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Zwölftes Kapitel.

Das war ein schlimmer Empfang geworden, als das verwaschene und zerdrückte Lottchen an jenem Abend die Pfarrei betreten hatte. Es hatte durch den Garten ins Haus gewollt, aber die Tür von innen verriegelt gefunden. Und da hatte es denn vorn hineingehen müssen, wo die garstige Schelle jeden Eintretenden so durchdringend ankündigte. Es waren auch alsbald aus der Küche die Karsunken und aus der Studierstube der Pfarrer in den Flur getreten, um das ängstlich vermißte Kind in Empfang zu nehmen.

»Herrjeses, Herrjeses, unse Mamsell,« kreischte die alte Karsunken, »wie sieht se bloß aus! Bei so'n Wetter in'n Wald! Nee, ik sage, über die jungen Mächens aber ooch! Dreimal hat's injeschlagen in'n Wald. Den Dod hätt' sich unser Kindeken holen können! Und natürlich – Schuh und Strümpe quatschnaß. Nu man fix ins Bette mit das Kind und warm zujedeckt. Ik wer' mir sputen und kochen Tee.«

»Ach ja, tun Sie das, Karsunken,« hatte Lottchen erwidert, dankbar die Hand der Alten drückend. »Es ist mir so frostig geworden nach dem Regen. – Ich will mich bloß aufwärmen, Vadding, dann komm' ich wieder herunter.«

Sie hatte eiligst an dem Vater vorbei und die Treppe gewinnen wollen, aber er hatte im Vorüberhuschen ihren Arm gepackt und sie, ohne ein Wort zu sagen, in seine Stube hineingezogen. Da hatte er sie mit einer unsäglich verächtlichen Gebärde von sich weggeschleudert, so daß sie in seinen Lehnstuhl hineintaumelte. Und dann war er vor sie hingetreten und hatte mit zornbebender Stimme das Verhör begonnen.

»Wo bist du gewesen?«

»Im Wald.«

»Mit wem?«

»Mit niemand, Vater.«

»Wo im Wald?«

»Weit, weit drin. Ich habe mich verirrt und bin zu einem Wiesengrunde gekommen, wo ich noch nie vorher gewesen bin. Und da kam das Gewitter. Da ...«

»Was da?«

»Da trat ich unter einen Baum, und da sind mir vor Angst die Sinne vergangen. Und dann – und dann habe ich mich wieder auf den Weg gefunden.«

»Allein?«

»Gewiß, Vadding. Es war doch niemand im Walde.«

»Wohl war jemand im Wald,« rief der Pfarrer zornbebend, »Rasmussens Mathis war im Wald.«

»Nein, Vater, gewiß nicht – gewiß und wahrhaftig nicht!«

»Ich sage dir, Rasmussens Mathis war im Wald und hat Krischan Barnekow seine vermaledeite Fleute blasen hören, und ist euch nachgegangen und hat gesehen, wie du dich da mit dem Lotterbuben getroffen hast, und der alte Krischan allein umgekehrt ist. Fünf Stunden bist du mit deinem Galan beisammengewesen in solchem Unwetter, daß wir vermeineten, der Blitz müsse dich erschlagen haben, und seind vergangen vor Angst und Herzeleid. Wenn uns der Mathis nicht die saubere Botschaft gebracht hätte – wir hätten wohl das Dorf alarmieret und den Bodden nach dir abfischen lassen. So aber habe ich alsbald diesen elenden Vaganten, den Stellmacher, koramieret. Und weilen er's nicht leugnen konnte, hat er mir wollen einen guten Mut machen und mich des getrösten, daß du in der alten Kohlenbrennerhütte vor Blitz und Regen wohl bewahret seiest – Und nun findest du endlich nach Hause und wartest deinem Vater mit Lügen auf?«

Da hatte Lotte, vor Schreck kaum minder betäubt als vorher von dem furchtbaren Donnerschlag, ihren Kopf auf die Brust sinken lassen und, keines Wortes mächtig, erschlafft an allen Gliedern, dagesessen wie ein armer Sünder, der sein Urteil erwartet.

»Warum erwiderst du nichts?« hatte sie der Vater nach einer längeren Weile angeherrscht.

Und sie darauf: »Er weiß ja nun alles.«

Da war dem Pfarrer Südekum das Blut mit aller Macht ins Hirn geschossen, also daß er rot sah und die Stube sich vor seinen Augen drehte. Aller Groll, aller Kummer, alles, was er in diesen schweren Monden an seiner Ehre erlitten, alles, was er an Krankheit, Schmach und Herzeleid erfahren hatte, das stieg miteins wie ein gewaltiger heißer Bronnen in ihm empor und hüllte in Gischt und Dampf seine Sinne ein. Furchtbare Worte ohne Zusammenhang, halb erstickt, in kaum mehr menschlichen Schmerzenslauten, hatte er seinem einzigen Kinde entgegengeschleudert und schließlich gar seine schwere Hand dawider erhoben. Da war Lotte mit einem Schrei auf die Füße gesprungen, und die Todesangst hatte ihr die Kräfte wiedergegeben, so daß sie dem Streiche von ihres Vaters Faust ausweichen und die Tür gewinnen konnte. Und im Flur hatte sie die alte Karsunken in ihren Armen aufgefangen, wider den Nachstürmenden beschirmt und in ihre Kammer hinaufgeleitet.

Die Alte hatte sie zu Bett gebracht und ein Nachtessen hingestellt, das sie aber nicht anzurühren vermochte, und hatte ihr lange gutmütterlich zugeredet, mit allem, was ein durch Leid und Freud' gegangenes Alter der verzweifelnden Jugend zu sagen weiß. Es hatte aber alles dem zu Tode erschrockenen Gemüte keinen Trost bringen können. Und dann hatte Lotte die gute Alte schlafen gehen geheißen und selber noch stundenlang zwischen Todesfurcht und heißer Liebessehnsucht wie zwischen Wachen und Schlafen in ihrem schmalen Bettlein sich hin und her geworfen.

Es mochte wohl nahe gegen Mitternacht gewesen sein, als sie, von einem Lichtschein beunruhigt, aus ihrem Halbschlummer emporfuhr. Da war der Vater vor ihr gestanden, mit der Lampe in der Hand über ihr Bette hinleuchtend.

Und sie hatte aufgeschrieen in ihrer Angst: »Vadding, och Vadding, tu mir nichts zuleide! Ich bin doch nicht schlecht. Ich bin doch bei Gott keine lose Deern. Ich weiß ja nichts von mir und wie es hat geschehen können. Ich weiß doch nur, daß ich einen Menschen selig gemacht habe. Och Vadding, wenn du ihn gesehen hättest, den Fritz, wie er mir so stolz zur Seite geschritten ist und hat in den Wald hinausgeschrieen wie ein junger Hirsch! – Laß mich doch leben, Vadding, ich hab' doch keine Sünde getan!«

Da hatte er das Lämpchen auf die Kommode gestellt, seines Kindes beide Hände ergriffen und ihm lange in die Augen geschaut. Dann hatte er es mit sanftem Ernst geheißen niederzuknieen zum Gebet. Sie hatte sich in ihrem Bette aufgerichtet, und er war vor der Lagerstatt in die Kniee gesunken und hatte sein Angesicht in seine Hände vergraben. Und endlich waren aus seiner tiefsten Seele gleich Flammen heiße Worte zum Himmel aufgestiegen. Hart hatte er gerungen wider sein Herzeleid, wider seinen Menschenzorn und wider seinen heiligen Eifer, und unter ausbrechenden Tränen den Herrn um Erleuchtung angefleht in dieser Finsternis seines Gemütes und dieser Wirrnis seiner Gedanken.

Und dann hatte er sich mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung erhoben, die Hände auf Lottchens Haupt gelegt und sie endlich verlassen mit den Worten: »Schlaf du nun, mein Kind! Wir wollen sehen, was der Morgen bringt. Gottes Kinder dürfen nicht verzweifeln: vielleicht daß auch diese Prüfung zur Läuterung unserer Seelen dient. Gute Nacht!«

Des andern Tages ließ Lotte sich nicht eher unten sehen, als bis der Vater in die Kirche gegangen war. Sie hatte bis tief in den Morgen hinein geschlafen. Nun aber stand sie wieder fest auf ihren Füßen und schaute mit blanken, sehnsüchtigen Augen in den schönen Maiensonntag hinaus. Sie wollte sich fast schämen, daß sie so gesund und munter aufgewacht war. Und hätte doch am liebsten alle Geschehnisse des gestrigen Abends für einen wüsten Traum angesehen und wäre am liebsten wieder mit Jauchzen in den Wald gesprungen.

Sie ging nicht in den Gottesdienst, denn sie fürchtete, den Vater durch ihren Anblick bei seiner Predigt zu zerstreuen. Und sie mochte auch nicht den neugierigen Blicken der Amtmännischen und ihres Anhanges ausgesetzt sein, denn es war wohl zu vermuten, daß der Mathis seine seltsame Neuigkeit bereits gehörig verbreitet habe.

Bei der Mittagsmahlzeit ging es ganz still her. Es wurden nur wenige gleichgültige Worte gewechselt. Als aber das Dankgebet gesprochen war, räusperte sich der Pfarrer und sagte alsdann den beiden Frauen, sie sollten sich etwa in einer kleinen Stunde bereithalten zu einer Lustfahrt in den Forst. Er habe Fuhrwerk bestellt, und sie wollten gemeinsam den schönen Maientag genießen. Die Karsunken möge auch zwei Bouteillen Wein einpacken, zusamt der Stolle, die sie ehegestern zu Ehren des wiedergekehrten Lottchens gebacken habe.

Pünktlich zur festgesetzten Zeit hielt das Bauernwägelchen mit ein paar festgestopften Strohsäcken als Sitzgelegenheit für die mitzunehmenden Passagiere vor der Tür. Die Karsunken verstaute die Bouteillen und die Stolle im Kutschkasten, und auch Erasmus Südekum erschien mit einem Packen auf der Straße, der in ein weißes Leintuch gehüllt war, und hieß denselben gleichfalls im Kutschkasten unterbringen. Der junge Sohn des Pächters Peterke lenkte das Gespann. Neben ihm nahm der Pfarrer Platz, und aus dein Strohsack richteten sich die Karsunken und die Mamsell ein, so gut es ging. Und dann fuhren sie los.

Sie kamen beim Forsthause vorbei. Da saß der Knecht auf der Bank im Sonnenschein vor der Tür und rauchte sein Pfeifchen. Diana, der Hühnerhund, und Waldmann, der Teckel, bellten das Fuhrwerk an. Der Pfarrer ließ halten und rief den Knecht an: »Jochen, hör eins, ist der Förster wol tu Hus?«

»Nee,« versetzte jener, ohne aufzustehen, »der Förster is in't Gräfliche. Do möt en Wildschütz in'n Forst sin. Amtmanns Mathis het hem seihn. Heut früh hett dor ook einen mit de Büchs ballert. Und en Puhlendorpschen kann dat nich wesen sin. Dor hett keinen kein Schießgewehr nich. Der Förster meint, dat Aas müßt von die Nachbarschaft rüber kamen sin. De möten dat hürt hebben, dat jung Jasmund nu keen Deinst mehr deiht, dat sei nu in unsen Forst rüber wechseln, de Wildschützenbande, de verfluchtige. Un nu is hei rüber nah den gräflichen Förster, da wollen sei dat Ding mal fingern, wie sei den Kierl to fassen kreegen.«

Lotten schlug das Herz hoch. Sie versteckte sich hinter dem breiten Rücken der Karsunken, damit der Knecht sie nicht sehen sollte, noch auch die Hunde, die um den Wagen sprangen. Sie kannten sie ja so gut, denn wie oft waren sie mitgesprungen, wenn Försters Fritz und Pastors Lottchen miteinander gegangen waren. Sie war herzlich froh, als sie das letzte Haus von Puhlendorp hinter sich hatten und von der Landstraße in den Waldweg einbogen.

Hier hieß der Pfarrer abermals anhalten, so daß Lottchen sich rasch umwendete, um zu sehen, was es gebe, denn sie saß mit dem Rücken in der Fahrtrichtung. Da gewahrte sie mit nicht geringer Verwunderung, daß da Krischan Barnekow am Wege stand in seinem alten Begräbnisrock, den Dreispitz auf dem Kopfe, und wahrhaftig auch das Klarinettenfutteral unter dem Arm. Noch größer aber ward ihr schreckhaftes Erstaunen, als der Pfarrer den Alten aufsitzen hieß, und dieser alsbald, nachdem er die Frauen zutraulich begrüßt, zu ihnen in den Wagen kletterte und sich's auf dem noch freien Strohsack bequem machte, als ob solches ganz nach Verabredung geschehe.

Und wie nun das reichlich beschwerte Wägelchen fein langsam durch den weißen Sand mahlte, da haschte der alte Krischan nach Lottchens Hand, tätschelte sie freundlich und sagte behaglich lachend: »Na, Mamselling, wat seggt Sei nu, hehe! Nu hett oll Krischan doch woll en bannig schöines Stück blasen! Ik bin en ollen Philosoph, dat möt woahr sin. Hew ik's nich seggt? Un wenn de Köksch de Grütz ook noch so brandheiß von't Füer runnerdeit, de Minsch, wo eine Räsong im Leibe hett, braucht ihr nich so heiß to freten, dat hei sich dat Mul an verbrennt. Dat geiht doch all as de Wind weiht. Uns Pastor is ook en Minsch mit Räsong. Un dor kann hei nich gegen an, dat uns Herrgott de Minschen einerseits as Mannsbilder, annernteils as Weibsbilder erschaffen hat.«

Da wandte sich der Pfarrer um: »Halt Er seinen Rand, Krischan, und behalt Er Seine Philosophie für sich, bis unser Geschäft erledigt ist.«

Lottchen öffnete die Augen weit und drückte ängstlich Krischans Hand. Wo sollte das hinaus? Von welchen, Geschäfte sprach der Vater?

Aber der Alte legte nur den Finger auf den Mund und lächelte ihr ermutigend zu.

Der Weg begann ein wenig anzusteigen, und die beiden Ackergäule taten sich hart mit dem schwer geladenen Wägelchen. Da stiegen der Pfarrer und der Kutscher vom Bock herunter, um den Pferden die Arbeit zu erleichtern. Und auch Lotte folgte diesem Beispiel, weil die Untätigkeit bei so langsamer Fortbewegung ihr gar zu unerträglich war. So blieben denn die beiden Alten allein im Wagen sitzen und vertrieben sich auf ihre Art die Zeit mit eifrigem Geschwätz.

Der Pfarrer und sein Lottchen aber waren bald ein gutes Stück vorausgekommen, da es zu Fuß unter den Bäumen erheblich schneller vorwärts ging als zu Wagen.

»Ach, lieber Vater,« begann das Mädchen, sobald der Wagen außer Hörweite gekommen war, »will Er mir denn nicht sagen, was Er mit uns vorhat? Und was hat Er denn in Seinem Packen? Sollen wir denn etwa fliehen aus Puhlendorp und nimmermehr zurückkehren?«

»Wird wohl schwerlich etwas andres übrig bleiben,« versetzte der Pfarrer düster. »Meinst du vielleicht, das Gerücht von dem Wildschützen werde nicht ins Dorf dringen und der Mathis reinen Mund halten? Hättest es schon heute in der Predigt erfahren können, woran wir seind mit denen Leuten. Alle waren sie gekommen, in der Hoffnung, etwas zum Gaffen zu finden. Soll ich sie nun vielleicht zur Hochzeit bitten, wenn ich mein Lottchen dem Wildschützen antraue? Ich, der ich selbst ein Wildschütz bin? Wahrlich, eine konvenable Mariage! Eine Banditenhochzeit ohne Kränzlein und ohne Geläut! Mag schnell geschehen, was doch geschehen muß. Ich habe mich resolvieret, zu tun, was meines Amtes ist, und was ich dir als Vater schuldig bin. Die Folgen müssen wir dann gemeinsam tragen. Wir können nur beten, daß Gott uns Kraft dazu verleihe. Dringe nun nicht weiter in mich, Kind.«

Da ging sie still neben dem Vater her und wagte ihn fortan nicht mehr in seinem Sinnen zu stören. Ihr aber war seltsam bang und feierlich zu Mute, wie sie so im kühlen, dunklen Walde neben dem ernsten Manne einherschritt. Als sie endlich bei jener Schneise angelangt waren, wo sich gestern die Liebenden getroffen hatten, da hieß Erasmus Südekum die beiden Alten aussteigen und schickte den jungen Peterke mit dem Wägelchen ein Stück weiter voran, bis zur nächsten Wegkreuzung. Da sollte er ihrer Rückkunft harren. Seinen Packen nahm der Pfarrer aus dem Kutschkasten und trug ihn selbst, während die Karsunken und Krischan Barnekow die Kuchen und Getränke den Hügel hinaufschleppten. Ein wenig unterhalb der Höhe gebot der Pfarrer Halt, setzte sich ins Gras und hieß die andern seinem Beispiel folgen, mit Ausnahme von Krischan Barnekow, dem er befahl, seinen erhaltenen Auftrag auszuführen.

Der Alte keuchte gehorsam vollends den Hügel hinauf, dann sahen sie ihn auf der andern Seite verschwinden. Und es währte nicht lange, so hörten sie die schrillen Töne seines Instrumentes die lustige Melodie vom wohlgemuten Jäger in den Wald hineinschmettern.

Lottchen hockte im Grase, die Hände wie zum Gebet gefaltet, und lauschte angstvoll in den Wald hinaus. Es vergingen wohl an die zehn bange Minuten, dann ward oben auf dem Gipfel der alte Krischan wieder sichtbar, und an seiner Hand führte er den jungen Jäger daher. Lotte verbarg das Gesicht in den Händen, und die Karsunken kreischte auf, als sie des verwilderten, bärtigen Gesellen ansichtig ward. Der Pfarrer aber erhob sich, nahm seinen Packen zur Hand und hieß auch die andern sich auf den Weg machen. Dann sprach er, zu Fritz Jasmund gewendet, ohne ihn weiter zu begrüßen: »Ich bin gekommen, zu tun, was meines Amtes ist. Reiche der Braut die Hand und führe uns den Weg, den ihr gestern gegangen seid.«

Der große Bursche vermochte in seiner Verwirrung kein Wort hervorzubringen; aber er tat, wie ihm geheißen. Er reichte dem blutrot gewordenen Lottchen stumm die Hand und schritt mit ihr voran, während die übrigen drei Personen langsam nachfolgten. Selbst die alte Karsunken war von der Neuheit und Seltsamkeit der Umstände so benommen, daß sie kein Wort zu sagen fand, sondern wie taumelnd des Weges einherschritt und nur fortwährend vor sich hinseufzte.

Nach etwa zwanzig Minuten gelangten sie auf jene Waldwiese, in deren Grunde der dunkle Weiher blinkte.

»Sind wir hier noch auf Fersenschem Gebiete?« fragte der Pfarrer.

»Jawoll,« versetzte Fritz. »Hüben ist Fersensch und drüben ist gräflich.«

Und der Pfarrer darauf: »Nun, so ist es recht. So wollen wir hier bleiben. – Kann Er wohl ein geistliches Lied blasen, Krischan?«

Der Alte sann ein Weilchen nach, dann hob er die Klarinette an den Mund und intonierte ein Liedlein, das gar fromm und fröhlich klang.

»Was ist das?« unterbrach ihn der Pfarrer. »Das stehet doch nicht im Gesangbuch?«

»Sollte dat woll nich instehen?« versetzte Krischan. »Dat is doch so'n schönes altes Lied. Dat hew ik as Kind all lernt. Und wo oft hew ik dat up min Wanderschaft gesungen! Dat geiht so:

»Wohlauf ihr kleinen Waldvöglein,
All's was in Lüften schwebet,
Stimmt an, lobt Gott, den Herren mein.
Singt an, die Stimm' erhebet!
Denn Gott hat euch erschaffen
Zu seinem Lob und Ehr',
G'sang, Federn, Schnabel, Waffen,
Kommt alles von ihm her.«

»Ich mein', Hochwürden, dat wier en gaud Lied vor in'n Wald to singen. Und ik weit ook noch en Vers von.«

»Wer ist eu'r Koch und Keller,
Daß ihr so wohlgemut?
Ihr trinkt kein Muskateller
Und habt so freud'ges Blut.
Nichts haben, nichts begehren
Ist euer Lieberei:
Ihr habt ein' guten Herren,
Der hält euch all kostfrei.«

»Nun,« sagte der Pfarrer, und zum ersten Male huschte ein flüchtiges Lächeln über sein vergrämtes Antlitz, »so mag das Lied vor diesmal gut sein; sind wir doch in Gottes Waldkirche – so laßt uns ihn in seinen Geschöpfen preisen.«

Und während nun der Alte seinen »geistlichen Vogelsang«, wie das Lied benannt war, ertönen ließ, ging der Pfarrer abseits, knüpfte seinen Packen auf und entnahm demselben Talar, Bäffchen und Barett. In vollem Ornate trat er alsdann unter den Bäumen hervor, und das Brautpaar ward von solchem Anblick dermaßen bewegt, daß sie alle beide zu gleicher Zeit auf ihre Kniee niedersanken und einander bei der Hand faßten.

Erasmus Südekum faltete die Hände und richtete die Augen gen Himmel. Dann begann er also zu sprechen: »Lasset uns unsre Augen aufheben zu dem, der über den Wolken wohnet, dessen lebendigen Odem wir rauschen hören in den Wipfeln des Waldes, dessen liebliche Stimme wir vernehmen in dem Gesang der Vöglein, und dessen Zorn im Donnergrollen die Erde erzittern macht. Er hat die Welt erschaffen in aller ihrer Herrlichkeit und hat seinem Ruhme einen Dom erbauet, in dem wir arme Menschenkinder knieen, loben und danken sollen. Er hat uns geschaffen nach seinem Ebenbilde und hat uns von seinem eigenen Wesen ein Samenkorn in unser Gemüte gepflanzet, auf daß darin die Liebe aufgehe und Herze sich zu Herzen neige. Er hat aber auch in seinem unerforschlichen Ratschlusse die Sünde zugelassen, die da Haß säet zwischen den Menschenkindern und uns schuldig werden lasset vor Gott. Er hat die Sünde zugelassen, durch die das Ärgernis in die Welt gekommen ist; über jene aber, durch die das Ärgernis kommt, hat er Wehe gerufen durch den Mund seines eingeborenen Sohnes. Er hat auch zu uns gesprochen durch denselbigen Mund: ›Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet,‹ und ferner: ›Wer unter euch ohne Sünde ist, der hebe den ersten Stein auf.‹

»Meine andächtigen Lieben, ich habe mit dem Herrn gerungen im Gebet, und er hat mir einen Ausweg gezeigt aus der Finsternis, darinnen ich verstricket war. Uns alle hat der Herr heimgesucht und hat Feindschaft gesetzt zwischen uns und unsern Brüdern und Schwestern, mit denen uns hierorts zu leben bestimmt ist. Mich hat er verstricket in Haß und Feindschaft wider das Gesetz und die Obrigkeit, also daß mein Mannesstolz mich aufgereizet hat, Gewalt gegen Gewalt zu setzen und wider den Stachel zu löcken. Und in euch, ihr jungen Menschenkinder, hat er durch großes Herzeleid die Sehnsucht eures Blutes allmächtig werden lassen und hat euch in Sturm und Wetter zusammengeführt, und in dem Feuer seiner Zornesblitze eure Herzen zusammengeschweißt zum ewigen Bunde. Wie die Tiere des Waldes habt ihr euch zusammengefunden – und die Tiere des Waldes seind auch Gottes Kreaturen und bedürfen keines andern Priesters, um ihres Fleisches Lust zu heiligen, denn allein des wonnigen Maienmonds, der mit seinem milden Taue segnet alles, was da grünt und blüht und kreucht und fleucht. Ihr aber seid Menschenkinder und beschlossen unter das Gesetz der Menschen. Als solche habt ihr denen Menschen ein Ärgernis gegeben, und es ist Wehe über euch gerufen. Soll nun ich, ein verordneter Diener des Wortes, den Stein wider euch aufheben, oder aber das Ärgernis zulassen? Darf ich aus weltlicher Eitelkeit meines Herzens mein eigen Fleisch und Blut in Angst und Reue vergehen lassen oder zusehen, wie mein Kind im Trotze wider die Anfeindung dieser Welt sein Herz verhärtet und sich auflehnet wider die Gebote unsrer heiligen Kirche und die Satzung gesitteter Menschen? Nein, meine Lieben: in dieser schweren Nacht habe ich die Stimme des Herrn vernommen und sie hat mir befohlen, mich eilend aufzumachen und meines heiligen Amtes als Diener des reinen Evangelii zu warten, indem ich wieder gutmache, was die Kinder dieser Welt böse zu machen gedachten, und den Frieden bringe denen, welche die Bosheit und Tücke ihrer Widersacher ins Unglück gebracht. Nicht zu richten, sondern zu segnen bin ich gekommen. Und wenn ich mich etwa in einigen Stücken wider Menschensatzung verfehle durch die heilige Handlung, welche ich als verordneter Hirte der Gemeinde, welcher ihr beide angehöret, nunmehr an euch vollziehen will, so möge der Herr, der das Herz ansiehet, mir Kraft geben, die Folgen zu ertragen. Gleichwie er auch eure Seelen mit Kraft und Freudigkeit erfüllen möge, dieweil eurer zunächst kein fröhlicher Ehestand mit Scherzen und innigem Behagen, sondern vielmehr ein Wehestand mit Trennung, schwerer Not, Sorgen und Kümmernis harret. So ihr aber willens seid, solches auf euch zu nehmen aus lauter Zuversicht eures Herzens, so gelobet mir hier unter Gottes hohem Himmelsdom und vor diesen Zeugen, daß ihr einander in unverbrüchlicher Treue anhängen wollet als christliche Eheleute bis an das Ende eurer Tage.«

Und nun tat er an Braut und Bräutigam die Fragen nach der Vorschrift der Kirche, und sie gaben heißbewegten Herzens ihr Jawort, worauf Erasmus Südekum die beiden goldenen Reifen seines eigenen Ehestandes von seinem Finger zog und den Jungvermählten zum sichtbaren Zeichen ihres Bundes ansteckte. Dann erteilte er ihnen den Segen und zog sein Töchterlein an seine Brust und hielt es lange an sich gedrückt, während der neugewonnene Sohn seine Hand ergriff und ehrfürchtig an seine Lippen führte.

Die alte Karsunken war während der ganzen heiligen Handlung aus dem Seufzen und Kopfschütteln nicht herausgekommen, jetzt aber konnte sie nicht mehr an sich halten, sondern mußte sich leise zu Krischan Barnekow äußern: »Jeses, Jeses, Jeses nee, ik sage man bloß – nee so wat! Ik bin ne olle anständige Person, mir kennen se alle, mir kann niemand nischt nachsagen, aber dat ik so wat nu noch erleben soll mit unsen Hern Pastor – so außerhalbscht de Kirche – und ohne allens wie bei die Heiden – dat soll nu richtig sin? Ik bin man bloß froh, dat unse Frau dat nich mehr erlebt hat.«

Der alte Krischan gab ihr einen freundschaftlichen Puff in die Seite und lachte vergnüglich. »Karsunken, Ihr seid en' olle dammliche Perschon. Ik hew in min Läwen mannich veel Begräfnis und mannich veel Hochtied sehn, abers dat hier wier die allerschönste Hochtied, wo ich in min ganzen Läwen sehn hew. – Das junge Paar soll leben, vivat hoch!« Und er blies auf seinem alten Instrumente einen lustig kreischenden Tusch dazu.

Der Pfarrer packte seinen Ornat wieder ein, und dann setzten sich alle am Waldrand nieder, verzehrten den mitgebrachten Kuchen und ließen den einzigen Becher mit dem guten Weine reihum gehen. So waren sie eine Weile fröhlich und guter Dinge und gedachten nicht der schweren Stunden, die da kommen mußten. Erst als das bescheidene Hochzeitsmahl vollendet war und sie unter Klarinettenbegleitung das »Nun danket alle Gott« gesungen hatten, ging Erasmus Südekum mit den jungen Eheleuten abseits in den Wald und eröffnete ihnen, was er zu tun beschlossen habe. Er wollte heute noch dem Junker berichten, was er getan und bei ihm und seinem Konsistorio gleichzeitig um Enthebung aus seinem Amte nachsuchen. Fritz Jasmund mußte ihm in die Hand versprechen, unverweilt sich auf den Weg nach Eberswalde zu machen, damit er nicht etwa heute noch als Wildschütz ergriffen würde, und daselbst getreulich zu verharren und seinen Studien obzuliegen, bis die etwa verbesserten Umstände ihm gestatten würden, seinem jungen Weibe ein eigenes Heim zu bieten. Das Lottchen aber sollte vorläufig bei dem Vater bleiben und bei der Auflösung seines Hausstandes und Veräußerung seiner Habseligkeiten helfen; auch sein Geschick mit ihm teilen, sei es nun, daß er irgendwo eine Stellung fand, oder aber sich als Präzeptor kümmerlich durchschlagen und sein Kind den Verwandten anvertrauen mußte.

Er gönnte den Liebenden eine schickliche Weile, um ohne Zeugen voneinander Abschied zu nehmen, und dann brach er mit der kleinen Gesellschaft zur Heimkehr auf. Der Fritz brachte sie auf einem Jägerpfad bis nahe an die Stelle, wo der Wagen wartete, und dann empfahl er sich mit innigem Danke und dein Gelöbnis untadelhafter Aufführung und Wahrung seiner Treue, worauf er sich abwandte und eilenden Laufes entfernte, um nicht von jenen über knabenhaften Tränen betreten zu werden.

Lottchen biß ihre Zähne tapfer zusammen, denn der Kutscher brauchte ja nicht zu wissen, daß sie von einem solchen Abschied herkam. Erst daheim in ihrem Kämmerlein ließ sie ihren Zähren freien Lauf und weinte sich mählich aus Trennungsweh und Herzeleid in lauter Zuversicht und Dankbarkeit gegen Gott hinein.

Erasmus Südekum aber saß an diesem Abend noch lange auf und verfaßte zwei ausführliche Schreiben an den Junker von Fersen und das Konsistorium und suchte nicht eher seine Ruhestatt auf, bis er dieselben sorglich emendieret und sauber kopieret hatte. Dann aber schenkte ihm der Himmel einen langen, tiefen Schlaf.


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