Ernst von Wolzogen
Die Erbschleicherinnen. Band 1
Ernst von Wolzogen

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Siebentes Kapitel.

[Welches ein Ende mit Schrecken nimmt.]

Es gab heute zum Mittagessen die schönen Reste von gestern abend, nur daß eine Suppe hinzugefügt war und die dürftigen Ueberbleibsel des Putenbratens in der Gestalt von Backhähndl mit Reis erschienen. Der Geheimrat hatte nur ein wenig Suppe zu sich genommen und den Lachs sowie den Gemüsegang mit Beilage verschmäht.

»Aber lieber Adolph, du mußt doch etwas essen!« rief Frau Ida eindringlich und versuchte, ihm ein Stück von dem zarten Putenbraten aufzunötigen.

Er hielt seine Hände über den Teller und sagte, durch das viele Nötigen schon ein wenig ungeduldig geworden: »Aber liebe Ida, wie oft soll ich dir denn sagen: ich habe keinen Appetit – mir ist überhaupt nicht wohl heut.«

»Aber du solltest dich doch zwingen. Es werden nur die Nerven sein. Freilich, kein Wunder – bei diesen ewigen Aufregungen – und wenn kein Mensch Rücksicht nimmt!« Sie seufzte und warf einen bedeutsamen Blick auf ihre beiden Nichten.

Kathi saß zur Rechten des Onkels und als die Minna ihr nun die Schüssel darreichte, spießte sie ein Stückchen Brustfleisch auf die Gabel und tat es schnell, ehe er es verhindern konnte, dem Onkel auf den Teller.

»Aber liebes Kind . . .«

»Geh zu, Onkel, sei gut, probier's amal. Der Indianer tut d'r nix. A so a zart's Vögerl.«

»Hehe«, platzte Schwager Emmerich heraus. »Indianer ist gut!«

»No ja, dees heißt m'r doch n' Indian. Wie sagt's denn ihr dazu? – Und a bisserl Soß dazu – so is recht.«

Der Geheimrat gab den Widerstand auf und ließ sich's lächelnd gefallen, was die Kathi für ihn tat, ja, er schnitt sich sogar das Fleisch klein und führte einige Stücke davon zum Munde.

Tante Ida verbarg nur mühsam ihren Aerger, und Lizzi entging es nicht, daß sie mit ihrem Bruder, der ihr gegenübersaß, Blicke wechselte, die sagen zu wollen schienen: Jetzt siehst du's doch wohl selbst, daß ich mich nicht getäuscht habe. Auf jede mögliche Weise umschmeicheln sie den schwachen Mann. Rasch und doch langweilig genug ging die Mahlzeit zu Ende. Daß der Professor wirklich leidend war, konnte ihm jeder ansehen. Die Damen waren mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, und so versandete die Unterhaltung immer mehr, trotz Schwager Emmerichs Bemühung, den Munteren zu spielen.

Nach Tische gingen sie alle in den Salon, auch der Geheimrat, trotzdem seine Gemahlin ihm vorstellte, daß es für seinen Zustand geraten sei, sich ein wenig niederzulegen.

»Aber liebe Ida, ich kann mich ja im Salon auch ausstrecken, wenn ihr erlaubt«, wandte der Geheimrat matt ein. »Ich hoffe, die Mädchen werden ein bißchen musizieren. Ich höre sie so gern.«

»Habt ihr gehört, der Onkel will, ihr sollt ihm was vorsingen«, fuhr Frau Ida die Nichten hart an. »Ich darf wohl bitten, daß ihr etwas anständigere Piecen wählt als gestern. Nicht diese ordinären verliebten Sachen.«

»Auf'n voll'n Magen sing'n, dees soll net g'sund sein«, versetzte Lizzi trotzig.

Die Tante zog ihre dicke Nase kraus, trat dicht neben Lizzi und raunte ihr ins Ohr, aber immerhin laut genug, daß Herr Emmerich Vogel es ganz gut verstehen konnte: »Es schickt sich durchaus nicht, von seinem vollen Magen zu reden, wenn man eben von Tische kommt. Anständige junge Mädchen stopfen sich überhaupt nicht so voll.«

Lizzis Augen funkelten kampfbereit, und sie gab ihr mit mühsahm unterdrücktem Zorn zur Antwort: »Eß ich dir vielleicht zu viel?«

Die Geheimrätin maß die Kecke mit einem wütenden Blick und trat, den Kopf ärgerlich in den Nacken werfend, von ihr fort.

Ihr Gatte hatte sich eben auf dem Sofa niedergelassen. Sie berührte ihn mit der Hand an der Schulter und sagte mit boshaftem Lächeln: »Hast du gehört, lieber Mann, Lizzi kann nicht singen, sie hat zu viel gegessen.«

Der Professor lachte matt auf: »Haha, freut mich, wenn es dir so gut schmeckt, mein Kind. Vielleicht spielt uns Käthchen etwas vor? Kannst du nichts von Chopin? Den hab' ich so gern?«

»O ja, lieber Onkel!« versetzte Kathi und begann eilig in ihren Noten zu kramen. »Dees heißt, 's wird wohl schlecht gehn, ich hab' die Sachen lang net g'übt!«

Sie suchte eines von den leichteren Nokturnos hervor und begann zu spielen. Aber gleich bei den ersten Tönen erhob Joli, der, von niemand bemerkt, auf einem Polstersessel irgendwo geschlummert hatte, ein jämmerliches Gewinsel.

Die Geheimrätin lachte laut, als ob sie dieses unmelodische Duett höchlich ergötzte und rief: »Mein armer kleiner Süßling! Garstige Musik, nicht wahr? Tuling deinen Ohrchen weh'!«

Lizzi entdeckte den Störenfried zuerst, schob ihn ziemlich unsanft von seinem Faulbett herunter und wollte ihn aus dem Zimmer hinausjagen, indem sie mit ihren Röcken hinter ihm drein wedelte. »Obs d' 'nausgehst, du Hundsviech, du miserables unmusikalisches!« schalt sie ärgerlich auf das faule kleine Zotteltier ein, das anstatt zur Tür hinaus, vielmehr seiner zärtlichen Herrin zustrebte.

Die Geheimrätin stürzte ihm auch sogleich zu Hilfe, nahm ihn auf den Arm, küßte ihn innig und sagte mit einem bösen Blick auf Lizzi: »Es wäre auch wohl nicht nötig, das arme Tierchen mit solchen Ausdrücken zu traktieren. Er versteht das sehr wohl, und du kannst dich nicht wundern, wenn er dir nicht folgt. Du hast schon ganz seinen Charakter verdorben. – Komm, mein Herzblatt, Mutterchen bringt dich in deine eigene Baba! Nirgends lassen sie dir Ruhe, nicht wahr?« Damit trug sie ihre süße Last hinaus.

»Wird d'rs net z' kalt wer'n, Onkel?« fragte Kathi besorgt, ehe sie wieder zu spielen anhub. Und Lizzi lief nach dem nächsten Thermometer und stellte fest, daß nur dreizehn Grad Reaumur im Zimmer waren.

»Ja, du hast recht, das ist etwas zu wenig für mich«, sagte der Geheimrat, sich mühsam erhebend. »Ich will mich lieber in meinem Zimmer etwas niederlegen und die Tür auflassen. Ich weiß nicht, was das ist, mir ist ganz schwindlig.«

Kathi und Lizzi eilten gleichzeitig auf ihn zu und stützten ihn bei seinem Gang ins Nebenzimmer. Sie waren eben an der Schwelle angelangt, als Frau Ida aus dem Berliner Zimmer wieder hereintrat. Sie schritt ihnen rasch nach und fragte aufgeregt, was denn das bedeuten solle? Lizzi wollte sie aufklären, aber sie ließ sie gar nicht ausreden, sondern schob sie unwillig beiseite und sagte, selber den Arm ihres Gatten in den ihrigen ziehend: »Ach so, ich sehe schon: ich rate dir vergebens, was zu deinem Besten dient; aber natürlich, wenn deine lieben Nichten es wünschen, dann tust du es gleich. Ich werde wohl hier bald ganz überflüssig im Hause sein.«

»Aber nei, was denn?« sagte Kathi kopfschüttelnd, und dann seufzte sie leicht auf und kehrte in den Salon zurück und setzte sich wieder ans Klavier. Alle Lust zum Spielen war ihr vergangen. Sie ließ die Hände in den Schoß sinken und starrte zum Fenster hinaus.

Herr Emmerich Vogel trat leise hinter sie, beugte seinen dicken Kopf über ihre Schulter und flüsterte ihr ins Ohr: »Da haben Sie was Schönes angerichtet, Fräulein Kathi. Lassen Sie nur um Gottes willen den Alten zufrieden – mein Schwesterchen ist riesig eifersüchtig!«

Kathi antwortete nicht, und es entstand eine lange Pause, während deren sie im Nebenzimmer die gedämpfte Stimme der Tante mit weinerlichem Ton auf den Geheimrat einreden hören konnten. Herr Vogel spitzte am meisten die Ohren, und nach einer Weile begann er wieder, indem er Lizzi kordial unter dem Arm faßte und Kathi die Hand auf die Schulter legte: »Macht euch nichts d'raus, Kinder. Schwesterchen wird sich schon dran gewöhnen. Du lieber Himmel, so alte Herren haben eben immer eine Schwäche für die liebe Jugend weiblichen Geschlechts, besonders wenn sie so hübsch ist wie ihr. Na, und ungefährlich ist er ja auch – hehehe!«

»Warum spielst du denn nicht?« erscholl es scharf mahnend von da drinnen.

Und Kathi nahm gehorsam ihr Nokturno in Angriff, während Lizzi sich ärgerlich von Herrn Vogel losmachte und sich in die Sofaecke setzte.

Der Schwager Emmerich zog sich einen Sessel möglichst in ihre Nähe und versuchte durch allerlei Manipulationen mit seinem Zwicker, durch leises Räuspern, Ohrenzupfen und verliebte Grimassen ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Aber Lizzi tat, als merkte sie nichts, als wäre sie ganz in das Spiel ihrer Schwester vertieft. Sie spitzte auch wirklich die Ohren, so sehr sie konnte, aber weniger nach dem Flügel, als nach dem Studierzimmer hin. Die Tante gehörte zu jenen zahlreichen Damen, welche musikalische Produktionen in ihren Salons als den angenehmsten Deckmantel für intimere Gespräche anzusehen pflegen. Es hätte schon ein Musikant von Namen sein müssen, der sie zu schweigender Andacht, wenn auch nur erheuchelter, hätte veranlassen können. Die allerdings nicht gerade hervorragende pianistische Leistung Kathis hinderte sie dagegen keineswegs, ihrem gekränkten Herzen ihrem Mann gegenüber Luft zu machen, und zwar ziemlich laut. Trotzdem vermochte Lizzi nur hin und wieder einige Worte aufzuschnappen, aus denen sie sich aber immerhin den Inhalt des Gespräches einigermaßen zusammenreimen konnte. Die Geheimrätin setzte offenbar ihrem Gatten gehörig zu, daß er ihr verraten sollte, was das für ein wichtiger Brief gewesen sei, den das Dienstmädchen nicht in den Kasten stecken durfte, und wollte seinen Ausreden keinen Glauben schenken. Dann schien sie sogar zu weinen: »Hinter meinem Rücken . . . angesponnen . . ., gar kein Vertrauen mehr . . .« das konnte Lizzi gerade noch verstehen.

»Was haben Sie für reizende kleine Füße!« hörte sie auf einmal Herrn Emmerichs Stimme flüstern. Statt aller Antwort zog sie ihr Kleid weit über die Kniee und drehte ihm noch entschiedener den Rücken zu, indem sie gleichzeitig ihr Fazzinettlein aus der Tasche riß und sich heftig die Nase putzte. Sie merkte bereits, daß ein Schnupfen im Anzug sei. Hatte sich also richtig doch was geholt!

Herr Emmerich bückte sich zu Boden und nahm etwas vom Teppich auf.

»Hm, das ist ja interessant!« hörte ihn Lizzi sagen. »Ei, ei! So kommt man hinter Ihre Schliche!«

Sie drehte den Kopf ein wenig über die Schulter und bemerkte zu ihrem Schrecken die Visitenkarte ihres Anbeters in seiner Hand. »Geb'n S' her!« sagte sie ärgerlich und versuchte, sie ihm mit einem raschen Griff zu entreißen.

Er war aber flinker und verbarg die Hand mit der Karte auf den Rücken. »Hoho!« grinste er schadenfroh. »So ohne weiteres rück' ich die nicht wieder heraus.« Und er schob seinen Sessel weit zurück, hielt die Karte gegen das Fenster und las schmunzelnd: »Gregor Krajesovich, Edler von Nemes-Pann, cand. med., Berlin NW., Marienstraße 24. Mhm – das war ja wohl Ihr Tischnachbar von gestern abend? Ja, ja, da haben Sie freilich recht, sich die Karte geben zu lassen zur Sicherheit. Den Namen kann ja auch sonst kein Mensch behalten! Lizzichen, Lizzichen!«

»I bin net Ihr Lizzichen, daß S' 's wissen!« knirschte Lizzi wütend und erhob sich vom Sofa. Sie ging nach der andern Ecke des Zimmers hinüber, wo der Ofen stand, um zu versuchen, ob's dort nicht ein wenig wärmer sei. Er schlich ihr auf den Zehenspitzen nach, und dann, ihr die Karte von weitem zeigend, flüsterte er: »Also, was krieg' ich dafür, Fräulein Mödlinger?«

»Gar nix'n, was denn sonst?« versetzte sie achselzuckend.

Das Nokturno war zu Ende. Kathi erhob sich vom Klavier und ging zu ihrer Schwester nach dem Ofen hinüber. Herr Emmerich hielt sie unterwegs auf und raunte ihr zu: »Pst, Fräulein Kathi, wissen Sie schon das Neueste? Als Verlobte empfehlen sich: Herr Kandidat der Medizin, Gregor Kraxilowitsch . . .«

»Jesses Maria, woher wissen denn Sie . . .« fuhr es Kathi unversehens heraus.

Herr Vogel grinste triumphierend: »Hui – also die Braut kennen Sie schon? Na aber, da wird sich meine Schwester freuen! Und der Geheimrat wird Augen machen!«

Wie schrak die gute Kathi zusammen. Da war sie schön eingegangen. Sie biß sich auf die Lippen und sah Lizzi groß und ängstlich an. In diesem Augenblick trat die Geheimrätin aus dem Nebenzimmer herein. Sie wischte sich noch einmal flüchtig mit dem Taschentuch über die Augen und sagte: »Nun, schon fertig? Willst du nichts mehr spielen?«

»'s wird schon so finster, Tante. I kann d' Noten nimmer sehn«, erwiderte Kathi leise.

»So«, sagte Tante Ida, vollends hereintretend. »Da könnten wir ja Licht anstecken, obwohl – 's ist ja kaum drei Uhr.«

»Nee, laß doch!« rief ihr schöner Bruder munter. »Ein Schummerstündchen ist gerade so nett. Erzählen wir uns doch was. Laß lieber noch 'n bißchen einheizen, wär' doch gemütlicher.«

»Herrgott, seid ihr eine frostige Gesellschaft«, spottete die große Dame. Und dann drückte sie auf den elektrischen Knopf, um die Minna herbeizuklingeln.

»War wirklich sehr nett gestern bei euch«, begann Emmerich die Unterhaltung. »Besonders bei Tisch da unten an unsrer jugendlichen Ecke. Der junge Mann da mit den feurigen Augen und dem schwarzen Schnurrbart, der Fräulein Lizzi so eifrig die Cour machte – wie hieß er doch gleich?«

»Ach so, der mit dem langen Namen«, versetzte die Geheimrätin, gleichgültig mit den Achseln zuckend. »Was ist mit dem?«

»Oh – scheint ein schneidiger Herr zu sein.«

»Ein Mediziner. Paßt eigentlich gar nicht in unsern Kreis. Aber da er mal Besuch gemacht hatte – es bleibt einem ja weiter nichts übrig, wenn die jungen Leute Empfehlungen mitbringen. Ich halte mir sonst diese unklaren Existenzen gern vom Leibe.«

»Unklare Existenzen? Wieso?«

»Na, diese Studenten aus Rußland, Polen, diese Slowaken, Rumänen und so weiter – da kann man nie wissen! Das sind alles Revolutionäre, Nihilisten und so was.«

»A, das ist aber interessant, nicht wahr, Fräulein Lizzi? So was Romantisches, das mögen Sie auch gerne.«

»A was, lassen S' mi aus mit Ihrem sekanten G'frag!« rief Lizzi, ungeduldig mit dem Fuß aufstampfend, und blitzte den lästigen Menschen aus ihren blauen Augen drohend an.

Die Geheimrätin richtete sich hoch auf und sagte in strengem Ton:

»Lisbeth, was soll das wieder heißen? Ich muß doch bitten, daß du dich gegen meinen Bruder nicht in dieser Weise . . .«

»Dann sag ihm, daß er mi g'fälligst in Ruh laßt!« unterbrach das gekränkte Mädchen sie heftig. »I brauch' niemand' um Erlaubnis z' fragen, wenn i ein' gern hab'n will – und den am allerwenigsten.« Sie wies mit dem Finger auf den dumm lächelnden Emmerich, und dann verschränkte sie die Arme trotzig über den Busen.

Die Geheimrätin war außer sich und fuhr sie laut an: »Das wird ja immer besser! Was ist denn das nun wieder, mein Fräulein? Soll das etwa heißen, daß du gestern gleich die erste Gelegenheit benutzt hast, um dich mit deinem Tischnachbar einzulassen? Das ist denn doch . . . ich glaube nicht, daß dein Onkel dergleichen gutheißen wird.«

Und mit großen Schritten eilte sie auf das Studierzimmer zu, um ihrem Gatten von der neuen Schandtat Mitteilung zu machen, als da drin eine Frauenstimme laut aufkreischte und gleich darauf die Minna in den Salon gelaufen kam, zum sonntäglichen Ausgang fein geputzt, mit Muff und Pelzkragen.

»Herrgott, was gibt's denn? Was ist denn das für eine Manier?« rief die Geheimrätin.

»Ach Gott, ach Gott, Madam! Hab' ich mir erschrocken«, stieß die Minna kurzatmig hervor. »Eben wollt' ich ausjehen, wie't klingelte. Ich hab' mir nich erst lange uffjehalten mit'n Nach's-Apparat-sehen, weil Se doch jewöhnlich nach Tische bein Herr Jeheimrat in die Stube sind. Un wie ich nu 'rinkomme, da seh' ich 'n Herrn Jeheimrat auf de Diele liegen – un riehrt sich nich.«

Mit einem halberstickten Angstschrei stürzte die Geheimrätin an dem Mädchen vorbei in das Studierzimmer, ihr Bruder und die beiden Nichten hinter ihr her. Es war, wie die Minna gesagt hatte. Der alte Herr lag auf dem Bärenfell vor seinem Diwan, zwei oder drei Schritt weit von dessen Rande entfernt, so daß der Kopf beim Fallen eben noch eine Stütze gefunden hatte. Der Oberleib war auf diese Weise ein wenig aufgerichtet geblieben, das Kinn gegen die Brust gedrückt, die Arme waren weit auseinandergebreitet, wie wenn sie im Fallen noch nach einem Halt gesucht hätten. Die Finger der rechten Hand bewegten sich noch, zitternd in den braunen Pelz hineingreifend. Die Augen waren halb geschlossen. Das Kinn durch den Druck gegen die Brust über die Oberlippe hinaus vorgeschoben, der Mund dadurch fest geschlossen. Durch die Nase tönte ein unheimlich schnarchendes Röcheln. Im übrigen lag der große Körper wie tot da.

Frau Ida warf sich über ihn und jammerte laut auf: »Himmlischer Vater, was ist das? Er stirbt ja! Mein Gott, mein Gott! Wie ist das bloß . . . Adolfchen, was ist dir? Kennst du mich nicht?« Sie ergriff seinen linken Arm, um den Oberkörper aufzurichten. Er war ganz steif und fiel wie eine leblose Masse wieder herab.

Mit neugierig aufgerissenen Augen trat die Minna herzu und machte sich wichtig. »Des is der Schlach. So war't bei mein' Jroßvater jerade – jawoll, des is der Schlach, da jibt's keen Streit.«

»Seien Sie still jetzt!« herrschte sie Herr Vogel gedämpften Tones an. »Laufen Sie lieber und holen Sie einen Arzt.«

»Nein, nein, nicht die Minna!« rief die Geheimrätin. »Geh du selbst, aber schnell. Und wenn Doktor Peters nicht da ist, dann bringst du den ersten besten, nur schnell, beeile dich.«

»Jawohl, liebe Ida, jawohl. Rege dich nur nicht so auf«, versetzte der Bruder, machte aber noch keine Miene zu gehen, sondern klopfte ihr mit der einen Hand beruhigend auf die Schulter, während er mit der andern seinen Zwicker auf die Nase drückte. Und dann beugte er sich herab, um das Gesicht des Professors besser sehen zu können. »Herrgott, das sieht ja . . . ja, ich glaube wirklich, das ist ein Schlaganfall. Er hat gewiß aufstehen wollen und zu uns in den Salon kommen. Dabei muß es ihn getroffen haben. Daß wir aber auch gar nichts gehört . . . ja freilich, das Fell ist weich.«

»Willst du denn nicht gehen?« fuhr die Geheimrätin auf und gab ihm einen leichten Stoß gegen das Knie. »Lauf doch nur, lauf!« Worauf er sich endlich einigermaßen eilig in Bewegung setzte.

Kathi und Lizzi waren bislang schreckensbleich zur Seite gestanden und hatten kein Wort zu sagen gewagt. Als aber nun Minna den ganz vernünftigen Vorschlag machte, den Kranken aus seiner halbsitzenden Lage zu befreien und auf den Diwan zu legen, da griffen sie sofort mit zu. Minna erfaßte ihn unter den Schultern, die beiden Mädchen bei den Beinen. Und so hoben sie den schweren Körper auf das Ruhebett. Die Geheimrätin stand untätig dabei, nur abgebrochene Jammerlaute ausstoßend und mit den Händen wirr um den Kopf herumfahrend.

Sobald der Kranke lang ausgestreckt lag, öffnete sich der Mund von selbst ein wenig, und das unheimliche Röcheln hörte auf. Kathi trat an das Kopfende des Lagers und beugte sich zu dem Onkel hernieder. Sie strich ihm einige über das Gesicht gefallene dünne Strähnen des grauen Haares aus der Stirn. »Lieber Onkel, komm' doch wieder zu dir! Hörst mi denn? Kann i dir denn gar nix helfen?« Eine Träne fiel aus ihrem Auge auf seine wachsbleiche Wange. Sie wischte sie zart mit der Spitze ihres kleinen Fingers fort.

Da schaute die Tante auf, die schluchzend vor dem Ruhebett in die Knie gesunken war und stieß zwischen dem Schluchzen heftig hervor: »Geh weg, du – faß ihn nicht an! Ihr seid dran schuld – ihr sollt ihn beide nicht anrühren.«

»Aber, liebe Tante, was haben denn wir . . .« wollte Kathi traurig erstaunt einwenden, doch auf ein Zeichen, das ihr Lizzi machte, brach sie ab und trat ein paar Schritte zurück.

Lizzi ging zu ihr und zupfte sie am Aermel. »I mein', an kalt'n Umschlag sollt' ma' mach'n. Geh'n S', hol'n S' a Wasser, Minna!« flüsterte sie.

Da wandte sich die Tante nach ihnen um und sagte, mit der Hand nach der Tür weisend: »Was habt ihr da zu tuscheln? Geht hinaus . . . ich kann euch hier nicht sehen! Das habt ihr zu verantworten! Nicht eine Stunde kann man euch mit ihm allein lassen – gleich müßt ihr die Zeit benutzen, um ihn aufzuregen. Mein armer, armer Mann, was haben sie dir bloß . . .« Neues Schluchzen erstickte ihre Stimme, und sie begann wieder ganz verwirrt und zwecklos den leblosen Körper da vor ihr zu betasten.

Lizzi ergriff die Schwester bei der Hand und führte sie aus dem Zimmer, ohne ein Wort zu sagen. Sie blieben aber nebenan im Salon und spähten von Zeit zu Zeit durch die Tür, die sie ein wenig offengelassen hatten.

Es dauerte ziemlich lange, bis Herr Vogel mit einem Arzt zurückkehrte. Es war nicht der Sanitätsrat, ihr Hausarzt, sondern ein jüngerer Herr, der aber ohne viel Worte zu machen das Nötige rasch und umsichtig anordnete. Der Kranke wurde zunächst zu Bett gebracht und eine Eisblase beschafft, die ihm auf dem Kopf liegen sollte, Tag und Nacht, unter fortwährender Erneuerung. Der junge Arzt erklärte, daß wahrscheinlich Stunden, vielleicht sogar Tage vergehen könnten, ehe der Professor wieder zum Bewußtsein erwachte, und daß sich vorher die Folgen des Schlaganfalls nicht übersehen ließen. Er glaube aber, daß eine linksseitige Lähmung vorhanden sei; ob auch Gefahr für seinen Verstand oder gar für sein Leben bestehe, darüber eine Meinung zu äußern, sei wertlos. Die Hauptsache sei vorderhand, daß der Kranke unter steter Aufsicht bleibe, um fortlaufende Beobachtungen über Puls, Atmung und Temperatur anzustellen und bei den ersten Anzeichen des zurückkehrenden Bewußtseins sogleich ärztlichen Beistand herbeizurufen.

»O, ich will keine Sekunde von ihm weichen«, beteuerte die Geheimrätin und drückte ihre geballte Rechte fest an den Busen.

Der junge Arzt hob nur die Augenbrauen ein wenig und streifte sie kurz mit einem etwas mißtrauischen Blick. »Pardon, gnädige Frau,« sagte er kühl, »das geht nicht. Sie müssen natürlich schlafen, essen und sich Bewegung machen, wie jeder andre Mensch auch, sonst würde der Wert Ihrer Pflege nur beeinträchtigt werden. Ich sehe, Sie haben erwachsene Töchter, die werden sich gewiß gern mit Ihnen in die Aufgabe teilen. Wenn Sie zu dreien sind, wird keiner zu sehr übermüdet. Ach, bitte, meine Damen.«

Er winkte den beiden Schwestern, die trotz des Verbotes mit in das Schlafzimmer gegangen waren und bescheiden an der Tür standen, näherzutreten, und gab, ohne die versuchten Einwendungen der Geheimrätin zu beachten, die nötigen Anweisungen für die Nacht. Darauf empfahl er sich und versprach, am Abend noch einmal umzuschauen.

Auch Herr Emmerich Vogel empfahl sich bald. Er fühlte sich überflüssig und mißliebig bei jedermann, selbst bei seiner Schwester; denn soviel er sich auch Mühe gab, aufrichtiges Mitgefühl zu erheucheln, ihr gegenüber richtete er damit nichts aus – es wußte ja niemand besser als sie, wie außerordentlich gelegen ihm ein plötzlicher Tod des Schwagers gekommen wäre – und jetzt war sie denn doch mehr angstvolle Gattin als gute Schwester.

Es war ein trüber Abend, eine unheimliche Nacht – der Tod ging um im Hause und machte alle Schatten schwärzer, dämpfte die Schritte und die Stimmen und ließ alle Herzen bänglich klopfen. Die beiden Schwestern saßen dicht beieinander untätig herum, bald da, bald dort, und wußten nicht, wie sie über die langsam dahinschleichenden Stunden hinwegkommen sollten. Sie kannten den Tod. War es doch kaum ein paar Monate her, daß sie seinen eisigen Hauch im eigenen lieben Heim verspürt, und nun war er ihnen nachgezogen in die kalte Fremde, und sie erkannten ihn wieder an allen seinen pedantischen Eigenheiten. Ja, so tickte die Uhr, wenn ein Liebes im Hause zu sterben kam, so tönten die Stundenschläge aus dem unteren Stockwerk, auf die man sonst nie geachtet, durch die schweigende Nacht herauf, so ganz besonders drohend lauerte die Finsternis in allen Ecken des Zimmers, und die Lampe wollte durchaus nicht heller brennen und flackerte nur kurz und ängstlich auf, wenn man sie höher schraubte. Aber damals waren sie vorbereitet, sie hatten das Ende vorhergesehen, das zugleich die Erlösung von langen Leiden für ihre arme Mutter war. Diesmal schien es ganz plötzlich zu kommen, und sie mußten untätig dabeisitzen und sich's stumm gefallen lassen. Viel trauriger war es damals, aber nicht so spukhaft erschreckend wie jetzt.

Ihre Hoffnung, durch ein neues Testament des guten Onkels ihre Zukunft einigermaßen gesichert zu sehen, war nun vielleicht vernichtet. Sie sprachen es nicht aus, aber sie dachten beide daran, wenn sie unter plötzlich ausbrechenden Tränen einander in die Augen sahen.

Bald, nachdem der Arzt zum zweitenmal dagewesen war, suchten die Schwestern ihr Lager auf. Der Kranke lag immer noch ohne Bewußtsein und unbeweglich, und nur der Atem verriet, daß noch Leben in ihm sei. Die Tante hatte sich hartnäckig geweigert, sich von ihnen in der Nachtwache ablösen zu lassen. Trotzdem konnten sie beide so bald nicht einschlafen. –

Die Uhr hatte im Berliner Zimmer eben drei geschlagen, als Kathi aus einem schreckhaften Traum, in Schweiß gebadet, auffuhr. Eine grausige Sterbeszene hatte sie durchlebt. Das entsetzliche Röcheln klang ihr immer noch im Ohre nach, wie sie, in ihrem Bette schon halb aufgerichtet, sich von Schlaf und Schrecken zitternd loszuringen suchte. Aber was war das? Sie wachte nun doch wirklich? Vom Nebenzimmer her ertönte es ganz deutlich – sie legte ihr Ohr an die Wand – ja, das war dasselbe furchtbare Röcheln, das sie im Traume gehört hatte! Und rasch entschlossen machte sie Licht, schlüpfte in ihren Morgenrock und ging, ohne die ruhig schlafende Lizzi zu wecken, nebenan in das Schlafzimmer des Onkels.

Der lag noch immer gerade so da, wie sie ihn am Abend zuletzt gesehen hatte, nur daß die Eisblase von seinem Kopfe heruntergerutscht und zwischen Schulter und Ohr in das Kissen eingesunken war. Und auf dem Bett daneben lag die Tante unausgekleidet, in ihrem Schlafrock, den Mund weit offen – und schnarchte laut. Das war's, was Kathi den bösen Traum verursacht hatte!

Das Eis im Beutel war ganz geschmolzen. Sie huschte nach der Küche und füllte ihn aufs neue. Dann holte sie sich aus ihrem Zimmer ihre Reisedecke, wickelte sich fest darin ein und setzte sich so am Fußende des Krankenbettes nieder. Das Schnarchen der Tante, das nach einigen kurzen Erholungspausen immer von neuem kräftig einsetzte, bewahrte sie sicher vor dem Einschlafen. –

Der Tag begann bereits zu grauen, als der Kranke plötzlich eine Bewegung mit dem rechten Arm machte, dann den Kopf langsam auf die Seite drehte und endlich die Augen aufschlug. Kathi sprang sofort zu, um ihm den Eisbeutel wieder zurechtzuschieben, und beugte sich hoffnungsfreudig erregt über sein Gesicht.

Er starrte sie an, lang und blöde, und dann wurde er unruhig und versuchte zu sprechen. Aber es kam nur ein undeutliches Lallen aus seinem Munde.

O, wie tat das Kathi weh, so mitansehen zu müssen, wie der arme Mann sich quälte und doch kein deutliches Wort zu formen imstande war! Sie ergriff seine Hand, drückte sie warm und sagte, ihren Mund seinem Ohr ganz nahe bringend: »Brauchst di net z' fürcht'n lieber Onkel, i bin bei dir.«

Es huschte etwas wie ein Lächeln über seine welken Züge, und dann fielen ihm die Augen wieder langsam zu, und er murmelte leise und zufrieden: »Hmnja«.


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