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Drittes Kapitel

Zentralindien, das Land des Gonds, war erreicht. Vierzehn Tagereisen trennten die kleine Karawane von dem Schlosse Bazin-Emus, als Dschumbo mit seiner Last in einem Dorfe haltmachte und nun alles Volk zusammenlief, um die Fremden zu sehen.

Die Leute hier lebten zumeist von der Jagd, die mit Hilfe des Wurfhammers ausgeübt wurde. Oftmals schlossen sich Oskar und Richard den Eingeborenen an, um ihnen bei der Jagd auf Wachteln und Rebhühner zuzusehen.

So auch heute. Eine Anzahl von Rebhühnern hatte der unfehlbar treffende Hammer der Jäger erlegt. Die Inder schlüpften aus ihren Verstecken hervor, um die getöteten Tiere in ihren Jagdtaschen zu bergen, und zogen sich alsdann wieder zurück, um auf neue Beute zu lauern.

»Die Jagd ist hier eigentlich nur ein Morden, eine Abschlachterei,« meinte Oskar, »komm, laß uns weitergehen.«

»Da ist ein Hase,« rief Richard, »zwei – drei – Himmel, wer jagt da die Tiere so vor sich her?«

»Wenn es ein Tiger wäre – das könnte bös werden!«

Aus einiger Entfernung tönte ein lautes Gebrüll, und zugleich wurde ein Ton vernehmbar, als kratze jemand an einer Mauer. Immer stärker erklangen die Laute. Dann kam es geschlichen mit leisem Katzenschritt, doch lugte es unter den Halmen hervor mit falschem, grünem Katzenauge, daß die Entenschar laut schreiend davonstob und selbst scheue kleine Vögel aufkreischend flüchteten. Ein schneller, gewaltiger Sprung trennte die grünen Schleier und dicht vor den Bedrohten stand ein schwarzer Panther, dessen Augen von Mordlust funkelten.

Er duckte sich, er setzte an, um den vordersten Inder bei der Brust zu packen, da trafen ihn die beiden steinernen Wurfbeile gegen den Kopf, daß er taumelte und auf die Hinterbeine fiel.

Ein gemeinsamer Schrei der Eingeborenen, ein Hindeuten auf die Pistolen zeigten den jungen Fremden, daß jetzt zur Anwendung ihrer kleinen Kugeln der richtige Augenblick gekommen sei. Sie schossen zugleich, und als der Pulverdampf sich verzog, ließ das krampfhafte Zucken der Bestie erkennen, daß sie zum Tode getroffen war.

»Gott sei gelobt!« rief Richard.

Die Handbewegungen, die unverstandenen Worte der Inder warnten ihn. Noch lebte das Tier, noch versuchte es aufzuspringen und schlug mit den furchtbaren Pranken um sich, sobald einer der Männer näherzukommen wagte. Mit einem langen, vom nächsten Baume gebrochenen Stecken versuchten die Inder, ihre Wurfwaffen an sich zu ziehen, aber immer vergebens. Der Panther wälzte sich an der Stelle, wo sie lagen, aber er war trotz des beginnenden Todeskampfes wütend und kräftig genug, um jedesmal den Stock zu packen und ihn aus den Händen der Männer zu reißen. Während dieser aufregenden Minuten erklang plötzlich ganz in der Nähe abermals jenes Scharren, jenes heisere Gebrüll, das vorher die Eingeborenen so sehr erschreckte – es war das Weibchen, das dem gefallenen Männchen zur Hilfe eilte.

Das Schilf flog rauschend auseinander, die Bestie stürzte hervor und mit einem Klagelaut, der unter anderen Verhältnissen Mitleid erregt haben würde, zu dem in Todeszuckungen liegenden Männchen. Sie beroch es, betastete es, lief aufgeregt um den Körper und wieder zurück, dann wandten sich die Blicke der grünschillernden Augen zu den bedrohten, an den Baumstamm gedrückten Menschen.

Ein Knurren, ein Katzenbuckel, ein Sträuben der Haare – –

Und die Waffen nicht geladen, die Hämmer verloren. – –

»Jetzt! Jetzt! – Die Bestie springt hoch empor!« –

»Gott stehe uns bei!« rief Richard, »das ist der letzte Augenblick.«

Da krachte ein Büchsenschuß. In ihrem Blute, gerade durchs Herz getroffen, lag das Raubtier tot da.

Auf das Gewehr gestützt, mit sinnendem Blick stand neben dem Schilfdickicht eine seltsame Erscheinung, ein Mann im mittleren Lebensalter, ungewöhnlich groß und kräftig gebaut, mit finsteren Blicken und einem Antlitz, das von tiefen Seelenleiden sprach.

Kein Stückchen Zeug befand sich an seinem ganzen Körper, dennoch aber war er vom Kopf bis zu den Füßen bedeckt mit einem künstlich zusammengeflochtenen Webwerk von großen Dornen, die nur Hände und Füße frei ließen, sonst aber alles verhüllten, auch den Kopf bis auf das Gesicht. Mienen und Blicke des sonderbaren Mannes waren düster; die Eingeborenen duckten sich vor ihm ebenso furchtsam wie früher vor dem Panther.

Der Helfer in der Not sah auf die erlegten Bestien, wandte sich wortlos, ohne Gruß oder eine einzige weitere Bewegung zum Abschied. Langsam gehend verschwand er zwischen den Bäumen.

»Wer ist das?« rief Richard.

Die Inder beugten sich vor, sie legten die Hände an den Mund und flüsterten, den Sinn der Frage erratend, einen Namen, den ihre Lippen nur ungern auszusprechen schienen.

»Tukallah!«

Dann machten sie sich schleunigst darüber her, die beiden Panther abzuziehen, wobei ihnen unsere jungen Freunde eifrig halfen. Jeder nahm eins der kostbaren schwarzen Felle, und nach getaner Arbeit wanderten alle vier zurück in das Dorf, wo man Richard und Oskar schon vermißt hatte. Hondin schalt und freute sich zugleich, als er beide wiedersah.

Als ihm die Knaben erzählten, was geschehen war, sahen er und der Zwerg einander an. »Tukallah!« sagten wieder beide.

»Kennt ihr ihn denn?« rief Richard.

»Wir reisen schon morgen zu ihm,« antwortete Tippoo, »er ist ein guter Mann, der jedem hilft; niemand pocht vergeblich an seine Tür.«

Als es am nächsten Morgen weiter ging, war Tippoo sehr übler Laune. Er hatte hier so gut wie nichts verdient, denn die Gongs brauchten weder Geisterbeschwörungen noch Geistertänze und besaßen zudem kein Geld.

Gemächlich trottelte Dschumbo seines Weges dahin. Vorbei ging es an Tempelruinen, an Flußläufen, durch Niederungen und Wälder. Geier krächzten über den Häuptern der Reisenden, Schlangen huschten durch das Gebüsch, oftmals vernahm das Ohr das Heulen der Wölfe oder die Stimmen anderer Raubtiere.

Man erreichte eine gewaltige Trümmerstätte. Hier mochte vor Zeiten einmal ein Tempel gestanden haben. Jetzt aber war von dessen Herrlichkeit nichts mehr zu sehen. Alles war zerschlagen und zerschellt. Was man sah, glich einem hohen, nach oben spitz zulaufenden Berge, aus dessen Rücken hier und da ein Steinblock weiß und ruhig aufragte.

»Ein wenig einladender Anblick,« meinte Richard.

»Hier haust der Einsiedler,« sagte Tippoo. »Wir treffen ihn heute abend am Krokodilteiche. Warten wir den Aufgang des Mondes ab, dann können wir den Alten bei seinen Kasteiungen beobachten.«

Es wurde Rast gemacht, bis der Mond hoch oben am nächtlichen Himmel stand. Dann wurde zu dem Krokodilteiche aufgebrochen.

Von dem Einsiedler war noch nichts zu sehen.

»Er bleibt aus,« flüsterte Richard, als sie in unmittelbarer Nähe des Teiches angelangt waren.

Hondin schüttelte den Kopf. »Er wird schon noch kommen. Aber verrate durch keinen Laut unsere Gegenwart. Ich bleibe bei euch. Pst! – Er kommt!«

Ein Stein wurde zur Seite geschoben, noch einer, dann trat aus einem engen, völlig finsteren Spalt einer Höhle der Fakir auf das öde, vom Mondlicht überflutete Ufer hinaus. Jetzt hatte er sein seltsames Gewand abgelegt; ganz ohne Bekleidung, den Blick auf das Wasser gerichtet, die Arme gekreuzt, näherte er sich dem Ufer.

Dicht neben ihm erhob sich ein Holzgerüst. Von den Lippen des Einsiedlers erklang ein leiser Pfiff. Der Ton wirkte gleich einer Zauberformel. Durch das Wasser ging ein hohles, brausendes Geräusch, Wogen schlugen auf den Strand, und hier und da erschienen dunkle Massen. Es sah aus, als schwämmen vermorschte alte Baumstämme von allen Seiten zugleich heran.

Der Mahaut hob warnend den Zeigefinger. »Keinen Laut!« schien die Bewegung zu sagen. Aber Oskar konnte dennoch nicht ganz schweigen. »Krokodile?« raunte er.

»Ja. Tukallah füttert sie täglich mit dem Fleische der Tiere, die er schießt; zu Zeiten läßt er sie wohl auch eine halbe Woche lang hungern.«

Der Fakir stand unbeweglich da. Er beobachtete die Ungeheuer, wie sie sich in eiligen Stößen näherten, wie die schwarzen, plumpen Köpfe immer höher aus dem Wasser heraufragten und endlich die Füße den Ufersand berührten. Im ganzen waren es wenigstens zwölf Krokodile.

»Großer Gott,« preßte Richard hervor, »sie werden ihn töten!«

Die Krokodile erwarteten das gewohnte Futter, sie kannten den, der es ihnen seit Jahren zu verabreichen pflegte, und nur deshalb verschonten ihn im Augenblick noch die mörderischen Zähne; aber schon wurden einige der Bestien unruhig, sie peitschten mit dem Hinterteil des Körpers das schlammige Wasser, stießen zornige Töne hervor und klappten ihre Rachen wütend auf und wieder zu.

Der Fakir sah die boshaften Augen. Er zitterte, der Schweiß rann von seiner Stirn herab, er murmelte halblaut. Unverwandt hingen die Blicke an den hungrigen, aufs äußerste gereizten Bestien. In jedem Augenblick konnte die vorderste gegen ihn aufspringen.

»Hondin,« flüsterte Richard, »hilf, hilf!«

»Das kann ich nicht. Tukallah würde es mir auch schwerlich Dank wissen!«

Der Fakir begann jetzt seine ruhige Stellung aufzugeben. Er legte beide Hände in die Seiten und beugte sich nach rechts, – die Krokodile folgten ihm, daß das Wasser rauschte. Ebenso schnell drehte er den Körper nach der anderen Seite, wieder begleitet von der hungernden, immer wütender werdenden Schar. Ein Schritt vorwärts, einer rückwärts, ein Sprung, ein Drehen, als habe der Mann mit dem ernsten Antlitz plötzlich den Verstand verloren. Alle diese Bewegungen hatten den Zweck, die Krokodile irrezuleiten, ihre Gefährlichkeit abzuschwächen. Unruhig, planlos, einander überstürzend, glitten die schwarzen Körper durch das Wasser, dessen Wogen schäumend und brausend auf das Ufer schlugen.

Mehr und mehr näherte sich der Fakir dem Holzgerüst, immer stärker keuchte seine Brust, immer rasender wurden seine Sprünge; in dem Augenblick, als sich die gereizten Ungeheuer von allen Seiten gegen ihn erhoben, packte er das unterste Brett, schwang sich hinauf und stand nun über seinen Widersachern hoch oben auf einer Stange, die frei in den See hinausragte. Mit einer Hand hielt er sich an dem Pfahl, im übrigen mußte ihn die eigene Kraft, die Spannkraft seiner Muskeln tragen.

Unter ihm wälzte die wütende tobende Meute ihre Körper bald im Wasser, bald auf dem festen Erdboden. Die getäuschten Tiere sprangen an der Stange empor, rissen den Rachen auseinander und fuhren umher wie losgelassene Teufel. Wäre Tukallah gefallen, so hätten sie ihn in einem Augenblick in tausend Stücke zerfetzt.

Als sich der erste Lärm gelegt hatte, hielten sie unter dem Gerüst Wache. Die holzartigen Köpfe sahen aus dem Wasser hervor, die kleinen boshaften Augen blinzelten. Jedes einzelne dieser scheußlichen Geschöpfe hoffte das Opfer für sich zu gewinnen.

»Wie lange steht er nun so da oben?« fragte Richard mit einem unbezwinglichen Grauen. »O der Verblendete!«

»Bis an den Morgen,« versetzte Hondin. »Bei Tagesanbruch verschwinden die Ungeheuer.«

»Und wir sind solange hier eingeschlossen?«

»Nein. Der Rückweg ist sogar für uns viel bequemer, denn er führt durch Tukallahs Höhle.«

Richard und Oskar sahen wieder hinaus auf die im Mondlicht wie eine Bildsäule dastehende Gestalt des Einsiedlers. Wie viele Vollmondnächte hatte der Unglückliche in dieser Weise schon verbracht und wie viele würde er noch verbringen?

»Laß uns mit ihm sprechen,« schlug Richard vor. »Das ist zu schrecklich.«

»Noch über vier Stunden soll der arme Schelm da auf einer Stange stehen, die fortwährend seine Füße zerschneidet?«

»Es sind spitze Pflöcke hineingetrieben,« sagte leise der Mahaut.

»Abscheulich! Wollen wir nicht hinausgehen?«

»Um selbst von den Krokodilen gepackt zu werden? Es ist nicht daran zu denken und würde auch Tukallahs Entschlüsse niemals ändern können. Er tut Buße, darin liegt für ihn eine Linderung seiner Gewissensqualen.«

»Aber kommt,« setzte er dann hinzu. »Ihr wolltet sehen, welche Selbstpeinigungen ein Mann über sich verhängen kann – Tukallah hat es euch bewiesen.«

Hondin hatte schon eine zerbrochene Säule, die an der Mauer lehnte, ein wenig beiseite geschoben und ging jetzt durch einen engen Spalt bis in die Höhle des Einsiedlers voran. Es war kirchenstill in der Mitte des alten Heidentempels.

Schlafen konnte niemand. Hondin kaute eine Arakanuß, und die beiden jungen Leute warfen sich von einer Stelle zur anderen; der Gedanke an den schweigenden, einsamen Mann auf der Stange über dem Krokodilteiche hielt sie immer wieder wach.

Am anderen Morgen war Tukallah so blaß wie ein Sterbender; seine Kräfte schienen im höchsten Maße erschöpft, selbst Tippoo empfand eine Regung von Menschlichkeit. »Lege dich aufs Ohr,« sagte er, »und gib mir die Kräuter her, ich will für dich kochen.«

Aber der Fakir schüttelte den Kopf. »Ich muß noch viel, viel mehr ertragen,« murmelte er. »Der Weg durch die Ewigkeit ist lang.«

Und dann schürten die Hände emsig ein Feuer. Er bereitete Tränke und Salben für andere, während seine eigenen Füße bluteten und tausend Dornen die Haut seines Körpers unaufhörlich zerrissen.

Gegen Mittag gab er den scheidenden Gästen das Geleite mit der Kugelbüchse auf der Schulter. Die Krokodile hatten heute morgen eine sehr reichliche Mahlzeit erhalten, der Vorrat war verzehrt, und er mußte neuen herbeischaffen.

Tippoo blinzelte. »Die Felle verwahrst du aber für mich, gelt, Tukallah? Nächstes Jahr kommen wir wieder, Hondin und ich.«

Der Fakir senkte den Kopf. »Über das, was künftig geschehen wird, verfügt Brahma,« antwortete er in feierlichem Tone.

Tippoo lachte. »Denk an die Felle,« sagte er, »und laß mich für das Wiederkommen sorgen. Leb' wohl, alter Freund, leb' wohl!«

»Noch einen Aufenthalt in meinem Heimatdorfe,« setzte er zu den übrigen gewandt hinzu, »und die heilige Stadt ist erreicht. In vierzehn Tagen sind wir in Orissa.«

Weiter ging es. Nach einiger Zeit erreichte man eine Siedelung, deren Häuser so niedrig waren, daß es unmöglich erschien, das Menschen sie bewohnen könnten. »Tippoo,« fragte Richard verwundert, »ist dies deine Heimat. Wo sind die Menschen.«

Der Zwerg lächelte, sagte aber kein Wort.

Vor einer Hütte ließ Tippoo halten, stieg ab, legte die Hände an den Mund und ließ ein schrilles Pfeifen ertönen.

»Was bedeutet das?« fragte Richard, »begreifst du das, Hondin?«

Der Mahaut nickte: »Die Bewohner dieser Hütten sind in der Nähe versteckt. Sie sind alle zwerghaft klein. Sie fürchten jeden Fremden, denn sie werden oft von größeren und stärkeren Nachbarn überfallen und in die Sklaverei verschleppt. – Aha,« fügte er hinzu, »da haben wir die Leutchen!«

Ein dunkles, gutmütiges, aber ungemein häßliches Gesicht sah aus einem Dickicht hervor und schien beim Anblick der Weißen sehr erschreckt. Geschwind wie der Blitz fuhr es wieder in die schützende Blätterhülle zurück, während andere, dreistere der kleinen Menschen zaghaft herankamen, und erst als sie den Schlangenbeschwörer erkannten, in laute Begrüßungen ausbrachen.

»Tippoo! Tippoo!«

Der Laut verriet den Sinn, obgleich außer dem Zwerge niemand die Sprache verstand. Von Mund zu Mund ging die Kunde, daß Tippoo gekommen sei, und nun entwickelte sich ein Auftritt, der bei allem Komischen doch auch sein Rührendes hatte. Zwei Männer im mittleren Lebensalter trugen auf ihren Händen eine Greisin herbei. Der Kopf zeigte ganz weißes Haar, die Haut glich der einer Mumie, und die Finger bewegten sich in krankhaftem Zittern, aber aus den eingesunkenen Augen blitzte ein Strahl seliger Freude.

»Tippoo!« rief die Alte, »mein Sohn! Mein Sohn!«

Die beiden Brüder des Zwerges trugen sie, bis der älteste Sohn der Familie das Mütterchen auf seine kräftigen Arme nahm und herzhaft küßte. Man erkannte die krähende Stimme nicht wieder, so sanft, so zärtlich konnte sie flüstern.

Von allen Seiten, aus den dichten Blattwipfeln und aus dem hohlen Inneren der Bäume kamen jetzt die Dörfler herbei. Tippoo mußte immer und immer wieder einen Freund, einen Gefährten seiner Jugend begrüßen, er mußte auf hundert Fragen antworten und hielt dabei immer das alte Mütterchen zärtlich umfaßt.

Man brachte jetzt Fleisch herbei, Wurzeln, Blattgemüse und Früchte, alles roh; die Kochkunst hatte offenbar ihren Einzug in diese Hütten noch nicht gehalten, selbst an Trinkgefäßen fehlte es fast ganz.

Richard und Oskar aßen Früchte, die beiden Männer zerbissen aus Höflichkeit einige grüne Stengel, selbst Tippoo konnte die ungekochten Speisen nicht mehr genießen. Als später seine alte Mutter aus lauter Ermattung ein wenig eingeschlummert war, schüttelte er halb seufzend den Kopf.

»Weißt du, Hondin, es ist doch gut, daß diese Burschen kein Geld kennen,« sagte er vertraulich, »man würde sonst vollständig ausgeplündert werden.«

Richard sah auf. »Kein Geld?« wiederholte er.

»Nein. Sie bezahlen ihre Abgaben in Fellen oder gesammelten Früchten, und da es unter ihnen weder Handwerker noch Ackerbauer gibt, so kann auch keiner vom anderen kaufen.«

»Ein schrecklicher Zustand! Was wird denn aus den Alten, den Witwen und Waisen?«

»Die läßt man mitessen, solange es Speise gibt. Unter den kleinen Waldbewohner kennt man keine Lieblosigkeit, keine Untreue – du kannst mir alles aufs Wort glauben, Faringi.«

Zwei Tage blieben die Reisenden hier, dann nahmen sie Abschied und schlugen, von vielen der Dorfbewohner geleitet, den Weg zur Heerstraße der Pilger wieder ein. Als die ersten Karawanenzüge sichtbar wurden, verschwanden sämtliche Waldbewohner wie in den Boden hinein.

Jetzt ging es dem heiligen Strome zu. Das Bad im Ganges gilt als unerläßliche Vorbedingung der Tempelfeier in Puri. Es gibt keinen gläubigen Inder, der nicht alles daran setzt, in den geweihten Fluten seine Sünden von sich abzuwaschen.

Unsere jungen Freunde hatten eine ganz unbebaute Gegend erwartet. Wie sehr aber erstaunten sie, als die Wirklichkeit ihren Blicken begegnete. Fürstenschlösser, wenn auch klein an Umfang, drängten sich in langer Reihe nebeneinander, Altane, von Blumen, Götzenbildern und seidenen Fahnen bedeckt, sahen auf die gelben, wenig einladenden Fluten hinaus, goldgeschmückte Treppen führten bis zum Wasser, und besondere Badeplätze waren überall mit feinen Geweben aus Kaschmir und Tuchen vor den Blicken der Menge geschützt.

Nicht ein einziger Mensch badete im Flusse, dafür aber lagerten unter Zelten Hunderttausende an beiden Ufern, und mit jeder Stunde kamen immer noch neue Andächtige hinzu.

Händler mit allen möglichen Getränken und Eßwaren drängten sich durch die Massen, heilige Kühe spendeten ihre Gaben, Kameljungen trieben die Tiere zu den Futterplätzen, wandernde Ärzte heilten auf offener Straße, Brahminen boten Amulette, Tempeltrümmer und kleine Götzenbilder feil.

Tippoo begab sich sofort in das dichteste Gewühl hinein, um womöglich seine Truppe für das Wagenfest gleich an dieser Stelle zusammenzubringen. Er unterhandelte mit Gauklern, Bajaderen, Musikern und Trommlern, während Hondin von einem Chinesen ein Zelt und einen Bretterverschlag für den Elefanten mietete, um sogleich von diesem Besitz zu ergreifen.

Von Andacht oder weihevoller Stimmung war nirgends etwas zu bemerken. Man erwartete eben den nächsten Sonnenaufgang und vertrieb sich bis dahin die Zeit so gut wie möglich.

Mit Sonnenaufgang kam endlich von einem nahen Hügel herab das Zeichen zum Eintritt in die Flut. Wer nicht schwimmen konnte, hatte sich entweder einen stämmigen Führer mitgebracht, oder blieb auf dem flacheren Ufer, während die Mutigeren, der eigenen Kraft Vertrauenden in langen Zügen bis in die Mitte des Stromes hinausschwammen.

Nicht so einfach vollzog sich die Sache, wo ein Fürst oder eine Fürstin von den Marmorstufen der Treppe hinabstieg in die Flut. Voraus und zu beiden Seiten gingen einige Dutzend Sklaven, alle mit Schwertern bewaffnet, die sie rücksichtslos brauchten, wo irgendein Andächtiger einer niederen Kaste den prunkvollen Aufzügen zunahe kam.

Anderseits gab es Verzückte, die nur hierhergekommen waren, um zu ertrinken. Sie gingen mit erhobenen Armen, laut singend bis in die Mitte des Stromes, wo das Wasser über ihren Köpfen rauschend zusammenschlug. Eine Zeitlang bewegten sich noch die Hände, dann verschwanden auch diese.

Auch Tippoo und die übrigen badeten, obwohl sie keine Blumenkränze aufsetzten, selbst Dschumbo wurde etwas später, nachdem sich die Menschen entfernt hatten, in das Wasser geführt, wo der Riese munter wie ein Fisch den ungeheuren Körper dehnte. Gegen sieben Uhr morgens erfolgte dann der Aufbruch, wobei Scharen von Neuankommenden die Plätze der eben Abziehenden einnahmen und ganz das gleiche Getümmel wie gestern sich entwickelte.

Diesmal blieb Dschumbo mitten unter den übrigen Reit- und Fahrtieren, bis endlich nach abermaliger langer Reise Puri erreicht war. Tippoo hatte ein gutes Geschäft gemacht und schien in sehr zufriedener Stimmung; seine sämtlichen Künstler erwarteten ihn in einer bestimmten Herberge. Morgen, am Tage des Wagenfestes, konnte das Geldeinsammeln auf den Straßen wieder vor sich gehen.

Oskar und Richard mußten die Trommeln hervorholen, Hondin putzte Dschumbos Schellen und sonstige Schmuckgegenstände, Tippoo verabreichte den Schlangen eine besonders starke Mahlzeit und ließ sie, nachdem alle ihr Gift ausgespritzt hatten, zur Probe ihre Kunststücke vollführen.

Wohin das Auge sah, in Gasthöfen und Wohnhäusern, auf der Straße und in Scheunen, zu Lande unter Zelten oder in Booten auf dem Wasser, überall lagerten Scharen von Pilgern, angeführt und begleitet von den Werbepriestern, die durch das ganze Land ziehen und zu diesen Heiligtumsfahrten anspornen.

Auch ganze Bettlertruppen waren vorhanden; schreckliche schmutzstarrende Gestalten, denen Elend und Hoffnungslosigkeit aus den Augen sahen. Einer dieser Leute hatte den Kopf durch ein schweres Eisengitter gesteckt, so daß er gebückt gehen mußte, ohne sich aufrichten zu können, ein anderer hatte gelobt, jeden Weg, den er sein Lebenlang gehen würde, mit seinem Körper auszumessen. Zu diesem Zwecke warf er sich nach je zwei Schritten lang auf den Boden – wieder und immer wieder, gleichviel ob harte Steine unter seinen Füßen lagen oder Morast.

Alle eilten zum Tempel des Gottes Dschagannath. Das war eine Gruppe von Gebäuden, die für sich allein eine kleine Stadt bilden; Säulengänge umgaben das Ganze. Wer sich ohne Führer in dies Gewirr von Tempeln, Toren, Hallen und Treppen hinein wagen würde, könnte kaum jemals wieder den Ausgang finden.

In der Mitte der ungeheuren Tempelstadt befand sich ein riesiger Saal, in dem sich das Standbild des Gottes Dschagannath, dem zu Ehren am kommenden Tage das Wagenfest gefeiert werden sollte, befand.

In der nächsten Morgenfrühe nahm dieses in der dazu bestimmten langen und schmalen außerhalb der Stadt Puri belegenen Gasse seinen Anfang. Eine Art Hohlweg, bergauf und bergab gehend, führte von dem Tempel zu einem freien Platze, wo man haltmachte und langsam wieder zurückfuhr. An der ganzen Bahn standen die Pilger Kopf an Kopf zu beiden Seiten am Rande einer steilen Böschung, während unten das Götzenbild vorbeigezogen wurde. Auf dem Wege, den es zu nehmen hatte, durfte sich kein Mensch aufhalten.

Unsere Freunde gingen beizeiten hinaus, um in die vorderste Reihe der Zuschauer zu kommen.

Gott Dschagannath fuhr, von seinen Getreuen gezogen, im Schneckenschritt dahin. Es blieb jedem Pilger Zeit genug, sich das Bild des Festzuges für immer einzuprägen und, während das Gefährt vorüberfuhr, eine Bitte oder eine Danksagung in die Welt hinauszurufen.

Die Sonne schien glühend heiß herab, als alle die Tausende hinauspilgerten und zuerst den Wagen der Gottheit bewunderten. Die ungeheure Arche ruhte auf acht Rädern und trug über vier vergoldeten, mit Perlen und Blumen reich geschmückten Säulen eine kuppelförmige Decke aus Metall, von oben bis unten mit Zacken, Vorsprüngen und Verschnörkelungen bedeckt. Trotz dieses Aufwandes war aber der vordere viereckige und ganz leere Raum doch nur der Vorhof des Tempels, während das Allerheiligste, der Thron des Götzenbildes, weiter nach hinten stand.

Hier umschloß ein Kreis von lebensgroßen menschlichen Steinfiguren mit furchtbaren Fratzen das eigentliche Innere. Säulen waren nicht vorhanden, wohl aber hingen feine purpurne und goldene Gewebe aus Kaschmir herab, flatterten als Fahnen nach allen Seiten und bedeckten den Boden des Wagens. Perlenschnüre hingen vom Dach, Gold und Edelsteine funkelten im Sonnenlicht, Geschoß nach Geschoß erhob sich über die vordere Kuppel, im ganzen fünf, deren jedes immer etwas kleiner wurde als das vorhergehende, bis zuletzt ein seltsamer, schirmartiger Bau, auf einer einzelnen Säule ruhend, hoch in die Luft hinausragte.

Von einigen hundert Brahminen gezogen und geschoben, fuhr der Wagen vor das Tempeltor. Die Musik spielte, die Tänzerinnen umwirbelten das Gefährt, die tausendstimmige Menge jubelte, und ein Chor von Priestern sang – langsam öffnete sich die Tür, das dreiköpfige Fratzenbild erschien und wurde in das Innere des Tempels gehoben. Der Zug nahm seinen Anfang.

Schritt um Schritt, langsam wie ein Totengeleit. Auf diese Stunde hatten ja die Elendesten der Elenden gewartet.

Und nun kam in das Gedränge ein Murmeln, eine Unruhe. Tippoo und die beiden Deutschen hatten ihre Plätze an einer sehr schmalen Biegung des Weges genommen, durch die der schwere, breite Wagen kaum zu bringen war. Zehn Pferde zogen ihn, weißgeborene Tiere ohne Flecken, nur zwei Brahminen hielten die Zügel des ersten Paares.

Es ging hier etwas schneller, die Straße senkte sich; wie das Toben des Sturmwindes schwollen die Stimmen der Tausende, und im nächsten Augenblick stürzte ein Mann mit hocherhobenen Händen die Böschung hinab, gerade unter die Räder des Götterwagens. Ein gellender, markerschütternder Schrei von seinen Lippen ging verloren in dem allgemeinen Toben und Schreien – wie ein schwerer Stein fiel der Unglückliche hinab auf die Bahn des Dschagannath.

Ehe er Zeit gehabt hatte, sich zu erheben, gingen die Vorderräder über seine Brust und zermalmten ihn vollständig.

»Allmächtiger Gott!« riefen wie aus einem Munde die beiden Deutschen.

Tippoo lächelte. »Was wundert ihr euch?« sagte er ruhig. »Der Mann kam zu diesem Zweck hierher; er hat sich geopfert, wie es so viele tun, um dadurch Vergebung aller Sünden zu gewinnen und alle Freuden der Ewigkeit.«

Langsam verschwand in den Tiefen des Weges der Götterwagen. Die Priester hatten Sorge getragen, daß jedes Opfer ganz und gar zermalmt wurde. In den Furchen der Räder lagen nur noch entstellte blutige Massen.

Nach und nach wurde alles still. Die Betenden schrien nicht mehr, die Gesänge verhallten, die Lobpreisungen der Begeisterten verstummten.

Lücke um Lücke entstand in den Reihen; man flüsterte und beeilte sich, die Stätte des Todes zu verlassen; auch Tippoo trieb die jungen Leute zum schleunigen Aufbruch.

»Hondin hält seinen Elefanten und die Schlangen schon bereit,« sagte er. »Taschenspieler und Tänzerinnen warten – auf, daß wir endlich einmal Geld verdienen!«

Eine Viertelstunde später nahmen die gewohnten Vorstellungen ihren Anfang. Tippoo tanzte als Schlangenkönig mit lächelndem Gesicht und ruhigem Herzen. Geld floß ihm in Strömen zu. Sein Turban trug die Fülle des Segens nicht mehr; es mußte Geld in allen Falten der Gewänder und des Sessels verborgen werden, man konnte die Reise nach Kalkutta sehr zufrieden antreten.


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