Ernst von Wolzogen
Die Erbschleicherinnen. Band 1
Ernst von Wolzogen

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Zweites Kapitel.

[In welchem zu lange Reden und zu kurze Betten vorkommen.]

Der Geheimrat Professor Doktor Riemschneider bewohnte die erste Etage eines vornehmen, neuen Hauses am Schöneberger Ufer. Die bunte Marmorpracht des Einganges und das vergoldete Treppengeländer imponierte den an die Münchener Einfachheit gewöhnten Schwestern ganz gewaltig, und Lizzi konnte sich nicht enthalten, bewundernd auszurufen: »Jesses, Kathi, schau, dees is aber nobel! Wenn ich da an unsere finstere Münchner Stieg'n denk', ui jeh! Gehört das Haus dem Onkel?« fragte sie die vorausschreitende Geheimrätin.

Die wandte sich, geziert lächelnd, zu ihr und erwiderte: »Nein, so weit haben wir's noch nicht gebracht. Wir wohnen hier nur zur Miete und schrecklich teuer, kann ich euch sagen. Ach ja, das bringt unsere Stellung so mit sich! Die Leute sind zu beneiden, die keine so kostspieligen Rücksichten zu nehmen brauchen. Wir müssen eben entsprechende Räumlichkeiten haben für größere Gesellschaften, und die nehmen natürlich den meisten Raum in Anspruch. Vor einem Jahr, als wir hierherzogen, konnten wir ja freilich nicht wissen, welch ein trauriges Ereignis uns nötigen würde, euch zu uns zu nehmen. Wir haben gleich auf drei Jahre gemietet – da werdet ihr euch eben solange behelfen müssen. Ihr müßt nicht etwa denken, daß wir euch jeder ein Schlafzimmer und einen Salon zur Verfügung stellen können. Ich habe euch das Zimmer der Stütze zum Schlafen eingerichtet – die hab' ich natürlich jetzt entlassen, denn wenn man zwei junge Nichten ins Haus bekommt, nicht wahr, braucht man doch wohl keine fremde Hilfe mehr. Ihr seid ja auch, Gott sei Dank, nicht verwöhnt! – So, da wären wir, liebe Kinder. Willkommen in der neuen Heimat! Putzt euch, bitte, die Schuhe recht ordentlich ab, erst auf dem Kratzer und dann auf der Bürste, und dann tretet ein bißchen leise auf, falls euer armer Onkel noch schlummern sollte; er hat eine recht böse Nacht gehabt. Dreimal ist ihm übel geworden. Ich habe auch kein Auge zutun können – ich denke, ich werde mich auch noch 'n bißchen hinlegen.«

Sie waren inzwischen vor der prächtig geschnitzten eichenen Korridortür angekommen, und ein junges, etwas verdrossen aussehendes Dienstmädchen in weißer Latzschürze und einem Hamburger Häubchen auf dem Kopfe hatte auf das energische Klingeln der Gnädigen geöffnet.

Nachdem sie die Prozedur der Fußreinigung nach Vorschrift und unter Aufsicht der Tante vollzogen hatten, traten die jungen Mädchen ein. Der Vorraum war stockfinster, denn die Gasampel, die ihn erleuchten sollte, war heruntergeschraubt bis auf ein Nichts von einem Flämmchen.

»Machen Sie doch Licht, Minna«, fuhr die Geheimrätin im Flüstertone das Mädchen an. »Sie haben wohl wieder keine Streichhölzer mitgenommen? Sie wissen doch . . .«

»Der Jas brennt ja noch«, erwiderte Minna etwas schroff, indem sie auf einen Stuhl stieg und den Gashahn an der Ampel aufdrehte.

»Ich hab' Ihnen doch hundertmal gesagt«, begann die Geheimrätin etwas lauter, dämpfte aber gleich darauf die Stimme wieder herab und fuhr fort: »Mit Streichhölzern natürlich, da sparen Sie, weil es Ihnen eine kleine Mühe macht, aber das teure Gas wird verschwendet wie unsinnig.«

»Herrjott, Madamken, so kleene wie des Flämmchen war, da können Sie sechs Stunden für 'n Dreier brennen.«

»Minna, Sie werden wieder unverschämt – ein anständiges Benehmen werden Sie wohl nie lernen! Dieses ordinäre ›Madamken‹ habe ich mir doch ein für allemal verbeten.«

»Nu ja, von mein'swegen kann ich ja auch ›jnädige Frau‹ sagen. Mich is es ja schließlich einjal.«

Die Geheimrätin stieß einen verzweifelten Seufzer aus und wollte eben die Eigenart dieses dienstbaren Geistes vor ihren erstaunt dreinblickenden Nichten entschuldigen, als eine Tür sich öffnete und die hohe Gestalt des Professors scharf, wie aus schwarzer Pappe geschnitten sich vom Tageslicht abhebend, auf der Schwelle erschien.

»Ah, da seid ihr ja endlich«, rief er, den Nichten beide Hände entgegenstreckend: »Na, kommt nur herein und laßt euch anschauen, meine lieben Kinder.« Damit zog er sie über die Schwelle in sein prächtig ausgestattetes Studierzimmer hinein und führte sie bis dicht an eines der hohen Fenster.

Und seine Gattin trat hinter ihn, strich ihm mit der Hand zärtlich über die Schulter und flötete: »Aber nein, Adolfchen, wie lieb von dir! Hast du dich trotz deines leidenden Zustandes herausgemacht, um deine Nichten zu begrüßen! Ist dir auch wirklich besser?«

»Ja, danke, liebe Ida, ich befinde mich den Umständen nach leidlich. Ich habe vor einer halben Stunde einen Löffel doppelkohlensaures Natron eingenommen.«

»Doch wieder Natron!« rief Ida besorgt; »du weißt doch, das verschleimt den Magen auf die Dauer. Du hättest lieber den heißen Umschlag noch eine Stunde lang auf dem Unterleibe liegen lassen sollen.«

»Nun ja, mein Herzchen, freilich«, wehrte der Professor die Gattin milde ab. »Euer liebes Tantchen ist immer gleich so besorgt um mich, hehe! Aber ich werde mich ja wohl mit Gottes Hilfe auch so erholen; ich konnte euch doch nicht mein Haus betreten lassen, ohne euch herzlich willkommen zu heißen. Potztausend, wie seid ihr gewachsen! Und beide fast gleich groß! Ich muß gestehen, hehe, ich weiß gar nicht mehr, welches die Katharina und welches die Elisabeth ist.«

Er sprach Elisabeht aus und glaubte offenbar etwas sehr Scherzhaftes gesagt zu haben, denn er schnitt sehr merkwürdige Grimassen und japste dazu mit sonderbar nach innen gezogenen Schluckstönen. Vermutlich sollte dieses eigentümliche Geräusch ein herzliches Gelächter vorstellen, denn seine zärtliche Gattin fiel sofort mit ihrem lauten, harten »bru-hi-i-i-i-i« ein, das sie aber plötzlich erschrocken abbrach, als sie bemerkte, wie das ledergelbe, langfaltige Gesicht des Geheimrates sich rötete und der Atem ihm röchelnd in der Kehle stecken blieb. Seine zarte Konstitution schien der ungewohnten Anstrengung eines Heiterkeitsausbruches nicht gewachsen zu sein.

»Adolfchen, du tust dir Schaden, denke an dich!« mahnte sie besorgt, indem sie den großen Mann bei beiden Schultern packte und liebevoll auf den nächsten Stuhl, einen weiten, bequemen Ledersessel, niederdrückte. »Ihr müßt euch in acht nehmen, daß ihr euren lieben Onkel nicht mutwillig zum Lachen reizt,« wandte sie sich an die Nichten, »er hat ein so heiteres Gemüt, aber seit er vor drei Jahren die Brustfellentzündung gehabt hat, muß er sich sehr in acht nehmen, daß die inneren Teile nicht erschüttert werden. Aber wir wollen doch ablegen – macht's euch bequem, liebe Kinder, und hängt eure Sachen gleich ordentlich draußen auf. Da, bitte, ihr könnt meinen Mantel auch mit hinausnehmen. Das Futter bitte nach außen kehren.«

Stumm, auf den Zehen fast, schlichen die beiden Mädchen über den weichen Teppich nach der Tür, um ihre bescheidenen Jacken und Hüte sowie den kostbaren, innen mit gestepptem bronzefarbenem Atlas gefütterten Samtdolman der Frau Tante aufzuhängen. Außer einem leisen »Grüß Gott« beim Eintritt war bisher noch kein Laut über ihre Lippen gekommen. Auch während der Fahrt in der Droschke hatten sie keine drei Worte zu sprechen gebraucht, da es der Tante am Herzen lag, sie zunächst einmal mit den vortrefflichen Eigenschaften, Tugenden, Lebensgewohnheiten, Liebhabereien und kleinen Schwächen ihres Joli, des »Süßings«, eingehend bekannt zu machen. Nun standen sie also draußen in dem mattgelb erleuchteten Vorraum allein und drückten leise die Tür hinter sich zu. Mit kläglichen Mienen guckten sie einander in die Augen.

Lizzi puffte die Kathi in die Seite: »Na du, was meinst?«

»I möcht' wieder heim, i fürcht mi so!« Und das große, starke Mädchen, das aussah, als ob es junge Bäume ausreißen könnte, machte ein gar jämmerliches Gesicht und schien nicht übel Lust zu haben, wieder in Tränen auszubrechen.

»A so geh, Kathi, sei stad«, raunte ihr die Lizzi zu, ob ihr gleich selber nicht viel lustiger zumute war, und drückte den vollen Arm der älteren Schwester zärtlich an sich.

Sie standen gerade vor einem Spiegel, und wie sie, zufällig beide gleichzeitig aufschauend, ihre kräftigen Gestalten eng aneinander geschmiegt darin erblickten, hellten sich ihre trüben Mienen auf. Sie bogen die Schultern zurück und reckten die Brust heraus, dann atmeten sie beide gleichzeitig tief auf, lehnten Wange an Wange und standen so ein kleines Weilchen im Anblick ihres Spiegelbildes verloren. Und dann, als ob sie daraus Trost geschöpft hätten, küßten sie sich und gingen wieder in das Studierzimmer des Professors hinein.

Der Großwürdenträger der Wissenschaft war allein. Die große, breitschultrige, aber doch schon ein wenig schwächlich vornüber gebeugte Gestalt in einen langen Schlafrock gewickelt, schritt er in dem hohen, rings mit Bücherregalen umstellten Zimmer langsam einher, gerade auf die Nichten zu. Seine schlaffen, bleichen Züge hellten sich auf, als er die hübschen Kinder, Arm in Arm, hereintreten sah. Er blieb dicht vor ihnen stehen und musterte sie, über die Brille guckend, mit wohlgefällig gespitzten Lippen: »Aha,« begann er gedämpften Tones, »so präsentiert ihr euch gleich ganz anders. Man sieht doch wo und wie, hehe! Uebrigens wir haben uns ja noch gar keinen Kuß gegeben. Also, mein liebes Käthchen – meine liebe Elisabeth, nochmals herzlich willkommen! Und möge euch mein Haus in Wahrheit eine neue Heimat werden.« Er warf einen raschen Blick über die Brille nach jeder der drei Türen und dann zog er erst die Kathi und dann die Lizzi väterlich an sich und küßte sie bedächtig auf den Mund.

Die beiden Mädchen ließen sich's stumm gefallen, wenn sie auch die schmalen, bläulichen Lippen des Oheims etwa mit denselben angenehmen Gefühlen ihrem Mund sich nähern sagen, wie die Zange eines Zahnarztes oder einen Löffel voll bitterer Medizin. Und dann nahmen sie auf die Aufforderung des großen Mannes auf dem Sofa Platz, während er sich ganz in der Nähe auf dem Drehsessel vor seinem Schreibtische niederließ.

»So, nun wollen wir uns einmal etwas erzählen«, begann der Geheimrat, indem er die Beine übereinanderschlug und die Schlafrockenden über die Knie breitete. Er fragte nach ihrem Befinden, nach ihrer Reise, und die Mädchen antworteten kurz und schüchtern. Dann hatte die Unterhaltung vorläufig ein Ende, und der Professor saß nachdenklich da, rieb sich langsam die schmalen, durchsichtigen Finger und begann erst nach geraumer Weile wieder, die hohe Stirn runzelnd und die schlaffen Wangen in lange Falten legend: »Mnja – was ich sagen wollte. . . . Es ist ja ein sehr trauriges Ereignis, das mir und meiner lieben Frau die Freude verschafft, euch in meinem Hause zu sehen. Der Tod eurer guten Mutter, obwohl nur eine Erlösung von langem Leiden, wird natürlich nicht verfehlt haben, euch, meine lieben Kinder, sehr nahezugehen. Es war ihr nicht vergönnt, euch angemessen versorgt zurückzulassen, in gesicherten äußeren Verhältnissen, meine ich. Nach dem schroffen Bruch mit ihrer ganzen Familie durfte sie sich allerdings nicht wundern, wenn sie nach dem Tode ihres Gatten auf ihre eigenen Kräfte und Fähigkeiten angewiesen blieb. Eure liebe Mutter war sehr . . ., wie soll ich sagen: stolz ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort. Diejenigen von uns, die Gott mit weltlichen Gütern gesegnet hat, wären ja selbstverständlich bereit gewesen, ihr in ihrer Not beizustehen, aber sie zog es leider vor, ihrer Familie gegenüber überhaupt nichts davon zu erwähnen.«

Da der Onkel hier eine kleine Pause machte, die er benutzte, um sich die Nase zu putzen, so hielt es Lizzi für angemessen, einige Worte einzuwerfen, und sagte ganz bescheiden: »Aber, lieber Onkel, wir hab'n doch nie e' Not g'litt'n.«

»Nun ja, wenn ihr auch nicht habt Hunger leiden müssen,« sagte der Geheimrat ein wenig ungeduldig: »ich meine nur, ihr hättet es doch immerhin besser haben können, wenn eure liebe Mutter nicht in ihrem Trotz . . . mnja, de mortuis nil nisi bene! Ich weiß nicht, wie meine gute Schwester euch die Verhältnisse dargestellt haben mag – jedenfalls seid ihr nun erwachsene Mädchen, mit denen man wohl diese Dinge besprechen kann. Du bist zwanzig, liebe Käthe, und du achtzehn, liebe Elisabeth, nicht wahr?«

Kathi nickte nur bestätigend mit dem Kopfe, aber Lizzi berichtigte eifrig: »Doch net ganz, lieber Onkel, mein Geburtstag is erst heut über acht Tag!«

»So, so, so,« versetzte der Geheimrat, etwas mühsam lächelnd, »da werden wir also die Freude haben, ein kleines Familienfest zu begehen? – Hmn ja, was ich sagen wollte: der Ernst des Lebens ist ja auch an euch, meine lieben Kinder, schon herangetreten, und ich halte es daher für angemessen, ganz offen mit euch zu reden. Ich weiß ja nicht, ob eure liebe Mutter mit euch von der Vergangenheit gesprochen hat und wie sie euch das Verhalten ihrer Angehörigen dargestellt hat, aber ihr werdet jedenfalls wissen, daß ich der einzige von ihrer ganzen Familie war, der, ohne daß von ihrer Seite aus irgendwelche Annäherung erfolgt wäre, gelegentlich seiner letzten Anwesenheit in München den ersten Schritt zur Versöhnung getan hat, obwohl gerade ich – das darf ich wohl sagen – sowohl in meiner früheren Stellung als Konsistorialrat, wie auch in meiner jetzigen als Lehrer des Kirchenrechtes vielleicht mehr Ursache gehabt haben dürfte, mich durch die unbesonnene Heirat meiner guten Schwester verletzt zu fühlen, als sonst irgend jemand von ihrer Familie.«

Der Professor hatte, ohne zu stocken, dieses Ungeheuer von einem Satze bewältigt und lehnte sich nun, ein wenig erschöpft zwar, doch ersichtlich befriedigt, in seinen Sessel zurück. Er blickte die beiden Nichten triumphierend, eine um die andere, an, also, daß die armen Hühner kaum zu atmen wagten. Sie hatten von ihrem längst verstorbenen Vater nie etwas anderes als Gutes gehört und konnten darum schlechterdings nicht begreifen, wie ihre Mutter durch die Heirat ihre Verwandten verletzt haben sollte, aber zu fragen getrauten sie sich natürlich nicht.

Sobald der Onkel wieder zu Atem gekommen war, räusperte er sich aufs neue und ließ sich weiter also vernehmen: »Es freut mich, konstatieren zu können, daß eure Mutter meine gute Absicht anerkannt hat. Sonst hätte sie wohl auch nicht in ihrem letzten Brief die Sorge für eure Zukunft gerade in meine Hand gelegt, wenn auch allerdings die Erwägung ins Gewicht fallen mochte, daß ich kinderlos und, nach bescheidenen Begriffen wenigstens, in guten Verhältnissen bin. Nun aber, meine lieben Kinder, komme ich zu dem wichtigsten Punkt, mnja . . ., ich halte mich für moralisch verpflichtet, euch von vornherein die Illusion zu nehmen, als ob ihr nun etwa in das üppige Heim eines reichen Mannes gekommen wäret und euch einem schwelgerischen Müßiggang hingeben könntet. Ich bin erstens einmal nicht der reiche Mann, für welchen ich vielfach angesehen werde, denn ich muß euch sagen, daß die Brüder meiner lieben Frau es nicht verstanden haben, das ererbte Geschäft des Vaters auf der alten Höhe zu erhalten und infolgedessen vielfach meine finanzielle Unterstützung in Anspruch zu nehmen genötigt sind. Wäre das aber auch nicht in dem Maße der Fall, so würde ich es doch für pädagogisch unrichtig halten, euch durch einen Luxus zu verwöhnen, der weder mit eurer gegenwärtigen Lage noch mit euren zukünftigen Aussichten im Verhältnis steht. Ich werde es mir angelegen sein lassen, euch zu nützlichen Studien anzuleiten, und eure liebe Tante wird das ihrige dazu tun, euch zu tüchtigen, bürgerlichen Hausfrauen und Müttern zu erziehen. In diesem Sinne, meine lieben Kinder, heiße ich euch also nochmals unter meinem Dache herzlich willkommen.«

Damit erhob er sich langsam von seinem Sessel und ging mit ausgebreiteten Armen auf die Nichten zu, die ebenfalls, wie auf Kommando, aufstanden. Er spitzte eben die schmalen Lippen zu einem abermaligen väterlichen Kusse, als durch die linke Seitentür Frau Ida im schwarzseidenen Kleide hereingerauscht kam, wodurch sich der Professor bewogen fühlte, sein Vorhaben aufzugeben.

»Mein Gott, Adolfchen, wie siehst du denn aus?« rief die stattliche Dame, rasch auf ihn zutretend und wie beschwörend die Hände faltend: »Ganz aufgeregt! Du hast gewiß wieder zu lange gesprochen. Du weißt doch, das tut dir am frühen Morgen nie gut, und besonders, wenn du etwas mit dem Magen hast. Du hast gewiß vergessen, daß du um elf dein zweistündiges Publikum hast? Du mußt dich wirklich mehr schonen, Adolfchen! Komm, leg dich noch ein Stündchen; ich will dir einen Pfefferminztee kochen, der tut dir immer so gut.«

»Ja, wenn du meinst, liebe Ida«, versetzte der Geheimrat schwach und ließ sich folgsam von der zärtlichen Gattin nach der gegenüberliegenden Tür führen. An der Schwelle wendete er sich nochmal um und fragte: »Ja, habt ihr denn auch schon Kaffee getrunken, ihr Mädchen?«

Die Schwestern verneinten, und Frau Ida rief: »Was noch keinen Kaffee? Ich dächte, ihr hättet in Wittenberg Zeit dazu gehabt. Die Köchin soll euch schnell welchen wärmen, kommt nur mit ins Eßzimmer.«

Während die Geheimrätin ihren Gatten zu Bette brachte und die Köchin den Kaffee wärmte, blieben die Schwestern allein und hatten Muße, sich in dem großen Eßzimmer umzusehen. Außer dem stattlichen, geschnitzten Eichenbüfett, dem Ausziehtisch und zahlreichen hochlehnigen Stühlen waren keine Möbel darin, aber die Wände waren ganz bedeckt mit großen Photographien klassischer und frühchristlicher Skulpturen und Bauwerke unter Glas und Rahmen. Die Mädchen vertrieben sich die Zeit damit, diese Photographien zu besehen, dabei gähnten sie einmal über das andere, denn sie waren gar sehr müde, und die dargestellten Gegenstände interessierten sie wenig.

»Jesses, jesses, aber auch gar net a bißl 'was Netts!« seufzte Kathi nach längerem Stillschweigen ganz verzweifelt.

Lizzi legte die Stirn in Falten und stimmte ihr wehmütig bei: »Du, weißt, mir scheint, hier im Haus wird's überhaupt net viel Lustiges geben. Der Onkel – ui je, der red't wie a Buch, da 'traut man sich kein Wörtl z' sag'n! Jetzt bin ich bloß neugierig auf unser Zimmer. Grad ins Bett leg'n möcht' ich mi und vierundzwanzig Stund schlafen wie a Ratz!«

»Ja, dees wann mer dürften«, rief Kathi matt lächelnd, und ihre sanften grauen Augen leuchteten auf vor Begehrlichkeit.

Bald darauf brachte die Minna den Kaffee und teilte ihnen mit, daß sie beauftragt sei, sie nach Beendigung ihres Frühstücks auf ihr Zimmer zu führen.

Die Schwestern wurden um so rascher damit fertig, als sich der Kaffee als eine jämmerliche, dünne Brühe erwies, dergleichen sie aus den Händen ihrer braven alten Gretl niemals empfangen hatten.

Auf ihr Klingeln erschien die Minna wieder und erkundigte sich freundlich, wie es geschmeckt habe. Und dann, als die Schwestern etwas verlegen, da sie nicht gewohnt waren, zu lügen, »Danke, ganz gut« geantwortet hatten, flüsterte ihnen die Minna leise kichernd zu: »Die Herrschaft trinkt 'n stärker. Die Frau Jeheimrätin war extra in der Kiche und hat der Kechin jesagt, sie sollte man nich erst nei ufbrüh'n, sondern den alten ufwärmen und 'n bißken Wasser mang planschen, damit daß et nich so lange dauerte. Na, wissen Se, iberhaupt: was die Frau Jeheimrätin is! So ville Jeld – und dabei so 'n Jeizkragen! Na, ick danke! Wenn se ihre feine Jesellschaften geben, denn wird man so jeaast mit 's Jeld, und unsereinen, was 'n anständijer Dienstbote is und sich 'n janzen Tag schinden und abrackern muß, uns jönnt se nich mal de Butter aufs Brot. Det heeßt, ick habe nischt jesagt! Sie wer'n ja schon selber sehen. Na, nu kommen Se 'mal, ick werde Ihnen die betreffende Reimlichkeit zeijen. Wie lange bleiben denn die jung'n Damen da, wenn man fragen derf?«

»Ich weiß net, kann schon sein, für immer«, antwortete Kathi verlegen, und die Minna schlug die roten Hände verwundert zusammen und sagte mitleidig: »Ne – is wahr!? Na, det heeßt, mir jeht's ja nischt an, aber wenn Se det aushalten, denn kennen Se mehr verdragen wie andere Leite. Was de Dienstmädchen sind, die haben mehrenteils schon nach een, zwee Monate jenug! – Det heeßt, wissen Se, der Herr Jeheimrat, des is 'n janz juter Mann – er kann man bloß nicht immer so wie er wohl mechte.« Damit schritt sie vergnügt kichernd zur Tür hinaus.

Die beiden Mädchen folgten ihr auf dem Fuße. Erst ging's ohne Aufenthalt durch einen üppig ausgestatteten Salon, dann kam das ziemlich finstere, sogenannte »Berliner Zimmer« mit einer breiten Glastür nach dem Salon und einem großen Fenster in der abgestumpften Ecke nach dem Hof hinaus – es stellte wohl so eine Art Wohnzimmer zweiter Klasse dar – und dann betraten sie einen langen, schmalen, fast ganz finsteren Gang, der mit Schränken und sonst allerlei Hausgerät so erfüllt war, daß nur eine schmale Gasse frei blieb. In diesem Gang öffnete das Mädchen eine Tür und lud die jungen Damen ein, näherzutreten, mit den freundlichen Worten: »So, bitte. Des wär' nu also Ihr Schlafzimmer. Sehr breit machen derfen Sie sich nu freilich nich, für zweie is es en bißken jedrange. Die Stütze, die hatt' es ja besser, die schlief hier alleene. Jott sei Dank, daß se weg is, so 'n quatsches Frauenzimmer wie des war! Den Schrank hab'n wer missen 'raussetzen von wejen die zwei Betten. Sehn Se, da draußen in'n Jang steht er janz bequem, jleich die Tire jegenüber, damit Se nich lange ins Hemde 'rumlaufen brauchen, wenn Se sich morjens 'n andres Kleid holen wollen. In die Kommode is auch 'ne Masse Platz, bloß mit die Waschtoilette, da missen Se sich 'n bißken inrichten, wissen Se. Da kennen Se ja immer mit abwechseln, daß immer eene noch 'n bißken liejen bleibt, bis die andre sich jewaschen hat. So, nanu machen Se sich's bequem, Freileinchen, und wenn Se sonst noch was wollen, vielleicht Wasser oder so was, denn drücken Se jefälligst zweemal uff 'n Knopp. Zweemal bin ick, eenmal ist de Kechin.«

Den beiden Schwestern sank das Herz, als sie sich in dem engen, unbehaglichen Raume umsahen, der sie nun für unabsehbare Zeit beherbergen sollte und der nicht einmal die bescheidenen Bequemlichkeiten aufwies, die sie von der mütterlichen Wohnung her gewohnt waren. Zwischen den beiden Betten blieb nur ein zwei Schritt breiter Gang frei, der außerdem durch ein quer vor das Fenster gestelltes Tischchen und einen alten Polstersessel, sowie zwei Rohrstühle so ziemlich ausgefüllt war, und den noch übrigen Raum nahm der Waschtisch und die Kommode ein.

Ach, die Kathi, die sich gern mit ihrem Handarbeitskram so recht behaglich breit machte, und die Lizzi, die sich so gern schmökernd auf dem Sofa räkelte, wo sollten die da bleiben? Es dauerte eine ganze Weile, bis sie von dem sprachlosen Entsetzen sich so weit erholten, um ein paar Bemerkungen austauschen zu können.

Es zuckte der Lizzi krampfhaft im Gesicht, sie hätte am liebsten laut aufgeschluchzt, aber sie verbiß sich tapfer die Tränen und sagte, grimmig lächelnd: »Du, weißt, die Müh', unsere Koffer auszupack'n, die könn' mir uns hier spar'n. Das beste is, mir gehn ins Bett.«

»Ja, aber wenn d' Tante nachher was von uns will?« wandte Kathi zaghaft ein.

»Dees is mir ganz gleich, ich schlaf' jetzt«, versetzte Lizzi und riß mit einem energischen Ruck die ganze Reihe ihrer Taillenknöpfe auf einmal auf.

Zwei Minuten später lag sie schon im Bett, und Kathi folgte etwas langsamer ihrem Beispiel.

Aber nein, das war doch auch für ihre Engelsgeduld zuviel! Wütend stieß sie mit ihren Füßen gegen die untere Bettwand und rief mit ausbrechenden Tränen: »Ja, was denken denn die Leut', dees is ja a Bettlad wie für ein zwölfjähriges Dirndl! G'rad 'nausfluchen möcht i jetzt. Die ganze Nacht sitzen müssen, und jetzt kann mer net amal seine Baner ausstrecken. Dees, wann i g'wußt hätt'! I glaub', i hätt' lieber den dalketen Tauerl g'heiratet, der mir so lang nachg'stieg'n is, den vom Hirschenwirt, weißt?«

»Und ich,« schluchzte die Lizzi, sich im Bett halb aufrichtend, »i möcht' gleich katholisch wer'n und ins Kloster gehn!«

Und beide schlugen sie halb närrisch vor Zorn und Verzweiflung auf ihre Deckbetten los und schluchzten um die Wette, bis endlich die Müdigkeit doch ihr Recht forderte und sie allmählich einschlafen ließ – freilich mit aufgezogenen Knien, jämmerlich zusammengekrümmt in den kurzen Kinderbetten, die Unglückswürmer, die sie waren.


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