Ernst von Wolzogen
Die Erbschleicherinnen. Band 1
Ernst von Wolzogen

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Fünftes Kapitel.

[In welchem Stücklein von Lizzis Rache erzählt wird und die Schwestern mit bei Majorin und ihrem Bubi Freundschaft schließen – zusamt dem Ausgang von Lizzis erstem Stelldichein]

War die Lizzi in einer Wut gewesen den Abend in ihrem Schlafzimmer! O du Grundgütiger! Wenn die Frau Geheimrätin nur ein halbes Dutzend von dem Schwalle ausgewählter Liebenswürdigkeiten hätte genießen können, mit denen das tiefgekränkte Geburtstagskind sie bedacht hatte! Nachdem es sich aber also gründlich ausgesprochen hatte, wurde sein Schlummer von keinerlei unruhigen Träumen mehr gestört, während Kathis liebendes Schwesterherz, dem Lizzi ihren ganzen rachedurstigen Groll anvertraut hatte, sich noch einen großen Teil der Nacht hindurch in schweren Sorgen abquälte.

Kathi war sehr erstaunt, als sie am nächsten Morgen davon erwachte, daß Lizzi, während sie sich wusch, ganz hell und munter sang, als ob sie sich in der heitersten Stimmung von der Welt befände.

»Geh, geh, was hast denn?« fragte Kathi erstaunt, nachdem sie ein Weilchen dem wunderlichen Treiben der Schwester zugeschaut hatte, die sich im Walzertakt in den Hüften wiegte, während sie ihre Gliedmaßen mit dem Schwamm bearbeitete. »Hast denn deinen Zorn etwa schon vergessen?«

»Ja Schnecken!« versetzte Lizzi lachend, »von meinem Zorn sollt's ihr alle noch saubere Stückln derleben.« Und während sie sich abtrocknete, begann sie mit noch lauterer Stimme den Jodler anzustimmen, mit dem sie gestern die Gesellschaft entzückt hatte.

»Aber Lizzi, obs d' still bist?« rief Kathi ängstlich. »Die Tante schlaft g'wiß noch. Wenn du s' aufwecken tätst – – jessas na!«

»Soll s' doch,« gab jene übermütig zurück, »drum sing i ja grad, daß s' sich recht giften soll.«

Bald danach, als Lizzi mit ihrer Toilette etwas weiter vorgeschritten war, begann Kathi von neuem: »Du, geh her, Herzl, jetzt sag mir amal aufrichtig: dees war doch g'wiß bloß G'spaß, was d' da gestern abend g'sagt hast, daß d' mit dem Dings da, dem schwarzen Herrn durchbrennen willst?«

»Nein, dees is schon wahr«, versetzte Lizzi ernsthaft. »'s is schon alles abgemacht. Unsre Heiratsanzeige kriegt's ihr fein druckt von Philippopel aus zug'schickt. Dort lassen wir uns als praktischer Arzt und Geburtshelfer nieder.«

»A geh, schwätz net so dumms Zeug daher«, fuhr Kathi ärgerlich auf. »'s is wirklich wahr. Nix wie Sparifankerln hast im Kopf. Wie kann a vernünftigs Mädel überhaupts nur dran denken, so an Mann zu heiraten, dem sein Namen ka Mensch merken kann. Weißt 'n denn du noch?«

»Freili wei ich 'n,« versetzte Lizzi volltönend: »Gregor Krajesovicherl von Nemes-Spanferkel. Wenn dees net leicht zum b'halten is!«

Kathi mußte lachen, und die Sache mit dem schönen Serben kam ihr gar nicht mehr so arg gefährlich vor, da die Schwester schon Witze über seinen Namen machte.

Gleich darauf stimmte Lizzi ein neues lustiges Lied an und öffnete dabei die Tür zum Korridor, um ihre Stiefeln hereinzuholen. Sie waren noch nicht geputzt, da die Minna nach den Anstrengungen des gestrigen Abends heute auch die Zeit verschlafen haben mochte. Und da sang Lizzi mitten in ihr »Hollderidiödiri« lautschallend in den Korridor hinein: »Minna, wo san denn jetzt meine Knöpfstieferln hin? Holldriholldiridiö!«

Horch, da regte es sich nebenan in dem geheimrätlichen Schlafgemach. Sie konnte deutlich das liebliche Organ der Tante erkennen, das sich offenbar nicht in einem frommen Morgengebet erging. Hochbefriedigt zog sie die Tür wieder zu und machte eine vorläufige Pause in ihren Gesangsübungen. –

Die Tante erschien erst am Frühstückstisch, als die beiden Schwestern bereits mit ihrem Kaffee fertig waren. Sie war etwas bleich und verschwollen im Gesicht. Sie begrüßte die Kathi mit einem Händedruck, die Lizzi mit einem leichten Kopfnicken, dann setzte sie sich stumm an den Tisch, nahm ihren Joli auf den Schoß und machte ihm in einer Untertasse etwas Milch und Zucker zurecht, bevor sie sich selbst einschenkte.

Während der Süßling mit seinem rosigen Zünglein die Milch aufschleckte, rief die Geheimrätin die Lizzi heran und begann also: »Kannst du es dir nicht vorstellen, mein Kind, daß eine ältere Dame nach einer so anstrengenden Nacht wie die gestrige, das Bedürfnis fühlt, morgens etwas länger zu schlafen?«

»Ja, liebe Tante«, versetzte Lizzi tonlos und schaute starr und steif mit großen, kummervollen Augen gerade auf des Süßlings Schnäuzchen.

»Dann sehe ich nicht ein, warum du gerade in früher Morgenstunde in so lärmender, unpassender Weise nach deinen Stiefeln rufen mußt. Ihr habt ja den elektrischen Knopf in eurem Zimmer, wenn ihr das Mädchen braucht.«

»Ja, liebe Tante!«

»Ueberhaupt finde ich, daß du nach allem, was ich dir gestern sagen mußte, heute keine besondere Ursache zu so lauter Heiterkeit hast.«

»Ja, liebe . . ., ich wollte sagen: nein, liebe Tante.«

Das Hündchen war jetzt mit seiner Milch fertig und bemerkte mit Mißfallen den immer gleich starr auf sich gerichteten Blick der jungen Dame. Die Tante begann aufmerksam zu werden. Sie runzelte die Stirn und machte eine Pause. Joli knurrte.

Dann, nachdem sie ein Paar Schlucke Kaffee zu sich genommen hatte, begann die Geheimrätin aufs neue: »Es ist heute Sonntag.«

»Ja, liebe Tante.«

»Da solltest du doch eigentlich den Drang in dir fühlen, das Gotteshaus zu besuchen, um deine Reue über dein gestriges Betragen vor den Thron dessen zu bringen, der Herz und Nieren prüft.«

»Ja, liebe Tante, wenn du befiehlst«, versetzte Lizzi, immer noch mit unerschütterlicher Ruhe stocksteif am Tisch stehend und den immer nervöser werdenden Hund fixierend.

»Befehlen!« fuhr die Tante unwillig auf. »Es versteht sich von selbst, daß ich dir nicht befehlen kann, die Kirche zu besuchen, wenn du nicht selbst den Drang dazu in dir spürst. Ich denke doch, daß eure Mutter euch so erzogen haben wird . . .«

»Nein, liebe Tante!«

Die Geheimrätin wurde jetzt sehr unruhig und blickte Lizzi drohend an: »Was soll das heißen: ja, liebe Tante, nein, liebe Tante! Ich glaube gar, du willst deinen Spott mit mir treiben! Käthchen komm her, antworte du mir: hat euch eure Mutter nicht zum Kirchenbesuch angehalten?«

»Nein, liebe Tante«, brachte Kathi leise hervor. Und dann, als sie sah, daß die Tante den Kopf aufwarf und sie gleichfalls mißtrauisch fixierte, beeilte sie sich errötend und verwirrt hinzuzufügen: »Die Mama is nie in d' Kirch gang'n, außer in die katholischen, wenn a schöne Musik g'wesen is. Es tat sie net erbau'n, hat s' g'sagt. Und wann's uns erbaut hätt, hätt'n mer schon nei'geh'n dürf'n; aber 's hat uns net erbaut – da sin mer halt heraußen blieben.«

»Ja, aber mein Gott, da seid ihr ja aufgewachsen wie die Heiden!« rief die Geheimrätin entsetzt, indem sie beide Hände auf den Tisch fallen ließ.

»Ja, liebe Tante«, versetzte Lizzi prompt.

Aber jetzt konnte es der Süßling nicht mehr aushalten. Ihr starrer Blick machte ihn rasend. Er sprang von dem Schoße seiner Herrin mit einem kühnen Satz auf den Tisch und schoß auf Lizzi zu. Dabei war er so ungeschickt, den Rahmtopf umzuwerfen, und da Lizzi sehr rasch zurücktrat, so purzelte er, sich in der Luft überschlagend, über den Rand des Tisches herunter. Obwohl er ganz ohne Schaden auf seinen vier Beinen angekommen war, erhob er ein jämmerliches Wehgeschrei, und gleichzeitig kreischte auch die Geheimrätin auf, welcher die sogenannte Sahne unfehlbar den himmelblauen Morgenrock verdorben hätte, wenn sie nicht mit überraschender Gelenkigkeit zur Seite gesprungen wäre. Zornflammend, hochrot im Gesicht, stand sie mitten im Zimmer und rief, die Rechte gebieterisch nach der Tür ausstreckend: »Geht alle beide, macht, was ihr wollt! Ich mag von euch nichts mehr wissen.«

Mit gesenkten Köpfen schritten die beiden großen Mädchen hinaus. Und sobald sie außer Hörweite waren, fiel Lizzi der Kathi um den Hals, drückte sie stürmisch an sich und lachte wie toll: »Brav bist, Katherl, gut hast's g'macht! Jesses hat si die 'gift!« Und sie tanzte herum und klatschte in die Hände. Dann rannte sie nach dem großen Schrank im Korridor, holte hastig die Mäntel und Hüte hervor und kicherte dabei: »Du, jetzt geh'n mer spazier'n.«

Die brave Kathi ließ alles mit sich machen. Sie war wie betäubt. Nun hatte sie gar, ohne es zu wissen und zu wollen, auch mitgeholfen, die strenge Tante zu kränken! Aber die Lizzi hatte eine Art und Weise mit ihr umzuspringen – sie konnte nicht widerstehen. Und dann dachte sie auch, sie dürfte die Leichtsinnige nicht aus den Augen lassen, sonst liefe sie am Ende wirklich mit dem Herrn von Spanferkel, oder wie er hieß, davon.

Ein paar Minuten später standen die beiden Mädchen unten auf der Straße – zum erstenmal allein, seit sie in Berlin waren. Sie schlenderten zunächst ohne Zweck und Ziel am Ufer des Landwehrkanals entlang und dann über die Brücke an der Magdeburger Straße. Es war ein trüber Tag. Der erste Schnee trieb in spärlichen großen Flocken träge vom grauen Himmel hernieder und zerschmolz, sobald er den Boden berührte. Eine dünne, glitschige Schmutzschicht bedeckte die Steinplatten des Trottoirs. Die Damen trugen die Kleider hochgeschürzt und die Herren die Kragen der Ueberzieher aufgeschlagen. Ein ungemütliches Wetter war's. Allein Lizzi stiefelte vergnügt und unternehmungslustig vorwärts und zog Kathi am Arm mit sich.

Vor der Litfaßsäule an der Ecke der Bendlerstraße blieben sie stehen und begannen die verlockenden Ankündigungen aller Art zu studieren, was sie nie gedurft hatten, wenn sie mit dem Onkel oder der Tante gingen. Was es doch alles zu sehen gab in der Reichshauptstadt: Opernhaus, Schauspielhaus, Deutsches Theater, Viktoria-Theater, Zirkus Renz, Walhalla, Friedrich-Wilhelmstädtisches, Blumensäle, Orpheum, Quargs Baudeville, Reichshallen, Wintergarten, Skating Ring, Goldne Hundertzehn, Neueste Siege Richard Mohrmanns über den Bandwurm, Gorilla im Aquarium, Tanzinstitute, antisemitische Volksversammlung auf Tivoli, »Lieber August, kehre zurück zu deinen trauernden Eltern. Alles vergeben!« usw., usw.

Ja, wer das alles genießen durfte! Da könnte man sich vielleicht mit seinem Schicksale versöhnen! Aber dazu gehörte Geld und Freiheit, just die beiden Dinge, die sie nicht besaßen.

Eben wollten sich die beiden Mädchen mit einem Seufzer abwenden und weiterschreiten, als sie zwischen ihren beiden Köpfen, dicht an ihren Ohren eine Männerstimme flüstern hörten: »Na, ihr Kinderchen, wohin gehen wir denn heute abend?«

Die Schwestern fuhren erschrocken zusammen und liefen, ohne sich umzusehen, geradeaus davon, so rasch sie ausschreiten konnten, ohne gerade zu traben. Aber der Unverschämte folgte ihnen auf den Fersen, und eine Minute später hörten sie wieder dicht hinter sich eine hohe näselnde Stimme: »Na aber, wer wird denn gleich ausreißen, meine Damen! So laßt euch doch wenigstens von vorn ansehen.«

Der Herr keuchte – eine so ungewöhnlich rasche Gangart hatte er anschlagen müssen. Jetzt machte er gar zwei große Sätze, um die gar so raschen Mädchen zu überholen.

»Donnerwetter!« rief er unwillkürlich, sobald er ihre Gesichter gesehen hatte, und auch die Mädchen blieben mit einem halberstickten Ausruf des Erstaunens stehen, als sie sich so unvermutet, Herrn Emmerich Vogel gegenüber sahen.

Er spielte den Unbefangenen, so gut es gehen wollte, und schlug ein recht gewaltsam klingendes Gelächter an. »Der Witz ist gut!« krähte er. »Lauft ihr vor eurem lieben Schwiegeronkel davon, als ob der Teufel hinter euch her wäre. Habt ihr mich denn nicht gleich an der Stimme erkannt!«

»Ei freilich!« versetzte Lizzi schnippisch, indem sie die Kathi heimlich mit dem Ellbogen puffte. »Grad so gut, wie Sie uns gleich von hinten kennt hab'n. Deswegen sind mir ja grad so g'schwind davon!«

Herr Emmerich verbeugte sich ironisch. »Danke schön, Fräulein Lizzi. Sie wissen einem doch immer etwas Liebenswürdiges zu sagen. Darf man fragen, was die jungen Damen vorhaben?«

Die Schwestern sahen einander unsicher an und wußten nicht, was sie erwidern sollten. Die Kathi stieß die Lizzi und die Lizzi die Kathi an.

»Also bloß 'n bißchen bummeln gehen?« rief Onkel Emmerich, verschmitzt lächelnd. »Darf ich wagen, Arm und Geleit euch anzutragen? Ich finde es unverantwortlich von meiner Schwester gehandelt, euch so allein in Berlin herumlaufen zu lassen.«

»Ja, net wahr!« gab Lizzi spöttisch zur Antwort. »Das mein i auch. Was hätt uns beispielsweise jetzt net alles zustoßen können, wenn Sie net grad der fremde Herr g'wesen wär'n.«

»O, o, o, Sie glauben doch nicht etwa . . .!« Dem dicken Herrn ward es augenscheinlich ungemütlich. Er machte sich an Kathis Seite heran und jammerte kläglich: »Stehen Sie mir bei, Fräulein Kathi. Ihre Schwester ist mir heute zu scharf. Sagen Sie mir doch, wo Sie hinwollen. Sie finden ja doch nicht allein.«

Da fiel Kathi die Frau Majorin von Goldacker ein, die sie so dringend eingeladen hatte, und behauptete frischweg, daß sie im Begriff seien, diese Dame zu besuchen, die ganz nah in der Matthäikirchstraße wohne. Herr Emmerich Vogel ließ es sich nicht nehmen, die jungen Damen zu begleiten. Die Viertelstunde Wegs, die sie bis dahin hatten, benützte er geschickt dazu, nicht nur einen Bericht über das Strafgericht vom gestrigen Abend, sondern auch sonst noch allerlei Mitteilungen über ihre Verhältnisse und zukünftigen Aussichten aus den Mädchen herauszulocken. Viel war da freilich nicht mitzuteilen, denn die nackte Tatsache für die armen Waisen war eben die, daß sie, wenn sie nicht im Ehestande ihre Zuflucht fanden, ganz und gar auf die Güte des wohlhabenden Onkels angewiesen blieben. Zwar lebte noch ein Onkel ihres Vaters, ein verabschiedeter Oberstleutnant in München, aber der war nicht der Mann, sich mit jungen Mädchen zu befassen und besaß außerdem selbst nichts. Die entfernteren Verwandten von Vaters- wie von Muttersseiten kannten sie gar nicht.

»Hm, hm«, machte der wohlwollende Beschützer nachdenklich, als er so viel herausgebracht hatte. Und dann lächelte er verschmitzt, legte der Kathi seine fleischige Hand auf die Schulter und sagte: »Da kann man euch halt eben nur viel Erfolg zum Erbschleichen wünschen.«

»Um Gott's willen! Lassen S' mi aus!« rief Kathi weinerlich. »Daß S' net etwa gar dees dumme Wort noch amal daherbring'n vor der Frau Tante. S' is scho so schlimm g'nug, daß d' Frau Majorin dees gestern g'sagt hat. Dees is nur G'spaß gewes'n, wissen S', von einer Dame, die mit uns im Kupee g'fahren is. Da könn' mir doch nix dazu! Sagen S' dees nur der Tante, wenn s' fragt.«

»Schön, schön, wird gemacht!« lachte Emmerich Vogel und klopfte Kathi beruhigend auf den Arm. »Meine Schwester wickle ich um den kleinen Finger: die tut euch nichts, wenn ihr mich auf eurer Seite habt, und der Geheimrat – ach, du lieber Gott! – der tut doch alles, was seine Frau will. Also seid gescheit, Kinder, und stellt euch gut mit der Frau Geheimrätin und vor allen Dingen mit mir; dann werde ich als Schutzengel über euch schweben. Guten Morgen! Wir sehen uns wohl bei Tische wieder. Ich speise heute bei Schwagers.«

Damit waren sie vor dem Hause der Majorin angekommen. Die Schwestern traten ein, und sobald sich die Haustür hinter ihnen geschlossen hatte, packte Lizzi die Kathi fest am Arm und raunte ihr zu: »A netter Schutzengel, dees! Dem hätt i doch kein Sterbenswörtl g'sagt. Der wird grad hingeh'n und unsre Sach' führ'n! Wo dir doch der Onkel selber g'sagt hat, daß der z'widere Mensch alleweil die Hände in sei'm Sack hätt. Dees wär schon ganz was Neu's, wenn ein Erbschleicher dem andern helfen tät!«

Kathi fuhr ärgerlich auf: »Ja, wenn's d' gar so gscheit bist und alles besser weißt, warum hast nachher du net g'red'?«

»Weil i an was anders denkt hab«, erwiderte Lizzi lächelnd. Und dann streichelte sie die Schwester und fügte, liebenswürdig bittend, hinzu: »Geh, sei stad, dir kann er ja doch nix antun. Du bist ja alleweil fromm und brav. Sei net bös! – Siegst, da wohnt s' ja schon, die Majorin.«

Auf ihr Klingeln erschien ein jugendlicher Diener und erwiderte auf ihre Frage, ob die gnädige Frau zu Hause sei, er glaube, sie sei in der Kirche. Ob er vielleicht die Karten hineinnehmen solle?

Sie hatten keine Karten bei sich und nannten ihren Namen, worauf der Diener ohne erst hineinzugehen, ihnen achselzuckend den Bescheid gab, daß die gnädige Frau vor zwölf Uhr nicht empfange. Sie möchten wiederkommen.

Die Schwestern wollten sich eben zurückziehen, als eine der in den Vorflur mündenden Türen aufging und die Frau Majorin selbst hinauslief: »Die Stimmen kenn' ich doch? Kommt nur herein, ihr Mädchen, für euch bin ich immer zu Hause.«

Sie traten ein und wären in dem finstern Raum fast über einen großen Haufen zusammengerollter Teppiche gestolpert, ehe sie die Tür erreichten, welche Frau von Goldacker geöffnet hielt. Ehe sie sich des versahen, bekamen sie jede einen Kuß versetzt, und dann wurden sie über die Schwelle gezogen. Erstaunt blickten sie um sich. So etwas hatten sie noch nicht gesehen. Sie glaubten sich in dem Lagerraum eines Antiquitätenhändlers zu befinden. Es war ein großes, saalähnliches Gemach, ungeheizt, die Luft dumpf und staubig. Von der Decke hingen zwei große Kirchenkronleuchter von ganz verschiedenem Stil so tief herab, daß ein Menschenkind von Kathis Größe schon nicht ungefährdet darunter durchgehen konnte. Der Erker, der aus der rechten Ecke des Saales vorsprang, wurde flankiert von zwei ohne Sockel auf dem Parkettfußboden stehenden Kirchenengeln, überlebensgroß aus Holz geschnitzt, mit Oelfarbe grell bemalt, aber vielfach geborsten und zerschunden. Diese Engel schienen als Vorhanghalter dienen zu sollen, aber die verschossene Rokokodrafterie, welche in ungeschicktem Faltenentwurf den Erker einrahmte, konnte augenscheinlich ebensogut ohne die hölzernen Vogelscheuchen auskommen, wie diese ohne sie. In dem Erker hingen zwei bunte Ampeln, welche zweifelsohne dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts und außerdem einem Dreimarkbasar entstammten. Verschiedene weitere schadhafte Posaunenengel baumelten ohne ersichtlichen Zweck an Stricken oder messingenen Ketten an verschiedenen Stellen im Erker und im Saale von der Decke herab. Einer derselben, der sich in höchst unanständiger Stellung hintenüberwarf, lag sogar über einer Vase mit verstaubten künstlichen Blumen, als sollte er ein Elfchen vorstellen, das sich auf den Blütenkelchen zur Ruhe gebettet hatte. Ein etwas sonderbares Motiv für einen so massiven Holzbengel. An den Wänden hingen, sich auf der nichtssagenden Tapete nicht eben vorteilhaft ausnehmend, etliche Ahnen derer von Goldacker und dazwischen einige nachtschwarze altitalienische Heiligenbilder, wie man sie in Rom oder Venedig auf dem Trödel zu erstehen pflegt. Altdeutsche Truhen, ein wirklich schöner, großer Schrein mit reicher Schnitzarbeit und eine Anzahl meist nicht sehr vertrauererweckend aussehender Stühle vervollständigten das wunderbare Tohuwabohu der Saloneinrichtung.

»Ja, nicht wahr, da staunt ihr!« rief die Majorin mit stolzem Lächeln. »Das habe ich aber auch alles selbst arrangiert. Diese dummen Tapezierer haben gar keinen Geschmack! Na, nu kommt nur hier herein, da ist es gemütlicher!«

Sie folgten ihr in ein schmales, einfenstriges Zimmer, in welchem es womöglich noch kunterbunter aussah als in dem Saal. Hier war alles Rokoko und Empire, und alle Möbel so echt, daß noch nicht einmal die Löcher in den Polsterbezügen gestopft und die vielen abgebrochenen Leisten, Schnörkel, ja sogar Füße und Beine an Tischen und Stühlen festgeleimt waren. Nahe dem Fenster stand ein geschweifter Schreibtisch mit hohem Aufsatz, von schöner eingelegter Arbeit in Elfenbein. Er war über und über bedeckt mit Papieren. Auf dem winzigen Raum, der zum Schreiben noch übrig blieb, lag ein angefangener Brief, welcher bewies, daß das Möbel benutzt wurde. Aber trotzdem stand es offenbar auf recht wackeligen Füßen. Ein zusammengeknülltes Papier und eine eingedrückte Streichholzschachtel waren unter das eine Bein geklemmt, um das Ding einigermaßen standhaft zu machen. Ueber diesem Schreibtisch hingen die Bildnisse des verewigten Majors und seiner Gattin in jugendlichen Jahren und über dem von Motten arg mitgenommenen steifen Sofa ein großer Gobelin mit ausgeblichenen Farben, dem ein bißchen Flickarbeit auch sehr notgetan hätte. Eine Kommode und ein kleiner Wandschrank waren mit Uhren, Vasen, Porzellanfiguren und anderen Nippes bedeckt.

Die Majorin forderte den Besuch sehr freundlich auf, Platz zu nehmen. Aber das war leichter gesagt als getan, denn die auch hier zahlreichen Stühle erweckten auf den ersten Anblick keine große Meinung von ihrer Solidität. Nach einigem Zögern hatten sich beide Mädchen gleichzeitig für das Sofa entschieden und setzten sich mutig darauf nieder. Aber sie hatten dies ehrwürdige Möbel offenbar überschätzt. Es wehrte sich mit einem entrüsteten Knacks gegen die süße Last.

»Ja, Kinder, was denkt ihr denn?« rief die Majorin ernsthaft, als sie die Schwestern erschrocken aufspringen sah. »Zwei von eurer kräftigen Rasse sind zuviel. Eine trägt es gut und gern! Bleiben Sie da sitzen, Kathi, und Sie, Lizzi, setzen sich hierher.« Sie holte einen flachgepolsterten sehr steifen Stuhl mit hoher Lehne herbei und schlug einladend mit der Hand auf den Sitz, so daß ihm eine ansehnliche Staubwolke entquoll. »Hier sitzen Sie ganz sicher, mein Herzchen, falls Sie nicht etwa die Absicht haben, sich damit hintenüberzulehnen und auf den Hinterbeinen zu schaukeln. Das kann er nicht vertragen. Dieser Stuhl hat im Palais der Gräfin Kosel gestanden. Sie wissen doch . . .«

»Nein, bitte, von der weiß ich nix«, antwortete Lizzi.

»Na, schad' nichts. Ich glaube, es war eine ziemlich leichtsinnige Person.«

Jetzt erst, nachdem sie ihre erste flüchtige Umschau in den merkwürdigen Räumen beendet hatten, fanden die Schwestern Muße, ihre Aufmerksamkeit der Eigentümerin all dieses kostbaren Plunders zuzuwenden. Gütiger Himmel! War das wirklich dieselbe Frau, die gestern als Josephine Beauharnais aller Augen geblendet hatte? Sie trug einen sehr alten Morgenrock von unbestimmter Farbe und ebenso unbestimmbarem Schnitt, mit einer etwas schmuddeligen Rüsche um den Hals. Auf diesem Morgenrock sowohl wie auf ihrer höchst primitiven Frisur hafteten zahlreiche kleine Federchen. Auch war der Puder, den sie gestern daraufgetan hatte, noch unvollkommen entfernt, so daß auch ihre Hautfarbe schwer zu bestimmen war. Ihr kleines, mageres Gesichtchen erschien rauh und rot, und an der Spitze der scharfen Nase schwebte gar ein Tröpfchen. Kein Wunder übrigens! Denn, obwohl die gute Dame versichert hatte, daß es hier gemütlicher sei, übertraf die Temperatur dieses Zimmerchens jene des Salons wohl nur um wenige Grade.

Die Majorin stellte jetzt einen Topf, den sie wohl die ganze Zeit über mit sich herumgetragen haben mußte, auf den Tisch, und die beiden Mädchen sahen mit Erstaunen aus diesem Topf, einem gesprungenen Bunzlauer mit weiter Oeffnung, die melancholische Physiognomie einer gekochten Karpfenschnauze emporragen.

Die Majorin bemerkte die Richtung ihrer Blicke und sagte, indem sie mit ihrem Zeigefinger der Karpfenschnauze einen Stups gab, so daß sie auf kurze Zeit unter den Rand des Gefäßes verschwand: »Das ist etwas sehr Gutes: Karpfen in Bier. Das hatten wir gestern zu Mittag. Es ist gerade noch ein Kopfstück übriggeblieben. Das will ich einem von meinen armen Kranken hinbringen, damit er doch auch merkt, daß Sonntag ist. Ich habe nämlich einige Arme, die ich mit Nahrungsmitteln und alten Kleidern unterstütze – natürlich nur gut empfohlene, christliche Leute. Wenn ihr euch an Werken der Barmherzigkeit beteiligen wollt, so will ich Pastor Werkmeister eure Adresse geben. Der weiß immer würdige Objekte nachzuweisen. Ihr werdet ihn gewiß auch gern mögen. Er hat so gute Manieren und gesellige Talente: er spielt das Harmonium und bläst die Flöte wirklich sehr nett. – Na, nu erzählt mir mal was! Euer Vater war ja wohl Schauspieler, nicht? Wißt ihr, Riemschneiders sagen immer nur so obenhin ›Künstler‹ – als ob Schauspieler durchaus was Schlimmes sein müßte. Ach, du liebe Zeit! Ich habe auch schon sehr ehrenhafte Schauspieler kennen gelernt – ich bin sogar mit einer der älteren Damen vom Schauspielhause sehr befreundet. Aber die Riemschneiders stecken ja voller Vorurteile. Habt ihr denn auch von eurem Vater das Talent geerbt? – Ach, das wäre reizend! Ich veranstalte nämlich mehrmals im Winter Kostümfeste mit kleinen Aufführungen und so was . . . Ach, da fällt mir ein: jetzt hab' ich ja zwei echte Münchnerinnen erwischt, da will ich doch schleunigst meine großartige Idee zur Ausführung bringen. Denkt euch: eine Kirchweih im Gebirge, bei der die Damen, als ländliche Kellnerinnen gekleidet, die Herren bedienen. Eine famose Idee, wie? Ihr sollt mal sehen, da sagt kein einziger Leutnant ab.«

»Jee, dees is wahr! Dees wär nett!« unterbrach endlich Lizzi begeistert den Redefluß der Majorin.

Aber Kathi beeilte sich etwas bedächtiger einzuwerfen: »Ja, nett wär's schon, aber i mein, dees wird doch net recht angehn – wegen der Trauer wissen S'.«

»Ach ja, richtig«, rief die Majorin lebhaft und gab der Karpfenschnauze, die sich inzwischen vermöge der Elastizität ihrer fleischigen Fortsetzung wieder über den Rand des Topfes gearbeitet hatte, einen abermaligen Stups. »Das hatt' ich ja ganz vergessen. Was machen wir denn da? Ich kann doch meine Feste nicht ohne euch geben; denn so hübsche Mädel, wie ihr seid, laufen mir nicht alle Tage ins Haus. Wißt ihr was, ich lade ja doch nur lauter Leute ein, die ihr nicht kennt und die euch nicht kennen. Es braucht's ja keiner zu erfahren! Eure selige Mutter wird's euch gewiß nicht krumm nehmen, wenn ihr lustig seid, so lang ihr jung seid. Ich kann ja auch der Sicherheit halber mal mit Pastor Werkmeister über den Fall sprechen. Der wird gewiß einen guten Rat haben – er ist die rechte Hand von Stöcker, wißt ihr. Nein, und dann mein Bubi, der wäre ja geradezu untröstlich, wenn er nicht mit euch tanzen könnte! Eure Trauer wird für den betreffenden Tag aufgehoben, und wenn ich bis ans Konsistorium gehen sollte! Oder seid ihr vielleicht katholisch? Dann telegraphiere ich an den Papst. Basta! Als eure Verwandte fühle ich die heilige Pflicht, euch süßen Dinger gehörig herauszustellen. Bei den langweiligen Riemschneiders verstaubt ihr mir ja ganz. Zu nette Tierchen seid ihr!«

Und mit diesem Ausruf sprang sie vom Stuhl auf, warf erst Lizzi, dann Kathi ihre mageren Arme heftig um den Nacken und küßte sie beide begeistert auf den Mund, wobei Lizzi sich eines leichten Schauders nicht erwehren konnte, denn sie fühlte, wie das Frosttröpfchen von der Nase der Majorin auf ihre Wange überging.

Ohne jedoch abzuwarten, ob die jungen Damen sich für diese feurige Anerkennung ihrer Reize zu bedanken oder sonstwie zu äußern beabsichtigten, nahm sie alsbald mit immer gleicher Zungenfertigkeit eine neues Thema auf.

»Ach Gott, ja! Was mir einfällt. Ihr habt ja meinen Bubi noch gar nicht gesehen! Der wird Augen machen! Ihr glaubt gar nicht, was das für ein Strick ist und was er für ein Tendre hat für hübsche junge Mädchen! Gerade wie sein seliger Vater, wißt ihr.« Dann lief sie nach der Tür, die in die rückwärtigen Gemächer führte und rief hinaus: »Rudi – Bubi!!«

Da keine Antwort erfolgte, drückte sie auf den Klingelknopf, wohl eine halbe Minute lang und befahl dem ob dieses aufregenden Läutens mit verstörtem Antlitz herbeieilenden Diener, den jungen Herrn sofort zur Stelle zu bringen.

»Verzeihen, gnädige Frau, der junge Herr sind auf dem Boden und probieren Kostüme an.«

»Schadt nichts! Soll kommen wie er ist!« gab die gnädige Frau energisch Bescheid, um dann zu den Mädchen gewendet, ohne jegliche Atempause weiterzuschwatzen: »Der Rudi ist nämlich ein süßer Bengel. Ihr werdet ja gleich selbst sehen. So entwickelt für seine Jahre! Und daß er so viel Schönheitssinn hat, das ist wirklich eine wahre Gottesgabe! Er soll ganz jung heiraten, damit er gar nicht erst Zeit gewinnt, auf Abwege zu geraten, wißt ihr. Und dann, wenn ich den Rudi erst glücklich unter der Haube habe, dann heirate ich selber wieder – ich sehe gar nicht ein, warum nicht, nicht wahr? Ich bin ja erst siebenunddreißig Jahre alt. Und wenn ich hübsch angezogen bin, kann ich sogar noch jünger aussehen, nicht wahr? Man ist immer so alt, wie man aussieht. Aber das nächstemal möcht' ich lieber einen Maler haben. Der Major war ein guter Mann. Wir haben zwölf Jahre recht glücklich miteinander gelebt; aber er hatte keinen Sinn für meine Sammlungen – aber auch absolut gar keinen, sag ich euch! Das war der einzige Punkt, über den wir uns manchmal zankten. Er sagte immer, er wolle keinen Mühlendamm in seinem Hause haben. Der Mühlendamm ist nämlich, wenn ihr's nicht wißt, hier der Ort, wo alle Trödeljuden beisammen wohnen. Eigentlich beleidigend, nicht wahr? Aber sonst war er doch ein sehr guter Mann.«

Sie warf eine Kußhand nach dem Porträt hinauf und fuhr fort: »Diesmal müßt es schon ein Mann von Geschmack sein – schon meiner Kostümfeste wegen. Vermögen braucht er nicht zu haben – das habe ich. Und sogar noch genug, um meinen Rudi standesgemäß zu versorgen. Wenn ich keinen Maler kriegen kann, nehm' ich auch einen Pastor – wenn er Sinn für Antiquitäten hat! Ich habe einen sehr sanften, nachgiebigen Charakter, wißt ihr. Lebenslustig bin ich auch. Und körperlich fehlt mir gar nichts. Ich bin so abgehärtet – was Schnupfen ist, weiß ich gar nicht.«

Wie um diese letztere Behauptung zu bekräftigen, fuhr sie sich in diesem Augenblick mit dem Schnupftuch nach der Nase und beseitigte dadurch gerade rechtzeitig eine neue tropfenförmige Feuchtigkeitsansammlung.

Jetzt wurde im Nebenzimmer ein schlurfender Schritt hörbar, und die Majorin eilte auf die Tür zu und riß sie weit auf.

»Endlich!« rief sie laut. »Da habt ihr meinen Bubi!« Und, ihr mageres Gesichtchen von edlem mütterlichen Stolz verklärt, zog sie ihren Einzigen über die Schwelle herein.

Die Erscheinung dieses Jünglings übertraf die kühnsten Erwartungen der Schwestern. Kathi fuhr vom Sofa auf und starrte mit offenem Munde den Märchenprinzen an, während die respektlose Lizzi kaum schnell genug ihr Taschentuch zur Nase führen konnte, um ihr Lachen zu verbergen.

Der Bubi erwies sich als ein junger Mensch von etwa siebzehn, achtzehn Jahren. Seine Füße steckten in einem Paar grüner Samtpantoffeln, seine dünnen, langen Beine in ockergelben Trikots, die vom Knie an in Ermangelung jeglicher Waden betrübte Falten warfen. Um seinen schmalen Oberkörper schlotterte ein weites Wams von braunem gepreßten Samt mit geschlitzten Aermeln, welches um die Taille von einem gleichfalls viel zu weiten Ledergürtel lose zusammengehalten wurde, von dem eine lederne Tasche und ein Dolch herabhingen. Auf dem spitzen, schmalen Kopfe trug er ein umfangreiches rotes Barett, von dem eine grüne und eine weiße Straußfeder über die linke Schulter herabwallte. Das blasse Gesicht war dem der Mutter sehr ähnlich und bewies seine Männlichkeit vorläufig nur durch die jenem Alter eigentümlichen Wimmerln und Finnen.

»Da, meine jungen Damen, habt ihr einen Edelknaben, der bereit ist, eurer Schönheit zu huldigen«, rief die Majorin. »Ganz reizend steht dir das, mein Rudi. Nur ein bißchen zu weit ist dir's noch. Hier sind die schönen Münchnerinnen, von denen ich dir schon erzählt habe. Geh, mach dein Kompliment.«

Der schlottrige Edelknabe legte die Hand aufs Herz, verbeugte sich artig vor den beiden jungen Mädchen und sagte, liebenswürdig grinsend: »Mama hat nicht übertrieben.«

Da klatschte die glückliche Mutter in die Hände und rief begeistert: »Na, was habe ich gesagt: ist er nicht nett?!«

Jetzt konnten weder Lizzi noch Kathi mehr an sich halten. Sie platzten beide mit lustigem Gelächter heraus. Mutter und Sohn schienen sich aber dadurch eher geschmeichelt als gekränkt zu fühlen, und für die jungen Damen, die jetzt schon ein halbe Stunde gesessen, ohne zu Worte zu kommen, war es wenigstens eine heilsame Lungenmotion. Sie merkten, daß sie bei diesen Leutchen, so verdreht sie auch erscheinen mochten, doch wenigstens reden durften, wie ihnen der Schnabel gewachsen war, und das brachte sie ihnen in einer Stunde näher, als sie ihrem bedeutenden Onkel und der strengen Tante in acht Tagen gekommen waren.

Die gute Majorin zeigte ihnen von ihren Schätzen an alten Schmucksachen, seidenen Brusttüchlein, gestickten Häubchen und dergleichen so viel sie unten im Zimmer zur Hand hatte, und fand kein Ende in der Beschreibung der reichen Kostümschätze, die an acht langen Riegelgalerien auf dem Boden aufgespeichert waren. Der minnige, finnige Jüngling beschäftigte sich inzwischen damit, die hübschen, großen Mädchen abwechselnd verliebt anzuschauen und zur Probe mit allerlei buntem Kram zu schmücken. Für einen Sekundaner, der er war, betrug er sich wirklich sehr frei und gewandt.

Im Laufe des lebhaften Hin und Hers der Unterhaltung fragte Kathi die Majorin, wer denn die Dame sei, die ihr das gefährliche Wort »Erbschleicherinnen« eingeblasen habe?

»Ach, das war die Eveline Rohr,« versetzte Frau von Goldacker, »die Tochter des verstorbenen Superintendenten. Ein gräßliches Frauenzimmer! Sie doziert hier Kunstgeschichte an verschiedenen Dameninstituten. Die wollte euch bloß was anhängen, weil die Lizzi die ganze Nacht mit den Füßen auf ihr 'rumgetrampelt hätte. Geschieht ihr ganz recht. Alte, eklige, spinöse Jungfer! Laßt euch darum keine grauen Haare wachsen.«

»Ja, aber d'Tante Ida hat schön g'spitzt, wie s' dees gestern g'hört hat«, sagte Kathi, die Stirn' in sorgenvolle Falten legend. »Jetzt traut 's uns erst recht nix Gut's mehr zu.«

»Ach Gott, ihr armen Kinder!« rief die Majorin. »Da hab' ich wohl recht was Dummes angerichtet? Uebrigens, da fällt mir was ein: laßt euch vor dem Herrn Vogel warnen. Der ist gewiß auf die Nachricht von eurer Ankunft gleich hergekommen, um zu sehen, was ihr für Menschenkinder seid, und ob ihr ihm nicht etwa gefährlich werden könntet. Denn der spekuliert selbst auf die fette Erbschaft. Das väterliche Geschäft hat er durch seine Dummheit beinahe ruiniert, und seine Versuche, sich durch eine reiche Heirat wieder aufzuhelfen, sind alle fehlgeschlagen. Dreimal hat er sich schon auf eigene Faust verlobt, aber dann hat's seine Schwester immer wieder rückgängig gemacht, weil ihr keine reich und fein genug für den kostbaren Emmerich war. Sie hat auch schon mehrmals Partien für ihn vermitteln wollen, aber da haben immer die Damen gedankt, wenn sie ihn kennen lernten. Wenn der etwa merkt, daß ihr bei dem Onkel einen Stein im Brett habt, dann könnt ihr euch nur in acht nehmen. An eurer Stelle würde ich mich jetzt erst recht aufs Erbschleichen verlegen. Euer Onkel ist sehr zugänglich für Schmeichelei, und ins Herz der Tante führt am Ende auch ein Weg – via Joli nämlich.«

»O mei, da is g'fehlt!« kicherte Lizzi. »Dees Dreckerl hat mi schon durchschaut. Da gibt's nix mehr!«

In diesem Augenblick hub eine altertümliche Pendüle, auf der unten der Tod mit Sense und Stundenglas und oben ein Genius mit der Fackel in Bronze angebracht war, zum Schlagen aus.

»Jesses, schon halb zwölf!« rief Lizzi. »O mei, wie die Zeit vergeht! Da müss'n mer mach'n, daß mer weiterkommen.« Und mit merkwürdiger Unruhe drängte sie zum Aufbruch, tat rasch die Sachen von sich, mit denen Rudi sie geschmückt hatte, zog hastig ihren Mantel an und trieb auch die ganz verwundert dreinschauende Kathi unter lebhaften Augenzwinkern zur Eile an. –

»Je, was hast denn nur, Lizzi?« fragte Kathi, als sie fünf Minuten später wieder auf der Straße standen. »Wir haben doch nix zu versäumen?«

»Weißt, die Luft war so schlecht da drin«, erwiderte Lizzi seltsam verlegen, ohne die Schwester anzusehen. »Komm, geh'n mer noch a bissel spaziern im Tiergarten. Mir sin schon lang nimmer richtig g'laufen.« Und damit schob sie ihren Arm unter den der Schwester und zog sie, weit ausschreitend, mit sich fort.

Als sie in der Tiergartenstraße angekommen waren, machte Lizzi unschlüssig Halt, und dann fragte sie ein vorübergehendes Dienstmädchen um den Weg nach dem großen Stern. Dann beschleunigte sie, die bezeichnete Richtung einschlagend, das Tempo noch mehr.

Kathi vermochte kaum mit ihr Schritt zu halten. Nach wenigen Minuten schon blieb sie ganz außer Atem stehen und keuchte: »I glaub', du bist narrisch, Mädel. Was is denn dees für a Vergnügen, bei dem Wetter umanander z'rennen wie b'sessen!?«

Lizzi blieb stehen und drückte ihre Hand aufs Herz. »U je, i bin so aufg'regt!« sagte sie leise. »Ich bitt' dich, Katherl, schau amal auf dei' Uhr.«

»Ja, was hast denn? Fünf Minuten auf zwölfe is.«

»Fünf Minuten auf zwölfe?!« rief Lizzi und griff sich mit beiden Händen an den Kopf.

Es war jetzt ganz einsam um sie her. Der Schnee wirbelte in immer dichteren Flocken herunter, und so oft ein Windstoß durch das entlaubte Gezweig fuhr, schüttelte er nasse, kalte Schauer auf den durchweichten Weg herab. Die Sonne war nur noch als blasser, fahlgelber Fleck hinter dem dichten Nebelschleier zu erkennen. Lizzi setzte sich langsam wieder in Bewegung und schritt voraus, ohne sich nach Kathi umzusehen. Aber schon nach wenigen Sekunden blieb sie stehen, lauschte mit der Hand am Ohr hinaus und sagte, als Kathi sie einholte: »Du, i mein', i hätt's zwölfe schlagen hör'n.« Sie war ganz blaß geworden, und ihre Brust wogte heftig auf und nieder.

Da packte Kathi die Schwester bei beiden Armen und schüttelte sie. »Geh, du dummes Ding, du. Glei sagst, was d' hast.«

Und Lizzi fiel ihr um den Hals, schmiegte sich an sie und flüsterte ihr ins Ohr: »Naa, i trau mi net. I möcht' heim. I hab' nasse Füß!«

Und auf dem ganzen Heimweg bekam Kathi kein Wort mehr aus ihr heraus.


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