Ernst von Wolzogen
Die Erbschleicherinnen. Band 1
Ernst von Wolzogen

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Sechstes Kapitel.

[In welchem der Geheimrat einen höchst lobenswerten Entschluß faßt, und die Lizzi sich bewogen fühlt, rote Strümpfe anzuziehen.]

Als die beiden großen jungen Damen eine halbe Stunde später bei Geheimrats die Klingel zogen, war ihnen doch ein wenig so zumute wie ein paar ungezogenen Schulmädeln, die mit einem bösen Gewissen heimkommen. Die Minna öffnete ihnen die Tür und setzte eine äußerst wichtige und geheimnisvolle Miene auf. Ohne dazu aufgefordert zu werden, folgte sie doch den beiden Schwestern bis in ihr Schlafzimmer nach und sagte, die Augen weit aufreißend: »Sie, Freilein, da muß wat passiert sind. Un von Sie war ooch die Rede. Det hab' ick deitlich jeheert.«

Die Schwestern sahen einander an und zuckten die Schultern. Sie waren viel zu gut erzogen und vornehm denkend, um gern auf Dienstbotenklatsch zu hören; aber in diesem Falle war doch die Neugier zu stark, und Lizzi konnte sich nicht enthalten, wenn auch möglichst gleichgültigen Tones zu fragen: »So, so, Sie horchen also an die Türen?«

»I Jott bewahre!« lachte Minna verächtlich auf. »Direkt jehorcht hab' ich ja nich 'nmal. Wissen Se, es war heite allens 'n bisken späte jeworden, vonwejen, weil ick mir verschlafen hatte, und da kam ick erst um elfen dazu, in Salon reene zu machen. Un die saßen derweile drinne in Herrn Geheimrat seine Stube un hörten mir ja nich.«

»Wer denn?« warf Lizzi ein.

»Na, der Olle un die Jnädige mitsamst ihren scheuen Bruder. Ick habe doch Watte in die Ohren vonwejen mein Zahnreißen, aber det hätte 'n Tauber heern missen, so 'n Radau, wie die jemacht haben! Die beeden, der Herr Vogel un unse Jnädige, die konnten ja nich 'mal abwarten, bis eener fertig war. Da red'te immer eener mang den andern mang wie in de Judenschule, daß der Herr Jeheimrat jar nich jejen ankonnte. Aber am Ende wurd' er doch unjemietlich. Da hab' ick wat jehört von wejen seine leiblichen Nichten, un daß die ihm doch näherständen als schutzlose Waisen, wie seiner Frau ihre Verwandte, die de alt jenuch wären, um daß se alleene für sich sorgen könnten. Un denn hat die Frau Jeheimrätin anjefangen zu weenen – na wissen Se, wenn so eene erst zu weenen anfängt, da kennen Se sich denken! Der Herr Jeheimrat, der hatte sich uff't Soffa jeschmissen, dat et man so bumste. Un was der Herr Vogel is, der zog nu ooch sanfte Saiten uff. Verstehn konnt' ick ja nischt mehr – die blieben in ei'm Jesumse und Jestehne. Na, un denn hab ick mir rasch dinne machen missen, wie ick se uff die Tire zukommen heerte. Die Jnädige is mit 'n Herrn Vogel un mit 'n Joli fort. Un der Herr Jeheimrat liegt immer noch uf sein Soffa, jloob ick.«

Da die Schwestern sich auf diese interessanten Mitteilungen nicht weiter äußerten, so zog die Minna bald ab, unzufrieden vor sich hinbrummend. Sobald sie aber hinaus war, sagte die Kathi in drollig-traurigem Tone: »Ach, mir armen Hascherln! Jetzt dürf'n mir uns aber gratulier'n.«

»Was meinst denn, was g'wes'n is?« fragte Lizzi.

»Na, der Onkel hat halt aufbegehrt geg'n sei Frau, wie s' ihm wieder a Geld abdruck'n woll'n hat für ihr'n Bruder. No, mir wern's schon an die Folgen g'spürn, ob er was von uns g'sagt hat.«

Lizzi nickte nachdenklich. Und dann fuhr sie plötzlich heraus: »Geh m'r nei, frag'n m'r doch 'n Onkel selber. Wer weiß, wann m'rs wieder so gut treff'n, daß m'r alleinig mit ihm z'Haus sin.«

Und mit sanfter Gewalt zog sie die zaghaft widerstrebende Schwester mit sich fort. Aber weiter als bis in den Salon brachte Lizzi sie nicht. Uebrigens wurde die nun auch selbst bedenklich. Sie hatte ihren ganzen Schneid für heute schon verbraucht, und zumal, da sie vor ihrem ersten Stelldichein so schmählich Reißaus genommen, fühlte sie sich nicht mehr auf der Höhe ihrer Tatkraft. Sie schlich auf den Zehen über den dicken Teppich nach der Tür des Studierzimmers und horchte. Und wie da drinnen kein Laut zu vernehmen war, kehrte sie zur Schwester zurück und sagte: »Weißt was, mir wissen von nix und tun, als ob gar nix vorg'fall'n wär'.«

Sie tuschelten noch eine Weile leise miteinander, und dann öffneten sie das Klavier und begannen mit halber Stimme zu singen. Nach was Lustigem war's ihnen nicht zumut. Lizzi hub an:

»I hab' a kloans Hügerl so hübsch in der Näh',
Und auf dem kloan Hügerl steht a Kreuzerl in d' Höh.
Und unta dem Hügerl, da liegt ebbas hint,
Was i auf der ganzen Welt ja nirgends mehr find' –
Was i auf der ganzen Welt ja nirgends mehr find'.«

Bei der Wiederholung des letzten Verses versagte ihr plötzlich die Stimme. Sie drückte ihre rechte Hand auf die Augen und sank leise aufschluchzend in den nächsten Sessel. Kathi verstand sie. Sie erhob sich rasch, kniete neben ihr nieder und legte den Kopf an ihre Brust. Die Erinnerung an ihre tote Mutter war zu stark und plötzlich über sie gekommen. Sie hielten einander weinend umschlungen und vergaßen alles rings um sich her.

Da tat sich leise die Tür auf, und die hohe, vornübergeneigte Gestalt des Geheimrats erschien auf der Schwelle. Langsam schritt er auf die Nichten zu und legte ihnen seine Hände auf die Köpfe, ohne zu sprechen. Die Mädchen blickten auf und trockneten rasch ihre Tränen. Dann erhoben sie sich und reichten dem Onkel stumm die Hand. Sie hatten ihm ja heute noch gar nicht »Guten Morgen« gewünscht.

Der Geheimrat lächelte matt. »Nun, nun, meine lieben Kinder, was habt ihr denn? Ich wollte mich eben an eurem Gesang erfreuen. Aber mir scheint, ihr seid nicht recht in der Stimmung. Wollt ihr mir nicht sagen, was euch so traurig macht?«

Kathi blickte mit immer noch zuckenden Lippen zu ihm auf. Sie sah in ein bleiches, verhärmtes Gesicht. Viel tiefer und schlaffer als sonst erschienen heute die langen Falten, und ein paar Strähnen des dünnen grauen Haares, das immer so sorgfältig gekämmt und gescheitelt war, hingen gar wild in die hohe Stirn hinein. Sie trat erschrocken einen Schritt zurück und rief: »Aber naa, wie schaust denn du aus, Onkel? Bist am Ende krank?«

Der Geheimrat strich sich über die Stirn: »So, sehe ich schlecht aus? Hmnja, das ist wohl möglich. Ich habe die Nacht schlecht geschlafen. Mein Magen, wißt ihr, der macht mir immer zu tun nach solchen späten Tafelrunden, hehe, – und dann habe ich auch . . .«

Er unterbrach sich, sah sich scheu um und blickte auch durch die noch offenstehende Tür in sein Zimmer hinein. Dann wandte er sich von der Schwelle aus wieder an die Mädchen: »Meine Frau ist noch nicht wieder zurück, nicht wahr?« Und als sie verneinten, winkte er ihnen, ihm in sein Zimmer zu folgen. »Wollt ihr mir nicht ein wenig Gesellschaft leisten? Mir scheint, hier im Salon ist noch gar nicht geheizt, oder irre ich mich? Meine Frau kommt mit so wenig Wärme aus; ich brauche immer sechzehn Grad, wenn ich mich behaglich fühlen will.«

Er ließ die Schwestern an sich vorbei und drückte die Tür hinter ihnen ins Schloß. Dann klappte er die langen Schöße seines schwarzen Rockes auseinander und lehnte sich fröstelnd an den warmen Ofen. Er forderte die Nichten auf, sich auf seinen Diwan zu setzen, und dann begann er nach mehrfachem Räuspern: »Ich höre, ihr habt heute meiner Cousine, der Frau von Goldacker, euren Besuch gemacht. Mein Schwager hat es erzählt – nein, nein – ich habe durchaus nichts dagegen einzuwenden, daß ihr bei ihr verkehrt. Sie hat ja ihre Eigenheiten, das ist wahr. Man lacht viel über sie in der Gesellschaft – aber sie ist im Grunde ihres Herzens eine gute Frau. Sie sieht so gern junge Leute um sich, und wenn es euch Freude macht, an ihren Festlichkeiten teilzunehmen, so will ich euch durchaus nicht daran hindern. Mein Gott, ich weiß ja, daß für junge, lebenslustige Mädchen in meinem Hause nicht viel . . .« Er stockte, seufzte tief auf und begann seine Fingernägel zu besehen.

Da die Mädchen nichts zu sagen wußten, entstand eine ziemlich lange Pause. Dem Geheimrat lag offenbar etwas ganz anderes am Herzen. Er wußte nur nicht recht, wie er es herausbringen sollte. Er blickte bald die Lizzi, bald die Kathi scheu über die Brille hinweg an und trommelte mit seinen Fingernägeln rückwärts gegen den weißen Kachelofen. Da schlug die große Regulatoruhr mit tiefem, volltönendem Summen eins. Der Geheimrat fuhr wie erschreckt zusammen und machte einige große Schritte ins Zimmer hinein. Dann reckte er sich auf und zupfte mit einigen kurzen Rucken seinen Rock zurecht. Er schien endlich einen Entschluß gefaßt zu haben, setzte sich zwischen die beiden Mädchen auf den Diwan, ergriff Kathis Hand und begann endlich stockend: »Ich habe euch etwas zu sagen, meine lieben Kinder, und da wollte ich die Gelegenheit ergreifen, da wir gerade einmal allein sind . . . Ich habe ja sonst natürlich keine Geheimnisse vor meiner Frau; aber in diesem besonderen Falle . . . das heißt, ich muß mich darauf verlassen können, daß ihr niemand ein Wort davon sagt. Auch nicht etwa an eure Freundinnen in München etwas davon schreibt. Wollt ihr mir versprechen . . .?«

»Aber gewiß, Onkel, mir werd'n ganz g'wiß nix sag'n«, beeiferten sich die beiden Mädchen eine um die andere zu versichern und zu beteuern, denn sie waren natürlich außerordentlich begierig, des Oheims Geheimnis zu erfahren.

Er drückte mit der leicht zitternden Rechten ihre Hände, sah sie beide noch einmal ernsthaft prüfend an, und dann holte er aus seiner Brusttasche einen Brief hervor und sagte: »Seht, hier habe ich einen Brief geschrieben, jetzt eben – an den Justizrat Kugler, worin ich ihm mitteile, daß ich ihn morgen vormittag besuchen würde, um – nämlich, um mein Testament zu machen.«

Er räusperte sich und reckte mit einem wunderlichen Lächeln sein Haupt aus dem Kragen heraus und sah dabei die Nichten so gewissermaßen herausfordernd von der Seite an, so daß sie sich bewogen fühlten, ihrem Erstaunen in kurzen, zaghaft abgebrochenen Sätzchen Ausdruck zu geben.

Der Professor strich der Kathi über den Scheitel und klopfte der Lizzi beruhigend auf die Hand, indem er sich bemühte, unbefangen dreinzuschauen.

»Na, lieben Kinder, es ist nicht etwa, weil ich an das Sterben dächte . . ., das heißt, in meinem Alter muß man ja überhaupt das Ende immer vor Augen haben, und meine Gesundheit läßt ja manches zu wünschen übrig – trotzdem hoffe ich zu Gott, daß wir uns noch einige Jahre des Lebens miteinander erfreuen dürfen. Was diesen plötzlichen Entschluß in mir gereift hat . . . es war ja vielleicht nur ein übermütiges Scherzwort der Frau von Goldacker – sie ist manchmal etwas – wie soll ich sagen – unbesonnen in ihren Ausdrücken – also wie gesagt, meine liebe Frau kann sich gar nicht darüber beruhigen, daß die Majorin euch Erbschleicherinnen genannt hat. Es war ja entschieden unpassend, in großer Gesellschaft dergleichen zu äußern, aber es liegt mir selbstverständlich fern, euch deswegen irgendwelche unlautere Absichten zuzutrauen. Ich habe im Gegenteil daraus Anlaß genommen, über eure Lage und meine Pflicht euch gegenüber nachzudenken. Da bin ich denn zu dem Entschluß gekommen, ein neues Testament zu errichten, das euch für alle Fälle sicherstellt.«

Die Mädchen machten eine Bewegung, als ob sie ihm dankbar die Hände küssen wollten, doch er wehrte sie leutselig lächelnd ab und beeilte sich fortzufahren: »Es existiert nämlich ein letzter Wille aus dem Jahre dreiundachtzig. Ich hatte damals bereits die Hoffnung aufgegeben, daß der Himmel meine Ehe mit Kindern segnen würde, und mich deshalb veranlaßt gesehen, die Brüder meiner Frau in erster Linie zu bedenken. Mein Schwiegervater war ein reicher Mann, wie ihr vielleicht gehört habt. Ihm verdanke ich also zunächst die sichere Basis meiner materiellen Verhältnisse. Nach seinem Tode übernahm dann sein ältester Sohn Emmerich das Geschäft, während der jüngere, Adalbert, sich zum Künstler berufen fühlte.«

»Von dem hab'n m'r ja noch nie was g'hört!« platzte Lizzi heraus.

»So, in der Tat?« rief der Professor mit einem etwas verlegenen Gesichtsausdruck. »Hmnja, das ist nämlich . . . meine liebe Frau spricht allerdings zu Fremden nicht gerade häufig von diesem Bruder. Er hält sich in Düsseldorf als Maler auf, aber ich muß gestehen, ich habe selbst noch nie ein Bild von ihm gesehen. Er hat zu seiner Ausbildung zwar die halbe Welt bereist, aber es scheint ihm an der rechten Energie zu fehlen, um seinen Ideen Ausdruck zu geben. Seine Familie hat ihn ja immer für ein bedeutendes Talent gehalten – ich kann, wie gesagt, nicht darüber urteilen. Jedenfalls hat er das väterliche Vermögen durch seine künstlerische Tätigkeit keineswegs vermehrt. Und außerdem durch eine unkluge Heirat . . . er hat zwei Kinder, von denen das eine das Unglück hat blödsinnig und das andere verwachsen zu sein. Das ist ja nun sehr traurig, und ich habe ihnen ja auch meine Hilfe nicht vorenthalten. Dem älteren Bruder, den ihr ja kennt, ist es auch nicht geglückt, durch seine geschäftlichen Unternehmungen das Ansehen der alten Firma zu heben oder auch nur auf der Höhe zu erhalten, während es mir durch Gottes Güte und die Gunst der Verhältnisse gelungen ist, das Meinige zu vermehren. Ich habe mich daher auch der Pflicht nicht entzogen, meine Schwäger nach Kräften zu unterstützen, obschon sie ihre Lage wohl zum größten Teile selbst verschuldet haben. In diesem Sinne habe ich denn auch mein erstes Testament errichtet. Aber schließlich – sunt certi denique fines, wie der Lateiner sagt – es hat alles seine gewissen Grenzen.«

Er lachte nervös auf und strich sich mit den schmalen zitternden Fingern mehrmals über die Stirn, welche ein feinperliger Schweiß bedeckte. Die Schwestern saßen da und wußten nichts zu sagen, sondern blickten nur mit großen Augen erwartungsvoll zu ihm auf. Er zog ihre Arme unter die seinen und fuhr fort: »Seit ich die Freude habe, euch bei mir zu sehen, ist es mir klargeworden, daß ihr mir als Kinder meiner Schwester und gänzlich mittellos dastehende Waisen denn doch nähersteht als die Angehörigen meiner Frau, die sich gegen mich . . .«

Er brach ab und verstummte für eine ganze Weile. Dann ließ er die Arme der Nichten los, erhob sich mit einem Seufzer von seinem Sitz und stellte sich wieder an den warmen Ofen.

Endlich nahm er den Faden seiner Rede wieder auf. Aber das Sprechen schien ihm schwerer zu werden, und seine Finger machten sich nervös zu tun, während er also fortfuhr: »Ich will nicht, daß das Odium auf euch sitzen bleiben soll, das dem Worte Erbschleicherinnen anhaftet; darum habe ich mich entschlossen, freiwillig und beizeiten dieses Testament zu euren Gunsten zu errichten. Erwartet keine große Erbschaft, denn mein Vermögen ist durch die Inanspruchnahme der Familie Vogel schon beträchtlich zusammengeschrumpft. Und außerdem versteht es sich, daß ich vor allen Dingen eurer Tante ein sorgenfreies Alter sichern muß. Sie ist mir immer eine treue, aufopfernde, ich darf wohl sagen, musterhafte Gattin gewesen. Wenn sie für ihre Brüder so lebhaft eintritt, auch wenn sie es vielleicht nicht verdienen, so ist das ja nur erklärlich und sogar rühmlich. Ich möchte auch euch, meine lieben Mädchen, bitten, nicht vorschnell sie etwa der Härte oder der Ungerechtigkeit zu zeihen, wenn sie, wie beispielsweise gestern abend . . . sie kann allerdings manchmal etwas heftig werden, aber . . .«

In diesem Augenblick schlug der Regulator die halbe Stunde an. Der Geheimrat hielt erschrocken inne, blickte auf die Uhr und sagte hastig: »Mein Himmel, schon halb zwei. Meine Frau kann jeden Augenblick zurückkommen, und ich möchte doch nicht, daß sie . . . Ach, liebe Elisabeth, du bist ja die Flinkste. Dir will ich diesen Brief anvertrauen. Stecke ihn schnell in den nächsten Kasten. Aber gib ja acht, daß meine Frau dich nicht dabei trifft. Ich möchte nicht . . . hmnja, spute dich, mein Kind!«

Damit übergab er Lizzi den Brief und drängte sie hastig nach der Tür. Sobald sie hinaus war, sank er matt und an Gliedern wie im Fieber zitternd auf den Diwan nieder und stöhnte: »Ich weiß nicht – mir ist so – ich fühle mich heute gar nicht recht . . . Ach, diese Aufregungen! – Bleib du bei mir, mein Kind. Laß du mich nicht allein mit dem Schwager Emmerich und – mit ihr!«

Und der große breitschultrige Mann neigte sich matt gegen das Mädchen und ließ den Kopf auf seinen Busen sinken. Und Kathi drückte ihn an sich, streichelte ihm über die grauen Locken und redete ihm tröstend zu, wie eine Mutter dem erwachsenen Kinde.

Unterdes war Lizzi schon die Treppe hinuntergesprungen. Sie hatte sich gar nicht die Zeit genommen, einen Hut aufzusetzen oder gar einen Mantel anzuziehen, sondern einfach ein altes Umschlagetuch der Tante, das zufällig im Vorflur auf einem Stuhle lag, ergriffen und eiligst um Kopf und Schulter geworfen. Niemand begegnete ihr auf der Treppe, und auch auf der Straße, die sie vorsichtig hinauf und hinab spähte, konnte sie die Tante nicht gewahr werden. Unangenehm war's nur, daß dieser langweilige Portier immer und ewig an seinem Guckfenster saß und jeden, der aus und ein ging, kontrollierte. Er hatte ihrem sonderbaren Aufzug recht verwundert nachgeschaut.

»A rechter z'widerer Mensch«, brummelte Lizzi halblaut vor sich hin, während sie durch den wirbelnden Schnee dem Briefkasten an der Ecke der Genthiner Straße zuschritt. »Gar net amal a bissel durchbrenna kann m'r da, wenn m'r möcht'.«

Sie hatte vorhin beim Nachhausekommen die Stiefeln aus- und dünne Halbschuhe angezogen. Mit denen lief sie nun leichtsinnig durch den nassen Matsch auf dem Trottoir. Sie ward es jetzt erst gewahr, wie übel beschuht sie war. Und sie raffte den Saum ihres Kleides hoch und stelzte auf den Zehen vorwärts.

So, da war der Briefkasten. Aber da war auch – Lizzi fuhr der Schreck ordentlich in die Knie, und beinahe wäre sie, ohne ihren Brief abzuwerfen, umgedreht und im Laufschritt heimgerannt. Es war aber schon zu spät. Mit großen Schritten kam er von der andern Seite der Genthiner Straße über den Fahrdamm herübergesetzt, daß der Schmutz nur so aufspritzte – er, der edle Gregor Krajesovich von Nemes-Pann. Da stand er schon vor ihr, und sie streckte die Linke, in der sie den Brief noch hielt, furchtsam abwehrend gegen ihn aus, und die fünf Finger ihrer Rechten krampften sich, einen Halt suchend, in die Röcke ein. Ihr frisches Gesicht glühte lieblich verschämt unter der Umrahmung des alten Umschlagtuchs hervor, auf dem der Schnee noch haftete wie ein leichter, weißer Schleier. Drollig-ängstlich hatte sie die Augen zu ihm aufgeschlagen, und große Tautropfen zitterten an den Spitzen der langen Wimpern.

»Aber mein liebes Fräulein,« keuchte der schöne Serbe, »warum sind S' nicht gekommen? Ich habe halbete Stund in Schnee und Schmutz am Großen Stern gewartet. Und jetzt spazier' ich schon wieder halbete Stund beiläufig hier vor Ihrem Haus herum. G'wiß war Ihnen das Wetter zu schlecht? O, Sie wollten mir Brief schicken, nicht wahr? Geben S' her!« Und er griff hastig nach dem Brief, den sie noch immer in der abwehrend vorgestreckten Linken hielt.

»Nein, nein, nein!« rief Lizzi ängstlich und beeilte sich, den Brief rasch in den Kasten zu stecken. »Wie soll ich denn an Sie schreiben, ich weiß ja Ihre Adreß gar net.«

»O, Sie wollten nicht kommen und nicht schreiben?« sagte der junge Mann traurig. »Sie hatten mir doch versprochen . . .«

»Ich war auch dort'n«, flüsterte Lizzi, die Augen niederschlagend. »Das heißt, daß i net lüg: beinah'; aber wie i 'n Großen Stern von weit'n g'sehn hab', hab' i mi doch net traut. 's wär halt doch net recht g'wes'n.«

»Net recht? Aber liebes, gnädiges Fräulein, warum denn, i bitt'? Glauben etwa von mir . . . O, aber was seh' ich? Kleine Fußerln werden ganz nasse. Hier dürfen S' Ihnen nicht stehenbleiben – kann ich als Arzt nicht erlauben.« Und damit legte er den rechten Arm leicht um ihre Hüfte und drängte sie sanft in die Toreinfahrt eines der nächsten Häuser.

Das Tor war geschlossen, lag aber doch wenigstens so weit zurück, daß ein kleiner vor Schnee und Nässe geschützter Raum davor übrigblieb. Dort ließ er sie los und versuchte ihr in die Augen zu schauen, die sie aber hartnäckig niedergeschlagen behielt.

»Ich hab' so Angst!« sagte Lizzi und wollte wieder davon.

Aber er ergriff sie bei der Hand und hielt sie fest. »Mein liebes Fräulein, haben doch Einsehen, i bitt'! Wenn ich zu Herrn Professor komme, kann ich nur elende, steife Visiten machen, Sie am Ende gar nicht sehn. Hat also gar keinen Zweck für uns beide, nicht wahr? Und wir wollen uns doch bissel kennen lernen? Was meine Wenigkeit betrifft, so gibt gar keine Hoffnung mehr auf Besserung, denn auf Ehre: war ich nie so unsinnig verliebt in ganzem Leben!«

»Is wahr?« fragte Lizzi und blickte mit ungläubig-scheuem Lächeln groß zu ihm auf. »A gehn S', dees is g'wiß bloß so daherg'redt.«

»Fräulein Lizzi, schauen S' mich an. Wenn ich doch schwöre: ich liebe Sie und will alles daransetzen, daß Sie die Meinige werden!« Er stand so dicht vor ihr, daß sie seinen warmen Atem auf ihrem Gesichte verspürte.

»O mei, wenn jetzt die Tante käm'!« murmelte Lizzi, angstvoll auf die Straße hinausspähend und das Kopftuch fest mit der Hand zusammenraffend.

Da legte er plötzlich seine Hände auf ihre Oberarme und flüsterte leidenschaftlich bewegt: »Lizzi, sag'n S' doch, i bitt': können S' mir nicht ein klein winziges bisserl gut sein?«

Und halb geistesabwesend gab sie zur Antwort: »Ja, warum denn net?«

Er drückte ihr die Arme fest an den Körper und wollte sie näher an sich ziehen, indem er sich gleichzeitig zu ihr herniederbeugte. Da drehte sie ihren vermummten Kopf rasch von ihm weg und suchte das Gesicht an ihrer linken Schulter zu verstecken, indem sie kindisch bittend flüsterte: »Naa, bitt' schön, net küssen! Ich kenn Sie ja noch gar net! Lassen S' mi gehn.«

»Das sag' ich ja!« rief der Edle von Nemes-Pann in gelinder Verzweiflung. »Wir müssen einander doch treffen, wenn wir uns wollen kennen lernen! Sind Sie denn jetzt nicht so heruntergelaufen, weil mich vom Fenster auf der Promenaden g'sehn haben?«

»O nein, so was dürfen S' von mir fei net glaub'n«, rief Lizzi schier entrüstet und machte sich von ihm los. »Ich bin bloß so g'schwind herunter wegen den Brief vom Onkel, weil die Tante doch net wissen soll, daß er a neus Testament machen will, wissen S'! O jegerl, jetzt hätt' i bald was g'sagt!« Und sie schlug sich erschrocken auf den Mund und sah bittend zu ihn auf. »Gehn S', Sie, Herr von Krajesovich, net wahr, bitt' schön, Sie sag'n g'wiß nix!«

Er mußte lachen über das drollig-ängstliche Gesicht, die in Falten gezogene Stirn und die großen flehenden Augen. Vergebens suchte er eine ernsthafte Miene aufzusetzen und einen drohenden Ton anzuschlagen. »Aber mein gnädiges Fräulein,« sagte er, »natürlich sag' ich das Frau Geheimrätin wieder, was Sie für falsches Katzel sind!«

»O nein, bitt' schön, o nein!«

»Ja, schauen, jetzt können Sie bitten! Wenn mir versprechen, daß wir uns recht bald wiedersehen und daß mir ein bisserl gut sein wolln, dann will ich mich noch bedenken, ob ich vielleicht mit dem Ausplauschen noch warten soll.«

»Ein schlechter Mensch sind S'!« schmollte Lizzi. »Wie soll'n denn wir uns treff'n können?« Aber fast im selben Augenblick hellte sich ihr Gesicht auf, sie legte den Finger auf den Mund und fuhr eifrig fort: »Wissen S' was mir einfallt? Die Frau von Goldacker, die S' gestern auf der G'sellschaft bei uns g'seh'n hab'n, die hat mi recht gern. Da trau' i mi schon eher a Wörtl fall'n z'lassen, wissen S', daß s' uns z'sammen einlad't. Sie brauch'n nur an B'such z'machen, ich wer' ihr schon sag'n, wegen wem daß S' kommen.« Und im Vorgenusse ihrer gelungenen List kicherte sie lustig in sich hinein.

Der junge Serbe stand vor ihr und verschlang sie mit glühenden Blicken. Es war recht gut, daß das Wetter so abscheulich war. Da gingen erstens einmal überhaupt nicht so viel Menschen vorüber, zweitens nahmen sie sich nicht Zeit, stehenzubleiben; aber ein paar anzügliche Bemerkungen über das sonderbare Liebespaar waren doch schon gefallen, nur daß weder Lizzi, noch ihr Anbeter etwas davon gehört hatten. Er atmete schwer zwischen geschlossenen Zähnen und breitete seine Arme aus, wie um sie an seine Brust zu drücken. Aber er bezwang sich. Er stopfte die geballten Hände mit einem Ruck in die Taschen seines Ueberziehers hinein und knirschte fast wütend mit funkelnden Augen etwas Serbisch vor sich hin, was ebensogut heißen mochte: »Jetzt bring' ich dich um, du nichtsnutziges Ungeheuer«, als auch »Jetzt fress' ich dich auf vor Liebe, du süßes Mädel!«

Und Lizzi verstand ihn ganz richtig, denn sie erwiderte höchst treffend: »Jetzt lassen S' mi aus, i muß heim.«

Er nötigte ihr noch seine Visitenkarte mit der Adresse für dringende Fälle auf, drückte ihr noch einmal fest die Hand, und dann ließ er sie laufen. –

Gehen war das auch nicht mehr zu nennen. Die Rocksäume und die Strümpfe bis hoch hinauf mit Schmutz bespritzt, ganz rot im Gesicht und außer Atem, zog sie zwei Minuten später die Glocke bei Geheimrats. Tante Ida in eigener Person öffnete ihr.

»Wo kommst du denn her?« rief ihr die hohe Dame mit strengem Ton entgegen. »Putz dir die Füße ab – wie siehst du denn aus! Und meinen Schal hast du umgenommen – was fällt dir denn ein? Ist das eine Manier, so auf die Straße zu laufen? Glaubst du vielleicht, daß sich das für eine Geheimratstochter schickt? Wenn ihr bei mir im Hause wie Töchter gehalten sein wollt, so bitte ich mir auch aus, daß ihr euch wie anständige junge Damen benehmt.«

Mit zornigem Eifer hatte Lizzi ihre feinen Schuhe auf der Bürste vor der Tür abgeschrubbt, während die Geheimrätin auf der Schwelle stand. Jetzt schritt sie mit fest aufeinandergepreßten Lippen und zuckenden Nasenflügeln an ihr vorüber in den Vorflur, riß das nasse Tuch ab, warf es auf den Stuhl und wollte durch die Tür nach dem Berliner Zimmer abgehen, als die Tante sie mit ein paar raschen Schritten einholte und hart beim Arme ergriff.

»O bitte sehr, erst möchte ich doch Antwort haben«, herrschte sie sie an. »Deine Schwester sagt, du hättest einen Brief in den Kasten stecken wollen. Was ist das für ein Brief, den das Dienstmädchen nicht einstecken darf?«

»Dees is mei Sach!« versetzte Lizzi trotzig.

»Oho, mein Fräulein, so fangen Sie an!? Geheime Korrespondenzen hinter meinem Rücken dulde ich nicht, verstanden?«

Durch die laute Stimme herbeigelockt, erschien der Geheimrat selbst auf der Schwelle seines Studierzimmers und fragte ängstlich, was es denn gebe? Hinter ihm wurde die plumpe Gestalt Emmerich Vogels sichtbar, der mit vorgestrecktem Halse hinauslauschte.

»Dein Fräulein Nichte schreibt heimlich Briefe, nachdem sie kaum acht Tage in unserm Hause ist!« versetzte Frau Ida in heller Entrüstung.

»Aber meine Liebe,« begütigte der Professor, »rege dich doch nicht so auf, ich bitte dich. Es war ja ein Brief von mir. Die gute Elisabeth war so freundlich . . .«

Die Geheimrätin sah ihren Gatten scharf an, daß er plötzlich stockte. Dann rümpfte sie kaum merklich die Nase und schob Lizzi vor sich her in das Berliner Zimmer und drückte die Tür hinter sich ins Schloß.

»Was war denn das für ein wichtiger Brief?« höhnte sie scheinbar gleichgültig.

Lizzi zuckte die Achseln. »Ich weiß net.«

»Hm!« machte die Tante. »Es ist doch mindestens auffallend, daß ihr in meiner Abwesenheit einen solchen Diensteifer für euren Onkel an den Tag legt! Die Minna ist ja da. Ich sehe nicht ein, warum du bei solchem Wetter ohne Hut und Mantel hinaus mußtest und dir Schuhe und Strümpfe und alles beschmutzen. Aber jetzt wird mir manches klar! Und die Kathi sitzt drin beim Onkel auf dem Sofa und heult ihm etwas vor, haha! Geh jetzt und zieh dich um, damit du wenigstens anständig zu Tisch erscheinen kannst.« Damit rauschte sie zur andern Seite hinaus.

Lizzi gab sich keine besondere Mühe, die Türen auffallend leise zu schließen, als sie in ihr Schlafzimmer ging. Sie hatte eben ihre nassen Strümpfe und Schuhe wütend in eine Ecke geschleudert, als Kathi hereintrat.

»Jesses, Lizzi, jetzt hat s' di doch erwischt! Du hast doch nix g'sagt von dem Brief?«

»Eher stirb' i, eh die etwas aus mir herausbringt!«

»Ach du arme Maus, jetzt darfst d' di g'faßt machen!«

»A was, mir is jetzt alles gleich!« Und Lizzi umarmte die Schwester und flüsterte ihr ins Ohr: »Du, weißt, jetzt hab' ich 'n doch g'sehn! Der liebe Kerl: zwei Stund' is er bei dem miserablen Hundswetter 'rumg'stieg'n und hat auf mi paßt. Das vergeß i ihm nie! Und so lieb hab i ihn, so arg lieb – grad a'beißen könnt' i 'n!« Und sie preßte die Schwester stürmisch an sich.

»Geh, Lizzi, i glaub', dir fehlt's gewiß!« rief Kathi erschrocken. »Du kennst 'n ja kaum. Bis nach Ungarn, oder wo er daheim is, wirst doch net gleich mit ihm gehn woll'n. Weißt d' denn überhaupts, ob er's ernst meint?«

»Er hat's geschworen bei seiner Ehr'!« versetzte Lizzi mit funkelnden Augen. Und dann kniete sie vor ihrer Kommode nieder und wühlte hastig aus dem untersten Schubkasten ein paar rote Strümpfe hervor. Dann setzte sie sich auf ihr Bett und fuhr mit energischem Ruck in den linken Strumpf zuerst hinein und lachte dabei übermütig: »Siehgst es, jetzt zieg' ich extra mit z' Fleiß die Feuerroten an, daß sich d' Tante recht gift'. Rot ist die Liebe. Aebbäbäh!«

Und sie streckte ihre niedliche Zunge lang heraus.

»A rechter g'schnappiger Fratz bist«, rief Kathi kopfschüttelnd; aber lachen mußte sie doch.


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