Ernst von Wolzogen
Die Erbschleicherinnen. Band 1
Ernst von Wolzogen

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Viertes Kapitel

[In welchem der geneigte Leser die Ehre hat, sich in der besten Gesellschaft zu bewegen, in der Lizzi jedoch sich unpassend benimmt.]

Die jungen Damen aus München wußten nicht, daß, wenn in Berlin zu einer Abendgesellschaft um acht Uhr eingeladen wird, die Gäste zwischen neun und zehn Uhr erst zu erscheinen pflegen. Sie traten pünktlich um acht Uhr in den Salon, in ihren einfachen, halbseidenen Trauerkleidern mit dem billigen Jettschmuck zwar nichts weniger als fein, aber doch immerhin recht hübsch aussehend. Die Lizzi besonders konnte so unvorteilhaft gekleidet sein, wie sie wollte – und sie war in der Tat in dieser Beziehung nachlässiger, als sie hätte sein dürfen – sie blieb doch immer reizend; denn sie war prächtig gewachsen und besaß in den frischen Farben und zarten Formen ihres Gesichts, ihren prachtvollen, großen dunkelblauen Augen und besonders in ihrem überaus üppigen Haar von seltener, kastanienbrauner, ins Rötliche spielender Farbe einen natürlichen Schmuck, gegen den die vereinten Künste der Schneiderin und Putzmacherin wenig ausrichten konnten.

Kathi war weit weniger hübsch. Sie war ein wenig zu groß und hielt sich nicht recht gerade. Auch war die Nase etwas zu klein geraten und der Teint nicht so rein und rosig wie der Lizzis; dafür aber besaß sie einen wunderhübschen kleinen, weichen Mund und prächtige Zähne darin, und ihre grauen Augen konnten, wenn sie lebhaft an etwas teilnahmen, sehr ausdrucksvoll leuchten. Sie trug ihr lichtbraunes Haar leicht gewellt und zwei dicke Flechten rund um die Stirn gelegt, eine Frisur, die zu ihrer einfachen, hausmütterlichen Erscheinung und ihrem stillen Wesen sehr gut paßte.

Die Gaslüster waren noch gar nicht einmal angezündet, nur eine einzige große Petroleumlampe brannte im Salon, als sie hereintraten. Und weiterschreitend fanden sie im Eßzimmer die Tante im tiefsten Negligé, den ältesten Morgenrock umgeworfen, beschäftigt, den beiden Lohndienern Verhaltungsmaßregeln zu geben.

»Ah, da seid ihr ja schon fix und fertig!« rief sie ihnen entgegen. »Das ist gut; da kann mir eine von euch gleich bei der Toilette zur Hand gehen. Die Minna ist zu entsetzlich dumm! Lieschen, willst du so gut sein? Käthchen kann ja derweilen das Lampenanzünden beaufsichtigen und die Honneurs machen, falls irgend so ein grüner Student etwa zu früh kommen sollte.«

Kathi bekam einen gelinden Schreck, denn sie fühlte sich der Aufgabe, fremde Herren zu empfangen, keineswegs gewachsen und hätte das Ehrenamt lieber auf die gewandtere Schwester abgewälzt, aber die Tante war schon mit Lizzi zur Tür hinaus, ehe sie noch drei Worte zu ihrer Entschuldigung vorgebracht hatte.

Nach Verlauf einer halben Stunde etwa war alles zum Empfang der Gäste bereit. Die Gasflammen in den Kronen brannten ebenso wie auch die buntbeschirmten Lampen, ja die Lohndiener hatten sogar schon ihre weißbaumwollenen Handschuhe angezogen; aber es schlug drei Viertel, ehe die Flurklingel zum erstenmal ertönte. Kathi fuhr zusammen. Sie hatte keine Ahnung, auf welche Weise sie wohl eine Unterhaltung in Gang bringen sollte, wenn etwa so ein unglücklicher verfrühter Jüngling, Hörer ihres Oheims und zukünftiges Kirchenlicht, ihr eine Viertelstunde lang zur Beschäftigung anvertraut werden sollte. Aber es war kein Student, den der Diener jetzt hereinließ, sondern vielmehr – Herr Emmerich Vogel.

Vorgestreckten Hauptes watschelte er herein. Er trug wiederum ein weiße Weste, tief ausgeschnitten, und einen unglaublich engen Frack, auf dessen linkem Atlasaufschlag der Stern irgend eines exotischen Ordens, den er sich einmal als Andenken von einer weiteren Reise mitgebracht haben mochte, en miniature erglänzte. Seine porzellanharte Hemdenbrust ward in der Mitte von einem großen Brillantbouton zusammengehalten, und er duftete auf zehn Schritte nach ungewöhnlichen Essenzen. Blöde sah er sich im Zimmer um und schritt dann rasch auf Kathi zu.

»Ah, meine reizende Schwiegernichte – und ganz allein!« näselte er mit seiner dünnen Tenorstimme, indem er ihr seine feuchtkalte Rechte entgegenstreckte. »Das ist ja scharmant! Hat mir furchtbar leid getan, daß ich heute morgen nicht länger das Vergnügen hatte. Wäre mir bei Gott angenehmer gewesen, als die langen Reden des guten Professors anhören zu müssen.«

»Der Professor hat ja kaum ein Wort gesagt,« wollte Kathi entgegnen, aber sie besann sich noch rechtzeitig und sagte statt dessen nur: »Bitte, wollen Sie nicht Platz nehmen!« Sie hatte sich das vorher während der einsamen Wartezeit so eingeübt, damit ihr nicht etwa ein »Bitt' schön, mög'n S' Ihnen net niedersetzen« herausfahren sollte.

Nun saßen sie also. Herr Emmerich Vogel hatte sich einen niedrigen Fauteuil dicht neben sie herangerückt. Er rieb seine fleischigen Hände auf den Kniescheiben trocken, zwischen die er den Klapphut geklemmt hatte, und blickte dabei unangenehm grinsend der Kathi ins Gesicht, die unwillig errötend die Augen niederschlug. Dann rieb er sich mit den Handflächen die Ohren und zupfte sich an den beiden unförmlich großen Ohrlappen. Nachdem er sich hierauf noch mit dem rotseidenen Schnupftuch über die glänzende Platte gewischt und das graue Bärtchen vorsichtig betupft hatte, schien er so weit in Ordnung zu sein, um eine animierte Konversation in Gang zu bringen.

»Na, nu sagen Sie mal, wie gefällt's Ihnen denn im Reichshauptstädtchen? Schon viel herumgekommen? Fleißig Theater besucht? Was mitgemacht?«

»O nein, wir haben ja Trauer.«

»Ach so, ja, pardon, ich vergaß. Na, da wird Sie meine Schwester wohl zur Entschädigung durch die Museen geschleift haben. Hehe, darin ist sie groß!«

Kathi verneinte wieder und sagte ihm, daß sie außer dem Zeughaus, dem Sedanpanorama und dem Zoologischen Garten noch nichts gesehen hätten.

»Ah, oh! das ist aber nicht recht!« rief Emmerich Vogel mitleidig, indem er den Kopf auf die linke Seite neigte, das linke Auge zukniff und sich am rechten Ohrlappen zupfte. »Wenn Sir mir erlauben wollen, Sie abzuholen, werde ich mir ein Vergnügen daraus machen, meine schönen Schwiegernichten ein wenig herumzuführen in den nächsten Tagen. Tante Ida wird wohl erlauben, daß ich meine verwandtschaftlichen Rechte geltend mache, und die jungen Damen meiner Obhut anvertrauen. Ich bin zwar immerhin ein etwas jugendlicher Onkel – hehe – hehe – hihihi . . .«

Er schien diese Behauptung so außerordentlich witzig zu finden, daß es eine ganze Weile dauerte, bevor er sich von seinem Lach- oder richtiger Meckeranfall wieder erholen konnte.

Kathi fand den Gedanken, mit einem solchen Beschützer allein in Berlin umherzulaufen, gräßlich, aber als wohlerzogenes Mädchen sagte sie natürlich: »O, das wär' fei' nett; aber i glaub' net, daß die Tante es erlauben wird.«

Herr Emmerich klopfte ihr vertraulich aufs Knie und flüsterte kichernd: »O, das lassen Sie nur meine Sorge sein, mit Schwester Ida werde ich schon reden! Wenn nur der Geheimrat keine Sperenzien macht. Wissen Sie, der ist eigentlich kein Umgang für junge Damen, hehe! Himmlischer Vater, ist der Biedermann langweilig! Das muß ja für junge, lebenslustige Mädchen, wie ihr beide seid, zum Auswachsen sein, nicht wahr? Na, na, mir könnt ihr's ja ruhig zugeben. Diskretion Ehrensache, hehe.«

Herrgott, jetzt fing er schon mit »ihr« an! Kathi rückte unwillkürlich ein ganzes Stück von ihm fort und starrte ihn erschrocken an, während sie gleichzeitig eifrig protestierte: »O nein, dees is aber g'wiß net wahr! Der Onkel is sehr gut, und zu mir b'sonders.«

Der Schwiegeronkel klemmte rasch seinen Zwicker auf die Nase und sah Kathi sonderbar lauernd von der Seite an. »So, so, wirklich?« sagte er erstaunt. »Haben Sie ihm geholfen sein Herz entdecken, hehe? – Ja, freilich – warum auch nicht? Ein so hübsches Mädchen wie Sie, Fräulein Käthchen, das bringt ja die schwierigsten Sachen fertig! – Was haben Sie übrigens für eine allerliebste kleine Hand!«

Er haschte danach, um einen raschen Kuß darauf zu drücken, aber die erschrockene Kathi riß sie ihm energisch fort und erhob sich rasch von ihrem Sessel, trat an den Tisch vor dem Sofa und schlug mit einer heftigen Bewegung das erste beste der dort liegenden Prachtwerke auf, da sie ihrem Zorn in Worten nicht Luft zu machen wußte noch wagte.

Er erhob sich gleichfalls und trat zu ihr. »Aber was denn, was denn, Fräulein Käthchen – wer wird denn gleich so sein! Das heißt: ja, eigentlich haben Sie recht: man küßt ja nur alten Damen die Hand, junge hübsche Nichten sollte man als wohlmeinender Onkel doch eigentlich auf den Mund küssen dürfen.«

»Naa, i mag net!« rief Kathi leise und drängte energisch den sich ihr bedrohlich Nähernden fort.

»Na aber, wie ich das finde!« rief Herr Emmerich Vogel schwach lachend, und dann klopfte er, um seine üble Laune zu verbergen, mit dem Klapphut gegen die Tischplatte und versuchte zu pfeifen.

In diesem Augenblick ertönte draußen zum zweitenmal die Flurglocke, und fast gleichzeitig trat der Geheimrat in Frack und weißer Binde, sehr bleich von der Aufregung des Morgens, aus seinem Studierzimmer, und von der andern Seite seine Gattin herein, prachtvoll gekleidet in bordeauxrote Seide mit echten Spitzen. Lizzi folgte ihr auf dem Fuße. Sie hatten kaum Zeit, den Bruder und Schwager zu begrüßen, als auch schon die Flügeltüren von den Lohndienern aufgerissen wurden, um die ersten Gäste einzulassen.

Im Laufe der nächsten halben Stunde trafen dann die meisten der Geladenen ein. Kollegen des Geheimrats, meist von der juristischen und theologischen Fakultät, mit ihren Frauen und einigen wenigen Töchtern, dann einige jüngere Dozenten, Doktoren, die sich erst habilitieren wollten, und ein paar Studenten, die durch Empfehlungsbriefe eingeführt waren. Ein vereinzelter Gardeleutnant, Sohn eines geadelten wirklichen Geheimrats, hob sich mit seinem goldgestickten Kragen von dem öden Einerlei der schwarzen Fracks wirkungsvoll ab, ebenso wie die drei geladenen jungen Mädchen, welche wie auf Verabredung alle ganz weiß erschienen. Bis um zehn Uhr etwa war die erlauchte Gesellschaft von fünfundzwanzig Personen beisammen.

Die Diener reichten Tee mit süßem Gebäck herum, der von den Herren stehend und durch den unter den Arm genommenen Klapphut behindert, genossen werden mußte. Die Damen hatten es besser: sie saßen wenigstens – die älteren Würdenträgerinnen in einer Reihe auf dem Sofa und den breitesten Fauteuils hingepflanzt, die fünf jungen Mädchen, im Alter von achtzehn bis dreiundreißig Jahren auf den graziösen Lackstühlen. Dafür wurden sie aber auch von dem stärkeren Geschlecht mit Verachtung gestraft, indem niemand von den Herren daran dachte, sich ihnen zu nähern bis zu dem Augenblicke, wo es zum Souper ging. Nur der einsame Leutnant hielt es für seine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit, sich mit Todesverachtung zwischen die jungen Damen zu stürzen, von denen er keine einzige kannte. Nachdem er sie alle fünf, die überreife Tochter des theologischen Dekans mit dem melancholischen Ziegengesicht nicht ausgenommen, gefragt hatte: »Laufen gnä' Fräulein gern Schlittschuh?« oder »Gehen gnä' Fräulein oft ins Theater?« und dergleichen, ließ er sich endlich auf den Klaviersessel zwischen den beiden trauernden Münchnerinnen nieder, um die Sonne seiner Huld doch auch über die jungen Damen vom Hause scheinen zu lassen. Er guckte die Kathi an, er guckte die Lizzi an; die letztere schien in höherem Grade sein Wohlgefallen zu erwecken. Aber er war viel zu wohlerzogen, als daß er nicht die ältere zuerst angeredet hätte.

»Sind gnädiges Fräulein schon lange in Berlin?« begann er sinnig.

»Eine Woche grad«, erwiderte Kathi. Sie saß steif aufgerichtet auf ihrem goldenen Stuhl und hielt die Hände im Schoß gefaltet.

»Oh?« sagte der Leutnant, und dann drehte er gedankenvoll an seinem Schnurrbärtchen. »So kurze Zeit erst?« fuhr er dann lächelnd fort; »darf ich fragen, wo gnädig' Fräulein zu Hause sind?«

»Aus München«, versetzten Kathi und Lizzi wie aus einem Munde.

»Aus München?« rief der Leutnant, seine kleinen, wasserblauen Augen zu ihnen erhebend. »Ah, fideles Städtchen – war ich auch mal. Wissen Sie: Königsschlösser ansehen, mal Karte abgehen auf allerhöchsten Bergen. War riesig nett; aber das muß ich sagen: die Bedienung im Hofbräuhaus ist miserabel. Sie nehmen mir doch meine Offenheit hoffentlich nicht übel? Das Bier is ja magnifique, aber im übrigen – nee!«

»Ja freilich, wann S' net selber schaun, daß S' was krieg'n«, lachte Lizzi achselzuckend und begann unwillkürlich an ihrem Batisttüchlein herumzuzupfen.

Der Leutnant reckte seinen dünnen roten Hals aus dem fürchterlich hohen Goldkragen heraus und schnarrte: »Wirklich reizend!« indem er gänzlich unbestimmt ließ, was er reizend fand. Dann trommelte er ein Weilchen leise auf dem Klavierdeckel herum und fragte mit einem neuen Anlauf die Lizzi: »Sind gnä' Fräulein vielleicht auch musikalisch?«

»O ja, ein bissel schon.«

»Spielen Sie vielleicht Klavier?«

»Ja!«

»Singen Sie vielleicht auch?«

»O ja.«

»Können Sie auch jodeln? Das finde ich zu nett!«

Lizzi konnte es nicht mehr aushalten. Sie stieß die Kathi leicht in die Seite und lachte: »Geh, Kathi, jetzt red' du amal, daß 's mi net gar zu arg angreift.«

Die Kathi konnte sich nicht helfen, sie mußte auch lachen. Es war zu fad. Und so kicherten die beiden trauernden Schwestern miteinander und ließen den schönen jungen Herrn ohne Antwort, so daß der am gescheitesten zu tun glaubte, wenn er auch ins Blaue hinein mitlachte.

Die benachbarten jungen Damen in Weiß horchten neugierig auf und rückten näher. Was in aller Welt mochte da passiert sein, daß in diesen heiligen Hallen tatsächlich drei junge Menschen lustig waren? Und Fräulein Elvira Zanthier, die als keck berüchtigte Tochter des Pandekten-Professors, fragte die Münchnerinnen mit neidischem Lächeln nach der Ursache ihrer Heiterkeit.

Der Leutnant ergriff für sie das Wort. »Die gnädigen Fräuleins können jodeln«, versetzte er immer noch lachend. »Wär' doch sehr nett, wenn sie uns was zum besten geben wollten.«

Die jungen Damen in Weiß stimmten dem Leutnant vollkommen bei, mit Ausnahme von Fräulein Rümpelmann, der Dekanstochter, welche für einen solchen ungebildeten Vorschlag nur ein verächtliches Lächeln hatte. Geistreiche Bemerkungen wurden weiter nicht ausgetauscht, aber wenigstens kamen doch die jungen Damen unter sich ins Gespräch. Die Münchnerinnen erregten schon um ihrer Sprache willen das lebhafteste Interesse dieser Professorentöchter, und die Mödlingers ihrerseits waren glücklich, einmal wieder wenigstens mit Altersgenossinnen reden zu können. So waren sie denn in jener Ecke bald in lebhaftestem Geschwätz, bei dem auch der Leutnant nicht sonderlich störte. Er wurde beauftragt, der Herrin des Hauses den Vorschlag zu unterbreiten, daß sie doch ihre Nichten etwas singen lassen möchte.

Die Frau Geheimrätin war nicht wenig erschrocken über diesen kühnen Vorstoß aus dem Lager der Jugend. Es was bisher noch nicht vorgekommen, daß in ihrem Salon bei Gelegenheit eines so feierlichen Empfangsabends musiziert wurde, und sie hielt es daher für sicherer, bevor sie eine solche Neuerung wagte, das Gutachten der weiblichen Autoritäten einzuholen. Frau Professor Zanthier, noch eine ziemlich jugendliche und lebhafte Dame, entschieden die hübscheste in dem Kreise, rief laut: »Ja, warum denn nicht? Der Herr Leutnant trägt gewiß den Dolch im Gewande, in Gestalt einer Flöte, nicht wahr? Sonst wüßte ich nicht, wer hier ausübend musikalisch ist.« Worauf Frau Professor Rümpelmann, die, wenn ihre Tochter einer Ziege glich, mindestens den Ehrentitel einer Giraffe beanspruchen durfte, mit süßem Lächeln erwiderte: »O, bitte, meine Tochter ist sogar sehr musikalisch. Sie hat den besten Unterricht genossen und singt wirklich sehr hübsch – das kann ich wohl sagen!« Da auch die anderen Damen nichts einzuwenden hatten, erhob sich die Geheimrätin, um das Klavier zu öffnen und die Lichter anzuzünden.

Sie nahm ihre beiden Nichten ein wenig beiseite und flüsterte ihnen zu: »Wie kommt denn nur der Leutnant darauf, daß ihr etwas vortragen sollt? Könnt ihr denn überhaupt etwas Ordentliches? Ihr habt euch doch hoffentlich nicht vorgedrängt! Natürlich muß ich erst Fräulein Rümpelmann auffordern. Sie hat den besten Unterricht genossen. Also seht zu, daß ihr euch nicht gar so sehr blamiert.« Und dann wandte sie sich laut an die Gesellschaft und verkündete, daß Fräulein Rümpelmann ihnen das Vergnügen machen wollte, etwas vorzutragen.

Es war erstaunlich, mit welcher Eile einige der älteren Herren, die im lebhaften Gespräch mit Kollegen umhergestanden hatten, auf diese verlockende Eröffnung hin in das Studierzimmer des Hausherrn verschwanden, wo sich bereits ein kleine Korona ehrwürdiger Häupter zu weisem Gedankenaustausch versammelt hatte. Allen voran der hochgebietende Herr Dekan, Professor Rümpelmann selbst. Es blieben außer den Damen, dem Leutnant und Herrn Emmerich Vogel, der sich mittlerweile an Frau Professor Zanthier herangeschlängelt hatte, nur einige der jüngeren Herren zurück, um des musikalischen Genusses aus nächster Nähe teilhaftig zu werden.

Herr Emmerich Vogel bot sich galant dem Fräulein Rümpelmann zum Notenumwenden an, allein das Fräulein benötigte seiner nicht, da sie gar keine Noten mit hatte. »Mama ist so musikalisch, die begleitet mir alles auswendig«, sagte sie mit gespitztem Munde, und dann hüpfte sie mit tändelnden Schrittchen zum Flügel, während ihre Mutter, die Giraffe, ihr rauschendes Seidengewand um den Drehstuhl herum ordnete.

Mutter und Tochter berieten sich ein Weilchen im Flüsterton, und dann reckte die erstere den langen Hals schmachtend quer über die Klaviatur hin und schlug präludierend einige Akkorde an.

Fräulein Rümpelmann begann, die Hände vor sich im Schoß gefaltet und mit weitaufgerissenen Augen den ihr zunächststehenden Emmerich Vogel fixierend, ihren schmelzenden Gesang.

»Uech wollt' moine Lübo . . .«

Da erscholl plötzlich aus dem Nebenzimmer, wo das Gespräch der gelehrten Herren trotz Mendelssohn leise weiter gesummt hatte, ein laut dröhnendes »Hohohohoho!«

Mutter und Tochter hielten erschrocken inne und wandten die langen Hälse gleichzeitig zur Tür des Studierzimmers zu.

»Oh, aber ich muß doch bitten!« rief die Frau Dekanin halblaut und sah sich empört nach der Hausfrau um.

»Achten Sie nicht darauf, liebe Frau Professor«, suchte die Geheimrätin, zu ihr tretend, die musikalische Mutter zu beruhigen. »Es ist nur Professor Rufus, Sie wissen, er hört recht schwer, der alte Herr.« Damit schritt sie ins Nebenzimmer, um dem Heiterkeitsausbruch des berühmten Archäologen Einhalt zu tun.

Die Studenten sahen sich sämtlich bewogen, die Bilder an den Wänden oder das Futter ihrer Klapphüte höchst eingehend zu besichtigen, und auch die jungen Mädchen hatten Mühe ihr Lachen zu unterdrücken, besonders Lizzi, die den starren Blick der Ziege gerade auf sich gerichtet fühlte.

Sobald im Nebenzimmer die Ruhe hergestellt war, griff die Dekanin wieder in die Saiten, diesmal etwas energischer, und ihr hochgewachsenes Töchterchen begann aufs neue:

»Uech wollt', moine Lübö ergösse süch
All' ün oin oihn-züges Woort.«

Die junge Dame sang mit »vül Empfündung«. Ihre dünne, schrille Stimme stand in wirkungsvollstem Gegensatz zu ihrer düsteren Aussprache, und da ihre Töne nicht von Natur vibrieren wollten, so bemühte sie sich, diesen Mangel durch ein tief zu Herzen dringendes Gemecker zu ersetzen, welches, was immer man auch dagegen vom gesangstechnischen Standpunkte einwenden mochte, doch jedenfalls mit ihrer Erscheinung auf das glücklichste harmonierte.

Lizzi erstickte fast. Die Augen standen ihr voll Tränen, so außerordentlich gerührt war sie. Sie hatte fast schon ihr halbes Taschentuch aufgekaut, ehe noch die ergreifende Produktion zu Ende gekommen war. Auch die gesetzte Kathi hatte alle Mühe, nicht laut herauszuplatzen, besonders als der Leutnant bei dem höchsten Ton so schmerzhaft das Gesicht verzog, daß ihm der Schmachtscherben aus dem Auge fiel.

Die beiden Weißgewaschenen hatten es leichter, da sie der Himmel mit unmusikalischen Ohren begnadet hatte, doch wurden auch sie bis zu einem gewissem Grade von der krampfhaften Heiterkeit der übrigen Jugend angesteckt. Mißbilligende Blicke vom Sitze der Mütter her wiesen sie in die Grenzen des sogenannten Anstandes zurück.

Der Gesang war beendet. Schwaches Händeklatschen und beifälliges Gemurmel seitens der Damen belohnte die Künstlerin. Einer der an den Wänden verstreuten Studenten klatschte so heftig, daß ihm der Chapeau entfiel, welche Gelegenheit seine Kommilitonen nicht vorübergehen ließen, ohne in ein recht ungebildetes Gelächter auszubrechen. Schließlich konnte doch einem einmal der Hut herunterfallen!

Während die älteren Damen noch die strahlende Giraffe zu dem Erfolge der Ziege beglückwünschten, kam plötzlich aus dem Nebenzimmer der berühmte Archäologe Professor Rufus herausgeschossen und rief schon von weitem, beide Hände vorstreckend: »Schönsten Dank, mein liebes Fräulein! Wirklich sehr schön vorgetragen! Was war das doch gleich? Kam mir so bekannt vor!« Er schüttelte der geschmeichelten Sängerin beide Hände und blickte zu ihrer ansehnlichen Höhe empor. Ein breites Lächeln verklärte sein rosiges, glattrasiertes Gesicht.

Die Mutter antwortete für die Tochter: »Von Mendelssohn, Herr Professor! Früher sang ich immer die zweite Stimme; aber seit ich den chronischen Katarrh habe, singt es das Kind Solo. Es ist eigentlich ein Duett, wissen Sie.«

»Mendelssohn, ach jawohl, Mendelssohn, den hab' ich gut gekannt!« rief der kleine Professor, seinen schönen, weißlockigen Gelehrtenkopf hinten überbeugend, als ob er das Porträt des verblichenen Tonmeisters irgendwo oben an der Zimmerdecke erblickte. »Ich erinnere mich noch sehr wohl der musikalischen Abende bei dem hochseligen Friedrich Wilhelm IV. Sie haben ihn wohl nicht mehr gekannt, liebes Fräulein? hohohohoho!« Er schlug wieder seine olympische Lache an, welche das ganze weite Gemach erzittern machte. »Wollen Sie uns nicht noch etwas zum besten geben? Ich liebe die Musik so sehr, hohoho!« Und damit drehte er sich auf dem Absatz herum und verschwand wieder im Nebenzimmer.

Das ließ sich die Ziege nicht zweimal sagen. Ein kurzer Blickwechsel mit der Giraffe genügte, um die Walze in Gang zu setzen. Es folgte Nummer 2 des Repertoires: etwas Neckisches zur Abwechslung:

»Mutter, Mütterchen, ach seu nücht böse,
Da-aß i-ich i-in de-en Wald gögangen.«

Lizzi war nahe daran in Krämpfe zu verfallen, und der Leutnant versetzte sich offenbar so lebhaft in die Seele des Jägers, der die im Walde verirrte Ziege küssen mußte, daß er, wie von einem plötzlichen Schüttelfrost gepackt, auf seinem Stuhle bebte. Einer der Studenten vermochte sich nicht länger aufrechtzuerhalten, sondern fiel auf einen Sessel in der Nähe der Tür und verbarg verschämt sein Antlitz in beiden Händen. Die Macht des Gesanges offenbarte sich auf wunderbare Art! Kaum ein Auge blieb trocken. In so vortrefflicher Weise wußte die Sängerin die reizende kindliche Schalkhaftigkeit, welche der Dichter und der Komponist in ihrem anspruchslosen Werke versteckt hatten, zum Ausdruck zu bringen! Und wenn nicht kurz vor Schluß des Liedchens die Flügeltüren sich geöffnet hätten, um einen verspäteten Gast einzulassen, so hätte die Begeisterung wohl sogar vorzeitig die Schranken der Sitte durchbrochen.

Aber die neue Erscheinung lenkte, obgleich sie bis zur Beendigung des Gesanges bescheiden an der Tür stehen blieb, die allgemeine Aufmerksamkeit dermaßen auf sich, daß sie sogar den zitternden Leutnant erstarren machte und die halbtote Lizzi wieder ins Leben zurückrief.

Es war eine Dame in mittleren Jahren, deren Gesichtszüge außer einer entschieden spitzen Nase durchaus nichts Auffälliges an sich hatten. Sie war weder besonders groß noch besonders klein, weder besonders dick noch besonders dünn. Einfach eine ziemlich nett aussehende Dame, wie man deren häufig in Gesellschaften und anderswo zu treffen pflegt. Es war lediglich ihr Kostüm, das ihr den Charakter des Ungewöhnlichen verlieh. Ein Kostüm im verwegensten Sinne des Wortes, das sicherlich weder einem Pariser noch einem Wiener noch sonst einem modernen Modejournal entnommen war. Der unscheinbare Körper stak nämlich in einem Musselingewande mit kurzer Empiretaille, welches über und über mit üppiger Stickerei von Goldflittern bedeckt war. Um den ziemlich tief ausgeschnittenen Hals herum stand ein auf Drähte gezogener Kragen, aus ebenfalls mit Flitter besetztem Spitzenstoff, steif ab. Die ganz kurzen Puffärmel ließen die hageren roten Arme bis über die Ellbogen entblößt, den Unterarm und die Hände bedeckte ein Paar viel zu weiter und ziemlich schmutziger Handschuhe aus ehemals weißem Batist, gleichfalls mit Flitterornamenten verziert. Auf dem gepuderten Haar trug die Dame ein altes, goldenes Münchner Ringelhäubchen, über das, von einer Brillantagraffe an der Seite gehalten, drei rosa Straußfedern herabnickten. Die hohe Taille wurde von einem goldenen, mit bunten Steinen geschmückten Gürtel umspannt, von dem an ebensolcher Kette ein bunter runder Federfächer herabhing, und unter dem kurzen Saum des leichten Gewandes schauten die nach oben gekrümmten Spitzen der gleichfalls goldgestickten Schuhe hervor.

Dank der wunderbaren Erscheinung dieses späten Gastes hielt sich nach Beendigung des neckischen Liedchens der Beifall in immerhin mäßigen Grenzen. Wieder kam der liebenswürdige Professor Rufus aus dem Nebenzimmer hereingeschossen und rief noch auf der Schwelle: »Brava, brava, danke sehr, liebes Fräulein! Dieser Mendelssohn war wirklich ein Liebling der Musen und der Grazien, hohohoho!«

Aber das homerische Gelächter blieb dem berühmten Archäologen zur Hälfte in der Kehle stecken, sobald er der goldglitzernden Erscheinung gewahr ward, die jetzt eben bis in die Mitte des Zimmers gelangt war und von der Hausfrau mit etwas verlegenem Lächeln begrüßt wurde.

»Darf ich die Herrschaften bekannt machen?« sagte Frau Ida: »Herr Professor Rufus – Frau Majorin von Goldacker.«

»Ah!« rief der kleine Gelehrte, sich galant verbeugend, »ich stehe geblendet vor so viel Glanz, hohohoho! Gnädige Frau haben da ein Kostüm! Archäologen haben zwar in Toilettenfragen keine Meinung; aber in diesem Falle – hohoho!«

»Ich bin auch sehr stolz auf dieses Stück, Herr Professor«, versetzte die Majorin und drehte sich langsam herum, um sich von allen Seiten bewundern zu lassen. »Dieses selbe Kleid hat Josephine Beauharnais als Braut getragen. Die Kaiserin Eugenie hat es bei ihrer Flucht aus Paris in der Eile nicht mitnehmen können, und da ist es denn später mit andern Kostbarkeiten unter den Hammer gekommen. Ich war so glücklich, es aus dritter Hand erwerben zu können.«

»Aber, mein Gott, hier ist doch kein Maskenball!« flüsterte die Frau Professor Zanthier hinter ihrem Fächer ihrer Nachbarin, der Geheimrätin Pütz, zu.

Und diese würdige Dame beugte sich zu ihr und erwiderte: »Ja, haben Sie denn von dieser verdrehten Schraube noch gar nichts gehört? Sie ist eine reiche Witwe und hat die Passion, historische Kostüme zu sammeln und sie selber zu tragen. Uebrigens, seien Sie vorsichtig, meine Liebe: sie ist eine Verwandte von Riemschneiders.«

Nachdem auch der Hausherr die Majorin begrüßt und einige Worte der Bewunderung über ihr Kostüm geäußert hatte, wurde sie von der Geheimrätin zum Sitze der Mütter geführt und einigen Damen vorgestellt. Es war erstaunlich, zu sehen, mit welcher Kunst diese weiblichen Spitzen der Gelehrtenrepublik, diese hochthronenden, edlen Hüterinnen guter Sitte, die kleine, harmlose Majorswitwe im Gewande der Josephine Beauharnais süß und doch zugleich niederträchtig erhaben anzulächeln verstanden! Die Majorin war durchaus nicht dumm genug, um nicht zu merken, daß dieses kunstvolle Lächeln nichts anderes besagen sollte, als: wir sind wohlerzogen genug, um dich als Mitgast in unsrem Kreise zu dulden, im übrigen aber erlauben wir uns, dich mindestens für verrückt und deinen Geschmack für höchst unpassend zu halten. Aber Frau von Goldacker war bereits unempfindlich geworden gegen solche Beredsamkeit weiblicher Augensprache und, wie alle von einer großen Leidenschaft beherrschten Menschen, freudig bereit, jegliches Märtyrertum auf sich zu nehmen. Sie nahm mit ebenso glückselig strahlender Miene mit ihrem verstaubten geflickten Flitterstaat unter diesen würdevollen Trägerinnen stumpffarbiger Seiden- und Atlasroben Platz, wie nur irgendeine frischgeadelte Bankiersgattin ihre kostbare Robe von Worth in Paris zum erstenmal bei einem Feste zur Schau tragen kann, für das ein Prinz von Geblüt sein Erscheinen zugesagt hat.

Während der Hausherr mit seinem Spannzettel die Runde machte und jedem der Herren den Namen seiner Tischdame zuflüsterte, zog die Geheimrätin ihre Nichten beiseite und sagte: »Wenn ihr wirklich durchaus noch etwas vortragen wollt, dann beeilt euch aber jetzt. Wir haben nur noch auf die Majorin gewartet mit dem Souper. Die kommt regelmäßig zu spät – natürlich, weil sie nie mit ihren verdrehten Toiletten fertig wird. Ist aber auch das letztenmal, daß ich sie zu so was eingeladen habe! Das hat man davon, wenn man auf die Verwandten seines Mannes soviel Rücksicht nimmt!«

Obwohl diese Aufforderung weder in der Fassung noch im Tone hervorragend freundlich zu nennen war, bestand Lizzi doch darauf, nun erst recht zu singen, denn es reizte sie jetzt, nach dem schauderhaften Gemecker der Ziege ganz besonders den Leuten zu zeigen, daß sie doch etwas Besseres vermöchte. Die Kathi hatte Angst, aber Lizzi stieß sie förmlich auf den Klavierstuhl.

»Jetzt singa mir amaal dees vom letztn Fensterln, weißt«, raunte sie der Schwester zu, und gab ihr dabei noch einen derben Puff gegen die Schulter. »Und daß d' den Jodler fein mitsingst, dees sag' i der. Sonst zwick i di in Arm, daß d' grad nausschreist!«

Und obwohl außer Emmerich Vogel und dem Gardeleutnant, die erwartungsvoll zu ihnen aufblickend sich an den Flügel lehnten, niemand geneigt schien, ihnen zuzuhören, sondern vielmehr der gemischte Chor aller vorhandenen dreiundzwanzig brummenden, knarrenden, quiekenden, quäkenden Männer- und Frauenstimmen just zu einem kräftigen Forte angeschwollen war, ließ sich doch die Lizzi nicht abschrecken, ihr G'sangl anzustimmen. Und wirklich, es gelang ihr nicht nur mit ihrem klaren, jugendfrischen Sopran das laute Stimmengewirr zu übertönen, sondern sogar nach wenigen Takten schon sich Ruhe und Aufmerksamkeit zu erzwingen. Ungeziert, munter und frischweg sang sie:

»A Bleami im Miada, a Bleami am Huat,
Oft hat's der Bua g'sagt un des gfallet eahm guat.
No heunt werd er schaugn, heunt hon' is grad gnua.
Und a paperlgreanes Bandl, dös steht wohl dazua.
Ja, dös steht wohl dazua!«

Und nun fiel die Kathi mit ihrem weichen Alt etwas zaghaft, aber glockenrein mit ein:

»Holdiri diö diri, holdiri diö diri« u. s. w.

Die Gesichter der Studenten, die bisher mit stumpfsinniger Resignation dreingeblickt hatten, hellten sich mit einem Schlage auf, Herr Emmerich Vogel wiegte sich graziös auf den Zehenspitzen und blinzelte die Sängerinnen verliebt an, der schmucke Leutnant zwirbelte vergnügt lächelnd an seinem Schnurrbärtchen herum und bewegte die Lippen, als ob er mitsingen wollte – ja, aus dem Nebenzimmer strömten sogar, einer nach dem andern auf den Zehen über den Teppich schleichend, die ehrwürdigen, hochmögenden geheimen Räte, ordentlichen und außerordentlichen Professoren und Doktoren herein, und einige von ihnen verschmähten es sogar nicht, ihre ehrwürdigen Häupter im munteren Dreivierteltakt mitschwingen zu lassen. Auf seiten der Damen schien weniger Übereinstimmung zu herrschen. Frau Professor Zanthier lächelte zwar wohlgefällig, und die verwitwete Majorin Josephine Beauharnais ließ sogar mitten in den Gesang hinein kleine unterdrückte Schreie des Entzückens erschallen, aber die Geheimrätin Pütz und die Frau Doktor Georgi und die Frau Professor Cholevius und die Frau Konsistorialrätin Schlegel und wie die steifrückigen Spitzen der Gesellschaft alle heißen mochten, sahen einander immer bedenklicher von der Seite an und lächelten immer säuerlicher, und die Giraffe gar reckte ihren Hals so lang und steif sie irgend konnten aus der Halskrause heraus, und ihre schlaffen Lippen zuckten bedrohlich und zielten gerade auf die spitze Nase der Josephine Beauharnais, als ob sie bei deren nächster unvorsichtiger Beifallsäußerung zu spucken gedächten. Die für gewöhnlich quittengelbe Ziege lief bedenklich rot an und trat, um ihrem Groll doch irgendwie Luft zu machen, dem ihr zunächst sitzenden Fräulein Zanthier, welche allzu unbefangen ihr Wohlgefallen zu äußern sich erdreistete, auf den Fuß.

Es folgte ein zweiter und ein dritter Vers, beim letzten Jodler schloß Lizzi mit einem durchdringenden Juchzer wirkungsvoll ab. Der Erfolg war ein durchschlagender. Die gesamte Herrenwelt, sogar die bescheidenen Studenten nicht ausgeschlossen, drängte sich um die beiden Münchnerinnen und überbot sich in Komplimenten, allen voran der liebenswürdige Professor Rufus, der seinem Vergnügen durch ein wahrhaft bacchantisches, dröhnendes »Hohohoho!« Ausdruck gab. Auch der hochragende theologische Dekan, Professor Rümpelmann, der Gatte der Giraffe und Vater der Ziege, versuchte sich bis zu den hübschen Sängerinnen durchzudrängen, wurde jedoch durch das energische Dazwischentreten seiner Gattin an der Ausführung solch frevelhaften Vorhabens verhindert.

»Rümpelmann, du vergißt dich!« raunte seine tiefgekränkte bessere Hälfte ihm zu. »Solche Produktionen gehören in ein Café chantant. Ich begreife nicht, wie die Geheimrätin so taktlos sein kann, ihren Nichten so etwas zu erlauben. Ich erwarte von dir, daß du dich mit diesen Mädchen nicht weiter einläßt.«

Hatte sie bemerkt, daß die Geheimrätin in ihrer Nähe stand und deshalb absichtlich ziemlich laut gesprochen? Jedenfalls war jener die Bemerkung über das Café chantant nicht entgangen. Sie erbleichte, und als gerade die Nichten, dem allgemeinen Drängen nachgebend, sich zu einem neuen Vortrag anschickten, rief sie laut: »Darf ich bitten, meine Herrschaften, zum Souper!«

Ein allgemeines »Ah« des Bedauerns. Der Knäuel schwarzbefrackter Gestalten um den Flügel herum entwirrte sich, und jeder eilte, seiner ihm zugeteilten Dame den Arm zu reichen. Die Hausfrau eröffnete mit dem Geheimrat Pütz den Zug. Ihr Gatte folgte mit der aufgeregten Dekanin Rümpelmann, und so ging es fort nach Alter und Würde, bis zum Schluß der Gardeleutnant mit Fräulein Elvira Zanthier, Herr Emmerich Vogel mit Kathi und ein glückstrahlender Student mit Lizzi am Arm ins Eßzimmer hineinmarschierte. Zwei überzählige Studiosi schritten mißvergnügt hinterdrein, denn jeder von ihnen hatte sich im stillen Hoffnung auf Lizzi gemacht.

Es dauerte eine ganze Weile, bis jedermann an der langen, glänzenden Tafel seinen ihm bestimmten Platz gefunden hatte, und die glitzernde Majorin von Goldacker vermehrte die allgemeine Verwirrung noch dadurch, daß sie ihrem Tischherrn, dem Professor Cholevius, einfach davonlief und sich rücksichtslos durch den Knäuel der jüngeren Herrschaften am untern Ende der Tafel hindurchdrängte, um zu den Nichten des Hauses zu gelangen. Sie schloß die beiden Mädchen in ihre Arme und küßte sie auf beide Wangen und rief dazwischen so laut, daß man es bis an das untere Ende der Tafel hören konnte: »Eure Tante hat es nicht für nötig gefunden, uns miteinander bekannt zu machen. Da muß ich mich schon selbst vorstellen. Ich bin die Frau von Goldacker. Irgend etwas werdet ihr doch wohl schon von mir gehört haben – und sehr bös bin ich, daß ihr mich noch gar nicht aufgesucht habt. Ich höre, ihr seid schon acht Tage in Berlin. Unverzeihlich! Wo ich doch die einzige Verwandte hier bin außer Professors. Ihr wißt doch, mein Vetter Alfred, der in Amerika ist, hat eine Riemschneider zur Frau, welche eine rechte Nichte eures Onkels und gleichzeitig Andergeschwisterkind mit der zweiten Frau des Bruders meines Mannes war – also eine doppelte Verwandtschaft! Ich bin entzückt, daß ihr so nette Mädchen seid, und wenn ihr mich nicht morgen früh gleich besucht, dann sollt ihr mal sehen! Ich habe übrigens schon gehört von euch durch eine Dame, die im selben Kupeé mit euch von München hierhergefahren ist. Nette Geschichten, ihr Erbschleicherinnen, ihr!« Und lustig lachend klopfte sie die beiden Schwestern auf die Wangen und schwebte wieder zu ihrem verlassenen Tischnachbar zurück. Mittlerweile hatte männiglich seinen Platz gefunden. Das Stimmengewirr war verstummt, und man wartete nur auf die Frau Majorin, um sich setzen zu können. Das Wort von den »Erbschleicherinnen« mußte von jedermann an der Tafel gehört worden sein. Einige von den Herrschaften lachten auch ganz ungeniert darüber, während andre ein wenig bedenklich lächelnd in den Mienen der Gastgeber zu lesen versuchten.

Die beiden Schwestern erstarrten beinahe vor Schreck, denn sie sahen die Blicke der Tante mit einem so feindseligen Ausdruck auf sich gerichtet, daß sie alles Unheils gewärtig sein durften. Zum Ueberfluß fragte auch noch der schwerhörige Professor Rufus seine Tischnachbarin, Frau Zanthier, ganz laut, was denn die Dame in dem antiquarisch interessanten Kostüm so Komisches gesagt habe?

Die Antwort der Professorin ging glücklicherweise in dem Geräusche der schurrenden Stühle und raschelnden Gewänder beim allgemeinen Niedersitzen ungehört unter.

Einen solchen Schrecken hatten die beiden Schwestern bekommen, so aufgeregt klopfte ihnen das Herz, daß sie keinen Löffel Suppe hinunterzubringen vermochten und zunächst gar nicht hörten, was ihre Tischnachbarn zu ihnen sagten. Erst nachdem sie ein paar Gläser Wein getrunken und die mehr in Fluß geratene allgemeine Unterhaltung die Aufmerksamkeit der Tischgäste von ihnen abgelenkt hatte, erholten sie sich so weit, um sowohl an den auserlesenen Gerichten, wie an der Unterhaltung ihrer Herren Geschmack zu finden.

Die Lizzi saß im heftigsten Kreuzfeuer, denn nicht nur der Herr Gregor Krajesovich von Nemes-Pann – sie hatte den pompösen Namen von der Tischkarte abgelesen, die auf seinem Weinglase lag – ihr erwählter Kavalier, sondern auch Herr Emmerich Vogel, der die Kathi, seine Dame, schrecklich vernachlässigte, redeten ununterbrochen auf sie ein, und sogar die weitersitzenden Herren, der Leutnant links und der Privatdozent Doktor Georgi rechts, lagen nur immer auf der Lauer, um ihr irgend eine Frage oder Artigkeit zuzuschreien, sooft ihren Nachbarn nur für einen Moment der Unterhaltungsstoff auszugehen schien. Das Durcheinander lauter Stimmen mit Begleitung von Messer- und Tellergeklapper machte Lizzi anfangs ganz wirr im Kopf, und sie wußte kaum selbst, was sie auf alle die hageldicht einschwirrenden Fragen antwortete. Doch gewöhnte sie sich daran bald genug, und das Kosten von allen den zahlreichen Weinen – es waren wohl sechs oder sieben Sorten im Laufe des Soupers, die den Gästen vorgesetzt wurden – übte auch bald genug seine Wirkung auf sie aus. Sie fand ihre angeborene kecke Unbefangenheit wieder und versetzte das ganze untere Ende der Tafel durch ihre drolligen Antworten und oft ganz witzigen Bemerkungen in die heiterste Laune, besonders durch die oft recht derbe Zurückweisung, die sie den zudringlichen Galanterien des Herrn Emmerich Vogel zuteil werden ließ. Sie amüsierte sich ausgezeichnet und hatte bald ganz vergessen, wie unangenehm steif, albern und geziert ihr alle diese Leute anfangs erschienen waren. Fräulein Zanthier und Fräulein Cholevius, die beiden jungen Damen in Weiß, schienen doch ganz nette, bei näherer Bekanntschaft mehr versprechende Mädchen zu sein, deren dringender Aufforderung, sie doch zu besuchen, sie bald folgen wollte. Selbst der Gardeleutnant war, abgesehen von seinem Schmachtscherben und seinen stereotypen Redensarten, gar nicht der fade Geck, als welcher er ihr anfangs vorgekommen war. Und ihr Nachbar gar, der edle Gregor Krajesovich von Nemes-Pann, entpuppte sich als ein feingebildeter, gewandter und unterhaltender junger Mann. Er war Mediziner und gedachte in nächster Zeit schon sein Staatsexamen zu machen, um dann wieder in seine Heimat an der ungarisch-serbischen Grenze zurückzukehren. In diese ihm sehr wenig zusagende Gesellschaft von Juristen und Theologen war er nur dadurch verschlagen worden, daß er von einem Wiener Freunde seiner Familie, der ein Studiengenosse des Professors Riemschneider gewesen war, ein Empfehlungsschreiben an diesen mitbekommen hatte. Er studierte nun schon zwei Jahre in Berlin und hatte in jedem Jahre einmal in diesem Hause Besuch gemacht, worauf er ordnungsmäßig je einmal eingeladen ward. Lizzi konnte der Versuchung nicht widerstehen, mit diesem hübschen und klugen jungen Manne in vertraulich gedämpftem Tone allerlei nicht eben schmeichelhafte Bemerkungen über die Würdenträger am oberen Ende der Tafel, ja sogar über ihren bedeutenden Oheim und die gestrenge Tante selbst auszutauschen.

Auch die gute Kathi hatte allmählich ihren Schreck verwunden und ihre Schüchternheit ein wenig abgelegt. Freilich wollte sich anfangs etwas wie Neid in ihr regen, als sie sehen mußte, wie ihre jüngere Schwester sich im Sturm alle Herzen eroberte und die lebhafte Teilnahme der gesamten erreichbaren Herren auf sich vereinigte; aber dann war's ihr doch wieder lieber, daß ihr auf diese Weise wenigstens die Unterhaltung Emmerich Vogels erspart blieb, der sich fast ausschließlich an Lizzi wendete mit seinen faden Scherzen und onkelhaften Vertraulichkeiten. Sie fand auch bald eine angenehme Entschädigung in der Unterhaltung ihres Nachbars zur Rechten, des Doktors Georgi, der als begeisterter Alpinist auch das bayrische Hochland sehr genau kannte und daraus einen auch dem scheuen Mädchen vertrauten Unterhaltungsstoff zog.

Man war bereits beim Eis und beim Champagner angekommen, als ein schallendes Gelächter am untern Ende der Tafel die Aufmerksamkeit der ganzen Tischgesellschaft erregte. Sämtliche Gespräche wurden unterbrochen, und aller Blicke wandten sich der Lizzi Mödlinger zu, die lieblich errötend von ihrem Platz an der unteren Schmalseite der Tafel aus an alle ihr entgegengehaltenen Spitzkelche der Reihe nach anstieß.

»Beim Zeus!« rief Professor Rufus laut und beugte sich, die Hand, um besser zu hören, vor die linke Ohrmuschel haltend, über die Tafel. »Beim Zeus, wir Greise hier oben möchten auch gern unser Teil haben von der Heiterkeit der blühenden Jugend da unten, hohohoho! Darf man fragen, was da unten so fröhlichen Anstoß erregt? hohoho!«

Emmerich Vogels dünne Stimme krähte die Antwort hinauf: »Wir stoßen an auf die Berliner Hühneraugen. Fräulein Lizzi meint« . . .

»Naa, naa, net sagen!« schmollte Lizzi und versuchte ihren Nachbar, indem sie ihn leicht beim Arm schüttelte, am Weiterreden zu verhindern.

»Ich glaube auch wohl, es wäre besser, wenn du uns mit diesen Scherzen verschontest, lieber Emmerich«, rief die Hausfrau spitz und scharf ihrem Bruder zu, während sie zugleich mit einem wahrhaft vernichtenden Blick die reizende Nichte, auf die jetzt aller Augen erwartungsvoll gerichtet waren, zu zerschmettern suchte.

Aber Emmerich Vogel ließ sich nicht abschrecken, sondern krähte laut über die ganze Tafel hin: »Nein, das müssen Sie hören, meine Herrschaften. Fräulein Lizzi sagt zu niedliche Sachen. Der junge Herr hier mit dem Namen, den man unmöglich behalten kann – Sie entschuldigen, Herr Kraxelowitsch und so weiter – also der Herr sprach von den slawischen Völkerschaften da unten herum, wo er zu Hause ist, und er behauptete, mit denen wäre es ungefähr so wie mit den Russen: wenn man sie bloß ein bißchen abkratzte, so käme der Barbar zum Vorschein; worauf Fräulein Lizzi erwiderte – Sie entschuldigen, ich kann es nicht so ganz richtig sagen wie sie: ›Ja, und wennst' dem Berliner die Lackstieferln ausziegst, nachher siegst's, wo ihn die Hühneraugen plagn‹.«

Das Gelächter, welches diesen Witz belohnte, war allgemein, nur die Giraffe und die Hausfrau, die einander gerade gegenübersaßen, rümpften die Nasen und tauschten Blicke des Einverständnisses aus.

Mitten in der allgemeinen Heiterkeit erhob sich Herr Emmerich Vogel und klopfte an sein Glas.

»Um Gottes willen!« rief der Geheimrat Riemschneider unwillkürlich halblaut und sandte einen hilfeflehenden Blick zu seiner Gattin hinüber, denn er konnte sich von dem Unterfangen des gefürchteten Schwagers nichts Gutes erwarten.

Aber der hatte bereits, ehe seine ebenfalls geängstigte Schwester noch irgend einen Rettungsversuch unternehmen konnte, die Schleusen seiner Beredsamkeit geöffnet.

»Meine Damen und Herren! Obwohl ich mich als einfacher Kaufmann in diesem auserlesenen Kreise gelehrter Männer und tiefsinniger Frauen – Pardon, ich bitte mich nicht mißzuverstehen, ich wollte sagen hochsinniger Frauen – obwohl ich mir, wie gesagt, in diesem Kreise eigentlich hilflos wie ein Waisenknabe vorkommen müßte – ich bin übrigens auch ein Waisenknabe, wir sind beide arme Waisen, ich und meine liebe Schwester Ida – so glaube ich mich doch berufen, sowohl in meiner bescheidenen Eigenschaft als naher Verwandter des Hauses Riemschneider, wie auch infolge des freundlichen Zufalles, der mich heute unter die blühende Jugend versetzt hat . . . glaube ich mich, äh, wie gesagt, unter diesen besonderen Umständen dennoch berufen, äh – das Wort zu ergreifen, um Sie darauf aufmerksam zu machen, daß das Haus Riemschneider heute nicht nur die Ehre hat, so viele berühmte Namen unter seinem Dache vereinigt zu sehen, sondern auch gleichzeitig sozusagen ein freudiges Familienereignis feiert.«

Hier machte der Redner eine kleine Pause, die er seiner Gewohnheit gemäß benutzte, um sich die Ohren zu reiben und an deren Lappen zu zupfen. Der Hausherr räusperte sich bedenklich und ließ einen ängstlichen Blick um den Tisch schweifen, wobei es ihm nicht entging, daß einige der Damen ihre Gesichter auffallend plötzlich hinter ihren Fächer verbargen. Wangen und Nase seiner Frau hatten schon fast die Farbe ihres seidenen Gewandes angenommen.

»Ein freudiges Familienereignis sage ich,« fuhr der Redner mit erhobener Stimme fort, indem er die Rechte auf den Tisch stemmte und den linken Daumen in die Tasche der weißen Weste versenkte. »Obwohl Ihnen allen bekannt sein dürfte, daß der Himmel die langjährige glückliche Ehe unseres verehrten Gastgebers nicht mit der gewünschten Nachkommenschaft gesegnet hat. Sie werden es daher begreifen, mit welcher Freudigkeit meine liebe Schwester auf den Gedanken ihres Gatten einging, den verwaisten Töchtern seiner Lieblingsschwester in seinem Hause ein neues, trautes Heim zu bereiten und damit zugleich die Lücke in ihrem von jeher mütterlich fühlenden Herzen auszufüllen. Ich glaube in Ihrer aller Sinne zu sprechen, wenn ich die Fräulein Kathi und Lizzi Mödlinger als die gewissermaßen vom Himmel gefallenen lieblichen Töchter des Hauses in unserer Mitte freudig willkommen heiße! Zu einem solchen herzlichen Willkommengruß bietet die heutige festliche Gelegenheit um so mehr Veranlassung, als meine reizende Nachbarin zur Rechten heute ihren achtzehnten Geburtstag feiert. Meine Damen und Herren, ergreifen Sie Ihre Gläser und stimmen Sie mit mir ein in den Ruf: Fräulein Lizzi, die schönste Zierde des Hauses Riemschneider, das liebliche Münchener Kindl, ab heute hoffnungsvolle Berlinerin, lebe hoch – hoch, hoch!«

Die ganze Tischgesellschaft erhob sich und stimmte laut in den Ruf ein und dann kamen sie alle mit den Sektgläsern in der Hand zu der hold errötenden, strahlenden Lizzi herunter, um mit ihr anzustoßen und ihr Glück zu wünschen. Nur die Giraffe und die Ziege begnügten sich damit, ihr von weitem steif zuzunicken und sich dann rasch wieder zu setzen. Die Majorin von Goldacker ließ es wieder an Küssen und Umarmungen nicht fehlen und brachte durch ihre raschen Bewegungen in dem dichten Gedränge die Augen verschiedener Herren und Damen in nicht geringe Gefahr, mit den rechts und links ausschlagenden spitzen Drahtecken ihres Flitterkragens in schmerzhafte Berührung zu geraten. Die ältesten und steifsten Würdenträger fanden für das liebliche Geburtstagskind einige freundliche Worte, und der große Archäologe mit der homerischen Lache ging sogar in seiner Liebenswürdigkeit so weit, Lizzi väterlich auf den Scheitel zu küssen und sie aufzufordern, ihn doch einmal zu besuchen, um unter seiner Führung die antike Abteilung des Museums kennen zu lernen.

Selbst die Frau Geheimrätin hatte es über sich vermocht, ein liebevolles Lächeln über ihre breiten Züge auszugießen und die Nichte auf beide Wangen zu küssen, während sie dabei laut ausrief: »Also nochmals meine herzlichsten Glückwünsche, mein geliebtes Kind! Du weißt ja, wie gut ich es mit dir meine.« Ihrem Bruder aber flüsterte sie etwas abseits von dem allgemeinen Gedränge mit zornsprühenden Augen zu: »Lieber Emmerich, ich glaube, du mußt betrunken sein. Diese taktlose Anspielung auf meine Kinderlosigkeit . . .! Und außerdem: ein solches Wesen mit diesem Mädchen zu machen, das sowieso schon vor Eitelkeit platzt und sich nicht zu benehmen weiß. Na, wir sprechen noch miteinander, mein Lieber.« – –

Das Souper ging jetzt sehr rasch zu Ende. Es war gerade Mitternacht, als die Hausfrau die Tafel aufhob und die Herrschaften in derselben Ordnung, in der sie gekommen waren, den Rückmarsch in den Salon antraten. Lizzi und ihr schöner Herr Gregor Krajesovich von Nemes-Pann gingen als die letzten hinterher. Er funkelte sie mit seinen schwarzen Augen verliebt an, und sie hing sich fest an seinen Arm und lachte: »Gel Sie, jetzt wenn mer tanzen könnten, des war fei lustig!"

»Ach ja!« flüsterte er mit einem feurigen Seufzer zurück. »Aber nicht hier unter diesen steifen Perückenstöcken, wo es so nach gelehrtem Staub und Schweinsleder riecht! In einem großen, glänzenden Ballsaal mit aufregender Zigeunermusik, wie bei mir daheim. O, gnädiges Fräulein, da möchte ich mit Ihnen über glattes Parkett fliegen, immerzu, Sie gar nicht wieder loslassen aus meinen Armen! O, ich bitte, werden wir uns wiedersehen? Wir, müssen uns wiedersehen! Aber nicht hier. Bitte, sagen Sie schnell, wo? – ich bitte dringend.«

Man sagte sich allgemein »Gesegnete Mahlzeit«, und auch Herr von Krajesovich schüttelte, auf der Schwelle des Salons angekommen, Lizzi die Hand und drückte sie dabei fest in der seinigen.

Lizzi blickte verwirrt zu Boden und flüsterte: »Ja, ich weiß net, ich bin ja hier zu fremd.«

»Können Sie morgen um zwölf Uhr an den großen Stern im Tiergarten kommen?« flüsterte der schöne Serbe ganz leise und eindringlich. »O bitte, Sie dürfen nicht nein sagen – es handelt sich um mein Lebensglück!«

Lizzi fühlte sich wie berauscht und willenlos. Ganz im Banne seiner feurigen Augen flüsterte sie zurück: »Ich will's versuchen.«

In diesem Augenblick kamen Kathi, der Leutnant und die Fräulein von Zanthier und Cholevius auf sie zu und baten sie, doch noch ein Lied zum besten geben zu wollen.

Sie trat mit Kathi beiseite, um sich zu beraten, als der vorlaute Emmerich Vogel bereits der Gesellschaft verkündigte, daß die Schwestern noch etwas singen wollten.

Allein er hatte noch kaum zu Ende gesprochen, als die Frau Professor Rümpelmann ihren langen Hals emporreckte, dem Gatten und der Tochter einen Wink gab und mit ausgestreckten Händen auf die Herrin des Hauses zurauschte, um sich zu verabschieden.

»Wir können leider nicht länger bleiben, meine liebe Frau Geheimrätin, unsre Stunde ist gekommen. Es war ganz reizend bei Ihnen. Herzlichen Dank! Die Herrschaften werden sich durch unsern Aufbruch hoffentlich nicht stören lassen.«

Aber die Herrschaften ließen sich doch stören. Es wäre ja zu sehr gegen den guten Ton gewesen, nach dem Aufbruch der ältesten Dame noch lange zu verweilen. Es vergingen kaum zwanzig Minuten, und jeder der Herren hatte von dem Geheimrat seine Heimwegszigarre und die Minna unten an der Haustür ihre Trinkgelder in die Hand gedrückt bekommen. Auch Herr Emmerich Vogel, der seine verwandtschaftlichen Vorrechte benutzen wollte, um die Gesellschaft der hübschen Nichten noch etwas länger zu genießen, war von seiner Frau Schwester mit sanfter Gewalt hinausgejagt worden. – –

Als die Pendüle im Salon halb eins schlug, war die Familie Riemschneider allein. Der Geheimrat rauchte noch seine Zigarre. Er hatte Kathis Hand gefaßt, tätschelte sie zärtlich und war in bester Laune.

Da trat seine Gattin in die Mitte des Zimmers und wandte sich mit einer königlichen Handbewegung an die beiden Nichten: »Ihr könnt jetzt zu Bett gehen, ich hab' noch mit den Leuten zu tun. Gute Nacht.« Und dann trat sie einen Schritt näher an Lizzi heran und sagte mit spöttisch zusammengezogenen Lippen: »Nun ich denke, das Geburtstagskind wird wohl mit seinen heutigen Triumphen zufrieden sein! Ich habe ja gar keine Ahnung gehabt von deinen verborgenen Talenten. Wenn du jodeln kannst wie eine Tirolerin von Profession, so mag das ja zu deinem Privatvergnügen oder auf hohen Bergen ganz angebracht sein, aber in meinen Salon passen dergleichen Kunstleistungen nicht. Ich möchte es nicht wieder erleben, daß ich aus dem Munde meiner Gäste in meinem Hause das Wort Café chantant hören muß. Ueberhaupt, meine liebe Elisabeth, muß ich dir sagen, daß ich mich schwer in dir getäuscht habe. Du hast noch gar keine Ahnung, wie sich ein gebildetes junges Mädchen unsrer Kreise zu benehmen hat! Wie du mit dem jungen Manne kokettiert hast, den wir dir als Tischnachbar zugeteilt hatten, das war geradezu unanständig – ganz abgesehen von deinen wenig zartfühlenden Witzen über die Berliner. Da ist man ja gar nicht sicher, ob du dir nicht über deinen Onkel und mich ähnliche Scherze erlaubst! Ich habe für dich erröten müssen. Etwas will ich ja deiner Jugend und Unerfahrenheit, deiner geschmeichelten Eitelkeit zugute halten; aber das sage ich dir: ehe ich nicht eine völlige Wandlung in deinem Charakter wahrnehme und wenigstens den aufrichtigen Willen zu einem ernsten sittlichen Lebenswandel – eher werde ich dich an unsern Gesellschaften nicht mehr teilnehmen lassen. Ich weiß mich hierin mit eurem Onkel vollkommen eins.«

Lizzi war dunkelrot geworden. Ihre Lippen bebten, und ihre Augen standen voll Tränen. Sie schritt rasch auf den Geheimrat zu, ergriff ihn beim Handgelenk und fragte mit bebender Stimme: »Ist das wahr, Onkel?«

Der arme Mann blickte hilflos und ängstlich zu seiner Gattin hinüber und erwiderte stockend: »Hm, ja, mein liebes Kind – in diesen Dingen – ich weiß nicht – da muß ich doch wohl die Verantwortung meiner Frau« . . .

Frau Ida ließ ihn gar nicht ausreden. Sie wies gebieterisch nach der Tür und rief mit triumphierendem Lächeln: »Es wird dir wenig helfen, die Gutmütigkeit deines Onkels gegen mich anzurufen. Ich rate dir in deinem eigenen Interesse, es ruhig hinzunehmen, was ich über dich bestimme. Uebrigens: die Frau Majorin von Goldacker hat da ein gewisses, sehr häßliches Wort fallen lassen, welches auf die Absichten, mit denen ihr unser Haus betreten habt, nicht gerade das beste Licht wirft – davon reden wir ein andermal. – Gute Nacht, Käthchen. Mit deinem Betragen bin ich zufrieden. Fahre so fort und suche auf deine Schwester veredelnd einzuwirken. – Ach, da ist ja mein Dolli – da binschen du ja, mein Süßling!«

Die Minna hatte eben die Flurtür geöffnet und den kleinen weißen Haustyrannen, dem sie bei Gelegenheit des Hinausleuchtens der Gäste noch den Genuß eines kurzen nächtlichen Spazierganges verschafft, hineingeschoben. Mit putzigen, kleinen Sprüngen und leisem Freudengewinsel zottelte das Tierchen auf seine Herrin los. Die Geheimrätin lag trotz ihrer bordeauxroten Seide und echten Spitzen halb ausgestreckt auf dem Boden und drückte den Süßling zärtlich an ihren üppigen Busen. »Haben wir uns endlich wieder, mein Wonnevieh! Hast du dich so gebangt nach Mutterchen, nicht wahr, mein süßer Kleiner? Die bösen Menschen, nicht wahr? Hau, hau! Dollichen wünscht Mutterchen allein für sich.« Da lachte Lizzi kurz und spöttisch auf, packte Kathi fest am Arm und zog sie, ohne jemand »Gute Nacht« zu sagen, rasch zur Tür hinaus.


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