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Drittes Kapitel.

Gegen Abend sprach Amtmann Rasmussens Beate im Pfarrhause vor und forderte Jungfer Lottchen auf, mit ihr und ihrem Bruder den herrlichen Vollmondschein zum Eislauf auf dem Bodden zu benutzen.

Rasmussens Beate war etwa zwei Jahre älter als Pfarrers Lottchen und ihre Vorgängerin in der Ecole des jeunes Demoiselles der Madame Seifferthin zu Stettin gewesen. Sie war demnach die einzige lebende Seele in Puhlendorp, mit der Pastors Lottchen französisch parlieren konnte. Sie war auch das einzige Frauenzimmer im Ort, das sich in der Kunst des Eislaufs betätigte, dem sonst ausschließlich die männliche Jugend oblag. Im übrigen verknüpfte die beiden Mädchen kein allzu starkes geistiges Band, denn sie waren recht unterschiedlichen Wesens, und es gab wegen des mangelhaften Humors der Amtmännischen leicht Verstimmung zwischen den beiden, die dann in ein langwieriges Geschmolle auszuarten pflegte. Es mußte schon eine gemeinsame Landpartie der Eltern oder eine ländliche Tanzeinladung aufkommen, um die übelnehmische Beate zum Einlenken zu bestimmen. Lottchen pflegte dann immer gleich wieder gut zu sein, falls die andre ihr mit einem einigermaßen freundlichen Gesicht entgegenkam. Ihre üble Laune schmerzte sie freilich auch nicht weiter, denn sie war Beaten niemals herzlich nah gekommen; aber in der großen Einsamkeit mußte sie schon die einzige Standes- und Bildungsgenossin so hinnehmen, wie sie nun einmal war. Daß sie sie heute zum Eislaufen abholen kam, rechnete sie ihr besonders hoch an, weil sie damit nach ihrer letzten albernen Übelnehmerei den ersten Schritt zur Versöhnung tat. Lottchen wußte schon gar nicht mehr, weshalb sie sich am ersten Weihnachtsfeiertage gezankt hatten, und so ergriff sie denn Beaten fröhlich bei der Hand und zog sie in die warme Stube hinein, weil sie doch immerhin einiger Zeit bedurfte, um sich dem Unternehmen entsprechend anzuziehen, und auch der Vater erst um Erlaubnis gefragt werden mußte.

»Laß doch den Mathis auch hereinkommen,« sagte Lottchen; »ich fürchte, die Zeit wird ihm lang werden. In dem langen, schwarzen Trauerrock kann ich doch nicht laufen, und bis ich die Gamaschen geknöpfelt habe, dauert auch seine gute Weile.«

»Die Jungens sind schon voraus,« versetzte Beate. »Die vergnügen sich schon auf eigene Faust. Ich hab' ihnen gesagt, sie sollen nah am Strande bleiben, daß sie uns gleich zur Hand sind, wenn wir kommen.«

»Ist denn dein kleiner Bruder auch mit?«

»Nein. Bloß der Mathis und Fritz Jasmund. Der Fritz hat's mit dem Mathis ausgeheckt, daß es schön sein müßte, im Vollmondschein zu laufen, und daß wir Mädchen mit müßten.«

Es entging Lottchen nicht, wie die Rasmussin bei der Erwähnung des Försters Sohnes einen gar so aufmerksamen Blick auf sie warf, so ganz aus den Außenwinkeln ihrer grellen Blauäuglein; aber sie tat, als ob sie der Fritz gar nichts anginge, und sagte ganz leichthin: »Also ich geh', Vatern fragen. Ich brauch' doch Dispens, weil ich für die Gelegenheit die Trauerkleidung ablegen muß,« und huschte rasch zur Tür hinaus.

Erasmus Südekum gönnte seinem Töchterlein gern jede seltene Vergnügung, die die ländliche Abgeschiedenheit bot. Er sah auch keine Sünde darin, das Trauergewand ein paar Stunden beiseite zu tun. Aber die Neuheit des Abenteuers machte ihn doch ein wenig bedenklich. Zur Nachtzeit sollte er das junge Volk auf den Bodden lassen! Freilich, seit vierzehn Tagen hatten sie nun schon starken Frost gehabt, und das Eis war so fest, daß die Bauernschlitten mit schwerer Last darüberfahren konnten. Warme Quellen und sonstige Fährlichkeiten gab es seines Wissens auch nicht, und schließlich – das Lottchen brannte so sehr auf das Vergnügen und bat so schön; da gab er's denn endlich zu, obwohl nicht ohne ernstliche Vermahnung zur Vorsicht und unter Beschränkung des Urlaubs auf eine Stunde.

»Entfernt euch nicht zu weit vom Ufer, daß man euch nicht aus dem Auge verlieren kann, junges Volk! Ich komme wohl selbst herunter und sehe mir das Schauspiel an.«

Damit entließ er sein Mädchen, das ihm von des Försters Fritzen Teilnahme wohlweislich nichts gesagt hatte.

Zehn Minuten später waren die beiden Mamsellen bereits unterwegs. Die Amtmännische hatte sich aufs beste herausgeputzt zu dem Abenteuer. Auf ihrem blonden Zopfgebäude saß recht schmuck eine Mütze aus Möwenbalg. Ihr Spenzer und ihr kurzer Rock waren mit Fuchspelz verbrämt, und die Hände steckten schön warm in dem großmächtigen Mardermuff der Frau Mutter. Die Pastorsche dagegen hatte nur ein Mützchen aus schwarzem Kaninchenfell mit Ohrenklappen auf ihrem dunklen Lockenhaupt, ein dickes, wollenes Tuch kreuzweise um den Oberkörper geschlungen, das alle Zierlichkeit ihrer Formen zerstörte, und statt des kostbaren Muffs nur ein paar pelzgefütterte Fäustlinge, die an einer Schnur um den Nacken hingen.

»Quelle belle idée de se promener au clair de la lune à la glace avec ... Qu'est-ce-que c'est Schlittschuhe en français?«

Lottchen wußte es auch nicht. Und damit fand die französische Unterhaltung ihr Ende. Die Nacht war aber auch so schön, daß man sie ohne französische Konversation, ja am besten stillschweigend genießen konnte. Der volle Mond stand noch nicht hoch über der See, und sein mildes Licht schien von der Spiegelung des stillen Meeres und der weiten, glatten Schneefläche des Boddens eine bedeutende Verstärkung gewonnen zu haben, so hell ergoß er seine Silberströme über die weite, flache Landschaft. Von der schmalen Landzunge, die den Bodden von der Ostsee trennte, sah man im Sonnenglanze nur die Baumreihe der Landstraße wie in der Luft schweben; im Mondschein aber begrenzte sie das Binnengewässer mit einem dicken, schwarzen Striche. Und das große Dorf, das hügelab zwischen reichlichen Bäumen eingebettet lag, glich mit den Schneehaufen der mächtigen Giebel einem seltsamen weißen Wolkengebilde, das seine eigene Schwere bis auf den Erdboden hinabgezogen hat. Es war keine Farbe zu erkennen. Nur blitzendes Weiß und graue Schatten. Und die Rauchwölkchen aus den Kaminen kräuselten sich senkrecht in die unbewegte, klare Luft empor. Ein paar Hunde bellten noch eine Zeitlang im Dorfe fort, nachdem es die beiden jungen Frauenzimmer schon ein Beträchtliches hinter sich gelassen hatten, und dann war's so still, daß das Knirschen des Schnees unter ihren derben Sohlen das einzige Geräusch abgab.

Sie kamen an den Strand und bei der Landungsstelle heraus, wo der Steg ins Wasser ging und die Fischerboote abgetakelt und verschneit am Lande lagen. Die beiden jungen Männer begrüßten sie mit lautem Hallo, sobald sie ihrer ansichtig wurden. Sie hatten mächtige Reisigbesen mitgenommen und damit schon wacker gearbeitet, um die Fläche, die die Dorfjugend bereits zu ihrem eigenen Schlittervergnügen rein gefegt hatte, nach Möglichkeit zu vergrößern. Im übrigen waren sie mit dem Eislaufen auf die Bahn des Schlittenverkehrs nach den Dörfern am andern Ufer des Boddens angewiesen.

Die beiden Mädchen setzten sich auf den niedrigen Bootsteg, der mit seinem Bretterbelag kaum einen Fuß hoch über der Eisdecke hinlief, und ihre beiden Kavaliere beeilten sich, zu ihren Füßen hinzuknieen, um ihnen die Schlittschuhe zu befestigen. Es war das keine leichte Arbeit, denn es mußte erst der Schlittschuh in den Stiefelabsatz eingeschlagen oder geschraubt und dann das Riemenwerk mit Bedacht verschlungen und mit Kraft zugeschnallt werden, lauter Verrichtungen, zu denen das Frauenzimmer von Natur ungeschickt zu sein pflegt. Wie nun die beiden Mädchen, des männlichen Beistandes gewärtig, alle zwo ihren rechten Fuß hochstreckten und die Kleidersäume zurückzogen, da geschah es, daß Mamsell Lottchens Fuß von dem Försterschen und dem Amtmännischen Sohne gleichzeitig angepackt wurde, während Mamsell Beatens Fuß verlassen in die Nacht hineinragte.

Da versetzte der Mathis dem Fritzen einen Stoß und schnauzte ihn an: »Nee, min Jong, wißt du woll mal so gaut wesen un dich um min Söster annehmen, ja? Von ehren eignen Broder bedient to war'n, dor macht sich Sösting goarnix aus, un ik mag ok veel leiwer mit Mamsell Lottings lütte Föet to daun hebben as mit Beatens Rabattenpötter.«

»Nehm' Sie't man jo nich übel, Jungfer,« sagte Fritz gutmütig, indem er energisch an Beatens Absatz herumzubohren anfing. »Ik hew mi denkt, Ehr Broder ward mit Ehre Schlittschuh am besten Bescheid wissen.«

Der unbedeutende Vorfall genügte, um Mamsell Beatens gute Laune zu trüben und sie das unschuldige Lottchen hinfort mit argem Mißtrauen beobachten zu lassen. Sie meinte auch alsbald aus Lottens harmlosem Gelächter über des Mathis großen Eifer einen Spott auf sich selbst herauszuhören.

»Ich muß mich denn ja wohl sehr geehrt fühlen, wenn Sie sich um meine Rabattenpötter gütigst bemühen wollen, Monsieur Fritz,« sagte sie mit merklicher Bitterkeit. »Von einem Bruder ist man ja Grobheiten gewöhnt; aber Rabattenpötter ist doch wohl ein büschen starker Ausdruck für meine Füße. Ich meine, sie passen in der Größe recht gut zu meiner Figur. Ein Aschenputtel bin ich freilich nicht, und auf die Ehre, daß mir der kleinste Pantoffel passen soll, mache ich ja gar keinen Anspruch auf.« Dabei lüpfte sie den Saum ihres Rockes so weit, daß außer dem Fuß, der wohl groß, aber nicht unproportioniert war, auch die stattliche Wade zum Vorschein kam. Darin konnte es ihr die Pastorsche nicht gleich tun mit ihren dürren Staken und den dicken Gamaschen, die gar keine Form mehr erkennen ließen. Aber während Mathis sich damit ungebührlich lang zu tun machte und es für nötig fand, das Riemenwerk hoch hinauf zu schnallen, erledigte der dumme Tölpel von Fritz sein Geschäft in aller Ruhe und Geschwindigkeit. Das verdroß denn begreiflicherweise die Jungfer noch mehr, und sie trat an Fritzens Hand mit nicht allzu freundlicher Miene zum Eislauf an, während Lotte gleich beim ersten Herumschwenken laut aufkreischte und sich in heller Jugendlust dem langentbehrten Vergnügen hingab.

Die beiden Paare liefen nun, die Hände übers Kreuz gefaßt, zunächst auf der Schlittenbahn ein gutes Ende geradeaus, um sich warm zu machen, und dann kehrten sie um nach dem glatt gefegten Plan am Bootshafen, um sich nunmehr in den feineren Künsten zu üben. Lottchen war so froh, ihre verhaltene Kraft wieder einmal austoben zu können, daß sie das andre Paar mit ihrem Mathis bald weit überholt hatte, sowohl auf dem Hin- wie auf dem Rückweg. Freilich wäre es ihr lieber gewesen, mit ihrem heimlichen Herzensschatz so Hand in Hand dahinzufliegen. Aber zum Austoben war der derbe Mathis ihr gut genug, wenngleich er wie ein Bauer lief und es mehr auf die Kraftleistung denn auf die Grazie absah. Wie sie aber auf den gefegten Plan zurückgekommen waren, hätte sie doch lieber mit dem geschmeidigen Fritz ihre Geschicklichkeit anmutig erprobt. Und um das zu erreichen, ohne Beaten zu kränken, schlug sie vor, einen Kontertanz auf dem Eise auszuführen. Dabei gab es doch ein Changez les dames, wobei sie wenigstens für kurze Zeit ihres Fritzen habhaft werden konnte.

Inzwischen hatte das rascher strömende Blut auch aus Beatens Adern die üble Laune einigermaßen hinausgetrieben. Das Hochgefühl, so nahe zur Seite des stattlichsten Burschen der weitesten Runde dahinzufliegen, hatte ihr den Murrkopf doch ein wenig zurechtgesetzt, und so ging sie denn auch jetzt auf den Vorschlag der Pastorschen gerne ein. Nur forderte sie, daß die Kavaliers sich unterweilen des Hochdeutschen zur Konversation bedienen müßten, weil Plattdütsch und contredanse sich doch übel zusammenreimen wollten.

Nun wurde es erst wirklich lustig Lotte, die erst vor Jahresfrist aus der Anstandsschule der Madame Seifferthin heimkehrte, hatte noch am wenigsten von der edlen Kunst vergessen und wurde darum gleich zur Vortänzerin bestimmt. Sie gab die Kommandos und ersetzte gleichzeitig auch die Musik, indem sie einen derzeit beliebten Contre gar artig auf Lalala zu singen beflissen war. Beate war auch noch in guter Übung, da sie häufiger Gelegenheit gefunden hatte, auf feineren Tanzvergnügen in der Stadt ihre Kenntnis aufzufrischen. Auch Mathis hatte wenigstens eine Ahnung von den Touren, wenn er sich gleich ein wenig bärenmäßig dazu anstellte, wohingegen Fritz Jasmund erst in den Anfangsgründen unterwiesen werden mußte. Da gab es denn eine Verwirrung über die andre, manchen lustigen Zusammenstoß und manchen derben Plumps, bis es nach mehrfacher, geduldiger Wiederholung einigermaßen zur Zufriedenheit der kleinen Tanzmeisterin herging. Ach, wie schön war es doch, ihren lieben dummen Jungen so Herumpuffen und fröhlich ausschelten zu dürfen, wenn er sich schwer von Begriff erwies; wenn sie ihn dann bei der Hand fassen oder ihn zärtlich bei den Schultern schieben durfte, um ihm die richtigen Wendungen und Balancés und Moulinés beizubringen! Und wie der Fritz einmal mit einem kräftigen Schwung gar zu weit aus dem Karree hinausflog und sie ihm mit ein paar weiten Stößen nacheilte, um ihn wieder in die Reihe zu holen, ergriff er sie fest bei der Hand, so daß sie ganz dicht an seine Brust herangleiten mußte, und benutzte die Gelegenheit, um ihr rasch zuzuflüstern: »Min söten Schatz, ich muß dich heut noch sprechen. Aber ganz allein, hörst du? Es ist von die größte Wichtigkeit.«

»Werd's schon machen!« gab sie rasch zurück, und dann jagte sie ihn mit einem lauten, lustigen Scheltwort an seinen Platz.

Statt des Schlußwalzers, der sich natürlich auf den blanken Stahlkufen nicht ausführen ließ, beendeten sie ihren Eiscontre mit einem tollen Rundschwung an der Kette, wobei der stämmige Mathis das Zentrum bildete und das leichte Lottchen das äußere Ende. Nach zwei Runden aber ging dem Mädchen, das sich durch Singen und Kommandieren schon allzuviel zugemutet hatte, der Atem aus, so daß es im Schwindel Beatens Hand losließ und weit aus dem Kreis hinaus Kopf voran in den Schnee flog.

Kaum war das geschehen, als Fritz mit einem Ruck seine Hand von Mathis und Beaten los machte und, weit ausgreifend, seiner Liebsten nachflog. »Lotting, min Lotting, hast du dir sehr weh getan?« flüsterte er, sich tief zu ihr herabbeugend, indem er sie unter den Armen faßte und ihr aufzuhelfen suchte.

»O Gott, o Gott,« keuchte sie, »wie bin ich hingeschlagen! Au, au, meine Kniee! Hilf mir bloß auf!«

Es war nicht ganz leicht, sie bei dem schwankenden Stand, den die Stahlschuhe gewährten, auf die Füße zu stellen, besonders weil sie ihm in ihrer atemlosen Mattigkeit nicht viel entgegenkommen konnte. Aber schließlich gelang es doch, und er hielt sein schwer atmendes Mädchen, dem von dem Schreck noch die Beine zitterten, mit beiden Armen fest an sich gedrückt. Da kamen auch schon die Rasmussenschen neugierig herbei und fielen mit teilnehmenden Fragen über Lotten her, die vor Erschöpfung nicht so bald zu antworten vermochte. Es stellte sich aber wenigstens das eine alsbald als sicher heraus, daß die im Fallen vorgestreckten Hände glücklicherweise einen ernstlichen Schaden an Haupt und Gliedern abgehalten und nur allein die Kniee einen derben Stoß erlitten hatten.

»O je, für heut ist's mit dem Pläsier vorbei,« seufzte Lottchen, sobald sie Fritz auf den Landungssteg niedergelassen hatte. Da kniete er auch schon vor ihr und schnallte ihr die Schlittschuhe ab. Er schlug den beiden andern vor, sie möchten sich in ihrem Vergnügen nicht stören lassen, er wolle das Lottchen sorglich heimgeleiten und alsdann gerne wieder zu ihnen zurückkehren. Aber davon wollten die Rasmussenschen nichts wissen. Der Mathis wollte durchaus behilflich sein, Jungfer Lottchen auf dem Heimweg zu stützen. Und Beate fügte spitzig hinzu, es werde dem Monsieur Fritz doch kein sonderliches Pläsier bereiten, mit ihr allein weiter zu laufen. Und wenn die gefallene Pastortochter alle beide Kavaliers nötig hätte zur glücklichen Heimbringung, so dürften sie sie ruhig allein gehen lassen. Sie sei nicht so zimperlich, daß sie sich des Nachts auf der Dorfstraße zu fürchten vorgäbe.

Die böse Laune hatte die Mamsell bereits wieder beim Schopf, und die zärtliche Regung, die der Förstersohn bei seinem Bemühen um das Lottchen so sorglos hervorkehrte, erfüllte sie mit heftigem Neide. Sie gönnte es den beiden von Herzen, daß ihr Bruder durchaus mitgehen wollte, um ihr zärtliches Beieinander zu stören. Mit unwirscher Hast entledigte sie sich ihrer Schlittschuhe. Die beiden jungen Männer folgten ihrem Beispiel. Und sobald das Lottchen wieder zu Atem gekommen war und sich von seinem Schrecken einigermaßen erholt hatte, brachen sie alle vier zusammen auf. Die ersten Schritte, die Lottchen an Fritzens Arm versuchte, schmerzten sie so, daß sie es dankbar annahm, als die beiden Männer ihr anboten, sie heimzutragen. Fritz und Mathis faßten sich übers Kreuz bei den Händen und bildeten so einen Sitz, auf dem das leichte Frauenzimmerchen, die Arme auf die Schultern der beiden Träger gestützt, wohl aufgehoben war.

»Ei, Jungfer Pastorin,« spottete Beate hinterher gehend, »das kann Ihr woll passen, so auf Händen getragen zu werden – das will ich woll meinen, nicht!«

»Ja, liebe Beate,« gab Lottchen keck zurück, »meinen Sitz will ich dir gern abtreten, wenn du mir dafür meine zerschlagenen Kniee abnehmen willst.«

Und Beate brummte dawider: »I, es wird woll man halb so schlimm sein!«

Da raunzte sie der Bruder über die Achsel grob an: »Holl din tücksche Schnut, ja?«

Fritz sagte nichts. Aber er griff unwillkürlich nach Lottchens bloßer Hand, die über seiner rechten Schulter hing, und drückte sie zärtlich.

Beaten entging auch das nicht. Und als der kleine Zug auf der Dorfstraße angekommen war, stiefelte sie ohne Gutenachtgruß heimwärts und ließ die Burschen mit ihrer leichten Last allein zur Pfarrei abbiegen.

Der Pfarrer war nicht wenig erschrocken, wie er sein Kind so gleich einer Verunglückten heimgebracht sah. Und die alte Karsunken hob gar ein lautes Lamento an. Als aber festgestellt worden war, daß es weder Knochenbruch noch Wunde abgesetzt hatte, beruhigte sich der Vater, und die alte Karsunken erinnerte sich, noch ein Fläschchen Arnika in der Hausapotheke stehen zu haben. Das Lottchen wurde in die Wohnstube getragen, aus seinen dicken Übergewändern geschält und auf das Sofa gelegt, worauf die Karsunken die Mannsbilder alsbald aus der Stube trieb und sich daran machte, die schmerzenden Kniee mit dem trüben Sprit gehörig einzureiben.

Der Pastor wollte die beiden jungen Leute in sein Studierzimmer hineinnötigen und ihnen noch etwas zu trinken darbieten. Sie lehnten aber dankend ab und trollten sich, mit seiner Bedankung zufrieden, davon. Der Mathis hatte es sich in den Kopf gesetzt, den Fritz noch ein Stück zu begleiten, und war nicht eher loszuwerden, bis jener auf die Erfindung verfiel, daß er heute nacht noch auf den Fuchs passen müsse und dabei keine Gesellschaft brauchen könne.

Wirklich ging auch der junge Jasmund heim, nahm seine Flinte vom Riegel und ließ die Schlittschuhe da, worauf er sich alsbald wieder, ohne sich vor seinem Vater sehen zu lassen, sachte zur Tür hinausmachte und dem Forste zuschritt. Er sann hin und her, wie er es wohl anstellen möchte, um seinen Schatz heute noch zu Gesicht zu bekommen; aber es wollte ihm nichts Gescheites beifallen. So schlenderte er denn ohne Zweck die Dorfstraße wieder zurück der Pfarrei zu, nur immer sorgfältig ausschauend, daß er dem Mathis nicht wieder in die Arme liefe.

In der Pfarre waren die Fenster zur Nacht mit Holzläden gegen die Kälte verwahrt. Es befand sich aber in jedem Laden ein herzförmiger Ausschnitt, und daran konnte der Späher ersehen, daß der Pastor in seinem Studierzimmer noch Licht hatte, wohingegen die Herzlein der Wohnstubenfenster nicht mehr leuchteten. Er entnahm daraus, daß seine Jungfer Liebste wohl schon zu Bette gegangen sein mochte. So schlich er denn um die Gartenmauer herum und spähte zu ihrem Kammerfenster empor, das er wohl kannte. Es lag nach rückwärts hinaus im ersten Stock, und durch die beiden Herzen leuchtete es um so heller, als die Rückseite des Hauses in tiefem Schatten lag. Sie wachte also noch. Wenn er nur gewußt hätte, ob sie allein war. Es ging ein Lattenspalier an der Mauer hinauf bis unters Dach, weil an dieser Sonnenseite des Hauses Weinreben gezogen wurden, die in heißen Jahren gute Trauben ergaben. Und der Jägerbursch überdachte sich's ernstlich, ob es wohl möglich wäre, an diesem leichten Lattenwerk emporzuklettern. Über die Gartenmauer wollte er wohl hinwegkommen, das war ein Bubenstück, das er früher oft verübt hatte und wozu er auch heute mit seinen dreiundzwanzig Jahren wohl noch nicht zu steif war. Aber das Lattenwerk konnte er in der Dunkelheit nicht sehen – es war auch wenig wahrscheinlich, daß es sein stattliches Gewicht zu tragen imstande sei. Da ließ er den tollen Gedanken fahren und verlegte sich aufs Horchen. – Nein, Stimmen waren von da oben her nicht zu vernehmen. Er meinte, daß sie seinen scharfen Sinnen nicht hätten entgehen können, es sei denn, sie hätten mit Absicht geflüstert. Aber wer sollte außer ihm denn Heimlichkeiten mit dem Lottchen haben? – Er wartete noch eine ganze Weile und wagte endlich, weil das Licht da oben nicht verlöschen wollte, erst einen leisen Pfiff und dann ein lautes Räuspern. – Es regte sich aber nichts da oben. Da formte er endlich einen Schneeball und schleuderte ihn mit sicherem Wurf gegen den Holzladen. Und als auch das nichts fruchtete, noch einen.

Da endlich regte sich's droben. Das eine Lichtherzlein verdunkelte sich, dann klirrte leise das Fenster, dann knirschte der eiserne Riegel, und endlich ward der Laden ein wenig aufgetan.

»Was ist das für ein Unnütz da unten?« schallte die liebe, wohlbekannte Stimme in die Nacht hinaus.

Und er gab so gedämpft wie möglich zurück: »Ich bin's. Ich muß dich doch noch sprechen. Hast du das schon vergessen?«

»Ach nein, gewiß nicht,« klang es von oben zurück. »Aber wie soll denn das geschehen? Der Vater sitzt noch auf und ich liege schon im Bette. Ich mache mir noch Umschläge mit Arnika, drum habe ich das Licht noch brennen. Und die Treppe steigen kann ich doch nicht mit meinen Knieen. Ist es denn gar so wichtig, was du mir zu sagen hast?«

»Mir deucht es wenigstens all so wichtig,« versetzte Fritz, »daß ich keine Nacht darüber verschlafen könnte. Es ist wegen den Hasen, den dein Vater mit der Bibel dotsmeten het.«

Da kicherte es ganz lustig oben am Fensterlein: »Ach, du lieber Hansnarre, wenn's weiter nichts ist! Deswegen schlaf du nur ruhig und entlaß mich auch in mein Bette. Ich verkühl mich ja hier im offenen Fenster.«

»Lotting, min Lotting, hör doch man!« bat er hinauf, da er sah, wie sie den Arm aufhob, um den Laden zuzuziehen. »Wenn's heute nacht nicht mehr sein kann, denn laß uns doch man bloß zusehen, daß wir uns morgen früh treffen. Ganz früh, hörst du? Eh' Vater aufs Amt gehen kann. Über Nacht müssen die Kniee doch all wieder heil werden, wenn du dir nichts gebrochen hast.«

»Ach nö,« gab Lottchen zurück, »so schlimm ist es ja nicht. Bis morgen früh bin ich all wieder heil. – Nun hast du mich aber so neugierig gemacht, daß ich auch nicht werde schlafen können. Sag's doch lieber gleich.«

»Nein, nein, laß man,« rief er lauter hinauf, »so schnell kann ich mich nicht explizieren. Und ich will auch nicht, daß du dich obenein auch noch verkühlen sollst. Schlaf man süß, min Lotting! Wann kann ich dich morgen früh sehen?«

Sie überlegte ein kleines Weilchen, dann flüsterte sie eifrig hinunter: »Also um halb sieben kommst du ans hintere Gartentor, da ist es noch ganz finster, und niemand hat so früh was da zu suchen.«

»Schön,« sagte er, »also ich bin pünktlich zur Stelle. Gute Nacht auch, Lotting!«

»Gute Nacht! Träume süß!« Damit zog sie den Laden zu. Der Riegel kreischte und das Fenster klirrte leise. Und dann war's still da oben.

Eine ganze Weile noch stand der Jägerbursch stockstill im Schatten der Gartenmauer und starrte hinauf, bis auf einmal die beiden Herzchen sich jach verfinsterten. Da stieß er einen tiefen Seufzer von sich und machte sich wiederum heim.

Er fand die Haustür verschlossen und mußte läuten, denn er hatte vergessen, den Schlüssel mitzunehmen. Der Alte öffnete ihm selbst. »Je Jung, wo kommst du all her?« knurrte er ihn verwundert an, indem er ihm mit der Lampe ins Gesicht leuchtete. »Ich hab' deine Schlittschuhe am Riegel hängen sehen, und da hab' ich gemeint, du bist schon zu Hause und hast dich woll ohne Gutenachtgruß in deine Kammer verfüget, weilen du mit mir maulest.«

»Ne, Vadder, ik bün up den Voß passen gewest,« versetzte Fritz mürrisch, indem er sein Gewehr von der Schulter nahm.

»So so,« brummte der Alte, mit einem scharfen Blick den Sohn von Kopf bis zu den Füßen musternd. »Ohne Pulverhorn will Er auf den Fuchs gehen, Monsieur? Weis mal die Büchs her. Gotts Donner, du hast ja kein Kraut auf der Pfanne! Du willst woll den Vossen mit dem Kolben erschlagen? Oder hast du vielleicht die Bibel mitgenommen, um sie ihm an den Schädel zu schmettern nach der neusten Mode? Hast woll wieder nach der Mamsell herumgeschnückert! I laß man – inkommodier dich nicht mit Lügen. Glaube nur nicht, daß ich spaße. Ich bin gegen die Franzosen und die Russen und die Österreicher in der Bataille gestanden. Ich fürchte mich nicht vor deinem finsteren Gesicht, mein Jung. Was ich gesagt habe, dabei bleibt's: entweder du willigst ein, daß ich morgen zum Amtmann gehe und für dich den Freiwerber mache um seine Beate, oder du schnürst dein Bündel und machst dich bereit, nach Eberswalde zu reisen, sofern du dich nicht entschließen willst, dich in Potsdam bei der Garde zu stellen. Punktum – Streusand! Dabei bleibt's! Nun überschlafe dir die Sache, mein Sohn.« Damit tappte er schweren Schrittes ins Wohnzimmer zurück und überließ es dem Fritzen, im Finstern die Treppe hinauf und in seine Kammer zu finden.


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