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Gegen Abend hörte es auf zu regnen.

Es fuhr wie ein aufseufzendes Rauschen durch das nasse schwere Laubwerk der Bäume, und am klarer werdenden Himmel begann, unsicher noch, hier und dort ein Stern zu schimmern.

Van Heemsbergen hörte eine bekannte Stimme an seiner Tür.

»Warum sitzen Sie hier im Dunklen? Kommen Sie mit nach dem Klub, ich sollte Sie ja doch mit meinem Vetter Bossing bekannt machen.«

Es war Hildens, ein vom Urlaub Zurückgekehrter, mit dem er die Überfahrt gemacht hatte.

Er stand unlustig auf.

»Also haben Sie hier doch auch einen Klub?«

»Natürlich, zwei sogar. Wie meinen Sie das?« fragte der andere verwundert.

»Ach, ich meine nur so ..., weil man hier so allmählich das Gefühl bekommt, als lebte man ganz außerhalb der zivilisierten Welt.«

»Was für ein Unsinn, kommen Sie jetzt.«

Es war voll im Klub. Über der Menge der Besucher – gewichtig dreinschauende Gruppen von Whistspielern, hier und dort einige Zeitungsleser, plaudernde an Marmortischen, auf denen die gefüllten Gläser ein Farbenspiel von Mattgelb und Orange bildeten, Billardspieler in Hemdsärmeln mit dem Queue in der Hand, auf den Stoß blickend, der die Bälle über das hellerleuchtete grüne Tuch laufen ließ, – hing eine Atmosphäre der Behaglichkeit.

Van Heemsbergen war es, als sei er plötzlich aus der Fremde wieder heimgekehrt, als er, durch Hildens vorgestellt, in einem Kreise Platz nahm, in dem er zwei noch von dem Gymnasium her bekannte Gesichter erblickte.

Das Gespräch wurde lebhafter, man diskutierte über die neuesten Nachrichten »aus Europa«, die die »mail« gestern gebracht. Van Heemsbergen bemerkte mit leichter Verwunderung, wie gut diese Kolonisten, um deren Tun und Treiben sich selbst die Intellektuellen in dem Mutterlande wenig kümmerten, über die holländischen Zustände orientiert waren.

Bossing, der Vetter seines Begleiters, ein bekannter Advokat, der monatlich seine achttausend Gulden verdiente, wie ihm Hildens erzählt hatte, schien das Gespräch zu leiten, obgleich er nur wenig sagte. Die andern wandten sich jedesmal an ihn.

»Ja,« sagte einer, indem er die Rede des Kolonialministers und die Stellungnahme der holländischen Blätter dazu besprach, »man scheint es in Holland nicht begreifen zu können, daß in Java Hungersnot herrscht. Die Idee, daß Indien ein Land sei, in dem Milch – Kokosnußmilch – und Honig fließt, ist geradezu unausrottbar.«

»Java ist ein Paradies, und die Javaner, das sind solch halbidyllische, halb tierische Wesen, – etwa ein Mittelding zwischen einem braun angestrichenen Hirten von Watteau und einem Orang-Utan, – die die Früchte von den Bäumen pflücken und im Schatten spielen,« antwortete Bossing.

»Aber das Land ist doch reich,« bemerkte van Heemsbergen, der trotz seiner theoretischen Kenntnisse über Indien mehr oder weniger diesen nämlichen überlieferten Begriff von Land und Leuten hegte.

»Jawohl, das Land ist reich, aber der Inländer bekommt den Reichtum nicht,« antwortete der erste Sprecher, ein Kaufmann, der eben erst von der Reise aus den östlichen Gegenden zurückgekehrt war, wo er im Auftrag einer Bank Reisplantagen inspiziert hatte. »Schlechte Bewässerung; und Chinesen und Araber; und wenn dann Mißernten kommen – ich habe dort drüben Dinge gesehen! eine Hölle voller Greuel und Elend!«

Er erzählte von dem ausgehungerten Land und von Menschen, die sterbend am Wege lagen.

»Das ist natürlich furchtbar, aber eine gute Reisernte, und alles ist wieder in Ordnung,« antwortete ein Optimist.

»Etwa auch für die Toten?«

»Boneman scheint gut für seine Residenz gesorgt zu haben. Man sagt, daß ihm ein Orden zugedacht sei.«

»Wie der Mensch Karriere macht!«

Das Gespräch kam auf persönliche Dinge.

Hildens, der glaubte, van Heemsbergen gegenüber die Honneurs für Indien wahrnehmen zu müssen, nannte ihm Namen von kolonialem Ruhm.

»Das war van Ryn, der da soeben vorüberging – der Ingenieur, der die neuen Kohlenminen entdeckt hat, an die anfangs niemand glauben wollte. Er hat fünf Jahre dafür gekämpft mit allen seinen Vorgesetzten, bis hinauf zum Direktor und Generalgouverneur und dann mit den Aktionären, die er zusammengetrommelt hatte – und dann mit einem englischen Konsortium, das ihm entgegenarbeitete – aber jetzt hat er sein Ziel erreicht ... Der Offizier da an dem Tischchen in der Ecke mit der häßlichen Narbe unterm Auge das ist Hasselaar, Dries Dollebotter, wie er in Atjeh genannt wird. Sie haben gewiß in den Zeitungen von ihm gelesen – was er getan hat, kann man mit noch so nüchternen Worten erzählen, und es klingt doch wie ein Roman – so einer, den nur ein rasender Roland geschrieben haben könnte. Der dicke Alte dort mit dem Bändchen im Knopfloch, das ist der Rat von Indien, Martens. Wußten Sie, daß hier nur die Räte von Indien einen Zylinder tragen? Gewöhnliche Sterbliche, so wie Sie und ich, müssen sich mit einem runden Hut begnügen. Ah, sehen Sie mal,« unterbrach er sich plötzlich, »da kommt eine Berühmtheit, da – er sieht sich gerade um – das ist Oliviers, der ganz Borneo durchquert hat und den man schon von den Eingeborenen ermordet glaubte.«

Ein großer, schmalschultriger, hagerer Mann, in dessen braun verbranntem Gesicht ein paar hellblaue Knabenaugen seltsam leuchteten, war eingetreten. Jemand im Saal rief ihn an, und er wandte sich zu ihm, die Augenbrauen leicht emporziehend mit einem Lächeln im Blick, wie über etwas Unerwartetes, etwas Freudiges. In seinem Gesicht, in seiner Gestalt, in seinen Bewegungen lag etwas Leichtes, Prickelndes wie eine fröhlich gespannte Erwartung eines jeden Augenblicks und ein Willkommen für alles, was ihm auch widerfahren möge, gleich als wäre die ganze Welt mit all ihren Chancen und all ihren Gefahren ein Fest für ihn und ein sicherer Triumph.

Van Heemsbergen richtete seinen Blick auf ihn. Das also war der Mann, dessen tollkühne Reise ins Unbekannte die Gelehrten aller Länder in Spannung, Angst, Hoffnung und Entzücken versetzt hatte! Der blaue Knabenblick traf den seinen, und plötzlich erschien ihm, über die Köpfe all jener friedlichen Plauderer und Weintrinker hinweg, in blitzartiger Erkenntnis alles das, was er bisher nicht gesehen, trotzdem er mitten darinnen stand – das wunderreiche, prächtige, gefährliche Indien, das unter Dunkelheit und Sternengeflimmer rings um jenen pseudo-holländischen Klubsaal verborgen lag.

Es war nur der aufblitzende Glanz einer Sekunde, und er hätte die Empfindung, die ihn durchfuhr, nicht in Worte fassen können, aber in ihm und um ihn hatte sich mit einem Schlage alles geändert: die Gesichter aller Menschen, die Bruchstücke der Gespräche hier und dort, die Haltung der barfüßigen Bedienten, seine eigene Stimmung. Der Schein des Heimischen, mit dem er sich einen Augenblick zuvor zu einer feigen Zufriedenheit beschwichtigt, war verflogen, und wie durch aufspringende Fenster und Türen kam von allen Seiten Weite und Größe. Es war alles neu und so unbekannt und fremd, daß es sich nicht einmal erraten ließ. Aber er hatte die plötzliche Überzeugung, daß es gut und herrlich sein würde.

Gleichzeitig, und wie es ihm schien, ohne irgend welchen Zusammenhang mit jenen Gedanken, kamen ihm die Worte des kahlköpfigen Sprechers während der Audienz des Vormittags in den Sinn:

»Ich habe mit Kollembrandt darüber gesprochen.«

Kollembrandt, der Philosoph-Jurist, dessen Ideen ihn nach Indien gelockt hatten, wie Fackeln, an einem neuen Wege aufgepflanzt, einen nächtlichen Wanderer locken! Von ihm sprach jener Mann, wie von einem Bekannten, einem Kameraden.

Er tat seine Arbeit hier in Batavia, in diesem oder jenem dumpfigen Büro, in einem jener Häuser, die ihm am Vormittag erschienen waren wie Ruinen in einem Morast. Seit zwanzig Jahren verrichtete er dort eine Arbeit, die von den Besten als ein unerreichbares Vorbild angesehen wurde. »Daß ich daran nicht gedacht habe heute morgen, als alles so schrecklich war,« sagte er sich. »Es geht also doch

*

Es war spät, als er nach seinem Hotel zurückfuhr. Beim Aufbruch aus dem Klub hatte Dr. Bessing ihn und Hildens zum Essen eingeladen, indem er den bekannten Satz »les amis de nos amis« zitierte, der, wie er sagte, in Holland nur pro forma angewandt, in Indien aber stets in die Tat umgesetzt werde. Der Luxus in dem reichen Hause des Advokaten traf ihn durch seine besondere Schönheit, durch eine Vornehmheit, die nicht, wie es in Holland der Fall gewesen sein würde, dem intellektuellen Charakter der Bewohner zuzuschreiben war, sondern die in den Dingen selber lag, in der Umgebung, in dem Lande, in der vornehmen Pracht all jenes Marmors und jener stattlichen Säulen, in dem herrlichen Schwung der Palmen und der breitblättrigen Farren in der Vordergalerie, die sich smaragden-leuchtend von dem dunklen Himmel da draußen abhoben, in dem Sternenglanz, dem Duft unsichtbarer Blumen und dem Geheimnis, das aus der weiten Nacht hineindrang.

Er dachte wieder an Italien und an die Renaissance. Der Anblick seiner schwarzen Stiefel auf dem edlen Weiß des Bodens störte ihn. Er wunderte sich beinahe darüber, als er sah, wie alle jene andern sich in dieser fürstlichen Umgebung heimisch fühlten.

Bei Tisch saß er zwischen zwei lustigen jungen Mädchen, die über Bälle und Picknicks plauderten und über alles mögliche lachten und kicherten, mit jener Begeisterung, die Neulinge dem Gesellschaftsleben entgegen zu bringen pflegen.

Nach einer Viertelstunde war es ihm, als hätte er sie beide schon längst gekannt.

Die Tafel, kostbar geschmückt wie zu einem Fest, war von gelben und orangefarbenen Blumen überstrahlt, die zwischen kristallklarem Weiß und düsterem Weinrot wie Funken brannten. In dem Lampenlicht, das ihre Blässe leicht vergoldete, sahen die jungen Frauen zart und frisch aus, lieblich in ihren duftigen Toiletten, auf denen Edelsteine blitzten. Das Weiß der Wände verschwand unter einem Regenbogenleuchten und einer Pfauenpracht von chinesischem Porzellan. In den Ecken hingen bunte Seidenlappen, mit seltsamen Schriftzeichen und Sinnbildern verziert – Fahnen, die bei Umzügen umhergetragen und lange in der Dämmerung irgendeines fernen Tempels aufbewahrt worden waren, und kleine Götzenbilder aus Elfenbein saßen still zwischen unförmig prächtigen Drachen, Vögeln und bronzenen Ungeheuern.

In sein Hotel zurückgekehrt, blieb van Heemsbergen noch lange in der Vordergalerie sitzen, starrte in das millionenfache Sternengefunkel über dem wolkigen Schwarz der Bäume und rauchte eine Zigarette nach der andern, während er versuchte, seine Gedanken und Eindrücke, die wie die bunten Fragmente in einem Kaleidoskop durcheinander geworfen waren, zu einem erkennbaren Bilde zusammenzufügen.

Der Tag, unendlich lang in seiner Rückerinnerung, begann einem Schauspiel zu gleichen, in dem Szenen aus dem Osten und dem Westen mit stets wechselnden Dekorationen sich folgten, so daß er oft nicht wußte, ob er in Holland war oder in Indien oder in einem dritten irgendwo zwischen diesen beiden Ländern gelegenen Landstrich. Der prasselnde Regen am Morgen über der halb ertrunkenen Stadt, die lichte Sternenherrlichkeit am Abend, hungerndes Elend, Reichtum, Verwahrlosung und Faulheit, heroische Existenzen, seine eigene Vergangenheit und selbsterwählte Zukunft, das alles brachte seine Gedanken in Verwirrung.

Um zur Ruhe zu kommen, begann er einen Brief an seine Braut.

Aber er mußte immer wieder zu schreiben aufhören und gleichsam aus heranrollenden Wogen emportauchen und stets von neuem Atem schöpfen, bevor er wieder weiter konnte.

»... Es ist keine Kolonie, es ist eine Welt« – er sah, daß er das geschrieben hatte.

Acht Tage später hatte er eine Ernennung nach Soemberbaroe: »dem Präsidenten des Landrates daselbst als Aktuar zur Verfügung gestellt,« so lautete die Formel des offiziellen Dokumentes.

*


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