heraus. Nun, ich frage: wenn man einen großen Irrtum einsieht, ist es recht, ein ganz gewisses Unglück für das ganze Leben auf sich zu nehmen, oder ist nicht besser, seine Kraft zu retten für einen neuen Versuch? Wenn eine dumme Sitte die Menschen zwingt, in die Ehe hineinzurennen wie Narren, so muß doch erlaubt sein, zur nächsten Thür wieder hinauszulaufen, wie vernünftige Leut'. Und Ihnen, Hochwürden, will ich ein Wort sagen: es ist so schwer gemacht, daß der richtige Mann und die richtige Frau sich herausfinden in der Masse, daß wir alle serr froh und dankbar sind, wenn wir nur einigermaßen das Richtige getroffen haben. Ist gar keine Gefahr, daß alle Paare auseinanderlaufen, um etwas Besseres zu suchen. Müh' ist viel zu große und Resultat zu unsicheres. Was nur einigermaßen sich gut verträgt, sage ich, das bleibt zusammen.«

Ein allgemeines Stillschweigen folgte dieser langen Rede. Selbst der geistliche Herr, der doch der Berufenste gewesen wäre, hielt es nicht für angezeigt, darauf zu erwidern. Er setzte eine kühl abweisende Miene auf und wechselte einen verständnisinnigen Blick mit der Frau des Hauses. Die Majorin verstand die Aufforderung, die darin lag, und erhob sich.

»Ich denke, wir heben die Tafel auf,« sagte sie mit einem gezwungenen Lächeln. »Ich kann nicht finden, daß die Richtung, die das Gespräch genommen hat, zu der Stimmung paßt, die eine christliche Familie am heiligen Abend beherrschen sollte. Sie scheinen auch in Ihrem Eifer ganz vergessen zu haben, daß sich zwei junge Mädchen und ein unschuldiger Knabe unter Ihren Zuhörern befinden.«

Der unschuldige Knabe trat mit einem raschen Schritt an seiner Mutter Seite heran, ergriff sie fast rauh am Arm und stammelte, bleich vor Erregung, mit zuckenden Lippen: »O, Mama, bitte – ich bin kein Kind mehr. Ich verstehe sehr gut, was dieser Herr meint. Ich will – ich werde . . .« Das Ende des Satzes verlor sich in ein undeutliches Gemurmel. Ein Paar Sekunden noch zögerte Rudi und schien etwas sagen zu wollen. Die Finger seiner Rechten ballten und spreizten sich, wie in einer Art Krampf – und plötzlich lief er aus dem Zimmer und machte die Thür unsanft hinter sich zu.

In peinlicher Verlegenheit schauten die Zurückgebliebenen einander an. Sie standen noch immer um den Tisch herum und warteten auf eine Aufforderung der Hausfrau, in den Saal zurückzukehren.

Lizzi war die erste, Worte zu finden.

»Ja, was is denn?« rief sie in naiver Verwunderung. »I glaub', der Rudi spinnt a bißl! Der versteht doch zum mindesten amal gar nix'n von dem Sach. Und überhaupts, ich weiß gar net, was wollt's. Dees war doch ganz richtig, was der Herr g'sagt hat.« Und dann wandte sie sich mit ihrem schönsten Hochdeutsch an Pastor Werkmeister und sagte: »Ja, haben Sie denn etwa ›Nora‹ nicht gelesen? Dieses Meisterwerk von Henrik Ibsen?«

Der Pastor mußte wider Willen lächeln, denn sie brachte das so großartig und drollig vorwurfsvoll heraus. Nur mit Mühe vermochte er den Ton seelsorgerischer Würde zu bewahren, indem er ihr erklärte, daß dergleichen keine gesunde Lektüre für ein junges Mädchen sei.

Lizzi begehrte sofort auf: »Aber bitt schön, erst recht is das g'sund! D' Männer freilich, die möchten, daß wir von gar nix wissen, damit S' uns nur recht bequem anlügen können, daß wir all's glaub'n und uns all's g'fallen lassen soll'n. Die ganz dummen Gäns, die mögen's am liebsten. Ihr werdt's schon sehen, Ihr werdt's so weit treiben, daß überhaupts ka g'scheits Mädel mehr heiraten mag.«

»Bravo, bravo, serr gut!« rief Gregor freudig aus, indem er Miene machte, Lizzi zu umarmen.

Sie wich ihm aber aus und sagte, ihm mit dem Zeigefinger auf die gestärkte Hemdenbrust tippend: »Und daß Sie's nur wissen, mei' Lieber, wenn i amal heirat' und das Wunderbare kommt net, da lauf' ich auch davon. Grad' wie die Frau Nora.«

»Serr gut, serr gut!« lachte Gregor und küßte ihr stürmisch die Hand. »Hab' ich doch nicht ganz umsonst gepredigt. Haben Sie gehört, gnädige Frau, was Fräulein gesagt hat?«

»Ich habe es mit Schrecken gehört!« versetzte die Majorin leise. Und dann schritt sie rasch nach der Thür und forderte ihre Gäste auf, in den Saal zurückzukehren. Die Kerzen wurden alle wieder angesteckt. Behagliche Wärme und heller Glanz erfüllten den weiten Raum, dessen Buntscheckigkeit und Stilmängel in dem weihnachtlichen Festaufputz wirklich anmutig phantastisch wirkten: aber die Stimmung war doch zu gründlich verdorben – die freudige, gedankenlose Gemütlichkeit war geflohen vor dem winterkalten Hauch gesunder Weltweisheit, den der Fremdling mit hineingebracht hatte.

Gregor fühlte wohl, daß er Spielverderber geworden sei. Es traute sich eigentlich niemand mehr mit ihm zu reden, und Lizzi, die aus reinem Trotz sich zu ihm hielt und ihn desto entschiedener auszeichnete, je schnöder ihn die übrige Gesellschaft ihre Abneigung empfinden ließ, Lizzi mußte Bann und Acht mit ihm teilen.

Das sollte nicht sein. Er entschloß sich kurz, ging auf die Hausfrau zu, sobald er sie allein in einer Ecke des Zimmers beschäftigt sah und sagte: »Ich sehe, gnädige Frau, ich habe das Unglück, Ihnen zu mißfallen. Bitte, erlauben mir, mich zurückzuziehen.«

»O, Sie wollen schon gehen?« versetzte die Majorin sehr kühl.

»Es ist wohl besser,« sagte er ernst. »Es war serr freundlich von Ihnen, mich einzuladen und ich danke Ihnen serr vielmals, gnädige Frau, aber ich kann nicht aus Höflichkeit meine Ansichten fälschen. Fräulein Lizzi hat mich ja auch verstanden. Das ist die Hauptsache. – Ich habe die Ehre!« Er verbeugte sich respektvollst vor ihr, etwas kühler vor dem Pastor, reichte Kathi die Hand und schritt dann etwas zögernd auf Lizzi zu.

Sie kam ihm auf halbem Wege entgegen, hing sich an seinen Arm und sagte laut: »Ich begleite dich hinaus.« –

Die Thür hatte sich kaum hinter ihnen geschlossen, als die Majorin mit einer energisch fortweisenden Handbewegung ausrief: »Dieser Mensch kommt mir nicht mehr ins Haus.«

Weder Pastor Werkmeister noch Kathi wagten darauf etwas zu sagen, aber Kathi sah mit leise zuckenden Lippen zu dem hohen Manne auf, der selbst ihre stattliche Größe noch um ein Beträchtliches überragte, als erwartete sie, daß er sich des Verkannten annehmen sollte.

Er bemerkte ihren bittenden Blick nicht. Er schien vielmehr nach dem Gang hinauszuhorchen, und als man nach wenigen Minuten, während deren kein Wort gewechselt wurde, die Entreethür schließen hörte, sagte er leise zur Majorin: »Soll ich nicht einmal hinübergehen und sehen, was unser Rudi macht? Ich fürchte, da ist etwas nicht in Ordnung,«

Sie drückte ihm warm die Hand. »Ja, thun Sie das, lieber Freund. – Wir verstehen uns.« –

Draußen im Gang fand er Lizzi. Sie stand mit dem Rücken an die Entreethür gelehnt und drückte beide Hände vor ihre Augen.

»Was ist Ihnen, mein liebes Fräulein?« fragte er in seinem wärmsten Tone. »Weinen Sie doch nicht. Ich glaube, es ist zu Ihrem Besten, daß alles so gekommen ist. Wenn Sie zu mir Vertrauen fassen können, so sprechen Sie sich aus. Vielleicht kann ich Ihnen auf den Weg helfen. Fürchten Sie nicht, daß ich als Geistlicher in Sie zu dringen versuche; aber als Freund und als Mann, der auch die Welt und das Leben kennt, möchte ich Ihnen zur Seite stehen dürfen.«

Lizzi hatte schon längst die Hände von ihren Augen genommen und blickte ihm halb unmutig, halb verwundert ins Gesicht.

»Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen, Herr Pastor. Da schaun S', ich weine gar nicht und einen guten Rat brauch' ich auch nicht. Dank schön.«

Damit machte sie ihm einen schnippischen Knix und kehrte in den Saal zurück.

Der Pastor aber fuhr sich über die hohe Stirn und schaute ihr tiefaufseufzend nach. Dann betrat er Rudis Zimmer. Er hatte vergessen anzuklopfen und so überraschte er den Sohn des Hauses, wie er, eine Faust auf den Tisch gestemmt, die andere drohend emporgereckt, die Augen rollend dastand und halblaut vor sich hin knirschte. Er konnte sich nicht enthalten, kurz aufzulachen und auszurufen: »Aber bester Rudi, was machen Sie denn da? Tragieren Sie den Räuber Moor?«

Rudi würdigte ihn keiner Antwort. Er warf sich auf sein kleines Sofa, stützte den Kopf in die Hände und starrte vor sich hin.

Der Pastor setzte sich zu ihm, legte ihm einen Arm um die Schulter und sprach ihm halb väterlich, halb scherzend zu.

Da auf einmal unterbrach der Jüngling seine wohlgemeinten Ermahnungen, indem er kräftig auf den Tisch schlug und ihn herausfordernd anblickte. »Herr Pastor, sagen Sie mir, was würden Sie thun als Mann von Ehre, wenn man Ihre Schwester beleidigt hätte?«

»Waas?«

»Nun, Gott sei Dank, ich kenne meine Pflicht!«


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