Ernst von Wolzogen
Die Erbschleicherinnen. Band 2
Ernst von Wolzogen

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Fünfzehntes Kapitel.

In welchem der Heldenjüngling Rudi nach Blut lechzt und dem Erzengel Gabriel die Nase abschlägt, Kathi ihr Herz entdeckt und ein bedrohlich Unwetter sich über Lizzis Haupt zusammenzieht.

Schon um elf Uhr des andern Morgens erhielt Lizzi einen Brief von Herrn Krajesovich von Nemes-Pann, den er noch gestern nachts geschrieben und in aller Frühe in den Kasten geworfen haben mußte. Es war ein feiner, kluger und auch warmherziger Brief, in dem er ihr auseinandersetzte, wie der peinliche Vorfall des Abends ihm über die Unmöglichkeit ihres jetzigen Verhältnisses vollends die Augen geöffnet habe. Die Frau Majorin habe es ja ohne Zweifel sehr gut gemeint, indem sie ihm ihr Haus geöffnet, um ihm die Gelegenheit zu geben, eine Verlobung herbeizuführen, nach den in der gebildeten europäischen Gesellschaft geltenden Regeln. Aber gerade dadurch, daß sie ihn so mit sanftem Zwange gewissermaßen mit der Nase auf diese Regeln gestoßen, habe sie es ihm unmöglich gemacht, ein entscheidendes Wort zu sprechen. Was er da gestern geredet habe von der freien Liebe, das sei seine wirkliche Herzensmeinung und nicht nur etwa gesagt gewesen, um die Gesellschaft zu seinem Vergnügen zu schokieren. Er habe ja auch zu seiner Freude gesehen, daß sie ihn ganz richtig verstanden. Wenn er jetzt als approbierter Arzt in seine Heimat zurückkehre, so trete er ja auch, wie die deutschen Studenten sagten, ins Philistertum ein und werde, wie jeder andre Mann in Amt und Würden gezwungen sein, sich den Anstandsregeln der Gesellschaft im allgemeinen zu fügen. Höchst wahrscheinlicherweise werde er sich auch einmal unter Beobachtung der üblichen Formen verloben, aber sicherlich nur mit einer Dame, die er vorher gründlich genug kennen gelernt habe, um seiner und ihrer Liebe und des Zutreffens aller übrigen Vorbedingungen einer guten und vernünftigen Ehe sicher zu sein. Mit ihr sei er ja aber, das müsse sie selbst zugeben, über das allererste Vorbereitungsstadium noch nicht hinausgekommen. Er habe sich in sie verliebt und sie habe an ihm ein wenig Gefallen gefunden – darauf hin aber könnten sie beide doch nicht ihr Lebensschicksal aneinander knüpfen, ohne sich eines sträflichen Leichtsinnes schuldig zu machen. Nicht etwa, daß sein Gefühl für sie schon erkaltet sei; aber sein Geist sei durch die Vorbereitungen zum Examen so völlig in Anspruch genommen, daß sein Gefühlsleben keinen Spielraum mehr besitze. Er dürfe also noch gar nicht wagen, zu bestimmen, was seine Neigung eigentlich wert sei. Indem sie sich gestern in jenem komisch-peinlichen Mißverständnis so furchtlos auf seine Seite gestellt, habe sie ihm bewiesen, daß ihr Geist frei genug sei, um der Vernunft Gehör zu geben und sich fremder Beeinflussung zu erwehren. Darum könne er nun auch, ohne Furcht sie zu verletzen, ganz offen die Bitte aussprechen, sich selbst und ihn als frei zu betrachten. Sie sei ja noch so jung und stehe mitten in ihrer geistigen Entwickelung drin – da dürften sie sich ja beide noch Zeit lassen. Er werde höchstwahrscheinlich schon bald nach Berlin zurückkehren, um in einer Assistentenstellung seine Kenntnisse zu vertiefen und seine Geschicklichkeit auszubilden. Wenn sie dann beide einander nicht vergessen, sondern die schöne Erinnerung treulich gehegt und gepflegt hätten, dann werde sie ihm vielleicht erlauben, sie wieder zu sehen, und dann könnte sich ihr Verhältnis in verantwortlicher Freiheit zur echten Liebe auswachsen. Inzwischen wollten sie gute Freunde bleiben, ohne einander zu suchen, sich nicht aus dem Wege gehen und sich aus der Entfernung von ihrem Thun und Treiben Nachricht geben.

Mit klopfendem Herzen hatte Lizzi den langen Brief zu Ende studiert, dann ein Weilchen still nachgedacht, ein paar gerührte Thränchen vergossen – und dann war die Geschichte ausgestanden. Sie war wieder froh und zufrieden und fand im Grunde ihr Krajesovicherl jetzt liebwerter denn je zuvor. Ja, sie bewunderte ihn, sie war stolz auf ihn – und überdies sicher, daß kein vernünftiger Mensch sich seiner zwingenden Beredsamkeit verschließen könne. Du lieber Himmel, was war das für ein Abend gewesen! Nie hätte sie geglaubt, daß diese liebe Frau von Goldacker so bitterböse werden könnte. Wie eine Verbrecherin hatte sie sie behandelt und der Pastor, der verdrehte Bubi, ja selbst ihr Katherl hatten ihr dabei geholfen. Sie mußte jetzt lachen, wenn sie an die großen betrübten Augen dachte, die die Schwester ihr beim Abschied gemacht, als Pastor Werkmeister mit ihr abgezogen war, um sie heim zu geleiten, und wie sie beide mit so wehmütigem Tone sie dem Schutze Gottes empfohlen hatten, als sei sie eine unglückliche Verlorene, die nur durch das direkte Eingreifen der himmlischen Mächte vielleicht noch zu retten sei. Sie hatte den Geist des Unglaubens ins Haus getragen, sie hatte sich auf die Bank gesetzt, da die Spötter sitzen und war den Lockungen der bösen Buben gefolgt. Unter den Begriff der bösen Buben hatte die Majorin übrigens im Verlaufe ihrer Strafpredigt auch Fräulein Grönroos eingereiht, weil Lizzi auf ihre Anregung hin die Bekanntschaft mit der gefährlichen modernen Litteratur gemacht habe, der nichts mehr heilig sei. Das war von ihrem Eintreten für Nora hergekommen – und darauf hin hatte die Majorin die Erlaubnis, Fräulein Grönroos bei sich im Hause empfangen zu dürfen, wieder zurückgezogen. Sie habe nach der traurigen Erfahrung des heiligen Abends genug von ihren freisinnigen Freunden. Lizzi hatte sich im Bett nochmals alles ernsthaft überlegt, was ihr vorgeworfen worden war, aber sie vermochte es beim besten Willen nicht einzusehen, was Gregors oder auch Ibsens höchst würdige Ansichten über die Ehe denn Gotteslästerliches oder Lasterhaftes in sich schließen sollten. Und da sie trotz ehrlicher Anstrengung ihr Gewissen nicht zum Beißen zu reizen vermochte, so überließ sie sich endlich in glücklicher Selbstzufriedenheit ihrem gesunden jugendlichen Schlaf.

Am andern Morgen hatte sich, trotzdem draußen heller Sonnenschein über einem wunderschönen Wintertag lachte, die düstere Miene der Majorin noch nicht aufgeklärt und dem schlimmen Abendsegen war eine kaum weniger bewegliche Frühpredigt gefolgt über den Text: »Du sollst dem Sohne des Hauses, das dich hegt, den Kopf nicht verdrehen.« Lizzi hatte nur große Augen gemacht und die Verteidigung als nutzlos aufgegeben, innerlich jedoch sich gräßlich gegiftet über den dummen Buben. Nun aber hatte sie ja ihren wundervollen Brief – ihre Freisprechung!

Stolz und zuversichtlich ging sie damit zur Tante Goldacker und reichte ihn ihr zum Lesen. Die Majorin setzte sich damit ans Fenster und machte sich begierig darüber her, während Lizzi sich auf einen Stuhl in der Nähe sinken ließ, die Hände im Schoß faltete und das Gesicht der Lesenden beobachtete. Es dauerte wohl eine Viertelstunde, ehe sie damit zu Ende kam, denn sie war nicht stark im Handschriftenlesen, und besonders erbaut schien sie von dem Inhalt auch nicht zu sein, nach ihrem sonderbaren Mienenspiel zu schließen.

Als sie endlich damit fertig war, erhob sie sich und warf das Schreiben – drei Bogen feinsten Papiers waren es – mit einem so zornigen Ruck auf ihren Schreibtisch, daß zwei Blätter davon herunterflatterten. Dann kreuzte sie die Arme unter der Brust und begann aufgeregt im Zimmer hin und her zu schreiten.

Erschrocken war Lizzi von ihrem Stuhle aufgefahren und stammelte verwirrt: »Je, was is denn, liebe Tante? Ich mein doch . . .«

»Empörend ist es,« fiel Frau von Goldacker ein. »Einfach empörend! Das ist nun der Dank dafür, daß man sich dazu hergibt . . . Warum zeigst du mir das überhaupt? Eine solche Unverschämtheit! Also ich bin daran schuld, daß aus der Sache nichts werden kann – das hat der junge Herr mit seiner Gescheitheit also glücklich herausgekriegt! Haha – es ist wirklich reizend! Ich habe ihn mit Gewalt verkuppeln wollen und das verletzt sein Zartgefühl – darum muß er dich blamieren, nicht wahr? Jetzt soll ich mich wohl schämen und dich um Entschuldigung bitten, daß ich mich hineingemischt habe? Deshalb gibst du mir das zu lesen, nicht wahr? Ja, sag mir bloß, was bist denn du für ein unglaubliches Menschenkind? Schaust drein, wie die liebe Unschuld selber und verdrehst allen Leuten den Kopf. Meinem armen Bubi habe ich gestern nacht noch kalte Umschläge machen müssen. Pastor Werkmeister hat ihn ins Gebet genommen und herausgekriegt, daß er wie närrisch in dich verbrannt sei. Das sage ich dir, Mädel, wenn du meinen Bubi nicht zufrieden läßt . . .! Ja, ja, ich will dir's ja glauben: du hast dir nichts Böses dabei gedacht, aber . . . du lieber himmlischer Vater, womit habe ich das verdient? Das ist nun schon die fünfte Verlobung, die ich protegiert habe und aus der nichts wird! Mein Haus muß ja förmlich in Verruf kommen. Na, es soll bloß wieder jemand wagen, mir mit solchen sapperlotschen Liebesgeschichten zu kommen. Ich werfe jeden hinaus, der sich hier verloben will – außer meinem Sohn und mir selber!«

Lizzi wartete noch ein kleines Weilchen. Aber da die Majorin ihre zornige Beredsamkeit vorläufig erschöpft zu haben schien, wagte sie endlich ganz zaghaft die Frage, ob sie denn nun auch hinausgeworfen werden sollte.

Die Majorin wurde rot, setzte sich und dachte nach. Es kam ihr zum Bewußtsein, daß sie doch wohl ein bißchen Unsinn geschwätzt habe in ihrer Aufregung. Ein wenig scheu blickte sie zu Lizzi hinüber, die, auf ihre Entscheidung wartend, an der geschweiften Kommode lehnte, so traurig und demütig und lieblich anzuschauen. Ihre harten Worte thaten ihr schon leid, Sie streckte ihr die Hand entgegen und sagte sanft: »Ach was, ich kann dich doch nicht auf die Straße setzen, Kind! Was wolltest du denn mit dir anfangen?«

Lizzi trat langsam näher, begann mit ihrer Schürze zu spielen und erwiderte bescheiden: »Ja, jetzt bin ich doch ganz frei, liebe Tante, und da muß ich schauen, daß ich mir mein Brot verdien'. Ich will halt fleißig studieren, daß ich recht bald auftreten kann,«

»Also du willst wirklich zur Bühne gehen?«

»Ja, du siehst ja doch selber, daß ich sonst zu nixn was taug'.«

Die Majorin konnte sich nicht helfen, sie mußte das liebe Mädel an sich ziehen – es war gar so hübsch und rührend herausgekommen! Sie nahm sie auf den Schoß und küßte ihr die Wangen und begann still zu weinen, richtig so, als ob sie die arme Unschuld gekränkt und nun um Vergebung zu bitten habe. Und als sie schließlich die wohlthätigen Thränen wieder trocknete, seufzte sie tief auf und sprach: »Ach du lieber Gott, was bin ich doch trotz meiner Jahre für ein hilfloses Geschöpf! Sei mir nicht böse, Kind. Ich weiß wahrhaftig nicht aus und ein. Ich muß wirklich heiraten. Ich sehe es ein, damit ich jemand habe, der mir aus solchen Schwierigkeiten heraushilft. – Ich will mit Rudi sprechen – er ist doch wenigstens ein Mann.«

Damit schob sie die schwere Last sanft von sich, las Gregors Schreiben von der Erde auf und ging damit davon, um den Rat ihres Herrn Sohnes einzuholen. –

Bubi benahm sich großartig. Weit entfernt, erstaunt oder verlegen zu sein über das Amt, das seine Mutter ihm zumutete, gebärdete er sich vielmehr, als habe er nur darauf gewartet, daß sie sich bei ihm Rats erholen werde und als sei die Rolle des Beichtvaters und Vormundes die ihm natürlich zukommende.

»Ich werde diese Sache in Ordnung bringen, Mama,« hatte er sie mit männlicher Festigkeit beschieden und war dabei nur um eine Schattierung bleicher geworden als gewöhnlich. Dann hatte er den neuen Paletot mit den schwarzen Krimmeraufschlägen angezogen, den ihm das Christkindl gebracht und der weise auf Zuwachs berechnet war, sowie die dito pelzgefütterten Handschuhe – und war davon gegangen, ohne seiner erstaunten Mutter weiter Rede zu stehen über seine Absichten.

Hätte sie seinen furchtbaren Entschluß geahnt, er hätte nur über ihre Leiche sich den Weg ins Freie bahnen können!

Herr Krajesovich von Nemes-Pann war nicht wenig erstaunt, als er in dem Augenblick, wo er gerade sein Zimmer verlassen wollte, um zum Essen zu gehen, von seiner Fileuse die Karte des Herrn Rudolf von Goldacker eingehändigt erhielt. Er bat den jungen Herrn einzutreten und sagte: »Ist wirklich serr freundlich von Ihnen, daß sich die Mühe machen, mich aufzusuchen. Solche Förmlichkeiten wären doch gar nicht nötig, ich bitte Sie.« Damit streckte er ihm die Hand entgegen, seine schlanke, weiße, aristokratische Hand.

In der ersten Verwirrung erhob Rudi die große schwarze Bärentatze, zog sie aber gleich darauf wieder zurück, versteckte sie auf dem Rücken und sagte: »Pardon, ich bin nicht gekommen, um Höflichkeiten zu – zu . . .« Er konnte das Wort nicht finden, um die Phrase abzurunden und wurde ein wenig rot. Er reckte sich empor so lang er konnte, würgte ein wenig, holte tief Atem und dann stieß er rasch die Worte hervor, die er sich unterwegs überlegt hatte: »Mein Herr, Sie haben meine Mutter und meine Schwester beleidigt, Sie werden mir Genugthuung geben.«

Unwillkürlich trat Gregor zwei Schritte zurück. Er war so aus den Wolken gefallen, daß er nicht gleich eine Antwort fand. Ein schlechter Witz war das nicht, das konnte er dem bleichen Knaben vom Gesicht ablesen, das vor Erregung zuckte. Er bezwang also seine Lachlust und erwiderte nach kurzem Besinnen: »Aber mein lieber junger Herr, ich verstehe wirklich nicht, was Sie wollen. Bitte, nehmen Sie doch Platz. Erzählen Sie mir, was ist vorgefallen. Rauchen Sie? Hier sind Cigaretten.«

Rudi lehnte stumm ab. Er wollte sich auch nicht setzen und wiederholte nur noch einmal: »Sie haben meine Mutter und meine Schwester beleidigt, ich bin ihr einziger Schutz, Sie werden mir . . .«

»Pardon,« unterbrach ihn Gregor. »Sie sprechen immer von Ihrer Schwester. Ich habe doch gar nicht die Ehre.«

»Fräulein Mödlinger hat mir erlaubt, mich als ihren Bruder zu betrachten,« versetzte Rudi ernsthaft.

»O, Sie kommen im Auftrag von Fräulein Mödlinger?«

»Nein, ich komme in gar keinem Auftrag; aber ich kenne meine Pflicht! Meine Mutter hat mir Ihren Brief zu lesen gegeben. Sie werden also verstehen . . .«

»Ah so – ich verstehe,« fiel Gregor ein. Er konnte sich eines leichten Lächelns nicht mehr erwehren. Er schritt ein paarmal im Zimmer auf und ab, dann blieb er vor dem jungen Helden stehen und sagte sehr freundlich: »Seien Sie mir nicht böse, mein lieber Herr von Goldacker, aber sind Sie nicht etwas zu jung, um diese Dinge zu beurteilen?«

Jetzt wurde Rudi dunkelrot und er fühlte, wie ihm die Kniee zitterten. Es war nur gut, daß der neue Paletot so lang war, um sie zu verdecken. Davor hatte er Angst gehabt, daß Herr von Krajesovich die Sache von dieser Seite nehmen würde, aber die Antwort, die er sich für den Fall zurechtgelegt, wollte ihm nicht über die Lippen. Es wurde ihm plötzlich sehr heiß und er mußte nach der Lehne des nächsten Stuhles greifen, um sich aufrecht zu erhalten. Er murmelte nur etwas Unverständliches vor sich hin.

Gregor lächelte wieder, legte ihm leicht die Hand auf die Schulter und sagte: »Ich bewundere Ihren Charakter, mein junger Herr, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß Frau Mutter serr zufrieden sein wird mit diesem Schritt. Wenn sie sich beleidigt fühlt durch meinen Brief, so thut mir serr leid und werde ich um Entschuldigung bitten. Aber gegen Fräulein Mödlinger habe ich vernünftig und anständig gehandelt, und kann ich nicht zugeben, daß Sie darüber urteilen. Gehen Sie, junger Freund, seien Sie gescheit. Wissen Sie denn überhaupt, wie man solche Geschichten anfängt? Wollen Sie mich auf meinem Zimmer prügeln oder haben Sie Schießgewehr in die Tasche gesteckt?«

»Ich werde Ihnen meine Zeugen schicken,« knirschte Rudi dumpf.

»Das muß eigentlich zuerst geschehen,« versetzte Gregor gutmütig. »Aber was wollen denn für Zeugen schicken, bitte? Erwachsene Männer können doch für solche Dummheiten nicht finden. Und von mir können doch nicht verlangen, daß ich hier Konferenz abhalte mit Schulbuben – pardon, wollte sagen, junge Herren vom Gymnasium.«

»O – ich kenne so viele Offiziere von der Garde, die mir mit Vergnügen . . .«

»Geben Sie sich keine Mühe,« unterbrach ihn Gregor munter. »Die Herren würden Sie auslachen.«

Rudi keuchte vor Wut und das Schlimmste war, er fühlte sich in diesem Augenblick so schwach, daß er mit nicht eben würdiger Plötzlichkeit Platz zu nehmen genötigt war. Er schnaufte und würgte, und dann sprang er mit Anstrengung aller Kraft auf die Füße und stieß heiser hervor: »Wenn Sie sich weigern, sind Sie ein Feigling.«

Gregor brauste auf: »Sie sind ein . . .« Aber er bezwang sich. Nachdenklich drehte er ein kleines Weilchen seine Schnurrbartspitze zwischen den Fingern, dann zog er seine Uhr hervor und sagte lächelnd, aber entschieden: »Sie entschuldigen, mein Herr, ich pflege um diese Stunde zu speisen. Wenn Sie mir erwachsene Zeugen schicken können, so stehe ich zu Ihrer Verfügung. Erwachsene, bitte. – An Ihre Frau Mutter werde ich schreiben, mich zu entschuldigen.«

Rudi war schon an der Thür gewesen, aber das Wort fuhr ihm in die Glieder. Er stolperte zwei rasche Schritte vorwärts und erhob bittend die beiden Riesenpatschen. »Sie werden doch nicht meiner Mama . . .« stammelte er, seine Aeuglein weit aufreißend: »die würde es ja nie erlauben – ich wollte sagen natürlich – niemand kann mich hindern meine Pflicht zu thun! aber meine Mama – natürlich. . . . Wenn Sie das thun, dann – hm – aber Sie werden das nicht thun!« Er warf seinem mitleidig lächelnden Gegner noch einen halb drohenden, halb bittenden Blick zu und dann taumelte er hinaus und so rasch ihn seine schlottrigen Kniee tragen wollten, die Treppe hinunter.

Er kehrte in der nächsten Destille ein und genoß einen Cognac, wodurch er einigermaßen wieder in Besitz seines Heldenbewußtseins gelangte. Auf dem langen Heimwege hatte er Zeit genug zu überlegen, wen von seinen Bekannten er auffordern könnte, ihm in seinem Ehrenhandel zu sekundieren. Die Kommilitonen der Obersekunda, von denen es einige mit Freuden gethan hätten, waren von vornherein abgelehnt und die Dutzende von Gardeoffizieren, mit denen er geprahlt hatte – ja, wenn er sie so namentlich vornahm, einen nach dem andern, mußte er sich doch gestehen, daß die Aussicht, sie für seine Sache zu gewinnen, recht gering sei. Sie würden dann doch auch seine Gründe erfahren wollen, wenn sie sich überhaupt auf etwas einließen. Konnte er diesen Herren, die ihm schließlich doch nicht gar so nahe standen, verraten, daß der verwünschte Serbe seine angebetete Lizzi, seine sogenannte Schwester genasführt habe? Machte er dadurch die Sache nicht nur schlimmer? Jetzt wußte doch wenigstens nur Pastor Werkmeister davon. Der Pastor konnte den Ungläubigen und Verteidiger der freien Liebe auch nicht ausstehen – aber Geistliche dürfen mit Ehrenhändeln nichts zu thun haben. – Eine ganz verzwickte Lage war es, in die er sich da gebracht, das sah er jetzt wohl ein. Er hätte dem Kerl einfach eine Ohrfeige geben, davongehen und das weitere abwarten sollen. Dann hätte er erhobenen Hauptes heimkehren dürfen mit dem Bewußtsein, die gekränkte Ehre seiner Damen gerächt zu haben. So aber . . . Es war doch ein entsetzliches Schicksal, siebzehn Jahre alt und Obersekundaner und dabei mit dem Mute des Löwen und dem Ehrgefühl des Edelmannes begabt zu sein!

Daheim hatten sie schon mit der Suppe auf ihn gewartet und er wurde für sein Zuspätkommen gescholten – vor IHR! Empörend! Aber die Stunde sollte kommen, wo sie ehrfurchtsvoll zu ihm aufblicken sollte, als zu dem Rächer ihrer Ehre. Und während er die laue Suppe mit düster zusammengezogenen Brauen hineinlöffelte, rauschte es leise durch seine Seele wie ferne Harfenaccorde und aus tiefsten Schmerzen geboren entrang sich seinem fiebernden Gehirn ein Gedicht, das also begann:

Mädchen, Mädchen, und du schlägst
Nicht die Augen nieder?
Wenn du meiner Wunden pflegst,
Sprechen wir uns wieder!

Ah, nun hatten ihn also seine erste Mannesthat und sein erstes großes Herzeleid zum Dichter gemacht! Er fühlte ordentlich, wie seine Seele sich weitete, wie er wuchs an innerer Bedeutung und wie die feinsten und edelsten Gefühle zusehends empor keimten, gleich Kressensamen, den man mit ungelöschtem Kalk düngt. Er rückte und reckte sich auf seinem Stuhle, um sich in würdige Positur zu setzen. Man mußte es ihm doch ansehen, zum Donnerwetter, was er für ein Kerl war! Unbegreiflich, daß ihn niemand fragte, wo er denn eigentlich gewesen sei! Selbstverständlich hätte er es den schwachherzigen Frauen um keinen Preis verraten – aber wie wenig Menschenkenntnis mußten sie doch besitzen, um nicht zu bemerken, daß er unmöglich von einem gewöhnlichen Tiergartenspaziergang heimgekehrt sein könne. Oder sollten wirklich seine Mienen so wenig ausdrucksvoll sein? –

Schon bei Tische hatte die Majorin sich auffallend zerstreut gezeigt, viel geseufzt und sich öfters mit ihrem Tüchlein die Augen betupft. Nachher hatte sie sich zu ihrer gewöhnlichen Mittagsruhe auf ihr Zimmer zurückgezogen, war aber schon nach einer halben Stunde, zum Ausgehen angekleidet, bei Lizzi eingetreten und hatte ihr eröffnet, daß sie Pastor Werkmeister aufsuchen wolle, um ihm ihre Zweifel und Sorgen anzuvertrauen. Bei ihrem Sohne guckte sie nur hinein, um ihm flüchtig adieu zu sagen.

Rudi war die ganze Zeit über in seinem engen Gemach herumgetrottet wie ein junger Bär im Zwinger und hatte hin und her überlegt und spintisiert, wie er sich wohl aus seiner vertrackten Lage am besten herauswickeln könnte, ohne daß jedoch die Erleuchtung über ihn gekommen wäre. Sobald aber seine Mutter fort war, litt es ihn nicht länger in seinem Gefängnis. Er ging in den Saal hinüber, wo des Festtags wegen geheizt war. Da hatte er wenigstens mehr Platz, seine Gedanken spazieren zu führen. Außerdem wollte er die Gelegenheit nicht unbenutzt lassen, um sich unbeobachtet ein wenig einzupauken, für den Fall, daß Herr von Krajesovich Schläger oder krumme Säbel der Pistole vorziehen sollte. Das Schwert, welches sein Vater im französischen Feldzuge geführt und welches als Wanddekoration in seinem Zimmer hing, nahm er mit hinüber. Fechtunterricht hatte er schon als Untersekundaner genossen. Die beiden tiefhängenden Lüstres, sowie der große Christbaum nahmen ziemlich viel Platz im Saal fort und er mußte daher sein Gefechtsfeld auf einen freien Raum vor dem Erker beschränken.

Halblaut kommandierte er sich selbst: »Auf die Mensur! – Bindet die Klingen! – Los!« Im flotten Spiel des Handgelenks ließ er die Klinge durch die Luft pfeifen. Er war immer ein ganz geschickter Fechter gewesen. Sein Unglück war nur die Schwäche seiner Muskeln. Der Arm wurde ihm bald müde und das Handgelenk begann zu schmerzen; aber er mußte darüber hinweg zu kommen suchen. Bis zur völligen Erschöpfung wollte er aushalten. Er warf seinen Rock ab und begann einen neuen Gang, indem er eine Kombination von Hieben sich ausdachte und halblaut vor sich hin kommandierte, und dann wieder eine neue – und so fort, bis ihm der Arm matt herabsank. Aber er gönnte sich kaum eine Minute zum Verschnaufen, dann legte er wieder los. Er wurde hitzig und bildete sich ein, dem verhaßten Gegner wirklich gegenüber zu stehen, seine Hiebe zu parieren und auf seine Blößen zu lauern. Hui – da sauste eine Prim herab! – Ha, die war pariert! Schnell eine Terz nachgeschlagen! Die war nur unvollkommen pariert. Die Spitze seines Säbels ritzte gerade noch die rechte Wange des Gegners. Er sah Blut fließen und wurde wild. Er fühlte seinen Arm erschlaffen – aber auch der Gegner war verwirrt durch das Gefühl, daß ein heißes Bächlein an seiner Wange herabrieselte. Es galt den Augenblick zu ergreifen und mit einem letzten gewaltigen Hiebe den Rest seiner Kraft wirksam auszugeben. Gegen die Regel machte er eine halbe Voltige nach links und holte zu einer gewaltigen Quart aus.

Herrgott, was war das? Ein Knacks, ein leichtes Gepolter – und da lag eine Nase, eine ausgewachsene, rötlich glänzende Nase auf dem Boden. Wie in aller Welt hatte er dem verfluchten Krajesovich mit einer Tiefquart die Nase abschlagen können? Er ließ den Säbel sinken, rieb sich die Augen, über die ihm der Schweiß zu rinnen begann und dann blickte er sich verwundert um. Der lebensgroße Engel zu seiner Rechten wackelte immer noch sanft nachpolternd auf seinem Postament und in seinem fröhlich dreinblickenden, pausbäckigen Gesicht fehlte das edle Glied, welches soeben zu Boden gefallen war.

Zum Unglück trat in diesem Augenblick Lizzi, von dem merkwürdigen Geräusch herbeigelockt, herein und hatte nicht sobald die Sachlage erkannt, als sie in ein lautes Gelächter ausbrach.

»Jesses, Bubi!« rief sie lustig. »Jetzt fangt der am heiligen Weihnachtstag mit die Engerln zum raufen an. Ui jegerl, dem schönen Gabriel hast gar d' Nasen abg'schlagen. Hast denn gar kei' Angst net vor dem himmlischen Strafgericht?«

Die Rechte leicht auf des Vaters Schwert gestützt, die hölzerne Nase in der Linken abwehrend gegen sie ausstreckend, stand der schwitzende junge Held vor ihr und sagte traurig-vorwurfsvoll: »Du solltest lieber nicht spotten, Lizzi – du am allerwenigsten! Du weißt ja nicht, für welchen Kampf ich diese Muskeln stähle.« Und er bog den linken Arm zusammen, wie um einen gewaltigen Biceps furchtgebietend schwellen zu lassen. Es schwoll aber nichts. Das Jägerhemd hing in schlaffen Falten um den mageren Oberarm, und das ungezogene Mädchen lachte nur noch lauter.

»Lache nicht, Lizzi!« fuhr der tief Gekränkte sie rauh an: »das habe ich nicht um dich verdient und du wirst es vielleicht bald genug zu bereuen haben – wenn mir etwas Menschliches passiert.«

Lizzi konnte sich beim besten Willen nicht beherrschen. Sie prustete nur so heraus und mußte sich auf den nächsten Stuhl setzen, weil es sie wie ein Krampf überfiel.

»Um Gottes willen hör auf, dees bringt mi um!« stöhnte sie atemlos.

»Pfui!« rief Rudi entrüstet, indem er wütend den Säbel zu Boden schleuderte.

»Ja, was denn? Geh zu, ich glaub', du spinnst! I wer' doch noch lachen dürfen, wannst a so a dalkets Wesen anstellst.«

Mit bebenden Lippen und zitternden Händen, die Engelsnase drohend emporgehoben, trat er dicht vor sie hin und knirschte: »Nein, das darfst du nicht! Du weißt nicht, was du thust. Ich bin bereit, deine Ehre mit meinem Blute abzuwaschen und du lachst wie über einen schlechten Spaß.«

Höchlichst erstaunt blickte Lizzi zu ihm auf und sagte: »Ja, was is denn dees für a strohdumms G'wäsch? Was weißt jetzt du von meiner Ehr? Und abz'waschen gibt's da fei' nix. A no! Mögst net lieber 'n Dokter fragen, daß er dir was verschreibt geg'n Wurm im Hirn? Was schaust mi denn so wütig an? – Na 'etzt a so was! Mögst mir net a bißl deutlicher sag'n, was d' willst mit meiner Ehr?«

»Willst du vielleicht die Schande auf dir sitzen lassen, die dir dieser Mensch mit seinem Briefe angethan hat?«

»Was denn, was denn? Was hätt' denn mi kränken soll'n von dem Brief? Das war ein recht ein lieber, feiner, g'scheiter, anständiger Brief. Und wenn ich den Herrn Krajesovich von Nemes-Pann vorher net g'mocht hätt', nachher hätt' ich mich in den Brief alleinig verlieb'n könn'n. Mit jedem Wort hat 'r recht und wannst dees net einsiegst, nachher bist . . . ja, was thut d'r denn weh, was machst denn für Grimass'n?«

Rudi schlug sich vor die Stirn und schaute drein, wie einer, dem die Ernte verhagelt ist – die Ruhmesernte seines Heldenmutes. »Ach, du lieber Gott,« jammerte er trostlos: »was soll ich denn jetzt bloß . . . ich habe ihn natürlich sofort gefordert wegen Beleidigung meiner Schwester. Ich war persönlich bei ihm und habe ihn Feigling geschimpft zur Sicherheit, damit er sich nicht etwa einfallen läßt zu kneifen. Jetzt kann ich doch unmöglich zurück zoppen!«

Lizzi sprang vom Stuhl auf und schlug die Hände zusammen. »Was, Bubi, is wirklich wahr? Duellieren willst dich wegen meiner? A geh, so was – da möcht' m'r ja förmlich stolz wer'n! A schneidiger Kerl bist!« Und sie trat dicht vor ihn hin, legte den linken Arm um seine Schulter und streichelte ihm mit der Rechten die heißen Wangen.

Rudi war glücklich. Sein edler Eifer fand herrlichen Lohn. Mit Wonne ließ er sich die Liebkosung gefallen und sagte nur stolz bescheiden abwehrend: »Aber ich bitte dich, Lizzi, so was ist ja nicht der Rede wert. Einfach Kavalierspflicht. Wenn du dich wirklich nicht beleidigt fühlst . . .«

»Nein, nein, ich geb' d'r's schriftlich, daß ich im Gegenteil kreuzfidel bin, weil ich mei' Freiheit wieder hab'. Naa, naa, mei' liebs Brüderl, schieß'n braucht's net und die Engerln darfst am Leben lassen wegen meiner.«

»Aber meine Mutter hat er ja auch beleidigt,« meinte Rudi bedenklich.

Doch Lizzi fiel rasch ein: »A was, dees macht nix, die gibt d'r's a schriftlich, daß s' sich net getroffen fühlt. Glaubst vielleicht, die wird's leid'n, daß ihr Einziger weg'n erer solchen Dummheit auch nur ein Tröpferl Blut riskiert? – Naa, naa, dees gibt's net.«

»Aber ich habe ihn Feigling geschimpft!«

»Dees macht a nix, dees hat 'r eh net glaubt und wahr is a net. Dees kannst schon wieder z'rücknehmen, auf meine Verantwortung.«

Bubi seufzte tief auf. Es war ihm doch ein großer Stein vom Herzen – und der Lorbeer blieb trotzdem! Er war sehr glücklich und seine junge Mannesbrust dehnte sich vor Stolz und Seligkeit. Im Ueberschwang seiner Gefühle wagte er es, seine beiden Hände auf Lizzis Schultern zu legen und ihr tief in die Augen zu blicken. »Ach Lizzi,« seufzte er herzbrechend.

»Ja, was is denn, wie schaust denn du mi an? Bist doch wohl recht froh, daß d' glücklich wieder herauß'n bist aus der Patsch'n.«

»O nein, im Gegenteil!« beteuerte er feurig. »Wäre mir eine wahre Wonne, für dich meinen letzten Blutstropfen zu verspritzen. Aber sag mir nur eins – ehrlich bitte: fühlst du dich jetzt wirklich ganz frei? Bist du froh, daß du ihn los bist?«

»Ja, ich glaub's bald selber,« lachte Lizzi. »Die Freiheit ist doch das Beste, wenn m'r noch so jung is wie wir, gelt? Zum Heiraten is noch lang Zeit, mein' i.«

»Wirklich? – Ach, Lizzi – dann . . .«

»Was denn – dann?«

»Dann darf ich vielleicht hoffen?« flüsterte er mit trunken schwimmenden Aeuglein, indem er einen Schritt zurücktrat und bittend die Hände faltete.

Sie sah ihn belustigt fragend an und zuckte die Achseln.

Da sank er plötzlich vor ihr auf die Kniee nieder, breitete die Arme aus, wie um sie zu umfangen und stammelte selig: »Ach Lizzi, jetzt darf ich's dir sagen: ich liebe dich, ich liebe dich wahnsinnig, ich bete dich an – ich werde noch heute mit meiner Mutter sprechen.«

»Jesses, jesses, schauts den Bubi an!« rief Lizzi, klatschte in die Hände und sprang ausgelassen im Zimmer herum. »Macht mir eine richtige Liebeserklärung – und noch dazu in Hemdärmeln!« Und dann lief sie wieder zu ihm, fuhr ihm mit allen zehn Fingern ins Haar und brachte seinen wüsten Schopf in noch genialere Unordnung.

Er haschte nach ihren Händen und hielt sie fest, um sie mit Küssen zu bedecken. Und dazwischen flehte er: »Ach Lizzi, lach mich doch nicht aus – du thust mir so weh damit! Es ist mir heiliger Ernst – du weißt ja nicht, wie ich dich liebe! – Und wenn ich gegen die ganze Welt kämpfen müßte – wenn ich noch zehn Jahre warten müßte . . .«

»I dank schön,« lachte Lizzi und riß sich mit Mühe von ihm los. »Da wär' ich ja bereits eine steinalte Jungfer! Geh' sei g'scheit, du armer Narr. Bist ja jünger wie ich!«

»Nicht einmal ein volles Jahr! Das Alter macht es ja überhaupt nicht. Die innere Reife . . .«

»Und mit seiner Mutter will er reden – o du himmlischer Vater! Die wenn i wär' – ich wüßt' scho, was i sag'n thät'.«

Er rutschte ihr auf den Knieen nach und rief mit Würde: »O, deshalb brauchst du dich nicht zu ängstigen. Meine Mutter ist in dieser Beziehung eine sehr vernünftige Frau. Sie wird mich verstehen.«

In diesem Augenblick ertönte draußen auf dem Gang die elektrische Klingel und schnitt Lizzis Lachausbruch kurz ab. Rudi sprang auf die Füße und beeilte sich seinen Rock anzuziehen, während Lizzi die Engelsnase, welche Bubi in der Begeisterung fortgeschleudert hatte, vom Boden aufnahm und in die Tasche steckte. Sie horchte nach der Thür hinaus und flüsterte: »Ui jeh, wenn jetzt d' Mama heimkommt – und wir hab'n net amal d' Nasen wieder anpappt.«

Aber es war nicht die Majorin, sondern Kathi, welche Friedrich gleich darauf in den Saal treten ließ.

Lizzi lief ihr mit ausgebreiteten Armen entgegen und schmiegte sich zärtlich an sie. »Je schau, Katherl, du, dees is g'scheit! Hu, was du für a Kält'n mit herein bringst. Geh, zieh dich aus, heut is amal schön warm daherin. Ja, was is denn dees, wie schaust denn du aus? – I glaub' gar, du hast g'weint?«

Kathi nickte fast unmerklich und sagte: »I hab' nur a halbe Stund Zeit und da bin i g'schwind g'sprungen, daß ich dir erzähl' . . .«

Sie warf einen Blick auf Rudi, der, ärgerlich über die Störung, etwas abseits stand. »O bitte sehr,« sagte der junge Mann. »Ich will nicht stören.« Er raffte das Schlachtschwert des Vaters vom Boden auf und verließ mit einer gemessenen Verbeugung vor den jungen Damen das Zimmer.

Sobald die Schwestern allein waren, fiel Kathi der Lizzi um den Hals und brach in Thränen aus.

»Ja, was is denn, was hab'n s' d'r denn wieder gethan?«

»Fort muß i, aus 'm Haus, aus Berlin fort,« schluchzte die Große. »Glei' nach Neujahr reisen s' nach Italien und ich soll fort zu ei'm Vetter vom Onkel, der Gymnasiallehrer in einer ganz kleinen Stadt is, in Pommern glaub' ich. Morgen kommt er her und da woll'n s' glei' den Handel abschließen – grad als wie wenn m'r an Hund verkauft.«

»A geh, Katherl,« tröstete Lizzi, »was wirst denn da drum weinen! Sei froh, daß d' von dem alten Drachen fortkommst und daß du zu irgend 'm ixbeliebigen fremden Mann hingehst, dazu können s' dich doch net zwingen! Wart nur, bis die Frau von Goldacker heimkommt, nachher wer'n m'r schon schau'n. Du wollt'st ja doch zum Großonkel Mödlinger?«

»Nein, i mag nimmer. I kann überhaupts nimmer fort von Berlin.«

»Weg'n meiner? – Ach du liebs Herzl, da darfst d' dich net kümmern. I wer' jetzt a Schauspielerin und wo mi da der Wind hinblast, dees weiß der liebe Himmel.« Und dann erzählte sie ihr alles, was an diesem ereignisreichen Tage vorgefallen war, von ihrer glücklichen Entlobung angefangen bis zu dem vereitelten Duell und Bubis feierlicher Werbung. Sie holte auch Gregors Brief und las ihn der Schwester vor. Und über all dem wichtigen Geschwätz in eigener Angelegenheit hatte sie bald gänzlich vergessen, daß das arme Katherl Trost und Hilfe suchend zu ihr gekommen war. Erst als die Schwester daran erinnerte, daß die halbe Stunde um sei und sie heim müsse, fiel's ihr wieder ein zu fragen, warum sie denn nun eigentlich nicht von Berlin fortwolle?

Kathi ließ sich lange bitten; aber schließlich kam's doch heraus: sie hatte sich gestern abend sterblich in Pastor Werkmeister verliebt. Ganz traurig war sie gewesen, den ganzen Abend über, weil sie deutlich zu bemerken geglaubt hatte, daß der geistliche Herr es auf Lizzi abgesehen habe. Aber dann beim Heimbringen, habe er so lieb und freundlich zu ihr gesprochen, daß sie wieder Hoffnung geschöpft habe, und deshalb möchte sie jetzt nicht von Berlin fort.

»Ja, hat er denn was von der Lieb g'redt?« fragte Lizzi eifrig.

»A geh, wie kannst denn nur so was denken. Er hat mir erst von der Ableitung der deutschen Weihnachtsgebräuche aus dem heidnischen Julfest, und nachher von den wirksamsten Mitteln zur Bekämpfung der Trunksucht in den Arbeiterkreisen erzählt. Aber so schön hat er geredt, so lieb! Ich habe ihn ganz verstanden.«

Lizzi schaute die Schwester mit offenem Munde an und schüttelte den Kopf. »Hm, komische Leut seids. Mein verflossenes Krajesovicherl hat glei' nach der ersten Stund um ein Rendez-vous gebeten.«

»Ja, bei dir is dees halt ganz was anders,« lächelte Kathi durch ihre Thränen. »Du verlobst und entlobst dich dreimal an ei'm Tag, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Aber weißt, mit so ei'm geistlichen Herrn, dees is doch ganz an andere Sach.«

»Ja, hast denn du überhaupt den rechten Glauben, um an Pfarrer z'heiraten?« fragte Lizzi nach etlichem Besinnen sehr ernsthaft.

Und Kathi versetzte ebenso ernsthaft mit einem begeisterten Augenaufschlag: »O, dees is mir alles gleich. Wann er mi nur mögen möcht', nachher glaub' i alles, was er selber glaubt und noch viel mehr.« –

Die Mädchen hatten in ihrem Eifer nicht gehört, daß schon vor geraumer Weile die Entreeklingel ertönt war und fuhren wie ertappt auseinander, als plötzlich die Thüre aufging und die Majorin hereintrat, gefolgt von dem Diener mit der Lampe.

»Guten Abend, Kathi! Ich habe schon gehört, daß Sie da sind,« sagte sie leichthin; die beiden Schwestern nur mit einem Blick streifend, indem sie raschen Schrittes auf die noch unabgeräumten Gabentische zuschritt. »So im Finstern habt ihr gesessen? Das ist ja der reine Verschwörwinkel, da. Laßt euch nicht stören, ich suche nur was.«

Lizzi lief rasch hinter ihr drein und legte den Arm um ihren Rücken. »Warum denn net gar, stören! 's is nur gut, daß d' heimkommen bist, liebe Tante. Du mußt uns raten. Wir sind ganz verzweifelt.«

»Nix sagen, i bitt dich, nix sagen!« rief Kathi, nun gleichfalls näher tretend.

Und Lizzi lachte: »Naa, du Schaferl, von dem sag i schon nix. I glaub, du hast schon ganz vergessen, wegen was d' kommen bist.« Und dann erzählte sie der Majorin in aller Kürze, was die Tante Geheimrätin über Kathi beschlossen hatte. Zu ihrer größten Verwunderung nahm sie die Neuigkeit ohne besondere Erregung auf. Kaum, daß sie zuzuhören schien. Mit unruhigen Fingern kramte sie auf dem Tisch herum und als sie gefunden hatte, was sie suchte, wandte sie sich wieder zum gehen und sagte, leicht mit den Achseln zuckend, nur: »Ja, was soll ich denn dabei thun?«

Lizzi öffnete die Augen weit vor Erstaunen und als die Majorin schon die Thürklinke in der Hand hatte, sprang sie ihr nach und rief in ängstlich flehendem Ton: »Aber liebe Tante, was is denn? Magst uns net wenigstens an Rat geben?«

Mit ironischem Lächeln, kalt und gleichgültig, versetzte Frau von Goldacker: »Was braucht ihr meinen Rat! Ihr seid ja viel klüger als ich, ihr werdet euch schon herauszuhelfen wissen.« Damit ging sie hinaus und machte die Thüre unsanft hinter sich zu.

Sprachlos vor Erstaunen sahen die beiden Mädchen einander an. Endlich flüsterte Kathi ganz leise der Schwester ins Ohr: »Hast du was mit ihr g'habt?«

Lizzi zuckte die Schultern. Sie biß ihre Zähne aufeinander, ballte ihre kleinen Hände zu Fäusten und trommelte damit auf die Kante des nächsten Tisches. Und dann kam auf einmal der Geist des kindischen Unfugs über sie. Sie schwänzelte nach der Außenthür, drehte sich dort kurz um und wiederholte die seltsamen Abschiedsworte der Majorin genau mit ihrem Ton und ihrer Miene.

Kathi lief ihr nach und hielt ihr ängstlich den Mund zu. »Jesses, Lizzi, sei stad, i bitt dich! Wenn's dees hört dadrinn! Na, i mach', daß i fortkomm'. Mußt m'r schreib'n, was g'wesn is, i trau mi nimmer her. O mei lieber Herrgott, was wird jetzt nur no aus uns zwei arme, gottverlass'ne Woaseln wer'n! Da möcht' m'r sich doch glei an Zuckerhut kauf'n, daß m'r an Strick zum aufhängen krieget!«

»Recht hast, Katherl, recht hast!« stimmte Lizzi sehr weich bei, indem sie ihre Wange zärtlich an der der Schwester rieb. »Aber sei nur stad. I schaff' scho Rat.« Und damit geleitete sie sie auf den Gang hinaus und verabredete mit ihr, daß sie sich morgen um die Mittagstunde treffen, oder aber, wenn sie nicht loskommen könnten, schreiben wollten.

Ganz verwirrt und niedergeschlagen kehrte Lizzi in den Saal zurück und zerquälte sich den Kopf, um eine Erklärung für das sonderbare Benehmen der Majorin zu finden. Nach einiger Zeit erst wagte sie, das kleine Arbeitszimmer zu betreten, um sie gerade heraus zu fragen. Das war leer. Ebenso das Eßzimmer. Im Schlafzimmer war sie auch nicht. Aber da begegnete ihr das Hausmädchen und das gab ihr die Auskunft, daß die gnädige Frau bei dem jungen Herrn sei. Sie ging wieder in den Saal zurück, öffnete vorsichtig die Thür nach dem Gang ein wenig und lauschte hinaus. Richtig, da hörte sie die beiden Stimmen. Der Bubi jammerte und seine Mutter – ja, ob sie ihn schalt oder tröstete, das war nicht zu unterscheiden.

Geräuschlos schloß Lizzi die Thür und dann begann sie eine nachdenkliche Wanderung um den Christbaum herum. Auf einmal blieb sie stehen, riß eine kleine, mit Fruchtgelee gefüllte Wurst vom Baum ab, biß hinein und murmelte halblaut vor sich hin: »Jetzt möcht' i doch glei wetten, daß s' der Pfaff aufg'hetzt hat.«

Und gleichsam, als ob dieser Erklärungsversuch ihr eine gewisse Beruhigung gewährte, verspeiste sie den Rest der Wurst, streichelte sich den Magen und machte behaglich: »Hmm!«

Ja der Pfaff – sie meinte natürlich Pastor Werkmeister – der hatte freilich etwas damit zu thun! Aber nicht so, wie Lizzi meinte. Wenn sie eine Ahnung gehabt hätte, welchen Verlauf seine Unterredung mit der Majorin heute genommen, dann hätte sie sich über nichts gewundert!


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