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Neuntes Kapitel.

Am nächsten Vormittag bereits brachte der Amtsbüttel ein großes, umständlich versiegeltes Schreiben in die Pfarre, datiert Puhlendorp den 2. Januari anno domini 1780, und worinnen die gutsherrliche Gerichtshalterei namens des Kirchenpatrons und Gerichtsherrn Joachim Kasimir von Fersen den Pastorem Loci Erasmus Südekum zu einer Buße von drei Talern preußisch Kurant wegen Jagdfrevels, im Unvermögensfalle zu dreien Tagen Arrest verurteilte.

Der Pfarrer blickte starr das Papier an, und die Zornader auf seiner hohen Stirn schwoll ihm bedenklich an. Kein Wort vermochte er hervorzubringen.

Da rührte sich endlich der Amtsbüttel, der in bescheidener Haltung neben der Tür stand, und sagte: »Soll ich denn vielleicht die drei Dhalers gliek mitnahmen, Hochwürden, oder willen Sei de sülfs up't Amt bringen?«

Da packte den Hochwürdigen die Wut. Er knüllte mit beiden Händen den Bogen zusammen und schleuderte ihn in die Ofenecke. »Das ist meine Antwort,« knirschte er. »Meld Er das dem Herrn Amtmann – und von mir kriegte er keinen einzigen Ephraimiten, viel weniger drei Taler zu sehen!«

Der wackere alte Mann, der den Botendienst versah, traute seinen Augen und Ohren nicht. Allerdings war er in seiner ganzen bisherigen Amtstätigkeit noch nicht in die Lage gekommen, einem Fürnehmen einen Strafbefehl zu überbringen. Wenn ein Bauernkerl sich solcher despektierlichen Handlung und Redensart erdreistet hätte, so wäre er ohne viel Federlesens auf den Gutshof transportieret, über die Bank geschnallt und mit etlichen festen Stockhieben über den Blanken traktieret worden. Bei dem geistlichen Herrn ging aber solches doch wohl nicht an. Was tun? – »O du leiwe Gott!« brummte der Büttel, indem er sich verlegen seinen Stoppelbart kratzte; »wo soll dat nu war'n mit Sei? Wenn Sei drei Dahlers nich betalen willen – jo – denn war'n Sei jo inspunnt! Dat geiht doch nich!«

»Nein, das geht auch nicht, da hat Er recht,« versetzte der Pfarrer grimmig auflachend. »Sei Er ganz ruhig, mein lieber Büttel, dazu soll es nicht kommen. Ich appelliere ans Kreisgericht, und wenn das nicht hilft, ans Oberlandesgericht, und wenn das nicht hilft, ans Kammergericht, und wenn das nicht hilft, an Seine Majestät den König selber. Vermeld Er das seinem Herrn Amtmann.«

»Ich glöw, dat möt doch wol schriftlich makt war'n,« stotterte der Mann nach einigem Besinnen.

Und der Pfarrer darauf: »Richt Er's nur lieber mündlich aus. Wenn ich dem Herrn Amtmann meine Meinung schriftlich geben wollte, so dürfte solches etlichermaßen ungehobelt ausfallen. Es will mich bedünken, über diesen meschanten Hasen seie nun schon genug verhandelt worden – wenn aber der Herr Amtmann und Seine Gnaden der Junker nicht anders wollen, so sollen sie in mir ihren Mann gefunden haben, das kann Er auch gleich mit ausrichten. So, und nun gehab Er sich wohl und laß Er sich von der Karsunken einen Schnaps darreichen.«

»Ja, dat soll mi woll gaud dhaun up den Schreck,« grinste der Alte, und dann machte er seinen Kratzfuß und empfahl sich.

Erasmus Südekum aber rief nach seinem Lottchen, daß es durch das Haus dröhnte, und als das ängstlich herbeigelaufen kam, eröffnete er ihm alsbald das Vorgefallene und hieß es unverweilt seine Siebensachen zusammenpacken.

»Vadding, um Gottes willen, was hast du vor?«

»Wir lassen heute noch anspannen,« versetzte der Pfarrer aufgeregt, »und fahren zum Kreisamt. Da will ich meine Sache mündlich vorbringen und den ganzen Handel zu Protokoll geben. Wollen doch einmal sehen, ob ein geistlicher Herr derlei Schikanen wehrlos ausgesetzt sein soll! Und dann bring' ich dich gleich weiter bis Greifswald zu deinen Verwandten. Da sind die Cousinen, das sind lustige Dinger, die werden dich auf andre Gedanken bringen. Inzwischen kann ich dann meinen Strauß allein ausfechten. Ist ganz gut, wenn du dabei aus dem Wege bist. Da brauchst du dir meinen Ärger nicht zu Herzen zu nehmen, und ich bleibe derweilen verschont von deinen Tränen. – Ei, ei, ei, heulst du schon wieder? Was ist das bloß mit dir, Kind? Hast doch sonst nicht so nah ans Wasser gebaut!«

Lotte erwiderte nichts, sondern machte sich eilends hinweg, um sich zunächst in ihrem Kämmerlein gehörig auszuschluchzen. Und dann begab sie sich daran, den Mantelsack vom Boden herunterzuholen und das Notwendige zusammenzupacken, denn sie wußte wohl, daß der Vater in seiner gegenwärtigen üblen Laune seinen festen Entschluß sicherlich nicht zurücknehmen werde. – Wenn sie ihren Fritz nur noch einmal hätte sprechen können, ehe sie auf ungewisse Zeit in die Fremde mußte. Aber sie wußte durchaus nicht, wie sie das anstellen sollte. Geradeswegs in die Försterei laufen, das ging auch nicht an, denn der rabiate Alte war imstande, seine Drohung, den Fritz gleichfalls fortzuschicken, auf der Stelle wahrzumachen. Es war auch nicht einmal wahrscheinlich, daß er um diese Zeit daheim war. Und dann konnte sie ihm auch nicht einmal schreiben von Greifswald aus, weil der Alte ihre Briefe sicherlich abgefangen und nie dem Fritz nachgesandt hätte. Es war auch niemand vorhanden, den sie etwa ins Vertrauen ziehen und mit Besorgung der Briefe beauftragen konnte, denn die alte Karsunken war des Schreibens unkundig, ebenso wie auch Krischan Barnekow, der ihr als möglicherweise williger Vermittler durch den Sinn schoß. Gott behüte, der alte Narr, der Schwätzer! – Und die gute Karsunken war auch schon ein bißchen dammlich mit ihren achtundsechzig Jahren.

Auf alle Fälle wollte sie versuchen, unbemerkt aus dem Hause zu kommen, um sich zwischen Dorf, Forsthaus und Wald auf gut Glück zu ergehen. Sie setzte ihr Pelzmützchen auf, wickelte sich in das dicke Wollentuch und schlich sich glücklich zur Hintertür hinaus, ohne daß die Karsunken oder der Vater ihr in den Weg liefen. Wie erschrak sie aber, als sie im Garten den Hochwürdigen erblickte, der da mit großen Schritten auf den verschneiten Wegen einherwandelte! Sie wollte wieder ins Haus zurückflüchten, aber er hatte sie schon bemerkt und rief sie an. Da blieb ihr denn nichts übrig, als sich zu ihm zu gesellen.

»Ist es dir auch zu warm geworden in der Stube?« redete er sie freundlich an. »Oder wolltest du etwa ... Ei freilich, ich weiß schon, was du wolltest. Dem Fritzen nachlaufen zum Abschiednehmen. Ich meine aber, es wäre besser, ihr machtet euch das Herz nicht unnütz schwer. Aber nein – halt, da fällt mir etwas ein! Wo bekommen wir ein Fuhrwerk her? Den Junker können wir nicht drum angehen – den Amtmann noch weniger. Von den Bauern hat keiner ein leidliches Chaischen, und etwa in einem Bauernschlitten auf dem Stroh mich in die Stadt schleifen zu lassen gleich einer fetten Sau, danach steht mir auch nicht der Sinn. Bliebe nur noch des Försters Schlitten übrig. Der ist leicht und kommode und mit Pelzwerk wohl versehen. Kann sein, daß es dem alten Isegrim nicht unlieb wäre, wenn er auf solche Weise die Gewißheit kriegte, daß du seinem Sohne aus den Augen gebracht wirst. Vielleicht, daß er dann minder streng wider ihn verfährt und ihn im Orte läßt, damit er sich besinnen möge ... Hm, hm, ja das erscheint mir nicht uneben. Es ist nur, daß ich nicht wohl selbst drum bitten kann.«

Und rasch entschlossen sagte Lotte: »Dann laß mich hingehen, Vadding!«

Eine kurze Weile nur zögerte der Pfarrer, dann erhellte ein zärtliches Lächeln seine strengen Züge. Er gab dem Lottchen einen scherzenden Backenstreich und sprach: »Also denn lauf, mein Liebling! Ich sehe doch, es ist dein tiefster Herzenswunsch.«

Und wie beflügelt durch den kümmerlichen Trost, sprang das junge Ding davon, gleich beim Gartenpförtchen hinaus und über den holprigen Feldweg hin.

Sie traf es besser, als sie es sich vermuten konnte, denn der alte Förster war nicht zu Hause, wohl aber der Fritz, der sich just mit einem Knecht im Hofe zu schaffen machte. Sie richtete absichtlich ihren Auftrag in Gegenwart des Knechtes aus, damit ein Zeuge dafür vorhanden sei, daß sie wirklich mit ihrem Vater zusammen fort wollte, um längere Zeit in der Fremde zu bleiben. Und der Fritz bekam zwar keinen geringen Schrecken, aber er nahm sich doch zusammen wie ein Mann und sagte anscheinend gleichmütig: »I, das trifft sich fein, Mamsell, die Gäule seind ausgeruht, und heute brauchen wir sie nicht mehr. Da will ich gerne den Herrn Pastor und die Mamsell selbst hinüberfahren. Es sind ja matt zwei Stunden. – Jochen, dau kannst dem Förster seggen, ik kam up de Nacht torück.«

Und dann legte er selbst mit Hand an, um den Schlitten herzurichten und die Gäule einzuschirren. Und während nun der Jochen so ab- und zuging, fand sich unterweilen wohl in dem warmen Stall eine und die andre Gelegenheit zu einem heißen Kuß und einem flüchtigen Liebeswort. Von ewiger Treue und großen Schwüren war nicht die Rede. Sie wußten aber beide wohl, daß sie es so und nicht anders meinten.

»Stehst du dich gut mit oll Krischan Barnekow?« fragte Lotte zum Schluß.

»Wie denn das?« gab Fritz zurück. »Er hat mir ehedem viele schöne Geschichten erzählt, wie ich noch ein Jung war. Aber letzthin habe ich ihm wenig nachgefragt. Er ist ja doch wohl ein büschen verrückt. Was soll uns der?«

»Ja, ich weiß doch keinen andern,« flüsterte Lotte hastig; »Vater hält viel von ihm. Er soll ja ein Philosoph sein. Da habe ich gedacht, an den will ich adressieren, wenn ich dir schreibe von Greifswald. Der kann dir dann die Briefe bringen. Das fällt dann weiter nicht auf. Und denn schreibst du mir auch mal wieder, nich?«

»Ja, weißt du, Lotting, schreiben, das ist bei mir ...« Der große Junge lächelte sehr verlegen.

»Schadet nichts,« sagte Lotte, »ich werde schon wissen, wie du's meinst. Küß mich schnell!«

Das war der letzte Kuß; denn dann kam der Knecht und holte die Pferde, und Lotte konnte sich unauffälligerweise nicht länger verweilen.

Der Pfarrer war schon zur Reise gerüstet, als sie mit ihrer guten Botschaft heimkehrte. Und nun hieß es in aller Schnelligkeit ihren Kram zusammenrichten. Die Karsunken verlor völlig den Kopf über solchen eiligen Aufbruch und stand nur im Wege, statt zu helfen. So mußte denn der Fritz noch eine gute halbe Stunde draußen warten, ehe die Mamsell zur Abfahrt bereit war. Und dann ging's auf glatter Bahn in den kalten Wintertag hinaus. Die ausgeruhten Pferde griffen mächtig aus, und der harte Schnee verdeckte alle Unebenheiten der holprigen Straße, also daß sie weich dahinglitten bei lustigem Schellengeläut und den bitteren Seewind im Rücken. Der Pfarrer saß neben seinem Töchterlein auf dem engen Sitz, und hinter ihnen hockte auf dem Reitbock der Fritz und trieb mit Pfiff und Peitschenknall die strammen Braunen so eifrig zum Laufen an, als ob es gälte, die Qual des Abschieds nach Möglichkeit zu verkürzen.

So meinte er es auch, denn es ward auf der Fahrt kein Wort gewechselt. Und als sie am Ziel angekommen waren, bedankte sich der Pfarrer mit ein paar herzlichen Worten und einem kräftigen Händedruck für seine Gefälligkeit, und ihm blieb nichts andres übrig, als sich auch seinerseits mit einem Händedruck und dem guten Wunsche für ferneres Wohlergehen und angenehmes Pläsier in Greifswald zu verabschieden. So wandte er denn um und fuhr heim, ohne auszuspannen.

Und als der Pfarrer seinem Töchterlein in der warmen Gaststube aus den Überkleidern half, da beugte er seinen Mund zu ihrem Ohr herab und flüsterte ihr zu: »So war's recht. Ich sehe nun wohl, du willst mein braves Mädchen sein. Hilf dir selbst, so wird der Herr dir auch helfen. Das ist gute Südekumsche Art. Laß mich stolz sein auf mein Lottchen.« – – –

Obwohl der Pfarrer schon am dritten Tage hernach wieder in Puhlendorp eingetroffen und keineswegs wichtige Amtsgeschäfte verabsäumt worden waren, hatte der Junker von Fersen ihn dennoch bereits beim Konsistorio wegen Entfernung ohne Urlaub verklagt. Und so gesellte sich denn nach einiger Zeit zu dem Strafbefehle der gutsherrlichen Gerichtshalterei auch noch ein ungnädiges Schreiben seitens seines vorgesetzten Superintendenten, mit dem Ansuchen, sich schriftlich oder mündlich zu verantworten.

Erasmus Südekum nahm die Gelegenheit wahr, sein erhitztes Geblüt zu beruhigen, indem er zu Fuß den Weg in die Stadt zum Herrn Superintendenten antrat, nicht achtend des jach eingetretenen Tauwetters bei wütendem Westwind. Er hatte zu diesem Gang in aller Form bei seinem gnädigen Patron Urlaub genommen und seinem üblen Humor eine gelinde Erleichterung dadurch verschafft, daß er das Urlaubsgesuch schriftlich in allersubmissester Devotion und im allerschnörkelhaftesten Kurialstil abgefaßt hatte, also daß er drei Seiten Folio gebrauchte, um auszudrücken: Der Gefertigte bittet gehorsamst um einen halben Tag Urlaub zu einem Gang in die Stadt.

Der Junker Joachim Kasimir von Fersen, der beinahe ein Stündchen daran wenden mußte, sich durch das ungeheuerliche Satzgeschlinge hindurchzuarbeiten, merkte die obwaltende Absicht dabei recht gut und fand sich dadurch in seinem Grimm gegen seinen Pastor Loci um ein weiteres bestärkt.

Dem Pfarrer seinerseits erging es in der Superintendentur auch nicht gerade glimpflich, maßen dieser geistliche Präpositus ein gar hochmütiger Herr war, dem die aufrichtigen und aufrechten Männer vom Schlage des Erasmus Südekum keineswegs wohlgefällig waren. Er kollerte ihn darum an wie ein kalekutischer Hahn, nicht nur wegen des Entweichens ohne Urlaub, als vielmehr wegen der leidigen Hasenaffäre, die auch bereits zu seinen Ohren gedrungen war. Den begangenen Jagdfrevel empfand er dabei nicht einmal als das Schlimmste, wohl aber den Mißbrauch des heiligen Buches zum Totschlag einer Kreatur. Trotz seiner Verwunderung über diese neue, unvermutete Anfeindung ließ sich der Pastor von Puhlendorp nicht abhalten, auch mit seinem geistlichen Vorgesetzten ein verständliches Deutsch zu reden. Was hinwiederum diesen Hochmögenden dermaßen in Harnisch jagte, daß er dem Pastor verhieß, er werde nicht nur nichts dazu beitragen, seine Sache vor Gericht durch sein Zeugnis zu verbessern, sondern vielmehr verlangen, daß von Obrigkeits wegen ein Exemplum statuiert werde, auf daß die Herren Landgeistlichen nicht etwa vermeinten, sie seien freie Herren in ihren Sprengeln und dürften der geistlichen Zucht ein Schnippchen schlagen. Zum Beschluß dieser Unterredung forderte der Herr Superintendent Erasmus Südekum auf, bei seinem gnädigen Kirchenpatron, dem Junker von Fersen, submissest um Pardon zu supplizieren, der Gerichtshalterei die drei Taler Buße zu zahlen und seine Appellation beim Kreisgericht zurückzuziehen, widrigenfalls er seiner Maßregelung durch das Oberkonsistorium in Berlin gewärtig sein müsse.

Die nächste Folge des ausgestandenen Ärgers, sowie des hitzigen Marsches durch Sturm und knöcheltiefen Straßenkot war die, daß Erasmus Südekum sich ein heftiges Fieber zuzog, das ihn etliche Wochen lang, bis in den Februar hinein, an sein Bett oder wenigstens an sein Zimmer gefesselt hielt.

Das war nun eine gar trübe Zeit für den armen verwitweten und verwaisten Mann. So sehr sein Herz sich nach seinem Lottchen, als nach seinem einzigen Trost sehnte, wollte er's dennoch nicht zugeben, daß man das Jüngferlein zu seiner Pflege herbeirufe. Er könne die Kosten für die weite Fahrt nicht zweimal aufbringen und wolle auch dem jungen Dinge das Pläsier nicht vergällen. Ja, er trieb seine Selbstverleugnung sogar so weit, daß er dem Töchterlein von seiner Krankheit erst schrieb, nachdem er sie bereits überstanden hatte, und inzwischen sich bemühte, durch fröhliche Brieflein, in denen er auch seines Ärgers um die Hasenaffäre nur mit Scherzworten gedachte, ihren Sinn aus ihrer verliebten Traurigkeit aufzurichten. Die alte Karsunken meinte es mittlerweilen gar gut mit ihm, indem sie ihm mit allerlei Schweißtränklein, heißen Bettpfannen und Vergrabung in wahre Gebirge von Gänsedaunen dermaßen zusetzte, wie es einer armen Seele im höllischen Feuer kaum schlimmer geschehen kann. Als sich demnach der Pfarrer von seinem Siechbette erheben durfte, war er gänzlich abgemagert. Die Augen waren ihm eingesunken, die sonst so festen, gesunden Wangen hingen ihm welk herab, und seine Kleider waren ihm so weit geworden, daß er darin schlotterte zum Erbarmen. Die Gesellschaft der guten alten Schaffnerin war während dieses Siechtums auch eben kein Labsal, denn sie wußte zu seiner Zerstreuung und Aufmunterung kaum je etwas andres vorzubringen, als die ausführliche jammervolle Beschreibung aller Krankheits-, bitteren Leidens- und Sterbefälle, so sie während ihrer achtundsechzig Jahre durch eigenes Erleben oder durch Hörensagen erfahren hatte.

Da er sich mit den Honoratioren des Dorfes verfeindet sah, fehlte ihm jede freundschaftliche Aussprache während dieser langen Wochen. Erst als er wieder im Lehnstuhl aufsitzen und sein Pfeifchen rauchen konnte, stellte sich bisweilen der Küster oder wohl der Amtsbruder aus dem Nachbardorfe, der ihn in der Predigt vertreten hatte, am öftesten aber der Mathis Rasmussen bei ihm ein, um ihm durch ein Karten- oder Brettspiel ein wenig die Langeweile zu vertreiben. Des guten Mathis eifriges Bemühen, sich bei dem erhofften Schwiegervater anzubiedern, ward denn auch dankbar anerkannt, und der Pfarrer fand den jungen Mann von Tag zu Tage leidlicher, trotz seiner plumpen Art und seiner keineswegs beträchtlichen Unterhaltsamkeit. Er hätte es freilich seinem lieben Lottchen erheblich besser gewünscht; aber schließlich wäre doch durch eine solche Heirat die üble Lage gegenüber den Machthabern des Ortes, in die ihn sein Starrkopf getrieben hatte, wieder eingerenkt und der Frieden im Hause aufs neue gesichert worden.

Auch der Fritz Jasmund hatte sich zuweilen nach dem Befinden des Pastors erkundigt. Er war immer heimlich in der Dunkelheit zur Pfarre geschlichen, damit der Vater an seinem Verkehr mit dem Feinde nicht Anstoß nehmen sollte, und hatte es auch meistens bei der Erkundigung bewenden lassen, ohne der Aufforderung zum Nähertreten nachzukommen. Bei solcher Gelegenheit hatte der Pastor ihm, ebenso wie auch früher schon dem Mathis, das Versprechen abgefordert, nicht etwa seinem Lottchen von seiner Krankheit Bericht zu erstatten. Im übrigen aber war es dem Pfarrer selbst lieber, wenn der Försterssohn sich nicht zum Bleiben nötigen ließ, denn es war aus ihm noch weniger Unterhaltung herauszuholen denn aus dem Amtmännischen. Und er fühlte sich überdies dem bittergekränkten Liebhaber seiner Tochter gegenüber einigermaßen schuldbewußt und wußte es wohl zu schätzen, daß der junge Mann ihn seinen gerechten Groll so wenig entgelten ließ.

Als er Mitte Februar wieder zum ersten Male seine Kanzel bestieg, fand er nicht allein das herrschaftliche und das amtmännische Gestühl leer, sondern vermißte auch sonst eine große Anzahl bekannter Gesichter. Die andächtige Gemeinde bestand fast nur aus Weibern und Kindern und etlichen wenigen von den ältesten Knechten und Handwerksleuten. Unter den letzteren bemerkte er auch seinen Freund, den Philosophen, der ihn ebenfalls während seines Siechtums zuweilen aufgesucht und durch seine Schnacken und Schnurren am wirksamsten aufgeheitert hatte. Einmal hatte Krischan sogar seine Klarinette mitgebracht und ihm allerlei alte Stücklein darauf geblasen; aber das Konzert hatte bald mit einiger Wehmut geendigt, denn der Alte mußte bitter beklagen, daß er durch seine Zahnlosigkeit die Embouchure oder, wie er sich ausdrückte, »dat Ampuschür« verloren habe, wodurch es denn kam, daß gegen Ende jedes Stückleins ihm der Odem daneben ging und das Instrument gar klägliche Quiektöne von sich gab.

Nach dem Gottesdienst forderte Erasmus Südekum den alten Barnekow auf, abermals seine einsame Sonntagsmahlzeit mit ihm zu teilen. Diesmal gab es freilich keinen Hasenbraten, sondern nur geräucherte Schweinsrippen, die aber dem Philosophen auch nicht verächtlich dünkten. Die Karsunken fand des Jammers kein Ende, daß es mit der Vorratskammer so übel bestellt sei, weil nämlich die Bauern und Kätner mit Ablieferung ihres Deputates im Rückstand geblieben und teilweise sich sogar ihrer Schuldigkeit geweigert hatten; mit boshaften Redensarten, als zum Beispiel: der Pfarrer seie ja nunmehro ohne Familie und werde ohnehin bei obwaltenden Fieberzuständen nicht bei Appetit sein, und da er sich ohnehin das Recht anmaßete, sich ein Wildbret selber zu erjagen, so werde er arme Leute nicht um ihren letzten guten Bissen bringen wollen – und was dergleichen lose Reden mehr waren. Durch Krischan Barnekow erfuhr der Pastor des weiteren auch, wie durch das Geschwätz des Amtmanns und der gutsherrlichen Dienerschaft das Gerücht von seiner Bestrafung, von seiner Vermahnung durch seine kirchliche Behörde und von seiner fortgesetzten Renitenz bereits bis in die letzte Kate und sogar weit über die Grenze des Dorfes hinaus in die ganze Umgegend gedrungen sei, und wie die Leute daraus einen willkommenen Anlaß geschöpft hätten, durch Verweigerung des Deputates und Enthaltung vom Kirchenbesuche an dem gestrengen Seelsorger ihr Mütchen zu kühlen.

Es konnte nicht ausbleiben, daß diese neue Erfahrung von der Menschen kleinlicher Bosheit einen Mann von so strenger, stolzer und dabei freier Sinnesart, wie Erasmus Südekum einer war, in seinem Trotze nur bestärken mußte. Als demnach gegen Ende Februar das Urteil des Kreisgerichtes eintraf, in dem seine Berufung verworfen und er zur Zahlung der drei Taler Strafe an die herrschaftliche Gerichtshalterei, sowie auch der aufgelaufenen Gerichtskosten angehalten ward, dachte der Pfarrer von Puhlendorp keineswegs daran, zu Kreuze zu kriechen, sondern arbeitete vielmehr sofort eine neue eindringliche und umfängliche Beschwerdeschrift an das Oberlandesgericht in Stettin aus.

Es war jetzt nicht mehr seine Eigenliebe allein, die es ihm verbot, seinen Widersachern den Triumph zu gönnen, sondern er meinte einer höheren Pflicht genügen zu müssen, indem er bis aufs äußerste die Würde seines geistlichen Standes gegenüber solchen rohen, unstudierten, eingebildeten Machthabern verfocht, die durch buchstäbliche Anwendung eines unvernünftigen Gesetzes ihre geistlichen Superiores lediglich zu schikanieren trachteten. Er ließ sich auch die Mühe nicht verdrießen, trotz seines annoch schwachen Kräftezustandes weite Wanderungen in die Nachbarschaft zu unternehmen, um sämtlichen Amtsbrüdern seiner Diözese seinen Fall vorzustellen und sie aufzufordern, ihn in seinem gerechten Kampfe um das Ansehen ihres Standes zu unterstützen. Aber nicht ein einziger von all diesen hochwürdigen Herren fand sich bereit, seine Unterschrift zu einer gemeinsamen Beschwerde an das Konsistorium oder die Regierung herzugeben. Denn sie waren samt und sonders ängstliche Seelen, einzig besorgt, ihr Brot und das Wohlwollen ihrer vorgesetzten Behörde nicht zu verlieren.

Da gab Erasmus Südekum solch eitles Bemühen für alle Zukunft auf und beschloß, den aufgedrungenen Kampf allein zu Ende zu führen, zwar nicht mehr mit innerer Freudigkeit, sondern allein aus dem unbeugsamen Pflichtbewußtsein des aufrechten Mannes heraus. Die Freiheit des Christenmenschen, die er als verordneter Diener des reinen Evangelii vertrat, schien ihm durchaus zu erfordern, daß er kleinlichen Rücksichten auf sein persönliches Wohl und Wehe nicht seinen Mannesstolz zum Opfer bringe.


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