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III.

Das Innere Licht

Dr. Bossings Kompagnon, dessen Stelle im Büro van Heemsbergen angeboten war, hatte sich plötzlich genötigt gesehen, seine Pläne zu ändern und seine für Ende des Jahres festgesetzte Abreise nach Holland um drei Monate zu verschieben. Anfang November erhielt van Heemsbergen die Nachricht. Seine erste Empfindung war die der Befriedigung: »Jetzt brauche ich vorläufig noch keine Entscheidung zu treffen,« dachte er.

Er war wieder so ziemlich hergestellt von den heftigen Fiebern, an denen er länger als einen Monat gelitten. Aber ein Gefühl von moralischer Schwäche wollte nicht weichen. In den langen Tagen und den langen Nächten einsamer Ergebung hatte sich der Zweifel, den er in jener Nacht im Walde wie einen plötzlichen Stich hatte schmerzen fühlen, immer tiefer und tiefer in seine Seele gebohrt, der Zweifel an sich selbst, an seiner Urteilskraft, seinen Fähigkeiten, seinem Anrecht auf irgendein Ding oder irgendeinen Menschen oder gar nur auf das Leben selber. Die alltägliche Welt, in die er so selbstbewußt seinen Einzug gehalten, erschien ihm jetzt wie ein unkenntliches, entsetzliches Element; er wußte nicht, ob er imstande sein würde, sich darin zu behaupten. Jeder Aufschub des Augenblicks, in dem er die Probe würde bestehen müssen, erschien ihm wie eine gesteigerte Hoffnung auf Sicherheit.

»Und dann,« dachte er, sooft seine hin- und herpendelnden Gedanken an diesem Punkt hängen blieben, »um die Zeit wird Ada da sein.«

Sie erschien ihm so, wie er sie oft hatte sitzen sehen in der Fensternische jenes dunklen Bibliothekzimmers: die Hände leicht im Schoß gefaltet, lehnte sie sich an das Eichenholzgetäfel, das zu ihrem blondlockigen Kopf einen dunklen Hintergrund bildete.

Das zartgeschnittene Profil, das sich über dem schlanken Hals weich und weiß abhob von der leuchtenden Blumenbuntheit des Gartens, war wie eingerahmt von dem Kranz der am Gesims entlang wallenden Ranken wilden Weines. Sie schaute vor sich hin – nicht träumerisch – nur still auf das kleine Dreieck blauen Himmels, das zwischen dem Dach der Nachbarn und dem alten Birnbaum zu sehen war. Aus der Klarheit der Augen, aus der süßen Ruhe, mit der die Lippen aufeinander lagen, sprach die Lieblichkeit ihres harmonischen Gemütes.

»Sie wird mir sagen, was das Beste ist,« dachte er.

Inzwischen war der entscheidende Brief noch immer nicht gekommen. Er fing an, sich zu beunruhigen. Daß diese unerwartete Depesche »Ich komme« keine Antwort auf die seine sein konnte, wußte er: die diesbezügliche Verabredung war zu klar und zu deutlich gewesen. Es mußte etwas geschehen sein, das Ada zu diesem plötzlichen Entschluß getrieben hatte. Aber was? Die Spannung machte den eben erst Genesenen beinahe von neuem krank.

Dr. Verhoeff versuchte ihn zu beruhigen. Trotz seines gehetzten Lebens zwischen vier sich drehenden Wagenrädern – er hatte schon wieder Operationspatienten, und ein in völliger Ratlosigkeit angefangener Versuch mit inländischen Pflegerinnen gelang nicht, und in Kaliwangi war die Cholera ausgebrochen – dehnte er seine Besuche bei van Heemsbergen zu geduldigen halben Stunden aus, um immer wieder dasselbe anzuhören und zu beantworten, mehr von dem Seelenzustand seines Patienten erratend, als dieser selber wußte oder auch nur gewünscht haben könnte.

Von Anfang an hatte er, während er von dem erschlaffenden Einfluß des Klimas und von Nervenüberreizung und den giftigen Dünsten im Walde sprach, seine Vermutungen gehegt in bezug auf subtilere Krankheitsursachen, und nun, da das Fieber endlich überwunden war, verordnete er eine weder greif- noch wägbare Arznei gegen eine nicht körperliche Krankheit.

Er wiederholte stets:

»Sie wissen, daß Ihre Braut kommt, das ist die Hauptsache. Was tut es denn zur Sache, ob Sie das Wie und das Warum und das Wann eine Woche später erfahren?«

Und bei seinem vorigen Besuch hatte er gesagt:

»Wer weiß, ob sie nicht geschrieben hat und ob der Brief nicht verloren gegangen ist? Das würde mich nicht so sehr wundern, – wir sind hier im Binnenlande! Die allgemeine Theorie über Briefe-Bekommen hier ist die, daß das geschieht, wenn jemand in Holland schreibt und ein Postdampfer ankommt und ein Landpostwagen über den Landweg rollt. Aber die Beobachtung ist nicht vollständig; sie rechnet nicht mit Komplikationen, die sich im letzten Augenblick ereignen können. Vorvorige Woche – habe ich Ihnen das erzählt? Ach ja, 's ist ja wahr, es war gerade an dem Tage, da die französische Mail angekommen war. Nun ...«

Und er erzählte, wie er, am Postamt vorüberfahrend, gesehen hatte, daß der ganze Boden der Vordergalerie mit Briefen und Zeitungen bedeckt war, jedes mit einem Kieselstein beschwert; mehrere wirbelten durch den Garten; und der Postbote rannte hinter dem Rest her, der, von einem frischen Winde getrieben, über die Landstraße flog. Wie sich nachträglich herausstellte, war die ganze Sendung naß geworden durch eine Flasche Eiswasser, die der Boy des Postdirektors zerschlagen hatte, und jetzt mußte alles erst wieder getrocknet werden, bevor es den verschiedenen Adressaten zugestellt werden konnte.

»Das habe ich mit meinen eigenen Augen gesehen. Bedenken Sie weiter, daß das Postamt am Fluß liegt. Setzen Sie den Fall, der Brief Ihrer Braut sei vorige Woche mit der französischen Mail eingelaufen. Denken Sie sich dazu einen allzu kleinen Kieselstein, und der Fall ist erklärt.«

»Ja, wenn Sie mir das gleich erzählt hätten,« rief van Heemsbergen aus.

Der Doktor unterbrach ihn:

»Ich habe mehr getan, ich habe selbst beim Suchen geholfen, was glauben Sie wohl?«

Trotzdem hatte van Heemsbergen seinen Boy nach Soemberbaroe geschickt mit einem in scharfem Ton gehaltenen Schreiben an den Postdirektor. Es kam die Antwort, daß die Sendung keinen Brief für ihn enthalten habe.

Das war jetzt schon ein paar Tage her, und es war wiederum »Mailtag«.

Zu ruhelos, um es bis zur vorgeschriebenen Stunde im Bett aushalten zu können, hatte er sich auf die an sein Zimmer angrenzende Galerie bringen lassen, von wo aus er die Post auf dem in langsamen Windungen ansteigenden Wege konnte kommen sehen.

Er fühlte seinen ganzen Körper wie zu straff gespannte Saiten, während er dalag und wartete und immer wieder seine Augen wegzwang von jener Biegung des Weges, wo das gelbe Postwägelchen frühestens in einer Stunde erscheinen konnte, und auf das Buch, das schon seit einer Weile offen in seinen Händen lag.

Es war eine Abhandlung über den modernen Staat und den modernen Menschen in ihrem wechselseitigen Verhältnis zu- und ihrer Wirkung aufeinander. Von der Beobachtung ausgehend, daß die körperliche, sittliche und intellektuelle Beschaffenheit der einzelnen verschieden sei, je nach dem Grade der Organisierung ihres Gemeinschaftswesens, gelangte der Verfasser zu der These, daß es die Gemeinschaft sei, die das in Einsamkeit lebende elende Menschtier zu dem wissenden, fähigen und genießenden Menschen gemacht habe.

Der Darwinistischen Theorie über den wechselseitigen Kampf stellte er die über die wechselseitige Hilfe als Evolutionsfaktor gegenüber; und der Auffassung von dem Glück als der Beute, die der wirtschaftlich Stärkere in einem erbitterten Kampf von allen gegen alle erobert und die von der Schwächeren Elend trieft, eine andere, der zufolge das Glück auch dem Geringsten erreichbar und umso überflüssiger für einen jeden, in je größeren Mengen es genossen, die Frucht des Zusammenwirkens aller zum Gemeinwohl sein würde, der natürliche Anteil der Einzelseele am Besitz der Gemeinschaftsseele.

»Und damit verfällt der absolute Individualismus, da die Seele des einzelnen ...,« las er zerstreut. Zum soundsovielten Male schaute er von seinem Buch auf nach der Biegung der Landstraße, wo noch immer nichts zu sehen war.

Sein Blick blieb an einer dunklen Stelle haften, schwärzlich in dem fahl gewordenen Grün der »Ost-Monsun-Landschaft«, jenem Walde von Kokospalmen mit ihren zerfetzten Blätterbüscheln und wildem Pisang, der das verlassene Landhaus verbarg; mit einem Schauder des Ekels wandte er sich ab. Der Abend, an dem er das Ausfliegen der Fledermäuse beobachtet, sein Ritt durch die Dunkelheit, sein verworrenes und qualvolles Grübeln, die nächtliche Wacht bei dem Bildnis der Göttin und die Tiefe des Seelenelends, aus der er um Hilfe gerufen – das alles fuhr ihm in dieser einen Sekunde durch die Gedanken. Und er fühlte von neuem das Entsetzen der Halluzination, gegen die er in jener ersten verworrenen Fiebernacht gekämpft hatte.

Mitten in einem brennenden Walde, in einem Kreis von Flammen, die zitternd wie hohle rote Segel um ihn wogten und sich blähten, stand er vor einer steinernen Statue, die emporwuchs, während er auf sie hinstarrte. Er hielt sie an den Handgelenken fest, aber die Arme und die Schultern und der Kopf stiegen immer höher und höher. Das Gesicht war das Gesicht Adas, und vor allem waren es ihre Augen, die ihm in dem immer höheren, höheren Aufsteigen durch Tränen anblickten. »Ich würde dir so gerne helfen, aber du selbst bist ja schuld daran, daß ich es nicht kann,« sagte sie. Und er antwortete: »Es ist auch nicht der Mühe wert – nichts als ein fliegender Hund«. – Dann sah er sich selber an – denn er war zwei – und das gerade war das Verwirrende und tödlich Ermattende, daß er absolut – absolut – denn davon hing alles ab, wissen mußte er, wer von den zweien er eigentlich sei, und da war keine Möglichkeit – er sah sich selber an und bemerkte, daß er – jenes zweite Er – kein Haupt hatte, sondern einen Kopf wie ein fliegender Hund – ein riesiger fliegender Hund; und seine Hände – denn wie dem auch sein mochte, das waren seine Hände, die die Pulse der Statue so krampfhaft umklammerten, – waren überhaupt keine Hände, sondern widerwärtige, von schwarzem Schmutz triefende Klauen.

»Laß sie los, laß sie los!« schrie jenes andere Er – das Er, das ein Menschengesicht hatte, nicht das seine, sondern das von Dr. Oldenzeel, – »laß sie los, sage ich dir.« Er schlug wütend auf die abscheulichen Klauen, schlug und empfand zugleich Schmerzen und schüttelte sie, um den Schmutz abzuschleudern. Die losgelassene Statue schoß in die Höhe, und die leise wehenden Flammensegel fielen auf ihn herab, erstickend und bleischwer.

Er fühlte, wie seine Wangen zusammenschrumpften und wie ihm ein kalter Schauer durch das Haar fuhr. Sich mühsam erhebend, rückte er seinen Stuhl so, daß er den Fledermaus-Wald nicht mehr sehen konnte.

»Ich darf nicht mehr daran denken, nicht an jene Nacht und an »das alles« nicht, an dies Gefühl von Elend und Unsicherheit, das ist etwas Krankhaftes. Ich habe mich selbst solange geprüft und seziert, bis ich mir ins Leben geschnitten habe, irgend einen Willensnerv getroffen. Das alles muß jetzt Ruhe haben, wenn es überhaupt jemals wieder heilen soll.«

Er suchte nach dem Satz, in dem er steckengeblieben war, fuhr wieder fort und zwang sich jetzt dazu, aufmerksam und Schritt für Schritt dem Gedankengang des Verfassers zu folgen.

Ein Räderknarren über den Kies der Auffahrt ließ ihn sich umschauen. Der Doktor betrat die Galerie.

Er sah seinen Patienten mit besonderer Aufmerksamkeit an, während er ihm den Puls fühlte:

»Wenn Sie ein wenig ruhiger wären, würde ich Sie fragen, ob Sie heute wohl Damenbesuch empfangen können?«

Van Heemsbergen runzelte ungeduldig die Brauen.

»Frau de Bakker natürlich. Danke verbindlichst.« »Nein, zufällig nicht Frau de Bakker, eine Dame aus Holland, die soeben erst angekommen ist und die Ihnen Grüße von Ihrer Braut bringt. Als sie hörte, daß Sie hier seien, ist sie von Soemberbaroe aus mit mir hierher gefahren; Frau Meerhuys.«

Van Heemsbergen wäre beinahe gefallen, so hastig versuchte er von seinem Stuhl aufzustehen. Der Doktor zwang ihn in seine liegende Haltung zurück.

»Wenn Sie sich nicht ruhig verhalten, lasse ich sie nicht zu Ihnen. Sie begreifen doch wohl, daß sie sofort an Ihre Braut schreiben wird, wie sie Sie gefunden hat ... Ada geht es gut, und bei den de Graves ist auch alles wohl. Es verhält sich genau so, wie ich Ihnen schon hundertmal gesagt habe, daß es sich verhalten müsse. Frau de Grave war dagegen, daß sie die Reise allein machen solle, jetzt hat sie sich einer Familie angeschlossen – aus dem Grunde hat sie Ihnen damals depeschiert. Bleiben Sie jetzt ruhig liegen, ich werde Ihnen Ihre Kleider schon geben.«

Van Heemsbergen packte den Arzt beim Arm.

»Wann?«

»Wann sie auf Reisen geht, meinen Sie? Das Schiff ist schon unterwegs, sagt Frau Meerhuys. Hier – Ihre Atjeh-Joppe. Und wo hat Ihr Boy Ihre Haarbürste gelassen?«

Halb lachend, halb unwillig wehrte van Heemsbergen ihn ab. »Lassen Sie nur, lassen Sie, es ist schon gut so, führen Sie sie jetzt nur herein!«

Der Doktor trat ins Zimmer, und durch die offene Tür hörte van Heemsbergen ihn sagen:

»Ich habe ihn schon ein wenig vorbereitet.«

Und eine unbekannte Frauenstimme antwortete:

»Ich werde dann später kommen.«

»Was für unnötige Umstände,« dachte er, während er ungeduldig an seiner Joppe zupfte, die er schief zugeknöpft hatte.

Es stand ein großer Wandschirm vor dem Eingang des Zimmers, so daß er nicht hineinsehen konnte. Er neigte sich in seinem Stuhl vor, um ihn zur Seite zu schieben, als das Geräusch eines leichten Schrittes ihn unbeweglich verharren ließ; atemlos: sein Herz machte einen Ruck und stand still. Aus einer plötzlichen Leere schaute ihn ein vor Blässe leuchtendes Gesicht an, das durch Tränen lächelte; während alles um ihn her wankte und schwankte, wußte er, daß es Ada war, die er so krampfhaft mit seinen beiden Armen umklammert hielt.

»Gys, Gys, o Gys,« flüsterte sie. Und dann unter Schluchzen: »Liebster!«

Sie war neben seinem Stuhl auf die Knie gesunken. Er fühlte ihre Tränen an seiner Wange.

»Laß' mich dich sehen,« sagte er heiser. Ihr beide Hände auf die Schultern legend, schaute er sie an.

Sie sah blaß und verweint aus, aber ihre Augen strahlten wie Sterne. Sie versuchte ihm zuzulächeln; ihre zitternden Lippen zuckten so seltsam.

Er sagte mühsam:

»Ich kann es noch nicht glauben.«

Statt aller Antwort preßte sie die Wange gegen seine Hände, die auf ihrer Schulter ruhten, erst gegen die eine und dann gegen die andere, dann machte sie sie sanft los, schlang seinen Arm um sich und schmiegte sich an ihn. Er fühlte ihr seidenweiches Haar an seinem Nacken, er sah ihre schlanke, weiße Hand in der seinen, die auf seinem Knie lag; es war wahr, es war Wirklichkeit.

Hundert Fragen, die er alle zugleich hätte stellen wollen, drängten sich in seinem Kopf, er wußte nicht, mit welcher er beginnen sollte, und sprach eine aus, an die er gar nicht gedacht hatte und die er schon als sinnlos empfand, während er sie noch aussprach:

»Wo bist du angekommen, in Batavia oder in Cheribon?«

Aber Ada antwortete lächelnd und in einem Ton, als bedeute gerade das die Vervollkommnung ihres Glückes:

»In Batavia, gestern früh.«

»Und ich war nicht da, um dich abzuholen!«

Sie sah ihn besorgt an.

»Bist du nun wirklich besser, Gys? Du siehst noch gar nicht gut aus, so mager hier!«

Mit behutsamen Fingern berührte sie leicht seine Wange.

Er drückte ihre Hand an sein Gesicht.

»Wenn ich denke, wie ich mich noch vor zehn Minuten nach einem Brief von dir sehnte!«

Sie sagte, ein wenig zögernd:

»Du hast jenen Brief nicht bekommen, sagt mir der Arzt, den nach meiner Depesche, meine ich ... Nein? Dann weißt du auch noch nicht ...«

Sie stockte, errötete und sagte hastig und während des Sprechens immer tiefer errötend:

»Dann weißt du auch noch nicht, daß ich die Reise mit Frau Meerhuys gemacht habe.«

Er begriff, daß sie etwas ganz anderes hatte sagen wollen, daß sie es aber in diesem Augenblick nicht konnte.

Mit verlegenem Lächeln und Augen, die um Verzeihung baten, fuhr Ada fort:

»Ich werde vorläufig bei ihr wohnen bleiben, sie wohnt hier in Langean, denk' dir nur, wie zufällig – man kann das Haus von hier aus sehen.«

Er wiederholte:

»So, kann man es von hier aus sehen?«

Beide schwiegen.

In seiner Sehnsucht nach der fernen Ada hatte van Heemsbergen oft gedacht, wie er sein schweres Herz gleich einer übervollen Vase in beide Hände nehmen wolle, um es in ihr tiefes stilles Herz auszuschütten, aber jetzt fühlte er, daß das nicht möglich war. Jene Flut von Gedanken und Empfindungen, deren überwältigenden Andrang er oftmals nicht mehr ertragen zu können geglaubt hatte, schien jetzt plötzlich auseinandergeflossen und versunken, und Ada anblickend, erkannte er, daß sie nicht allein empfänglich war, eine leere wartende Schale, sondern daß sie ihren eigenen Inhalt hatte, ihr eigenes Geheimnis, ihren eigenen Willen. Eine bisher noch ungeahnte Kraft in ihr, die der seinen das Gleichgewicht hielt, berührte ihn wie ein Strom, der, mit einem anderen Strom zusammenfließend, in dem gemeinschaftlichen Bett noch eine Zeitlang seine eigene Farbe, Kraft und Art beibehält.

Ein Schritt, der sich näherte, half ihnen aus ihrem befangenen Schweigen. In der Tür der Galerie erschien eine kleine grauhaarige Frau, die sie lächelnd ansah.

Ada sprang auf und zog sie an der Hand zu van Heemsbergen hin.

»So, da haben Sie ihn nun.«

Die kleine Frau streckte ihm die Hand entgegen, und sagte, wiederum lächelnd: »Sie haben gewiß schon erraten, wer ich bin – Adas Freundin.«

Während er aufblickte in das runde, von kurz geschnittenem grauem Haar dicht umlockte Gesicht mit den jungen Augen und dem jungen Lächeln, fühlte van Heemsbergen, wie das Vorurteil, das er aus der Ferne gegen Frau Meerhuys gehegt, zugleich mit seiner diesem Vorurteil entsprechend gebildeten Vorstellung von ihr schwand.

Unwillkürlich erwiderte er den Druck der kleinen, kräftigen Hand.

Ada, die gespannt von ihrem Verlobten zu ihrer Freundin geblickt hatte, sah es, und ihre Augen strahlten. Als Frau Meerhuys einen Augenblick später, allem Anschein nach, ohne es zu merken, van Heemsbergen bei seinem Vornamen nannte, rief sie triumphierend:

»Sie haben Gys gesagt, Sie haben Gys gesagt!«

Sie lachten alle drei. Damit war auch die letzte Spur von Zwang und Fremdheit geschwunden.

Wie der Tag nun weiter verlief, ob es Morgen, Mittag oder Abend war, und was eigentlich geschah, das wußte weder Ada noch van Heemsbergen. Die fremde Umgebung, die weiße Galerie, der düster-grüne Garten voll schwerhängenden Laubes, der schwindelnd hohe Himmel, das alles schien für Ada nicht zu bestehen. Van Heemsbergen blickte in das sanfte, von der milden Aureole des Blondhaars umglänzte Gesicht, als könne er noch immer nicht an die Wirklichkeit glauben und als müsse er das alles mit den Augen festhalten, sollte es nicht weggleiten und verschwinden. Frau Meerhuys, die den ganzen Tag über für sie zu sprechen, zu denken und zu handeln schien, erzählte, wie ein Zusammentreffen von Zufälligkeiten – ihre verfrühte Abreise aus Holland, sein Telegramm und die vorübergehende Abwesenheit des alten Herrn de Grave – Ada zu ihrem plötzlichen Entschluß und Frau de Grave zu ihrer halb widerwillig erteilten Zustimmung getrieben hätte. Es ging ihm zum einen Ohr hinein und zum andern wieder heraus; was er doch so lange und so heftig zu wissen gewünscht hatte, das war jetzt völlig belanglos geworden. Er konnte weder vorwärts noch rückwärts denken, der gegenwärtige Augenblick füllte alles mit seinem unbegreiflichen und halb unglaublichen Glück, und er fühlte sich wie in einem Traum, in dem allerlei unzusammenhängende und außergewöhnliche Dinge undeutlich geschehen. Er hörte Ada Sundanesisch sprechen zu seinem Bedienten – ein allzu korrektes Sundanesisch, frisch aus der Grammatik und dem Wörterbuch, Frau Meerhuys zeigte ihm auf einem struppig bewachsenen Hügel ein inländisch gebautes Häuschen, das mit seinem Dach aus Bambusschuppen unter einem scharlachrot blühenden Flammentulpenbaum versteckt lag, wie eine gefleckte Schildkröte unter einem Korallenstrauch, und sagte, daß das ihre Wohnung sei, wo sie und Ada noch diese Nacht schlafen würden. Ada saß am Teetisch und goß ihm eine Tasse Tee ein. Wie in einem Traum noch sagte und hörte er allerlei Worte, die nichts bedeuteten und die dennoch in diesem Augenblick die einzig richtigen zu sein schienen. Ada erzählte etwas von einer Freundin, die jemals gesehen zu haben, er sich nicht entsinnen konnte. Sie sagten immer wieder:

»Du weißt ja – aber nein, das weißt du natürlich nicht,« und sahen einander dann an mit einem Lächeln, als hätten sie die allererfreulichste Nachricht gebracht oder erhalten. So wie abgemähte Wiesenblumen, Grashalme, kleine Federn von Wasservögeln auf dem Spiegel eines tiefen Flusses treiben, so trieben ihre Worte auf der Oberfläche des Augenblicks.

Es wurde Abend und Nacht: sie mußten sich trennen.

Beim Fortgehen zögerte Ada noch ein wenig, während Frau Meerhuys die Stufen der Galerie herabschritt.

»Es kam noch etwas anderes hinzu, Gys,« sagte sie hastig.

»Etwas anderes? ... was meinst du denn eigentlich?«

»Daß ich dir so plötzlich depeschierte; Frau Meerhuys weiß nichts davon, Mama auch nicht. Sie denken, es war, weil ich mich vor Schwierigkeiten mit dem Onkel fürchtete und vor der Reise allein ... Ich habe es dir in dem Brief geschrieben, der verloren gegangen ist, aber ...«

Sie hielt inne und sah ihn flehend an.

Van Heemsbergen ergriff ihre beiden Hände und küßte sie.

»Ich will es nicht wissen, du bist gekommen, das ist genug.«

Sie eilte davon und sah sich noch einmal um, um ihm zuzulächeln. Vom Wege aus rief sie gute Nacht und auf Wiedersehen.

»Auf morgen! auf morgen früh!«

Ihre Stimme klang so innig durch die Nacht.

»Auf morgen!« rief er zurück. »Auf immer!«

Er folgte mit seinem Herzen ihren Schritten, – sie wurden leiser und erstarben langsam in der Stille. Aber er würde sie wieder zu sich kommen hören, morgen und übermorgen und den Tag darauf und alle weiteren Tage seines Lebens. Es war keine Trennung mehr möglich, niemals und auf keine Weise. Sogar jetzt, während ihr Platz da neben ihm leer war, war sie doch bei ihm. Es schien ihm, als sähe er sie erst jetzt deutlich, jetzt, da nur seine Gedanken sie sahen, statt seiner verblendeten Augen.

Sie hatte sich verändert: es war etwas vergangen, und etwas anderes, etwas, das mehr galt – war in ihr erwacht. – Früher, wenn er sie hin und her gehen sah in jenem dunklen Studierzimmer, während sie sich über ihres Vaters Schreibstuhl neigte und Bücherstöße in ihren zwei Armen herbeitrug, hatte er sie in Gedanken mit einer jungen Frühjahrsbirke verglichen, mit solch schlankem, weißem Stamm, deren leichte Zweige, noch kaum merklich durch sprießende Knospen verdichtet, im Winde schwanken, im allerleichtesten, der nichts anderes zu regen vermöchte, und die sogar in der Stille unsicher schweben, wenn alles starr dasteht oder flach ausgebreitet ruht; solch eine Schlankheit war in ihrem Wuchs, solch eine anmutige Unsicherheit und leichte Unentschlossenheit in ihren Bewegungen. Aber jetzt glich sie viel mehr einer ebensolchen Birke an einem Junitage, wenn die dürftigen schwarzen Zweiglein sich zu einer grünen Wolke erschlossen haben, in der die Sonnenlichter zu hunderten tanzen und die sich in dem sommerlichen Winde auftut und wieder schließt nach ihrem eigenen süßen Sinn. Ihre schlanke weiße Hand zeigte einen rosigen Schein in der inneren Fläche, eine sanfte Rundung um das Gelenk. Die Bewegung, mit der sie sich neigte und wieder aufrichtete, war voll geschmeidiger Kraft, das Lächeln, das um ihre Lippen lag, verwischte diesen neuen Zug ruhiger Entschlossenheit nicht, ja es schien ihm sogar, als habe ihre Stimme einen volleren, stärkeren Klang als einst. Es lag etwas darin von ihres Vaters Stimmklang, so wie eine Spur von ihres Vaters Wesen in ihrem fast unmerklich veränderten Gesichte lag – eine Ähnlichkeit, die kam und ging und die nicht den Zügen, sondern dem Ausdruck eigen war.

Wann? – er dachte nach – wann habe ich das doch gleich gesehen? – so plötzlich, eine Sekunde lang – ach ja, während Frau Meerhuys über ihre »soziale Arbeit unter den inländischen Frauen« sprach.

Er lachte in sich hinein.

Der Klang jener Worte »soziale Arbeit« führte ihn zu den Tagen seiner kriminalistischen Studien zurück, da er in Gefängnissen, Anstalten und Krankenhäusern schlecht gekleideten Damen zu begegnen pflegte mit Sträußchen in den Händen und dem blauen Knopf der Abstinenzler am Mantel, und den Taschen, vollgepropft mit Büchern; Damen, die mit dem ängstlichen Mut und dem unerschütterlichen Selbstvertrauen der durchaus Unwissenden jene Schrecken erregenden Invaliden aus dem Lebenskampf sanftmütig heilen wollten, um sich dann späterhin mit einem Seufzer und einer Träne über mißlungene Experimente zu trösten.

Nun war die sundanesische Dessa freilich kein grimmiges Schlachtfeld wie die holländische Stadt, aber der Gedanke, ein Mädchen wie Ada unter einer Schar inländischer Frauen zu sehen, hatte für jemanden, der sie sowohl wie jene kannte, etwas unwiderstehlich Erheiterndes.

Eine plötzliche Kühle strich durch die Galerie; die Sträucher draußen neigten sich und standen fahl und verworren in dem Lampenlicht. Mit einem Rasseln, das sofort zu einem Getöse und einem polternden Wirbel ward, strömte ein ungeheurer Regenschauer hernieder.

Er ging ins Haus.

Im Augenblick des Einschlafens fühlte er plötzlich irgendwo einen Schmerz in seinen Gedanken und fuhr erschreckt auf. Ada unter inländischen Frauen! das war nicht etwas, worüber man lächeln konnte! er dachte an Auffassungen und Neigungen, die ihr wie ein Pestqualm entgegenschlagen würden. Für ihn waren sie jetzt alle Mütter, Schwestern, Kinder von Naila.

»Ich muß sie warnen – nein, nicht sie, sondern Frau Meerhuys – warum fängt die auch bloß sowas an?«

Er lag da und wühlte in unruhigen Gedanken. Das starke Regengeräusch brachte ihn endlich in Schlaf. Bis in den Traum hinein vernahm er das Strömen des Wassers. Nach einer langen schwankenden Übergangszeit, die mit leichten Schauern nur ein wenig Staub von dem schwarz gesengten Waldlaub abgestrichen, die trockne Pflanzenasche auf den Boden niedergestreift und hier und dort die breiten tiefen Risse gedichtet hatte, die die Flammenklauen der heißen Zeit der Erde geschlagen, brach endlich der neu belebende West-Monsun herein.

Die ganze Nacht hindurch regnete es, ruhige, schwere, ununterbrochen niederstürzende, dickstrahlige Wassermassen, als ob sich ein ganzes Meer, das in der Luft gehangen, für seine Ufer von Wolken und seinen Boden aus Wind zu schwer geworden, auf die feste Erde herabsenke.

Jetzt erfüllte der Regen alles.

Da war keine andere Bewegung mehr als die, welche von Regen herrührte, ein gleichmäßiges, dröhnendes Zittern. Die Luft, die Häuser, die Bäume, der Boden und alles, was darinnen, darauf und darum war, dröhnte und bebte unter dem unaufhörlichen, dem millionenfachen Fall der senkrechten Strahlen.

Da war kein anderes Geräusch mehr, als das Geräusch des Regens, das zischende, wirbelnde Geräusch, das scheinbar eintönig ist, gleichmäßig wie der Spiegel des Ozeans unter dem Blick des zwischen Wolken treibenden Seeadlers, in Wirklichkeit aber ungestüm und endlos verschieden, wie die sich überschlagenden Wogen um die Braunfischschool übervoll von tausenderlei Klängen, Gemurmel und Rufen.

Da war kein anderer Anblick als der Anblick des Regens für die unzähligen das Dunkel durchbohrenden Augen, die auslugten, im Walde, an den Hügelabhängen, zwischen dem Flechtwerk der Inländerhütten, zwischen den Rissen und Spalten des verdorrten Bodens, unter dem Felsgestein der Schlucht, wo der Fluß zu schäumen begann.

Nichts anderes vermochten sie zu entdecken, keinen Mond, keinen Stern, keine Wolke, keinen Himmel, keine Erde, keinen Baum, keinen Hügel und kein Tal, nichts anderes als den Regen, den Regen allein. Die dicken, dichten Regenstrahlen, zwischen denen fast kein Himmel mehr war, die schweren senkrechten Strahlen, die, was dastand oder aufstieg, niederschmetterten zu steilem Herniederfließen, die alles erfüllenden Strahlen, die keine Höhe oder Breite oder Tiefe mehr auf der Erde ließen als Höhen, Breiten und Tiefen von fallendem Wasser.

So regnete es bis zum Grauen des Tages.

Dann plötzlich hörte es auf, so wie es begonnen; die letzten Wogen des Regenmeeres waren herniedergeströmt.

Die gelblich-graue Wölbung, die durch eine schwankende Klarheit von flach ausgebreitetem Braun getrennt wurde, bekam im Osten einen Riß, durch den ein rötlicher Schimmer hindurchglomm.

Er wurde purpurn nach einigen Augenblicken, und der Riß weitete sich zu einer Bresche, aus der bald darauf ein dunkelroter, dreieckiger Feuerklumpen emporstieg. Die entzündeten Wolken begannen zu schwelen und verbrannten räucherig; das Grau der hohlen Sphäre wurde weißlich, das Braun von dem, was flach und niedrig gewesen, zerteilte sich in Grün und Gelb und Weiß. Es war Tag.

Jetzt konnten Menschen und Tiere sehen, was der Regen verändert hatte in der Nacht.

Aus der Ebene war ein Meer geworden, ein ebbe- und flutloses, wellenloses und untiefes Meer voll grüner Inseln und brauner Sandbänke. Triefend ragten die Hügel daraus empor, vom Gipfel bis zum Fuße gestreift und durchfurcht, mit großen kahlen Stellen zwischen der struppigen Dichtigkeit von Waldgrün und weichenden Halden, wo gestern noch Schluchtenteile waren. Alle Schärfen waren rund gespült, Bergspitzen, Hügelgipfel, kantige Kluftumrisse, Kämme ferner Ketten und Höhenzüge, Hügelprofile, all die Härten des alten in Vulkanglut getauchten Landes, die mächtige Sanftheit des Regenmeeres hatte sie durchweicht, geschmeidig gemacht, aufgelöst und neu geschaffen. – Ein neues Gewächs entsproß dieser neuen Erde, feines Kraut, zarte Schößlinge, junges Geblümte. Dunst von nebeligem Grün hing an den steilen Hügeläckern, der Bergwald schien, soeben erst entkeimt, in die Höhe geschossen, der millionenkronige üppige Wunderwuchs dieser einen Nacht von dem dunstigen Blond junger Knospen umwoben. Das düstere Grün der Kenaribäume längs des Weges nach Langean war überflimmert von gelben Trieben, ihre rauhen Stämme glänzten vom Saft; an dem Wegesrain, der gestern noch Staub und Asche glich, schimmerte junges Gras, die dunkle Schlucht war ein springender, blitzender Schaumwirbel. In der Dessa blühten alle Hecken. Die inländischen Häuschen schienen lebendig geworden, solch frischer Duft schlug aus ihren Wänden von toten Bambusreisern, aus ihrem Dach von toten Bambuslatten, solch ein Glanz und solche Farben lagen darüber. Die Bewohner traten fröstelnd aus den Türen, ihre Kleider straff um sich herziehend; wer sprach, hatte seinen Atem wie ein Wölkchen um den Kopf; eilig liefen sie an den brausenden Fluß, um zu baden, eilig kamen sie zurückgelaufen. Es war ein Leuchten in ihren Augen, und auf ihren Zügen lag ein mattroter Schein.

Das endlich mit voller Kraft weiß und golden durchbrechende Sonnenlicht weckte van Heemsbergen aus einem Schlaf, wie er ihn seit Monaten nicht geschlafen hatte. Die Augen öffnend blieb er liegen, ohne eine Bewegung zu machen, ganz erfüllt von gedankenloser Seligkeit, wohlgemut, als läge er dort am Born aller Freudigkeit, bis zum Nimmermehr-Dürsten getränkt, gelabt, mit Glück überströmt. Erst eine Weile nach seinem Empfinden erwachte auch sein Denken.

»Sie ist da,« sagte er laut, und sagte es noch einmal, lächelnd.

Frau Meerhuys, die als die Frau eines Beamten der inländischen Verwaltung seinerzeit der Notwendigkeit gehorchend nach Indien gegangen, war jetzt aus freier Wahl dorthin zurückgekehrt.

In den fünfzehn Jahren, die sie in den Binnenlanden durchlebt, hatte sie den Inländer kennengelernt, und sie hatte ihn lieb gewonnen.

Sein Leben mit der Natur, nach den wechselnden Jahreszeiten und Saat und Ernte, sein Empfinden, das ihn die Elemente als göttliche Mächte ehren und in Tieren, in Bäumen, ja selbst im Gestein verwandtes Leben ahnen läßt, sein Gemeinschaftssinn, durch den das Dorf ein einziges Haus wird und der Boden das Jahrhunderte alte Erbteil einer einzigen Familie, die Unwissenheit, die Sorglosigkeit und die Verschwendungssucht, die ihn am Erwerben und am Erhalten hindern, sodaß er kärglich leben muß vom Abfall seines eigenen überreichen Landes, unsicher, heute in Fröhlichkeit und morgen in Not, jedem Stärkeren und Klügeren wehrlos überliefert, und wirtschaftlichen Ereignissen gegenüber ebenso passiv wie eine Pflanze dem Regen und dem Sonnenschein: sein kindliches Verhältnis zu der Welt, in einem Worte, hatte sie anfangs abwechselnd geärgert und entzückt.

Aber der Ärger schwand, je mehr sie einsehen lernte, wieviel Leid und Unrecht da war, wo nur Schuld zu sein schien; und da fühlte sie nichts anderes mehr als den Wunsch zu helfen.

Ihr Mann, einer jener Beamten, die Indien als die Möglichkeit zu einer geldeinbringenden Karriere und den Inländer als die Ursache dieser Möglichkeit betrachten, konnte es nicht verstehen, warum sie an einem glühend heißen Morgen nach dem andern in die Dessa ging, um dort Fieberkranke und Patienten mit eiternden Beinwunden zu pflegen und zu verbinden. Aber, vielleicht weil er meinte, daß eine kinderlose Frau in einem gottverlassenen Ort und ohne irgendwelchen Umgang mit ihresgleichen wohl eine Zerstreuung haben müsse, und die Liebhaberei für Wohltätigkeit wenigstens eine verhältnismäßig billige war, vielleicht auch nur, weil er Auseinandersetzungen und Streit ebenso ängstlich mied wie jede andere Anstrengung, ließ er sie gewähren mit einem Achselzucken hin und wieder und einer Warnung, daß sie doch nur Undank ernten würde. Nur wenn sie ihn in seiner Beamtenqualität in den Dienst ihrer energischen Bestrebungen stellen wollte, zeigte er seinen Willen in einem passiven, aber unerschütterlichen Widerstand; er fürchtete, daß solche Einmischung seiner Beförderung am Ende hinderlich sein könne. In verhältnismäßig jungen Jahren zum Assistent-Residenten von Soemberbaroe ernannt, war er während einer Choleraepidemie gestorben, die nach Mißernte und Überschwemmung unter der inländischen Bevölkerung ausgebrochen war.

Frau Meerhuys, der gute Bekannte in einem benachbarten Ort Gastfreundschaft anboten bis zu ihrer Abreise nach Holland – man nahm mit Bestimmtheit an, daß sie dorthin zurückkehren würde, – hatte damals erklärt, daß sie bleiben wolle, wo sie war. Da sie die Assistent-Residenten-Wohnung dem Nachfolger ihres Mannes einräumen mußte und nach Abzug dessen, was sie zur Unterstützung der Notleidenden ausgesetzt, nicht genug von ihrer Pension übrig behielt, um eine holländische Wohnung zu bezahlen, kaufte sie ein inländisches Häuschen in Langean. In den Tagen des Elends, der Krankheit und der Hungersnot, die jetzt anbrachen, war jenes Häuschen auf dem Hügel das Hospital, die Herberge, die Garküche und das Waisenhaus der ganzen Umgegend. Als nach einem Jahr die Schwierigkeiten überstanden waren, als eine bessere Zeit begann und ihre Verwandten in Holland auf ihre Rückkehr drängten, fühlte sie, daß sie es nicht mehr konnte; sie hatte sich in Indien festgelebt.

Für ihren Plan zur Gründung einer Webe- und Batikschule, die gleichzeitig eine zum Vorteil der Arbeiterinnen produzierende Fabrik sein sollte – ein Plan, den sie bereits vor Jahren gefaßt und dessen sie stets gedacht hatte, so oft sie von dem Verfall des indischen Kunstgewerbes sprechen hörte und von der Notwendigkeit, es im Interesse des verarmenden Dessavolkes, dem auf die Dauer mit Almosen nicht zu helfen wäre, zu neuer Blüte zu bringen – schien eine Chance zur Verwirklichung zu kommen, jetzt, da das durch das Elend und die Gefahr erweckte Mitleid für den Inländer überall vertreten war. Sie fragte Hendricks um Rat, der kurz zuvor als Kontrolleur von Soemberbaroe in die Gegend gekommen war; indem sie einander so häufig in der Dessa begegneten, wo sie sich, jeder auf seine Weise, der gleichen Arbeit widmeten, waren sie Freunde und Bundesgenossen geworden. Er kam um amtliche Unterstützung für ihren Plan ein, und sie erhielt auch die Zusage, aber die Erfüllung war von so vielerlei abhängig und ließ sich allmählich als ein in so ferner Zukunft liegendes Ziel erkennen, daß sofortiges Handeln auf eigene Verantwortung geraten erschien. Sie begann zunächst eine Rundreise durch Indien und dann durch Holland, berief Versammlungen ein, hielt Vorträge, um sich das Geld zu verschaffen, das sie brauchte und nicht besaß. Sie bekam es nicht leicht; einzelne zweifelten an dem Nutzen der Sache, andere an ihrer Fähigkeit, sie durchzuführen, wieder andere wollten ihr das Mißverhältnis klarmachen, das zwischen den Versuchen eines einzelnen und den Bedürfnissen eines ganzen Volkes bestände, und es waren ihrer viele, die sich, trotzdem sie ihren ganzen Besitz in Indien erworben, doch nicht verpflichtet fühlten, dem Inländer auch nur das mindeste oder geringste zurückzugeben, und die diesen bösen Willen hinter Mißbilligung verbargen. Aber sie, die sich weder entmutigen noch aus der Fassung bringen noch erbittern ließ, erreichte endlich doch ihr Ziel, und mit ungehemmter Kraft und in voller Freiheit konnte sie jetzt ihr Lebenswerk beginnen.

Die inländische Bevölkerung hatte um ihre Ankunft gewußt, noch bevor sie einen Fuß an Land gesetzt. Schon am ersten Abend, und so spät es auch geworden war, nach dem Besuch bei van Heemsbergen, fand sie vor ihrer Türe Menschen, die ihr einen Willkommen darboten, und während der ganzen Woche wurde das Haus nicht leer von Besuchern in Festtagskleidung und mit Geschenken in den Händen.

Der alte Regent von Langean, der sich seit Monaten nicht öffentlich gezeigt hatte, menschenscheu geworden und halb krank durch den Kummer über seine Söhne, war unter den ersten. Dann kamen die Dorfobersten aus der Umgegend, die Priester, die wohlhabenden Dessaleute und auch die arme Bevölkerung. Sie brachten Früchte von ihrem eigenen Besitz, mit Safran gelb gekochten Reis und allerhand selbstbereitete Leckerbissen, zierlich verpackt in kleinen Körbchen, die aus frischen Pisangblättern geflochten waren; die am Fluß wohnten, kamen mit kleinen Fischen und Krabben. Einer, der nichts anderes zu geben hatte, brachte seine girrende Turteltaube in einem Käfig. Es waren solche darunter, die mehr als eine Tagereise weit, Hügel herauf, Hügel herab, durch Regenschauer und sengende Hitze zu Fuß dahergekommen waren, ihr Geschenk und ihre guten Kleider in ein Bündel geschnürt über der Schulter tragend und als einzigen Proviant ein wenig in ein Pisangblatt gewickelten Reis zwischen Gürtel und Sarong. Ein altes Pärchen, das schon lange keine Wohnung mehr hatte und in einem Planwagen von dem einen Passar Passar – Markt. zum andern zog, indem es sich mit Wagen, Verlieren und Gewinnen vom einen Mal bis zum andern hinschleppte, hatte Markt und Chancen im Stich gelassen, um beim Vernehmen der freudigen Nachricht nach Langean zu kommen.

Mütter kamen mit Kindern an der Hand und mit Säuglingen auf der Hüfte, das allerkleinste in den Falten des »Slendang« Slendang = längliches Tuch, das von der Schulter herab über den Rücken getragen wird wie eine Schärpe. geborgen, wie in einer Wiege, um Frau Meerhuys, die sie in der schlechten Zeit gepflegt, verhätschelt und gefüttert hatte, zu zeigen, wie gut sie jetzt gediehen. Der orientalischen Auffassung eingedenk, die laut ausgesprochenes Lob und Bewunderung als eine Herausforderung von stets neidischen Geistern, Sendern von Krankheit und Mißgeschick fürchtet, begnügte sie sich damit, lächelnd die Hoffnung zu äußern, daß die Kinder weder allzu häßlich aufwachsen noch Taugenichtse werden möchten, die ihren Eltern Herzweh bereiteten; während Ada es trotz warnender Blicke nicht unterlassen konnte, die reizenden kleinen Wichte, die mit ihren blitzend dunklen Augen und ihren braunen Gesichtern weich und duftig erschienen wie Früchte, zärtlich an sich zu ziehen. Verlegen, aber wohlerzogen beantworteten die Kleinen ihre Liebkosungen mit einer Ehrenbezeigung, indem sie unbeholfen den »Sembah« der Erwachsenen nachmachten.

Nach den Dessaleuten aus der Umgegend kamen Einsame von hier und dort, die zufällig von Frau Meerhuys Ankunft gehört hatten; der Wächter eines heiligen Grabes in dem Herzen der Hügelgegend; der Kohlenbrenner aus dem Walde und ein Jäger, der unter seinem »Badjoe« Badjoe = eine Art Kittel. ein gesprenkeltes, fein gehörntes Zwerghirschlein trug; der Sammler von Palmzucker aus dem Allerdichtesten des Waldes, wo die grünblühende Aren-Palme wächst, mit einem Körbchen stark duftenden Zuckers in der Hand und dem Abglanz des dämmerigen Waldes auf seinem träumerischen Antlitz. Zuletzt kam ein nackter kleiner Büffelhirte und überbrachte den Gruß und die guten Wünsche eines Einsiedlers, der hoch oben auf dem Gipfel des Tjeremai sein Leben verträumte.

Frau Meerhuys, ganz nach indischer Art in Sarong und Kabaja gekleidet, und die nackten Füße in ledernen Pantoffeln, trat jedem Ankommenden wie einem guten Freunde entgegen.

Die meisten kannte sie beim Namen. Sie fragte diesen nach seinen Kindern, jenen nach seinem Felde oder Vieh, nach dem Gang seiner Geschäfte und seinen Erlebnissen in dem Amt, das er bekleidete, einen dritten und vierten und nicht oberflächlich, sondern bis in solche Einzelheiten, daß sie wohl verstehen mußten, wie sie auch in der Ferne stets ihrer gedacht und sich um sie gesorgt hatte.

In dieser neuen fremden Welt stand Ada, als wäre sie in ihr aufgewachsen. Ihre Gedanken waren so lange schon dort gewesen und wußten schon so viel von allem, was sie jetzt mit den Augen sah und mit den Ohren hörte, daß sie bei dem Anblick der neuen Dinge kein Erstaunen, sondern nur Befriedigung über das endliche Finden des Langersehnten empfand. Alles war ihr recht, so wie es kam: die Menschen, die Witterung, die Lebensweise, die Frau Meerhyus gewählt hatte, und sogar das Wohnen in einem inländischen Häuschen mit einem Lehmboden, Wänden aus geflochtenen Fasern und statt Fenstern Klappläden, die auf und zu gemacht wurden, je nachdem es regnete oder die Sonne schien.

Bei gutem Wetter, wenn die Läden offenstanden und der blaue Himmel, die Wolken, das Grün der Hügelsenkung schräg durch das Häuschen glänzten, während immerfort Schmetterlinge hineinflatterten und leuchtende Käfer dahersurrten, schien es nicht wie ein mit Händen gemachter Menschenwohnort, sondern wie ein heimliches Fleckchen in dem Herzen eines Waldes zwischen Krüppelholz und dichten Stämmen, wo der Boden bunt ist von dürren Blättern, Sonnenflecken und Moos, mit kleinem Geblüm darauf. Es war da halb grell und halb dämmerig, voller Sonne, voller Schatten, voller Tau und verborgener Farbe. Rollvorhänge aus Binsen waren durchsichtig blond wie Frühnebel beim Grauen des Tages. In den Matten, mit denen der Boden, und den gebatikten Stoffen, womit die Ruhebank bedeckt war, leuchtete wie eine Blumenfarbe das feine Violett und lichtes Rot und Blau und Gelb.

Die Türen, die hier und dort offenstanden, glichen Breschen in einer Dichtigkeit von Stämmen, und dahindurch waren Bäume zu sehen, so tief und braun wie Spelunken einige, andere halbdunkel und ein einzelner mit leuchtendem Sonnenschein durchtränkt, wie eine kleine Weide mitten im Walde. Dem Lehmboden, den Binsen und den Rohrmatten, der Bekleidung aneinandergereihter Blätter und den geflochtenen Fasern der Wände, den Bambushalmen des hoch hinwegdunkelnden Daches und den hölzernen Pfosten, auf denen es ruhte, entströmte der eigenartige, gleichzeitig dumpfige und doch reine süßlich-bittere Waldgeruch. Rings um das Haus zog sich ein dichtbelaubter Garten, ein Bächlein eilte daran vorüber, das aus dem Abhang hervorsprudelte. Zwischen Lachen und Pfützen bildeten einige glatt geschliffene Steine für den, der dort baden und Wasser holen wollte, einen Platz zum Stehen. Ein Wäldchen aus »Kembang-Spatoe«, wo die grellen Farben der Blumen zwischen dem kühl-dunklen Glanz der breiten Blätter brannten, verbarg die Stelle.

Die Küche lag in nächster Nähe. Eine luftig gedeckte, an der einen Seite offene Scheune, wo das Reisfeuer am Boden brannte und die nacktschultrige Köchin niedergehockt mit einem Fächer aus Palmenwedeln die Holzkohle in dem eisernen Feuerbecken zum Glimmen brachte. Ein Garten mit allerhand Obstbäumen grünte ringsumher.

Vorn am Eingang der wilden Rosenhecke, die das ganze Grundstück umzäunte, stand die Reisscheune auf schmalem Fundament mit breitem Dach wie ein zierliches Boot auf dem Trocknen, und ihr gegenüber der Käfig aus Bambuslatten, der als Stall für ein rauhmähniges javanisches Pferdchen diente. Der Reisblock, ein Stück von einem ausgehöhlten Baumstumpf, stand unter einem Mangabaum; des Morgens früh kam die Köchin dorthin mit ihrer Wanne voll Reis, die sie, den Arm darüber gebreitet und lässig einherschreitend, gegen die Hüfte stützte. Sie goß den Haufen gelber Körner in den Block, und den Stampfer hineinstoßend, daß Kaff und Körner sprangen, begann sie das rhythmische Klick-Klack-Klangspiel, das den Lebenston der Dessa bildet.

Van Heemsbergen, der ein inländisches Grundstück bisher nur im Vorübergehen von der Landstraße aus gesehen hatte, blickte verwundert um sich, als er das erstemal kam.

Ada führte ihn ins Haus hinein.

Mitten auf dem Boden lag ein nacktes braunes Bübchen und spielte mit einem glanzäugigen Eichhörnchen, das eine Nuß beknabberte. Ein Leuchten von kleinen glitzernden Flammen, die unweit eines blühenden Zitronenstrauches mattgelb in der Sonnenglut brannten, drang durch eine offene Tür. Eine halb ausgepackte Kiste stand zwischen Stößen von Manuskripten und Büchern.

Unwillkürlich neigte van Heemsbergen sich darüber; er erkannte den Band, den er in die Hand bekam, noch bevor er ihn geöffnet hatte, und sah den Text mit den Randbemerkungen in Professor de Graves unlesbarer Gelehrtenschrift.

Er begann zu lachen.

»Wo sind wir jetzt eigentlich? in einem Dessahaus, im Walde, in einer Bibliothek in Leyden? in Indien oder wo in der Welt?«

Ada sagte leise:

»Wir sind zu Hause.«

Der Anblick dieser Stapel sorgfältig beschriebener Manuskripte, zu denen Ada ihres Vaters unleserliche, durch Dutzende von Büchern und losen Blättern verstreute Notizen gesammelt und geordnet hatte, ließ van Heemsbergen das Reden über die Veränderungen in seinen Plänen, das er schon vorher als etwas sehr Schwieriges empfunden, fast wie eine Unmöglichkeit erscheinen. Sie waren jetzt schon länger als eine Woche Tag für Tag zusammen gewesen, und er hatte es noch nicht über sich gewinnen können. Ein Besuch von Frau de Bakker half ihm über den schwierigen Augenblick hinweg. In ihrer eigentümlichen Art, die die Dinge nur flüchtig zu berühren schien und die doch den Eindruck einer unerschütterlichen Festigkeit hinterließ, sprach sie über Batavia wie über den zukünftigen Wohnort des jungen Paares, über den Kreis, in dem sie ihre Bekannten finden würden, und über den außerordentlich glücklichen Verlauf der Dinge, der van Heemsbergen aus einer schlecht bezahlten Anstellung im Dienste des Landes zu dieser glänzenden Kompagnonschaft mit Bossing geführt hatte.

»Ein bißchen habe ich auch daran mitgeholfen,« sagte sie lachend, »ich habe de Bakker auf den Gedanken gebracht, van Heemsbergen als Advokaten für unsern Prozeß zu wählen, dadurch ist das alles so gekommen – es wäre doch auch Sünde und Schande gewesen, wenn er mit seinen Fähigkeiten sich in den Binnenlanden hätte begraben lassen – von Ihnen garnicht zu sprechen,« fügte sie hinzu, während sie Ada lächelnd anblickte, »ja, ja, er hat es zwar geheimgehalten, aber ich wußte doch um die Verlobung.«

Beim Abschiednehmen lud sie Ada in ihre Villa ein, »die das einzig bewohnbare Haus in der Umgegend sei« und ignorierte lachend die Antwort des jungen Mädchens, daß sie bei Frau Meerhuys und ihrer Arbeit bleiben wolle.

Als sie verschwunden war mit einem Rauschen seidener Volants über den Lehm und die Binsen des Bodens, sah van Heemsbergen seine Braut an.

»Ich habe es noch nicht angenommen.«

Sie sah ihn wieder an, ohne zu antworten.

Er fuhr fort in einem Ton, als habe sie eine Einwendung gemacht, die er beantworten mußte:

»Die Stellung ist wirklich glänzend – im Anfang natürlich noch nicht, aber in verhältnismäßig kurzer Zeit wird sie es sein; Bossing verdient achttausend Gulden monatlich.«

Und da sie noch immer nicht antwortete, begann er mit einigem Nachdruck auseinanderzusetzen, wie wünschenswert und eigentlich auch notwendig es sei, daß man schon einmal in Indien, dort in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld verdiene, um, noch verhältnismäßig jung, ein freier Mann sein und seinen eigenen Wünschen und Neigungen folgen zu können.

»Es ist nicht die Frage, was ich jetzt in diesem Augenblick vorziehe – sondern was auf die Dauer das Beste sein wird,« schloß er endlich.

Sie sagte, vor sich hinsehend:

»Es ist deine Karriere, also muß es auch deine Wahl sein.«

»Nun ja, aber so wie wir beide miteinander stehen, du und ich! Ich würde übrigens meine Arbeit auch nicht aufgeben. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, mußt du bedenken.«

»O nein, nicht aufgehoben, gewiß nicht.«

»Nun eben, und für dich würde es doch auch angenehmer sein, in Batavia zu leben anstatt irgendwo in der »Rimbu«. Rimbu = »die Wüste«, d.h. die Binnenlande. Du weißt nicht, was das bedeutet, die Binnenlande und deren Bewohner. In Batavia findet man doch wenigstens noch äußerlich Zivilisation.«

»Ich« ... begann Ada, brach aber sogleich wieder ab. »Du mußt es meinetwegen weder tun noch lassen. Da, wo du zufrieden bist, bin ich es auch.«

Van Heemsbergen antwortete nicht.

»Liegt ihr so wenig daran?« dachte er.

Er sprach nicht mehr über die Sache an jenem Tage und ging früher als sonst nach Hause.

Die Nacht schien ihm schwül, sein Zimmer beengte ihn, er konnte nicht schlafen. Endlich stand er auf und ging hinaus.

Der Halbmond schien aus einem dunklen Himmel, an dem zwischen Zügen wolliger grauweißer Wolken hier und dort ein Stern schwankte. Ein feuchter Wind kam ihm entgegen.

»Aber warum doch eigentlich?« sagte er plötzlich überlaut.

Tief atmete er den Nachtwind ein. Gedanken stiegen auf und standen leuchtend da, wie an dem bewölkten Himmel die einzelnen großen Sterne. Er hätte sie so wenig wie diese Sterne bestimmen und mit Namen nennen können, aber er fühlte, wie ihre feinen Strahlen das Dunkel durchdrangen.

Als der Tag zu grauen begann, schickte er seinen Boy nach Kalimas, um dort zu holen, was er an Büchern und Papieren finden würde. Der Mann kam mittags zurück mit einer vollen Kiste, die gelb geworden, verstaubt und von Insekten benagt war. – Bei dem Auspacken und Sichten fiel ihm sein Essay über den Grundbesitz in Cheribon in die Hände; er begann darin zu lesen mit einem kritischen Interesse wie in der Arbeit eines Freundes. Da steckte doch was drin; wenn das Spröde und Unsaubere nur erst herausgeholt wäre, so würde brauchbares Material übrig bleiben, das unter dem prüfenden Schlag einen guten Klang gab. Es könnte in den Schmelztiegel hinein und, von neuem gegossen, als Unterteil eines größeren Ganzen benützt werden, dachte er während des Lesens, indem er die Umrisse dieses Ganzen bereits vor sich sah. Je mehr er grübelte, desto deutlicher und bestimmter wurden sie vor seinen Augen. Es würde eine Menge Material verschlingen, das sah er; aber es lag nur zum Aufgreifen in den Dessas ringsumher. Er dachte an dies und jenes, das in einem Buch von Professor de Grave zu finden sein mußte, und an eine Randbemerkung auf einer gewissen Seite; es war als sähe er die kleinen scharfen Buchstaben vor sich. Er sprang auf, nahm seinen Hut und ging zu Ada.

»Wo hast du das Buch deines Vaters über die Beziehungen der Ostindischen Gesellschaft zu den Sultanen von Cheribon?« fragte er noch während des Eintretens. »Es war in der Kiste, die wir neulich zusammen ausgepackt haben, ich entsinne mich noch, daß ich mir die Randbemerkungen angesehen habe. Es steht etwas darin über den Grundbesitz zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts.«

Ada blickte auf von der Garbe durchsichtig weißer Gandasoliblumen, die sie in einer dunkelroten irdenen Schale ordnete.

»Ich werde es dir geben – es ist in meinem Zimmer, ich habe eben daraus abgeschrieben.«

Sie ging und kam zurück mit dem Buch und einem beschriebenen Zettel.

»Hier steht auch noch etwas darüber.«

Er begann stehend zu lesen und zu blättern, nahm den Zettel in die Hand und schaute an den Reihen der Büchertitel entlang:

»Hm, auch englische Schriftsteller; doch sicher nur wegen eines Vergleichs mit englisch-indischen Zuständen. – Ja – den Deutschen kannte ich.«

Er blickte auf Ada, ohne sie eigentlich zu sehen. Äußerst langsam steckte sie einen Gandasolistengel ins Wasser. Die dünne Blüte – drei zarte schneeweiße Blätter um ein gelbes Herz – blieb an ihren Fingern hängen; er nahm mechanisch wahr, wie das matte Rot der Spitzen durch das Blumenweiß hindurch leuchtete.

Plötzlich:

»Sollte es wohl was wert sein, meinst du?«

Sie richtete einen raschen Blick auf ihn.

»Dein Essay? Natürlich ist es was wert.«

Er zog sie an der Blumen tragenden Hand zu sich herab auf die Ruhebank.

»Ich möchte etwas ganz anderes daraus machen, verstehst du, etwas viel Größeres! und das Essay würde nur einen Unterteil bilden, ... das ist das Unglück! – Dazu müßte ich eine Menge wissen, was ich nur durch Inländer erfahren kann, das ist eine unbegonnene Arbeit mit dem stumpfen Volk hier, das einen im besten Falle versteht, wenn man nach den allergewöhnlichsten Dingen fragt und auf das, was ein Europäer sagt, niemals eine andere Antwort hat, als ja und amen. Ich habe in Soemberbaroe ...«

Er erzählte von seinen vielen vergeblichen Ausflügen in die Dessa.

»Und wenn ich dann in der glühenden Hitze wieder nach Hause ritt, hatte ich den ganzen Morgen und Mittag – so und so viel Stunden, die denn doch so und so viel Arbeit repräsentieren, für nichts und wieder nichts vergeudet – denn um allem die Krone aufzusetzen, mußte ich dann die Arbeit für den Landrat noch nachholen.«

Ada sagte, so behutsam sprechend, als wolle sie mit jedem Wort wie mit einer ausgestreckten Hand im Dunkeln ihren Weg ertasten:

»Dadurch ist es sicher auch gekommen, daß es nicht gut geworden ist – weil du dich mit allem so abhetzen mußtest – nicht wahr? – aber jetzt würdest du doch Zeit genug haben – beinahe noch drei Monate.«

Er begriff, daß sie an den Zeitpunkt dachte, zu dem Dr. Bossing ihn in Batavia erwartete.

»Ja, ungefähr drei Monate. Aber ob mir die Zeit allein etwas nützen könnte, das bezweifle ich. Ich glaubte das damals, so wie ich auch glaubte, ich würde alles gewonnen haben, wenn ich nur erst Sundanesisch könnte. Aber daran liegt es nicht – wenigstens nicht daran allein oder gar in erster Reihe. Mit dem Prozeß von de Bakker ...«

Er hielt inne.

Ada blickte ihn mit beinahe peinlich gespannter Aufmerksamkeit an.

»Ja, Gys; mit dem Prozeß?«...

Er stand auf und begann in dem Gemach auf und ab zu gehen. Es dauerte eine Weile, bevor er fortfuhr:

»Nun ja, damals konnte ich Sundanesisch, und ich hatte Zeit genug, und es half doch nichts. Wenn ich meinte, daß ich mit einem Zeugen dahin käme, wo ich hin mußte, und ich wollte weiter, dann plötzlich Holla! stand ich vor einem Widerspruch, über den ich nicht weg kam. »Ja,« sagte der Kerl dann, »das habe ich damals wohl so gesagt, aber es war eigentlich anders.« »Warum hast du es denn so gesagt?« Keine Antwort. So ging es nicht einmal, sondern hundertmal. Da ist etwas zwischen mir und ihnen – ein Schlagbaum, eine Mauer, eine Kluft, eine unüberwindliche Scheidung. Es ist hier Europäer, dort Asiate; ich habe das schon bei jener allerersten Sitzung in Soemberbaroe empfunden. Wir können uns nicht in ihr Denken und Fühlen versetzen, es ist nun mal das Denken und Fühlen einer inferioren Rasse, inferior nicht nur dem Grade, sondern auch dem Wesen nach, nicht empfänglich für Entwicklung, ohne Moralitätsbegriffe...«

Er hielt inne, betroffen von dem Ausdruck ihrer Züge.

»Ja, mein Liebling, aber deswegen sollst du nicht so traurig dreinschauen!«

Seine Hand unter ihr Kinn legend, hob er den gesenkten Kopf zu sich empor.

»Du siehst doch wohl ein, daß nicht alle Menschen gleichmäßig intelligent und vortrefflich sind – nicht wahr? was sagtest du, Kind? du sprichst so leise, ich verstehe dich nicht.«

»Wir wollen doch alle so gern unser Möglichstes tun,« wiederholte sie kaum hörbar.

Van Heemsbergen schwieg.

Und dann nach einer Weile:

»Nun, ich habe das vielleicht etwas schärfer gesagt, als ich es meinte. Ich meine nur – und das ist das einzige, worauf es für mich ankommt – ich kann mit »dem braunen Bruder« nicht fertig werden; ich verstehe ihn nicht, und er versteht mich nicht. Wie ich dir sage, – ich habe es versucht, aber es geht nicht.«

»Gys!« sagte Ada langsam errötend und stockte.

»Mein Mädchen?«

»Wenn du – wenn du uns mal begleiten wolltest hin und wieder, Frau Meerhuys und mich, wenn wir in die Dessa gehen? Wenn du sie so sähest in ihrem täglichen Tun und Treiben, glaube ich bestimmt, daß du sie wohl begreifen würdest. Und dann für deine Arbeit, weißt du! Frau Meerhuys kennt all die Menschen so gut, sie könnte sie ja befragen. Der Regent z.B. weiß allerhand, was dir von Nutzen sein könnte, und der Djaksah ist auch recht gescheit.«

»Meinst du?« fragte er nachdrücklich. Solch eine Menge Erwägungen, Bedenken und Erwartungen kamen plötzlich in ihm auf, daß ihm kein Raum blieb zum Staunen über ihre Kenntnisse von Menschen und Dingen um ihn her, die er selber nicht kannte.

»Schon möglich – ich entsinne mich jetzt, daß Hendricks das auch sagte. Ja, natürlich – solche Menschen brauche ich – Herrgott, es würde etwas Schönes daraus zu machen sein! In dem Essay hatte ich nur so eine Art von Gerippe aufgesetzt; nicht einmal das, nur ein paar Knochen gezeigt, etwas so wie ein Zoologe sie einem Fachmanne zeigt, um ihm von einem ganzen Tier eine Idee zu geben; – war es nicht Cuvier, der das sagte? Aber wenn ich mich jetzt an die Arbeit machte, dann würde ich es mit großem Ernst tun – dann möchte ich all' die verstreuten Knochen des Geschöpfes zusammensuchen und sie wieder so aneinanderfügen, daß nicht nur ein Sachverständiger, sondern, daß jeder intelligente Mensch die Form, die Bewegung, das Leben, das einst darin gesteckt, erraten könnte – ich würde nicht nur Tatsachen geben, so etwa die: daß der Grund und Boden hier kommunalen Besitz bildet und dort erblich-individuellen, oder wie man in einer Dessa beiden Formen nebeneinander begegnet, oder in welcher Hinsicht das gegenwärtige Erbrecht an diesem oder jenem Ort sich von dem früheren unterscheidet, oder welche Bestimmungen aus der Macht der Gewohnheit herausgewachsen sind wie ein natürliches Produkt des inländischen Volkslebens und welche andern wieder von der Regierung – irgend einer Regierung der holländischen, englischen oder inländischen Macht, die zu einem gegebenen Zeitpunkt über dem Volke waltete – fix und fertig in die Traditionen hineingerammt wurden wie ein Pfahl in Wiesengrund; sondern all' diese Dinge in vernünftigem Zusammenhang wie das Sichtbarwerden eines Gedankens, – ihre äußere Erscheinung, ihre Entwicklung in die greifbare Wirklichkeit hinein. Das ist es, was ich finden möchte – die Idee, die in einem solchen Tatsachensystem das Leben verkörpert hat, Ursache und Zweck zugleich, das schaffende, gestaltende und umgestaltende Prinzip. Das, was jeder Eigentümlichkeit, auch der kleinsten, ihren Wert gibt und wodurch allerhand, was zunächst äußerlich, zufällig und rein willkürlich erschien, zu etwas absolut Notwendigem, Organischem wird. Dies eine nun – das Verhältnis des Menschen zu dem Grund und Boden...«

Er hielt inne, Ada ansehend, ohne sie zu sehen, und versuchte mit einem Stirnrunzeln der Anspannung die Vorstellung, die ihm unklar vorschwebte, deutlicher zu erkennen.

Sie saß still da, noch in derselben Haltung wie zuvor mit der Gandasoliblume zwischen den straff verschlungenen Fingern. Ein wenig bleich, mit halbgeöffneten Lippen, und Augen, die sich wie in gespanntem Erwarten weiteten, sah sie ihn an.

»Seinerzeit – das war, bevor ich deinen Vater kennenlernte – glaubte ich »es« mit der Psychologie zu erreichen, indem ich versuchte, unseren gegenwärtigen gesetzlichen Zustand und die Entstehung jenes Begriffes vom gesellschaftlichen Gut und Böse im Kern zu erfassen. Aber von hier aus – ich meine von dieser Grundbesitzfrage, von etwas so Konkretem, Materiellem, das so nüchtern erscheint und dürr wie Asche, in der auch kein Funke mehr zurückgeblieben ist – von hier aus erreiche ich es auch. Es ist ganz gleich, wo man anfängt – wenn man nur immer geradeaus geht und weit genug, dann kommt man schon ans Ziel. – Wir stehen überall an der Grenze, an der Peripherie des Kreises: sei es von dem einen Punkt aus oder von dem andern, von überall her führen die Wege zu dem Mittelpunkt; sie sind einander entgegengesetzt, aber nur für den, der sie sich von außen her ansieht, ist der Unterschied da. Die Peripherie ist überall, der Weg überall, der Mittelpunkt überall: »der allgegenwärtige Mittelpunkt« – das Leben!« »Er« muß das auch gemeint haben, wiewohl er »Gott« sagte; das eine oder das andere, zweierlei Worte von zweierlei Menschen für ein und dasselbe Ding; auch hier ist es wieder das Zusammenkommen von zwei entgegengesetzten Seiten ... Ist es nicht seltsam und schön, darüber nachzudenken? Alles, alles, ohne Ausnahme, alles ist ein Ausgangspunkt, eine Richtung, ein Weg: Dichtung, Philosophie, Malerei, ein Gesetzesparagraph, Pariser Eleganz bis zur unsinnigsten Mode, der Adat, Adat = das überlieferte Recht und Gesetz der Javaner. der Grundbesitz hier in Cheribon, – alles strebt nach jenem geheimnisvollen Etwas, das wir besitzen und doch nicht besitzen, das uns immerfort entgleitet und das zugleich in uns ist – ja es muß doch wohl in uns sein – nicht wahr? aber nicht zur Genüge, nicht zur Genüge! Nur eine Handvoll Erde und Gräser von dem ganzen Land, von dem ganzen Königreich, das wir begehren!«

Er schwieg.

Er hatte sich auf die Stufen gesetzt, die aus dem Vorderhaus herabführten; die Ellenbogen auf die Knie, das Gesicht auf die Hände gestützt, starrte er nach dem mattgrünen westlichen Horizont. Nach einer Weile fuhr er fort und sprach die Schlußfolgerung einer verschwiegenen Gedankenkette aus:

»So ist es, es muß möglich sein! So, ebenso gut wie auf irgend eine andere Weise. Den Anfang bildet ein »Sawah« und das Ende eine menschliche Seele, eine Gemeinschaft, ein Volk, eine Rasse, und all' die Höhen und Tiefen dahinter, wenn man unter Ort den ganzen Erdball und unter Zeit eine ganze Weltdauer versteht, weiter noch, in weite Fernen hinein ...«

Er starrte in die Dämmerung, als suche er dort über Berge und Ebenen hinüber, jenseits jenes bleichen westlichen Horizonts, jenseits der Fernen hinter Fernen, die immer weiter zurückweichende Kimme, die den nie zu erreichenden Anfang der Unendlichkeit bildet.

Es war lautlos still draußen, selbst der Abendwind regte sich nicht in den Blättern. Eine Grille im blühenden Jasmin zirpte ein paarmal schrill, wie, um ihre Stimme zu erproben, und schwieg dann wieder. Und nach dieser sekundenlangen Schwingung erschien die Stille umso starrer.

Van Heemsbergen sah sich um: ihm war es, als habe er einen halb unterdrückten Seufzer vernommen. Aber Ada saß regungslos da; er erblickte ihr Gesicht und ihre Hände wie zwei mattweiße Flecken in dem dünnen Grau rings umher.

»Was ist?« fragte er. »Nichts? Ich glaubte dich seufzen zu hören.«

»O nein,« sagte Ada. Ihre Stimme klang eigentümlich voll und zitternd. »O nein!«

Sie machte eine leichte Bewegung – er sah es an dem Verschwinden der weißen Stelle, dort, wo ihre gefalteten Hände soeben geruht.

Er stand auf.

»Wie seltsam es doch mit solchen Dingen geht! Diese eine Randbemerkung in deines Vaters Buch – ich hatte überhaupt nicht mehr daran gedacht – nicht einmal, während ich an meinem Essay arbeitete; und jetzt heute mittag beim Durchsehen meines Manuskripts war es mir plötzlich, als habe alles in meinem Kopf darauf gewartet! Hunderterlei Dinge, von denen ich nicht einmal gewußt hatte, daß ich sie wußte, kamen plötzlich zum Vorschein, und das fügte sich ineinander und das wuchs in Höhen hinein! So etwa, wie wir es seinerzeit in der Physikstunde geschehen sahen, wenn der Lehrer Experimente machte – er ließ ein unsichtbar kleines Etwas fallen in ein Glas mit Flüssigkeit, die klar war wie Wasser, – nichts war darin – und mit einem Male war es voll funkelnder Pünktchen, Stäbchen, Sternchen, voll kleiner Kristalle. Du weißt nicht, was für ein seltsames Gefühl ... und solche Überraschung! ... Man hat sich selbst für bettelarm gehalten und entdeckt plötzlich, daß man ganz wohl situiert ist!« schloß er lachend. »Kann ich wohl irgendwo ein Licht finden ... ich möchte rasch mal nachsehen ...«

Die alte Arti, Frau Meerhuys' Dienerin, trat gerade mit einer Lampe herein. Sie stellte sie auf das Tischchen vor Ada hin und verschwand wieder.

»Ich möchte rasch mal nachsehen,« wiederholte van Heemsbergen; »ob« – er stockte und sah Ada erstaunt an.

Ihr Gesicht glich einer Rose, die sich bis in ihre innersten Herzblättchen hinein purpurn öffnet. Mit einer unsicheren und zugleich raschen Bewegung stand sie auf, eilte auf ihn zu und schlang, während sie ihn an sich preßte, beide Arme um seinen Nacken.

»Liebling, was ist dir?«

»O! o! Du bleibst deiner Arbeit treu, du bleibst deiner Arbeit treu!«

»Was hast du nur? was meinst du damit?«

»Du bleibst deiner Arbeit treu!« rief sie, beinahe jauchzend.

»Meiner Arbeit?«

»Ja, ja, ja! Deiner Arbeit, Vaters Arbeit, unserer Arbeit! Du denkst ja gar nicht daran, Advokat zu werden!«

Ihre beiden Arme um seinen Nacken geschlungen, warf sie den Kopf zurück und blickte ihn an mit vor triumphierendem Glück erstrahlenden Augen. Eine Sekunde lang sah er bestürzt aus, dann:

»Wahrhaftig! Du hast recht! Ich denke auch gar nicht daran! Großer Gott, es ist wahr! Wie wußtest du das, wie wußtest du das? Sag' mir's, ich wußte es doch nicht mal selber!«

Sie antwortete nicht, sie sah ihn nur an mit ihren glücklichen Augen, lachend.

In der Dessa dauerte noch die stille Zeit, die zwischen der Ernte der Zweit-Gewächse »Zweit-Gewächse« nennt man diejenigen, die während der trockenen Jahreszeit wachsen, nach der Reisernte, meist Hülsenfrüchte. und dem Säen des Reises liegt. Mit dem Bereiten der Zuchtbeete und dem Umpflügen und Eggen der Sawahs wurde gewartet, bis der abtropfende Regen den Hügelboden genügsam getränkt haben würde.

Vor Beginn der Regenschauer hatten die Männer ihre Häuser nachgesehen und gedichtet, neues Flechtwerk da eingefügt, wo die Hürdenwände Risse bekommen hatten, und die Bambusschilfe des Daches, die sich in der heißen Zeit gespaltet hatten oder eingeschrumpft waren, durch frische aus dem Bergwalde ersetzt, so daß die umsichtig geordneten Reihen wasserdicht aneinander schlossen. Jetzt waren sie beschäftigt mit dem Ausbessern ihrer Feldgeräte, des leichten hölzernen Pfluges, der Egge mit ihren weit auseinanderstehenden Zähnen, der Walze, mit der der bearbeitete Acker glattgestrichen wird, des breiten Spatens und der Hacke. Bequem auf der Baleh-Baleh niedergekauert, bastelten sie ruhig an allerhand herum und hörten auf das Rauschen des Regens, der ihre Äcker aufweichte. Der eine Nachbar kam zum andern hereingeschlendert, um sich Zimmermannsgeräte zu borgen, und blieb plaudernd den ganzen Morgen über da, bei einer Strohzigarre und einer Tasse heißem Blätterkaffee.

Die Frauen hatten ihren Webstuhl zum Vorschein geholt aus der Ecke, in der er während der geschäftigen Erntezeit allmählich verstaubt war. Das Haar nachlässig zum Knoten geschlungen, den Sarong bis unter die Arme aufgeschürzt, saßen sie nacktschulterig vor dem flachen Rahmen, in dem das Muster des Gewebes unter ihren sich fleißig regenden Händen schon langsam sichtbar zu werden begann. Von Zeit zu Zeit nahmen sie an dem Gespräch der Männer teil. Meist redeten sie über ihre Felder und über die Art und Weise, wie sie sich am besten Reissaat und Vieh zum Pflügen verschaffen könnten.

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