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Von der durch eigene Kraft aufgeschichteten Höhe seiner Reichtümer blickte Kees de Bakker unergründlich tief herab auf die engen ausgetretenen Pfade, auf denen die Beamten des Landes, jeder genau in dem ihm zugewiesenen Rang und alle im vorgeschriebenen Rhythmus, auf eine bescheidene in der Ferne winkende Pension losmarschierten.

Er hatte von den Offizieren dieses national-ökonomischen Heeres keine allzu hohe Meinung. Allein schon die Tatsache, daß sie sich ihm freiwillig eingereiht, war für ihn bestimmend zur Abschätzung ihres inneren Wertes.

Wer, der auf festen Beinen steht, bände sich denn wohl selber an ein Gängelband, und wer, der nehmen kann, ließe sich kärglich zuteilen?

Auf Grund dieser Ideen stand er van Heemsbergen wie einem Rätsel gegenüber, einem Rätsel, das um so unerklärlicher ward, je besser er die Ausdrücke verstehen lernte, in denen es verfaßt war. Mit jedem Tage wuchs die hohe Meinung, die er schon gleich von van Heemsbergens Tüchtigkeit gehegt. Mit jedem Tage ward ihm der Gegensatz zwischen dieser Tüchtigkeit und dem Ziel, dem van Heemsbergen entgegensteuerte, unbegreiflicher – eine Karriere im richterlichen Beruf! Wenn er daran dachte, konnte er in sprachloser Verwunderung und größtem Ärger den Kopf schütteln; und der Ärger war mit Bedauern vermischt: am liebsten hätte er den jungen Juristen selber mit Beschlag belegt.

Vor einigen Jahren war ein Vetter von Frau de Bakker gestorben, der sein sehr beträchtliches Vermögen, das die Familie bereits als ihr gehörig betrachtet, dem Sohn seiner inländischen Haushälterin hinterlassen hatte, den er in zwölfter Stunde als den seinen anerkannt. Zu Erziehungszwecken nach Holland gebracht, war der Junge dort schwindsüchtig geworden. De Bakker, der ihn aufs schärfste kontrollieren ließ, wußte, daß es mit ihm nicht lange mehr dauern konnte; schon wollte ihm die Chance, das bereits verloren geglaubte Vermögen doch noch zu retten, günstig erscheinen, als er plötzlich erfuhr, daß die längst tot und begraben geglaubte Mutter noch immer am Leben sei. Unter dem anderen Namen, den sie, den herrschenden Gebräuchen entsprechend, bei der Geburt eines jüngeren Sohne angenommen, lebte sie mit ihrer inländischen Familie in einer abgelegenen Dessah des Distriktes.

Dr. Bossing, Advokat in Batavia, der mit dem bis dahin als Erblasser Angesehenen in demselben Grade verwandt war wie Frau de Bakker, wurde in seiner doppelten Eigenschaft als Jurist und Mitinteressent konsultiert. Er erklärte die Rechte der Inländerin für unantastbar; die Mutter müsse den Sohn beerben. Indessen: war die Frau, die sich dafür ausgab, wohl wirklich die Mutter? Diese Frage eröffnete den holländischen Blutsverwandten eine Chance – die einzige, um zwei Millionen zu retten.

Von diesem Augenblick an hatte de Bakker die feste Überzeugung gewonnen, daß diese inländische Frau eine Betrügerin sei, aller Wahrscheinlichkeit nach sogar eine betrogene Betrügerin, das Werkzeug in den Händen eines Schlaukopfs, der, nachdem er Pieter Heuvelinks Erbschaft in Sicherheit gebracht, die als Pieter Heuvelinks Mutter fungierende Kampongfrau wieder in jener Dunkelheit verschwinden lassen würde, aus der man sie einst hervorgezogen.

Nun galt es indessen, diese persönliche Überzeugung zu bekräftigen und durch eine völlig unantastbare Tatsache zu bestätigen. Das konnte nur ein Jurist tun, und der es unternähme, müßte ein junger Jurist sein, ehrgeizig genug, um sich einem schwierigen Fall zu widmen, und frei genug, um sich während vieler Monate in Soemberbaroe aufzuhalten und so längs vielfach verschlungenen kleinen Kampongpfaden die Spuren der Intriganten aufzufinden.

Van Heemsbergen war dazu der gegebene Mann. Aber seine unbegreifliche Vorliebe für die Regierungskarriere stand einem Abkommen, das seinem eigenen Interesse ebenso sehr gedient haben würde wie dem des Pflanzers, hindernd im Wege.

»Wir müssen ruhig abwarten,« das war immer wieder das Ende von de Bakkers Erwägungen. »Eines Tages wird so ein tüchtiger Kerl wie er doch wohl einsehen, daß ein Landratsbüro für ihn nicht der geeignete Platz ist.«

Er wartete also.

Aber das dauerte lange und schien vergeblich zu sein, und er begann bereits an einer Einsicht zu zweifeln, die ihn bisher noch nie betrogen hatte, als ein von Dr. Oldenzeel hingeworfenes Wort über seinen Aktuar ihm sein Selbstvertrauen wiedergab. Der Tag konnte nicht mehr fern sein.

Sie saßen zusammen, er und der Präsident bei einer vertraulich stimmenden guten Flasche, zur gewohnten Sonnabend-Nachmittagstunde.

Dr. Oldenzeel, der auffallend still aus der Sitzung gekommen war, lebte nach dem ersten Schluck auf, wie eine welke Pflanze nach dem Regen.

»Alter Burgunder,« erklärte er strahlend.

Der Pflanzer nickte »Clos-du-Roi, achtziger Probe. Ich habe mir ein paar Dutzend davon angeschafft zur Feier unserer kupfernen Hochzeit in diesem Jahre. Also er schmeckt Ihnen?«

Dr. Oldenzeel bejahte schweigend und tatkräftig. Dann auf einem Purpurstrom vom Stapel laufend, segelte er durch alle Weinländer Europas, indem er Marken und Ernten nannte: er dachte an Festessen und an Fröhlichkeit, kam auf seine Jugend zu sprechen und trank auf die selige Studentenzeit.

»Man sollte fast meinen, daß es heutzutage an der Akademie anders zugeht,« bemerkte de Bakker »nicht als ob ich etwas davon wüßte, ich bin Gott sei Dank gar nicht in der Gelehrtheit zu Hause, aber wenn man van Heemsbergen so sprechen hört, möchte man fast glauben, daß er immer nur gebüffelt hat.«

Über die soeben aufgeklärten Züge seines Gegenüber breitete sich von neuem ein Schatten.

»Ja ..., van Heemsbergen ... und überhaupt heutzutage ...« Dr. Oldenzeel schüttelte besorgt und mißbilligend den Kopf. – »Ich kann nicht behaupten, daß mir der neue Kurs sehr sympathisch ist, diese vergleichenden Rechtsstudien und die Entwicklung des Rechts bei den unzivilisierten Völkern und die ethischen Rechtsstudien usw. usw. Gott mag wissen, was sonst noch ... Damit pfropft man den jungen Leuten die Köpfe voll. Und was haben sie dann davon, wenn sie hierher kommen?«

Er schob das volle Weinglas zur Seite und beugte sich über den Tisch zu seinem Gastherrn herüber, um dessen Urteil einzuholen.

»Vorausgesetzt, ich komme hierher – randvoll –,« er hielt zur Illustration seine Hand über die Augen – »randvoll mit Gelehrtheit. Gut! Nun kommen unsere Freunde vor den Landrat – Wartan, der Opium geschmuggelt hat, und Djembar, der Sapin wegen eines Tanzmädchens einen Stoß mit seinem Dolch versetzte, oder Ardangi, der seinen Karrenkontrakt gebrochen hat – soll ich diese Sachen dann etwa an der Hand der vergleichenden Geschichte des Rechts erledigen? – Herrgott, nein, mein Herr, das muß ich an der Hand meines inländischen Reglements tun! Das habe ich zu kennen – was ich kennen nenne, wohl verstanden! – Denn es gibt auch viele solcher Käuze, die es von A bis Z hersagen können – aber wenn sie es in Anwendung bringen sollen! – Und darauf kommt es doch nur an, auf die Anwendung, auf die Praxis, auf die Gerechtigkeit – die Gerechtigkeit!« Dr. Oldenzeel wiederholte das majestätische Wort, während er mit dem Zeigefinger einer im argen liegenden und die Ungerechtigkeit suchenden Welt drohte. »Was der Inländer braucht, das ist ein vir justus atque bonus ...«

»Kein Küchenlatein,« mahnte der Pflanzer, »sprechen Sie doch Ihre Muttersprache, Mensch!«

Dr. Oldenzeel, der aus dem anstandshalber von seinem Aktuar entliehenen und zwischen Reistisch und Schläfchen gähnend durchblätterten Buch von de Grave den Satz aufgegriffen und ihn seiner eigenen Auffassung des indischen Richteramtes angepaßt hatte, setzte sich zur Wehr.

»Sie verstehen mich schon – »ein guter und gerechter Mann« – es ist nur ein Zitat aus jenem Buch, mit dem sie einem – und das ist noch das schönste an der Sache! – dann immer ins Gesicht springen!«

De Bakker lachte.

»So, ist van Heemsbergen einer von der Sorte? So, so! – trinken Sie mal aus, Sie lassen Ihren Wein warm werden.«

»Nein, nein,« – Dr. Oldenzeel protestierte, erschreckt durch den Gedanken an üble Nachrede, »so meine ich es nicht – gar so schlimm ist's nicht, überhaupt ... ich will nichts gesagt haben! Aber ...«

De Bakker hielt, das eine Auge zukneifend, die Flasche schräg vor das andere und blinzelte seinem Gast zu. Dr. Oldenzeel trank aus und ließ sich von neuem eingießen. Aber er blieb in Gedanken versunken da sitzen, den Fuß des Glases zwischen Zeige- und Mittelfinger, und starrte auf das Stück Eis, das kristallbleich durch das Rot schimmerte, das er in seiner Zerstreutheit den Diener hatte in sein Glas tun lassen und das leise in dem Kelch klirrte, während er ihn auf der glatten Marmorplatte hin- und herschob.

Nach einer Weile hub er wieder an:

»Nein, nein, ich will nichts gesagt haben, gar nichts. Van Heemsbergen ist ein sehr anständiger Kerl und ein sehr gescheiter Mensch obendrein, aber ... ich habe das auch schon zu meiner Frau gesagt – er ist zu hitzig – das ist sein Fehler, sehen Sie!«

Kees de Bakker blickte den also Grübelnden mit seinen scharfen braunen Augen forschend an.

»Zu hitzig für dich,« dachte er, »das ist weiß Gott kein Wunder, du kämst am liebsten gar nicht aus dem Stall heraus – aus der Staatskrippe knabbern und schlafen, das wäre dein Fall.«

»Dann muß der Renner nur mal geritten werden,« sagte er laut, »und zwar ein bißchen forsch.«

Und in Gedanken sah er sich selbst als Reiter. Er leerte sein Glas in schweigendem Toast auf seine Pläne und Hoffnungen.

»Wir wollen es mal versuchen heute, ganz sachte, damit er sich nicht bäumt, wenn man ihm das Kopfzeug anlegt,« dachte er.

Nach dem Tee, als Frau de Bakker aufstand, um sich zum Diner umzuziehen, und die Gäste einer nach dem andern die Galerie verließen, ging er auf van Heemsbergen zu und trug ihm die Angelegenheit vor.

»Ich denke,« schloß er, »daß da der eine oder andere dahintersteckt, der der Person ein paar hundert Gulden versprochen hat und der sich selbst den Rest sichern will. Von selbst kommt ein Inländer gar nicht auf so was. Die Person – sie behauptet, daß sie Rattem heißt, und sie wohnt da irgendwo in einem kleinen Häuschen am Fuß des Berges – ist ebenso wenig Pieter Heuvelinks Mutter wie Sie oder ich.«

Van Heemsbergen hatte sich aus seiner trägen Haltung aufgerichtet; in ihm erwachte der Jurist.

»Das ist ja ein interessanter Fall,« sagte er, während er seine Zigarre wegwarf. »Frau Rattem erbt – daran ist nicht zu rühren – wenn sie wirklich Frau Rattem ist, Sie werden also die Identität anzweifeln müssen.«

»So etwas Ähnliches sagte Bossing auch.«

»Bossing aus Batavia? Führt der die Sache?«

»Ich hätte nichts dagegen, weiß Gott! Aber er tut's leider nicht, obgleich er selbst ebenso stark dabei interessiert ist wie meine Frau; er gehört nämlich auch zu der Verwandtschaft, müssen Sie wissen. Aber das muß irgend jemand in die Hand nehmen, der hier am Ort ansässig ist und in aller Ruhe die ganze Pfuscherei in der Dessa aufstöbern kann. Und er kann nicht aus Batavia fort.«

Van Heemsbergen schwieg. Er ließ seine Voraussetzungen und Vermutungen laufen wie Hasen und Windhunde, in dem einen Augenblick selbst das Wild, in dem anderen sein eigener Verfolger, um dann wieder wie ein wartender Jäger beider Auftauchen und Verschwinden zu beobachten. Der Pflanzer, der sein Schweigen anders deutete, sagte:

»Es würde Ihnen keine Windeier legen – wenn eine Sache wie diese zur Teilung gelangt, fällt auch ein ganz ansehnliches Sümmchen für den Anwalt ab. Und übrigens – in Bossings Büro wird eine Anstellung frei – und so etwas würde schon die beste Empfehlung sein. Sie könnten das eventuell zur Bedingung machen für den Fall, daß Sie den Prozeß gewännen. – Es werden dort monatlich achttausend Gulden verdient, wie Sie wissen.«

»Wie meinen Sie das?« fragte van Heemsbergen. Sein Ton machte den Pflanzer auf seine Übereilung aufmerksam.

»Nun, daß es eine schöne Sache wäre für den, der es wagt – der wäre mit einem Schlage ein gemachter Mann. Ich sagte »Sie«, wie man das so manchmal sagt, – ich meinte natürlich »man«.

»Ah so,« sagte van Heemsbergen.

Es wurde an jenem Tage nicht mehr über die Sache gesprochen. Er selbst glaubte sie vergessen zu haben. Aber am nächsten Montag kam sie ihm, während er durch den silbernen Frührotnebel nach Soemberbaroe fuhr, wieder in den Sinn und setzte sich dort fest. Er begriff, daß der Pflanzer ihm die Sache hatte übertragen wollen.

»Vom finanziellen Standpunkt aus würde das famos sein,« dachte er. »Und dann später Bossings Kompagnon!« Jenes Haus am Konings-Plein stieg vor ihm auf wie eine Fantasmagorie. Die prächtigen Pferde trabten, vor die Victoria gespannt, die Auffahrt hinauf, der alte Wein tränkte mit seinem düster-prächtigen Rot die farblose Klarheit des Kristalls auf dem Tisch, das Farbenspiel der Edelsteine blitzte längs Wangen, an Pulsen und an entblößten Nacken.

»Saphire für sie? Nein, Perlen – so etwas Gedämpftes, Verhaltenes, Jungfräuliches ...«

Er hielt inne und lächelte beim Gedanken an die immateriellen Kleinodien, die er Ada soeben um den Hals schlingen wollte.

»Zukunftsperlen, vorläufig nur in der Idee bestehend ... Aber nichtsdestoweniger, ... es würde wunderbar sein!«

Er dachte es mit einem Seufzer.

Als er, eine halbe Stunde später als sonst, das Büro betrat, sah er noch gerade, wie die beiden Schreiber ein Spiel chinesischer Karten unter dem Tisch verschwinden ließen.

»Eine liegt am Boden, Stegemans, unter Ihrem Stuhl,« sagte er spöttisch.

Der Schreiber bückte sich verlegen.

Ohne sich weiter nach ihm umzusehen, suchte van Heemsbergen seine Papiere zusammen und ging an die Arbeit.

Es war eine Klage eingelaufen von Said Mohamad gegen den Inländer Kertawidoera, der auf Unterpfand seines Hauses Geld erhoben hatte und sich jetzt weigerte, nachdem das Haus durch seine Nichtzahlung dem Geldverleiher verfallen war, sein Erbe zu räumen, da er, wie er sagte, wohl seine selbst gebaute Wohnung, nicht aber den Grund und Boden, der das teure Erbteil seiner Väter sei, in Pfand gegeben habe.

Es war ein Fall, wie er van Heemsbergen, der so eifrig die inländischen Gesetze und Institutionen studierte, unter anderen Umständen sehr willkommen gewesen wäre. Heute aber weckte er nur unwillige Gedanken in ihm.

»Said Mohamad ist ein Schurke – sein Rosenölgestank schlägt einem aus allem entgegen, was hier in der Umgegend gepfuscht und im geheimen gebraut wird – aber die Inländer sind nicht um ein Haar besser,« dachte er. »Und Kertawidoera scheint zu seiner inländischen Sorglosigkeit jetzt auch noch die Streiche des Arabers hinzugelernt zu haben.«

Er arbeitete unlustig.

Es war warm im Büro – feuchtwarm, so wie es nach anhaltendem Regen an sonnenlosen Tagen sein kann. So spät im Jahr, jetzt, da die Passatwinde schon eingesetzt haben müßten, lag in dieser schwülen Hitze etwas Unnatürliches, das die Nerven wie Saiten anspannte, fast zum Zerspringen. Die roten Steine des Fußbodens waren feucht; die Wände schwitzten, es lag wie ein Reif auf dem Wachstuch des Tisches und dem glatten Holz der Stühle; während van Heemsbergen schrieb, wurde das Papier unter seinen Fingern so feucht, daß die Buchstaben ineinander flossen.

Mit einer zornigen Bewegung warf er seinen Rock ab und streifte die Hemdsärmel bis über die Ellenbogen auf.

Eine Viertelstunde vor Büroschluß trat Dr. Oldenzeel ein, in Schlafhose und Kabaja, noch feuchthaarig vom Bad. Er sah bedrückt aus.

»Haben Sie schon gehört, daß van Ryn so krank ist?«

Van Heemsbergen verneinte kurz. Der Gesundheitszustand Dr. van Ryns, des Landratsvorsitzenden von Njadas, war ihm um so gleichgültiger, als er wußte, daß der Mann sich systematisch ruinierte mit Gargantua-Mahlzeiten von fettriefenden und brennendscharfen indischen Speisen, die er mit fußhohen Gläsern Brandy-Soda herunterspülte.

»Ja« – wiederholte Dr. Oldenzeel – »er scheint schlimm dran zu sein. Er ist in die Berge hinauf, mit vier Wochen Urlaub. Ich gönne ihm das natürlich von Herzen, aber für uns wird's recht unbequem sein!«

Van Heemsbergen blickte auf.

»Was haben wir damit zu tun?«

»Nun, Njadas liegt doch als Landratsdistrikt Soemberbaroe am nächsten. Wenn van Ryn hinaufgeht, ist es selbstverständlich, daß wir ihn vertreten müssen.«

»Selbstverständlich?« fuhr van Heemsbergen auf. »Das ist ja eine merkwürdige »Selbstverständlichkeit«, die einen mäßigen Menschen für einen Säufer und Vielfraß aufkommen läßt.«

Erschreckt blickte Dr. Oldenzeel in das vor Zorn gerötete Gesicht.

»Das müssen Sie nun nicht sagen, Herr van Heemsbergen, das ist denn doch ein wenig allzu kraß – bloß weil van Ryn es sich gern gut schmecken läßt. Sie müssen immer bedenken, daß es für ihn doch am schlimmsten ist.«

Van Heemsbergen fragte ironisch:

– »Was ist für ihn am schlimmsten? – daß er sich überißt oder daß ein anderer sich überarbeitet?«

Dr. Oldenzeel antwortete nicht. Mit einem unsicheren Blick auf die beiden über ihre Papiere gebeugten Schreiber murmelte er etwas wie »gleich zurückkommen« zwischen den Zähnen und verließ schlürfenden Schrittes das Büro.

Van Heemsbergen schob seinen Stuhl mit einem Ruck zurück und warf die Akten über die Kertawidoera-Sache, die er sich schon zurechtgelegt, um sie mit nach Hause zu nehmen, über den Tisch, daß sie rechts und links auf die Erde fielen, griff nach seinem Rock und seinem Helmhut und warf die Tür dröhnend hinter sich zu.

Stegemans, der seinen Kollegen schon unter dem Tisch angestoßen hatte, sah ihn an, und die beiden Schreiber kritzelten eifrig, bis sie die Räder von van Heemsbergens Wagen über den Kies rollen hörten. Dann brachen sie in ein lautes Gelächter aus.

Van Heemsbergen saß barhäuptig im Wagen und ließ seine pochenden Schläfen von der Luft umspielen. Seine rechte Hand lag zur Faust geballt auf seinem Knie; er hatte ein Gefühl, als würde es ihn erleichtern, wenn er sie auf etwas oder auf jemanden niedersausen lassen könnte.

Als er vor dem Gasthaus ausstieg, streckte Frau Janssen ihre beiden dicken Arme in die Höhe.

»Te massa – Herrrrrre – Cheemsberg – allah so frrrüh – essen – noch nicht ferrrtig – mian – mi – an.«

Van Heemsbergen sagte barsch:

»Bringen Sie, was da ist, es wird wohl nicht ungarer sein als gewöhnlich, ich muß fort.«

Er war plötzlich auf den Gedanken gekommen, Hendricks aufzusuchen. Was er eigentlich von ihm erwartete, hätte er nicht zu sagen vermocht. Aber etwas, das sicherer und zwingender drängte als jede Überlegung, trieb ihn zu jenem Manne.

Vor dem Hause des Kontrolleurs angelangt, fand er es leer und vernahm, daß beide, Hendricks und seine Frau, nach Langean gegangen und dort in dem Pasang-Grahan Pasang-Grahan = Hotel für Beamte. abgestiegen seien. Er spornte sein Pferd an und schlug den Weg nach den Hügeln ein. Je mehr der steile Pfad anstieg, desto intensiver fühlte er, wie er aus der weichlich lauen Luftschicht, die über der Ebene brütete, hinaus und in eine immer kühlere und klarere Atmosphäre gelangte. Ein leichter Kräuterduft belebte die reine Luft, Glanz lag über dem Grase und auf den Felsblöcken, auf den hohen Farren und auf den Blätterbüscheln, die über seinem Pfade hingen. Überall flossen junge Bächlein.

Während er sich dem Pasang-Grahan näherte, einem luftigen Landhäuschen, das dort zwischen Sträuchern und schlankem Bambusgewächs aus der Lichtung aufstieg, als wäre es dort so gewachsen, sah er Frau Hendricks stehen.

»Ich warte auf meinen Mann,« sagte sie, indem sie seinen Gruß erwiderte. »Er ist um halb sechs ausgeritten. Ich fürchte, daß etwas mit dem Deich geschehen ist. Das hat er schon geahnt, als wir es heute nacht so gießen hörten ... ah, da kommt er.«

Der Kontrolleur wurde an der Biegung des Weges auf einem beschwitzten, träge gehenden Zwergpferdchen sichtbar. Er machte eine Bewegung mit der Reitpeitsche und lächelte seiner Frau zu.

Van Heemsbergen blickte ihn an. Er saß zu Pferde wie jemand, der es zu spät gelernt hat, aber alles an dem Mann – sein blondes, klaräugiges Holländergesicht, seine starken Schultern, die Art und Weise, wie er mit der einen Hand die Zügel hielt, während er die andere schräg auf den Oberschenkel stützte, ja sogar die Schlammspritzer, die ihm bis ins Gesicht und an den Helmhut geflogen waren, – das alles drückte die ruhige Kraft des Menschen aus, für den Müssen und Wollen eins sind.

»Ich habe gut daran getan, herzukommen,« dachte er.

Hendricks stieg vom Pferde und klopfte dem müden Tierchen auf Hals und Rücken, bevor er dem Stalljungen die Zügel zuwarf. »Es war nur ein Riß, noch keine Bresche,« sagte er, während er die Galerie betrat, »was vorläufig zu tun war, ist geschehen, – jetzt können sie morgen an die Arbeit gehen – ah – guten Tag, Herr van Heemsbergen.«

Van Heemsbergen schüttelte ihm die Hand mit einer Herzlichkeit, die die lichtblauen Augen erstaunt aufblicken ließ.

»Ich wollte mir ein wenig Frische holen – moralische und physische – es war da unten nicht mehr zum Aushalten,« erklärte er.

Die junge Frau sah ihren Mann an.

»Du siehst aus!« sagte sie lachend.

Er ließ den Blick an seiner Gestalt heruntergleiten.

»Ja, wahrhaftig, du hast recht – ich werde mich umziehen müssen – sind sie schon da?«

»Die meisten wohl, glaube ich, wenigstens war's eben schon ziemlich voll. Der Demang Demang = Inländischer Distriktsvorsteher. ist soeben vorbeigegangen, aber den Regenten habe ich noch nicht kommen sehen.«

»Schön, ich werde mich beeilen.«

Die junge Frau wandte sich zu van Heemsbergen:

»Mein Mann hat die Dessahleute von Langean zusammenkommen lassen, um ihnen zu erklären, warum und auf welche Weise die neue Wasserleitung angelegt werden soll. Die jetzt bestehende ist nämlich so steil, daß das Wasser bei dem geringsten Regen herunterschießt. Jetzt ist der Boden vollständig ausgespült, und es kommt fast gar kein Wasser mehr auf die Felder. Und jetzt wird er gewiß auch gleich über den Deich sprechen und die Arbeitslöhne vorher auszahlen lassen, dann arbeiten sie nämlich viel besser,« fügte sie erklärend hinzu.

»Läßt er das selber tun?« fragte van Heemsbergen. »Ich glaubte, daß die Häupter ...«

»Jawohl, aber ...,« die junge Frau zögerte einen Augenblick. »Er ist nicht sicher, daß das Geld dann wirklich in die Hände derjenigen gelangt, die es zu beanspruchen haben. Der Demang ist ja wohl ehrlich, aber die beiden Söhne des Regenten« ... sie unterbrach sich.

Der Regent war in Sicht, gefolgt von einem Diener, der ihm einen grün-weiß-goldenen Pajong Pajong: eine Art Sonnenschirm, der den Rang seines jeweiligen Besitzers anzeigt. über den Kopf hielt.

Der Kontrolleur trat gerade aus seinem Zimmer. Er eilte dem Ankömmling entgegen und begrüßte ihn auf eine Weise, die bei aller Freundschaftlichkeit etwas Zeremonielles an sich hatte.

Van Heemsbergen, der den Präsidenten von der Landratsitzung von Langean her kannte, verneigte sich leicht. Frau Hendricks reichte ihm die Hand. Der Regent hielt sie, sich vor ihr verbeugend, einen Augenblick zwischen seinen beiden ausgestreckten Händen.

»Die Karte?« sagte Hendricks im Vorübergehen.

»Auf dem großen Tisch in der hinteren Galerie – ich habe den Demang schon darüber studieren sehen,« antwortete sie.

Dann zu van Heemsbergen gewandt:

»Er hat es gern, wenn ich zuhöre, und es kann, glaube ich, nichts schaden, wenn Sie ...«

Und sie ging ihm voran nach der sich um das Haus hinziehenden Veranda, von wo sie, hinter einem Wandschirm versteckt, die auf der Galerie Versammelten hören und zum Teil auch sehen konnte.

»Sehen Sie!« sagte sie, während sie vorsichtig einen Blick um den Wandschirm warf. »Da sitzen sie nun alle beieinander.«

Jetzt blickte auch van Heemsbergen hinüber.

An dem mitten in der Galerie stehenden Tisch saß der Kontrolleur zwischen dem Regenten und dem Demang, dem er auf der vor ihm ausgebreiteten Karte etwas erklärte.

»Wenn wir den Riß nun auf diese Weise dichten, sehen Sie – so – Sie haben mich doch wohl richtig verstanden?« fragte er und blickte in das aufmerksame braune Gesicht ihm gegenüber.

Der Demang nickte.

»Ich habe es gut verstanden, so wie der Herr Kontrolleur es erklärt hat.«

»Nun also – dann kann der Fluß weiter keinen Schaden anrichten, und die Reispflanzerinnen können morgen auf dem Feld von Wirja Winagoen mit ihrer Arbeit beginnen. Er braucht weder Überschwemmung noch Fortspülen zu fürchten. Ich sah soeben, wie die Frauen den Reis der Zuchtbeete dorthin brachten.«

»Jawohl, Herr,« antwortete das inländische Haupt.

Hendricks sah den Regenten an.

»Möchte der Herr Regent nicht anordnen, daß das Haupt der Dessah, das ich dort sitzen sehe, und all' die Dessaleute hereinkommen?«

Der Diener, der ihm den »Pajong« getragen hatte, stand, einer Bewegung des Regenten folgend, auf und ging, während er sich tief bückte, an der Mauer entlang, an ihm vorüber und hinaus, wo eine Menge Inländer beieinander hockten. Ihrem Anführer folgend, betraten sie die Veranda und hockten dort nieder.

Aus einer dreidoppelten Reihe von Gesichtern blickten aufmerksame Augen den Kontrolleur an, der langsam in scharf akzentuiertem Sundanesisch zu sprechen begann.

Das aufmerksame Nachdenken über das, was er sagte, und der seinen Schlußreden gezollte Beifall waren in jenen Blicken zu lesen, wie in einem aufgeschlagenen Buch.

»... Darum muß der Deich morgen rechtzeitig gestützt und gedichtet und der Damm an die Stelle verlegt werden, die der Herr Regent anweisen wird,« schloß er. »Diejenigen, die bereit sind, diese Arbeit zu verrichten, sollen hierher kommen, um ihren Lohn im voraus in Empfang zu nehmen.«

Es entstand eine leichte Bewegung unter den Dessahleuten: Flüstern, Kopfschütteln und Zaudern. Aber einen Augenblick später stand doch einer auf, näherte sich tief vorn übergeneigt dem Beamten und den beiden Häuptern und kauerte sich, ein »Sembah« machend, vor sie hin.

Hendricks gab dem Demang durch einen Wink zu verstehen, er solle dem Niederkauernden das Geld in die Hände legen.

»Du siehst Kariomedjo – und der Herr Regent und all' die Dessahleute haben es gesehen – der Demang gibt dir deinen abgepaßten Lohn. Hast du deinen Sohn Sidin nicht mitgebracht, damit er auch bei der Arbeit helfen kann?«

»Ich habe ihn mitgebracht, Herr, er sitzt dort,« antwortete der Inländer, indem er sich umsah. Sidin kam und nahm jetzt seinerseits seinen Lohn in Empfang. Jetzt folgten die anderen, freimütiger.

Einer nach dem andern niederhockend, nahmen sie das Geld in Empfang, das der Demang einer auf dem Tisch aufgestellten Blechbüchse entnahm, und entfernten sich darauf in gebückter Haltung.

»Freiwillige genug, nun da sie ihres Lohnes gewiß sind,« murmelte die junge Frau, die den Ereignissen mit gespannter Aufmerksamkeit folgte. »Ah – er auch?«

Ein Mann in einer schmutzigen weißen Hose, zerrissenem »badjoe« und fettigem Kopftuch hatte sich dem Kontrolleur genähert.

»Nein, Soedarmoe,« sagte Hendricks. »Dich will ich nicht bei der Arbeit haben. Du meinst wohl, ich hätte ganz vergessen, wie du im vergangenen Jahr bei der Anlage des Waldweges gefaulenzt hast. Es soll nicht mehr geschehen, daß andere mehr tun, als ihnen obliegt, weil du weniger tust.«

Der Inländer murmelte eine klagende Entschuldigung.

»Wirklich? Bedenke wohl, wie viele hier sind, die es dich sagen hören, und daß der Herr Regent dich hört und der Demang.«

Soedarmoe wiederholte sein Gemurmel und machte einmal nach dem anderen Sembah.

Nach einer Weile antwortete der Beamte:

»Gut, ich will dir glauben. Hier hast du die Hälfte des Lohnes. Ich werde aufpassen, wie du arbeitest, ich werde alles wissen, zweifle nicht daran! Und wenn du deine Sache gut gemacht hast, dann werde ich dir auch den Rest geben.«

Der Mann entfernte sich, während er die Münzen fest mit der Hand umklammerte.

Einen Augenblick später kam der Abgesandte des Regenten hastig an der Stelle vorbei, wo van Heemsbergen und Frau Hendricks saßen, und kehrte mit den beiden Inländern zurück, die sich als erste zur Arbeit gemeldet hatten. Sie blickten verlegen vor sich hin.

»Ach, das habe ich schon gefürchtet,« murmelte die Frau des Kontrolleurs. Sie horchte gespannt, was wohl ihr Mann sagen würde.

»Es scheint, daß ich dir nicht genug gegeben habe Kariomedjo und dir, Sidin, wohl auch nicht? ... also doch? – wie kommt es denn, daß ihr beide nur so wenig habt? Ihr könnt es in so kurzer Zeit nicht ausgegeben haben und noch dazu hier, wo nicht einmal ein Warong ist.«

Kariomedjo stotterte eine Antwort.

Der Regent blickte über ihn weg in die Ferne. Es lag ein Ausdruck von Scham und Hilflosigkeit auf den alten Zügen.

»So – also verloren? Es ist recht unbequem, wenn so viel verloren geht, das weiß ich wohl. Seht, damit das nun nicht wieder geschehe, habe ich auf dieses Geld, das ich euch jetzt gebe, ein Zeichen gemacht – sehen Sie sich das Zeichen an, Herr Regent und Sie, Demang, und seht es euch alle an, ihr Leute, hier an diesem Stück, das ich in meiner Hand halte, – so wird es leicht zurückzufinden sein, wenn es verlorengehen sollte – aber ich bin fest davon überzeugt, daß es nicht verloren gehen wird.«

Die Inländer blickten mit einem gewissen neugierigen Respekt zuerst den Beamten und dann einander an, um sich schweigend zu erzählen, daß der Holländer die List der beiden Regentensöhne durchschaut habe, die den heimkehrenden Arbeitern den Lohn abgenommen, unverschämt geworden durch die Sicherheit, daß die unterwürfigen Leute nicht den Mut haben würden zu klagen. Und die am weitesten hinten saßen, flüsterten einander zu, was alle dachten – daß das Merkmal an den Geldstücken nicht nur zur Abschreckung der mit Entdeckung bedrohten Diebe diene, sondern daß es ein Zauberzeichen sei, durch das der Kontrolleur auch in der Ferne seinen Willen geschehen lassen könne an dem, der sich das Geld auf unrechtmäßige Weise aneignen würde.

So noch ein einziger Freigeist unter ihnen gewesen, der die durch Übung in den geheimen Wissenschaften erworbene Macht und Kenntnis des Beamten anzweifelte, – in diesem Augenblick wurde er bekehrt.

Ehrerbietig, so wie sie es sonst nur einem Priester gegenüber zu tun pflegen, machten die Dessahleute beim Fortgehen ihr Sembah vor ihm; und auch Frau Hendricks grüßten sie respektvoll.

Der Regent erschien erst nach einer Weile. Er ging langsam, den Kopf trug er gebeugt unter dem weiß-grün-goldenen Pajong.

Frau Hendricks erhob sich mit einer hastigen Bewegung und folgte ihm. Die beiden sprachen eine Weile zusammen. Der Regent blickte sich um nach dem Platz, wo van Heemsbergen saß, schüttelte den Kopf und verabschiedete sich von der jungen Frau, während er mit seinen langsamen Schritten weiterging. Und sie kehrte mit einem besorgten Ausdruck in den Augen wieder an ihren Platz zurück.

Hendricks' mit Sommersproßen bedeckte kräftige Hand wurde am Rand des Wandschirmes sichtbar und schob ihn zur Seite.

»Nein,« sagte er, indem er auf seine Frau zuging, »er wollte nicht bleiben, ich hatte ihn schon gebeten. Aber es ist sehr gut, daß du es auch noch mal getan hast. – Sieh' mal, Annie, hier hast du einen Fehler gemacht.«

Er breitete die Karte aus und zeichnete darauf mit einem Bleistift eine geschweifte Linie. – »Der kleine Fluß läuft so – siehst du – und dann ist hier die Stelle, wo wir den neuen Damm hinbauen werden.«

Er neigte sich über sie. Sie folgte seiner zeichnenden Hand mit gespannter Aufmerksamkeit.

Van Heemsbergen hatte die Empfindung, als werde eine Türe vor ihm geschlossen. Er beeilte sich rasch noch einzutreten.

»Ich glaubte, daß die Bewässerung von den öffentlichen Werken ausginge,« sagte er mit einem fragenden Blick auf Hendricks.

»Jawohl, das ist auch so, aber dies ist nur eine Verbesserung ganz im kleinen, die ich mit dem Regenten und den Dessahleuten hier aus der Umgegend geplant habe, sonst bekommt das Volk dies Jahr nicht genug Wasser auf die Sawahs, wenn noch lange damit gewartet wird.«

Hendricks sprach ein wenig kühl, mit sichtlicher Zurückhaltung. Aber van Heemsbergen fragte nach Einzelheiten; und während der andere von seiner Arbeit sprach, geriet er in Feuer und vergaß seine unangenehmen Leydener Erinnerungen. Immer ausführlicher beschrieb er die Fehler des Bewässerungssystems in dem Hügellande und die Folgen, die diese Fehler notgedrungen nach sich ziehen mußten: – die Dürre des verdursteten Bodens, die Verarmung des Volkes, das auf und von diesem Boden lebte, die langsame Abnahme seiner physischen, moralischen und intellektuellen Kräfte und sein endlicher Untergang, herbeigeführt durch arabische und chinesische Geldverleiher, die sich aussaugend an das geschwächte Volkswesen klammerten, wie Schmarotzerpflanzen an einen geschwächten Baum.

Jedesmal, und namentlich, wenn er von dem Wohl und Wehe der Frauen neben dem der Männer sprach, wandte er sich an seine Frau mit einem:

»Wie war das doch gleich, Annie?«

Und sie antwortete ihm aufs ausführlichste:

»Auf dem Passar von Njadas habe ich den Chinesen an einer Nähmaschine sitzen sehen, um die Sarongs und Kabajas zu fertigen, zu denen die Frauen den Stoff bei ihm gekauft hatten. In Soembertinggih kenne ich nur noch drei Frauen, die selbst weben und »batiken«. Batiken: eine besondere Prozedur zum Bemalen gewebter Stoffe. Die alte Sarinah arbeitet auch schon in der Fabrik – Djassin sitzt am Wege und bäckt Kuchen des Morgens in der Frühe, wenn die Männer zur Arbeit gehen – und Arti hat nicht nur all ihre Ornamente, sondern auch ihr Batikgestell und ihre Geräte ins Pfandhaus getragen.«

Van Heemsbergen hörte zu und wurde je länger desto ungeduldiger. Seine Mißstimmung wuchs mit jedem Augenblick.

»Wie ist es nur möglich,« dachte er, »daß er für solche Nichtigkeiten auch nur das geringste Interesse hat – Dorfgeschwätz, Geldfragen, Geschacher, – das Tun und Treiben von Menschen, die, ohne irgend welchen Gedanken im Kopf zu haben, wie die Eintagsfliegen dahin leben.«

Endlich vermochte er nicht mehr an sich zu halten.

»Interessiert Sie das nun wirklich?« fragte er schroff.

Die junge Frau errötete.

Hendricks sah ihn verwundert an.

»Es ist meine Arbeit,« sagte er nach einem Augenblick, und sein Ton war wieder kühl; »und die ihrige auch, scheint mir,« fügte er hinzu.

»Die meinige?« rief van Heemsbergen aus.

»Ja, allerdings, wenn Sie die Absicht haben, inländische Rechtszustände zu studieren.«

»Natürlich habe ich die Absicht, – dazu bin ich nach Indien gekommen.«

»Dann müssen Sie auch den Inländer in seinem alltäglichen Tun und Treiben kennenlernen.«

Van Heemsbergen sprang auf.

»Wie stellen Sie sich das denn vor? Den Inländer in seinem alltäglichen Tun und Treiben kennen lernen? Soll ich mich etwa neben Kromo oder Troeno auf die Baleh-Baleh setzen und eine Zigarette mit ihnen rauchen? Oder soll ich mit Sidin die Büffel nach dem Kraal treiben? Oder soll ich gar mit ihnen im Fluß baden?«

»Das ist nicht nötig, das würde sogar nicht einmal nützlich sein,« begann Hendricks, »aber ...«

Jedoch van Heemsbergen unterbrach ihn. Er konnte jetzt nicht zuhören, er verlangte auch keine Antwort, er sprach nur, um gehört zu werden, nur, weil er sprechen mußte, und um endlich die Enttäuschung, die Unsicherheit und den Ärger, die er schon allzu lange mit sich herumgetragen, in Worte zu fassen.

»Ich bin mit den besten Vorsätzen hierher gekommen, ich habe nicht daran gedacht, nein, niemals habe ich das getan! so und soviel im Monat zu verdienen und vorwärts zu kommen und Karriere zu machen und Menschen zu zertreten und Direktor zu werden, Rat von Indien, Generalgouverneur, meinetwegen. Wenn ich von Ehrgeiz spreche, so meine ich ganz was anderes! Aber nicht einmal den Ehrgeiz habe ich gehabt. Ich wollte etwas Tüchtiges leisten, eine Arbeit, die bleibenden Wert haben sollte, auf der andere später fortbauen könnten und die fest stünde, unerschütterlich fest, noch lange nachdem ich tot und begraben sein würde, – das wollte ich! – aber kann ich das?«

Er hatte angefangen auf der Galerie hin- und herzugehen, so wie er es in Augenblicken starker Erregung stets zu tun pflegte. Plötzlich blieb er vor Hendricks stehen und wiederholte leidenschaftlich:

»Kann ich das? Ich bin an Händen und Füßen gebunden, ich habe einen Klotz am Bein. Wissen Sie, was das für ein Mann ist, mein Präsident? Man muß ja wohl annehmen, daß er seinerzeit studiert hat. Aber er weiß nichts, noch weniger als nichts! Ein Student aus dem zweiten Semester behandelt Dinge, die für ihn etwas Unerhörtes bedeuten, als etwas ganz Selbstverständliches. Er torkelt von einer schläfrigen Sitzung in die andere. Und mit einem solchen Menschen muß ich zusammen arbeiten! Ich kenne den Verlauf der Dinge jetzt schon so genau, wie ein Steinträger das Brett kennt, über das er seinen gefüllten Schubkarren schleppt, vom Morgen bis zum Abend und Tag ein, Tag aus. Es ist immer wieder dasselbe dumme, stumpfe, mechanische Geschreibsel, das die inländischen Schreiber ebenso gut besorgen könnten wie ich. Ich bin in dem halben Jahr hier um keinen Schritt vorwärtsgekommen. Und währenddessen sitzt vielleicht hier oder dort ein anderer, der meine Arbeit tut. Wenn ich daran denke, könnte ich den Verstand verlieren!«

Er blieb stehen, blaß, mit funkelnden Augen.

Die beiden sahen ihn an, der Mann mit einem Erstaunen, das mit leichter Mißbilligung untermischt war, die Frau mit einem gewissen furchtsamen Mitleid.

»Aber können Sie denn nicht ...,« begann sie leise, und stockte dann, indem sie vor Erregung leicht errötete. »Sag' du doch mal, Jan, wie soll Herr van Heemsbergen ... wie denkst du dir das?«

Sie fragte es in dem Ton eines Menschen der, an das höchste Gericht appellierend, des Urteils schon im voraus gewiß ist.

Van Heemsbergen sah den Kontrolleur an.

»Sollte er mir »das« wirklich sagen können?« dachte er.

Mit einer halb ungeduldigen, halb gelassenen Bewegung zuckte Hendricks die Achseln.

»Ich bin kein Jurist, aber mir will es scheinen, als müsse man, um die Rechtsbegriffe eines Volkes kennenzulernen, erst das Volk selbst kennen. Lassen Sie den Präsidenten doch sein, wie er will – Sie können doch wohl auf eigene Faust Untersuchungen anstellen. Sie brauchen bloß in die Dessah zu gehen. Etwas anderes kann ich Ihnen auch nicht raten.«

Van Heemsbergen wandte sich mißmutig ab.

»In die Dessah gehen! – Das habe ich einmal getan, – weil meine Braut – ich meine – na ja, – ich habe es einmal getan – die Menschen laufen einem entweder davon oder sie denken, daß man ihnen was Böses antun will.«

»Sie kennen Sie wahrscheinlich noch nicht.«

»Aber der Wedana von Soemberbaroe, der kennt mich doch wohl – er sieht mich wöchentlich dreimal. Zu Anfang habe ich ihn nach diesem und jenem bezüglich des Gewohnheitsrechtes hier in der Gegend gefragt, – es lag doch auf der Hand, daß er das wissen mußte, sollte man meinen. Aber niemals habe ich ein vernünftiges Wort aus ihm herausholen können. Ja und Amen auf alles, was ich sagte, wenn es hoch kam – »das ist Adat!« Adat = Gewohnheit. Und wenn ich die Sache dann näher untersuchte, dann war es die reine Willkür oder ein Fall, der sich einmal vorgetan hatte und der nun ganz einfach als Präzedenzfall angesehen wurde. Einmal sogar ein unsinniger Befehl eines Residenten aus der Zeit, da die Residenten noch die Vorsitzenden der Landräte waren – solch ein Blödsinn!«

Er war, während er sprach, wieder heftiger geworden.

Hendricks sagte:

»Der Wedana von Soemberbaroe ist ein ganz unbedeutender Mann, er hat das Amt bekommen, weil er der Neffe des Regenten ist, aber er eignet sich nicht im mindesten dazu – er gehört zu dem Schlage, den das Volk hier – »Blume im Topf« – nennt – schön anzusehen, aber sonst von keinerlei Nutzen. Da ist der Demang hier am Ort doch eine ganz andere Persönlichkeit – der könnte Ihnen sicherlich genug sagen – aber die Hauptsache bleibt doch immer – selbst beobachten, nicht fragen, sondern sehen und hören, mit einem Wort: in den Kampong gehen. Einen andern Weg wüßte ich nicht.«

»Aber ich sagte Ihnen doch soeben, daß ich das getan habe und daß es nichts nützt!« rief van Heemsbergen aus. »Ihnen wird es eben besonders leicht, mit diesem Menschen umzugehen – das liegt vielleicht an der Art Ihrer Tätigkeit,« fügte er gleich darauf hinzu, während ihm der Gedanke kam, daß es wohl mehr an Herrn Hendricks' Herkunft und Erziehung läge, durch die er jenen primitiven Menschen näher stand, als es ihm jemals möglich sein würde. »Sie haben sich um ihr häusliches Leben zu kümmern, aber ich nicht. Ich brauche nicht zu wissen, wovon er sich nährt und womit er sich kleidet – ich muß wissen, was er – d. h. nicht der Inländer im allgemeinen, denn das ist es ja gerade, es ist für einen gebildeten Menschen unmöglich, einen Gedankenaustausch herbeizuführen – sondern was die einzelnen Fortgeschritteneren unter ihnen als Gesetz und Recht erachten – was ein Mann wie der Regent von Sangitan z. B. als solches erachtet. Das interessiert mich. Ich suche nicht den Inländer als solchen, ich suche ihn als den Träger eines ganz besonderen Rechtsbegriffes.«

»Schön; aber gerade das Volk – die Masse jener Menschen, mit denen, Ihrer Ansicht nach, ein gebildeter Mensch keinen Gedankenaustausch pflegen kann – gerade das Volk ist der Träger der Rechtsbegriffe – allerdings unwillkürlich und unbewußt, das gebe ich zu.«

Van Heemsbergen fragte sarkastisch:

» Vox populi vox dei?«

»In diesem Sinne, ja.«

Diesen Worten folgte eine momentane Stille. Plötzlich neigte sich Hendricks horchend vor.

»Ist da jemand?«

Ein leises Hüsteln ließ sich zum zweiten Male vernehmen.

»Nur herein, wer es auch sein möge!«

Ein alter Mann mit hohlen runzligen Zügen kauerte sich auf die Stufen der Galerie hin, machte Sambah und begann, nochmals gefragt, in klagendem Ton zu sprechen.

»Ja, davor hatte ich dich ja auch gewarnt,« antwortete Hendricks auf sundanesisch.

»Hast du das Arzneikästchen da?« fragte er seine Frau in derselben Sprache.

»Ich will es holen. – Ich komme zu dir, Pah-Sidin,« sagte sie, während sie dem Inländer freundlich zunickte, »warte nur einen Augenblick.«

Nachdem sie gegangen, stand ein starres Schweigen, gleich einer Wand, zwischen den beiden Männern. Die Frau kam gleich darauf zurück und trug unter dem Arm ein Holzkistchen, das einen starken Jodoformgeruch verbreitete. Hendricks stand auf und nahm ihr das Kistchen ab, während er gleichzeitig nach seinem Tropenhelm griff. Trotz der Fülle der Gedanken, die in seinem Kopf wirbelten, bemerkte van Heemsbergen, daß der Kontrolleur nicht die galonierte Mütze trug, die die Beamten als sichtbares Zeichen ihres Anrechts auf die Ehrerbietung der inländischen Bevölkerung vorzuziehen pflegen.

»Gehen Sie vielleicht mit?« fragte die junge Frau ein wenig schüchtern, aber freundlich.

Er nahm den Vorwand einer Arbeit, die er noch fertigzumachen habe, zu Hilfe, um sich entschuldigen zu können.

Während das junge Paar den Weg nach der Dessa einschlug, von dem Inländer gefolgt, der hastig auf sie einredete, schaute er ihnen einen Augenblick mit gerunzelten Brauen nach; dann lächelte er spöttisch und zuckte die Achseln. Er sah ein, daß er aus seinem eigenen Bedürfnis an der Sympathie gerade dieses Mannes ohne weiteres Nachdenken das Bestehen dieser Sympathie gefolgert und daß er sich auf eine geradezu lächerliche Weise geirrt habe.

»Wie bin ich eigentlich dazu gekommen, Hilfe von ihm zu erwarten? Dazu ist er gerade der Rechte ... Obgleich – Nein! – Keiner kann dem anderen helfen! Jeder ist sich selbst der einzige Freund, der Berater und Helfer aus der Not – und der meine ist van Heemsbergen, d. h. er sollte es sein, aber er ist es nicht.«

Er blieb sitzen in der Dämmerung und dem Dunkel, während es in ihm immer dunkler und dunkler ward.

Als er endlich die Stimmen des zurückkehrenden Paares hörte, ging er in sein Zimmer, um ihnen auszuweichen. Die Vorstellung von Hendricks Gesicht war ihm jetzt unangenehm. Er begriff nicht mehr, wie er dazu gekommen war, vor diesem Fremden sein Innerstes so bloßzulegen. Und er empfand einen Groll gegen Hendricks, gleich als wäre seine eigene halb unwillkürliche Offenherzigkeit eine Unzartheit des andern gewesen, – ein geheimer Vertrauensdiebstahl und eine Seelenschändung.

Um ihn am nächsten Tage nicht zu sehen, ließ er noch vor dem Morgengrauen sein Pferd von dem schläfrigen Stalljungen satteln und ritt nach Soemberbaroe zurück.

In ärgerem Zwiespalt mit sich selber als je zuvor kehrte er heim. Als er sein Zimmer betrat, sah er einen Haufen Mailbriefe auf dem Tisch liegen – einen von Ada obenauf. Den hielt er einen Augenblick in der Hand, zögernd, und verwahrte ihn dann, da er jetzt nicht in der Stimmung war, um auf ihre Gedanken einzugehen. Er warf ein paar Briefe zur Seite, die er nicht zu öffnen brauchte, um zu wissen, daß sie Rechnungen enthielten, und riß dann das Streifband von einer Broschüre, deren Titel »Über den Begriff der elterlichen Macht« von ein paar Zeilen gefolgt wurde, die besagten, daß der Aufsatz die gekrönte Antwort auf eine seitens der Zeitschrift »Recht und Gesetz« ausgeschriebene Preisfrage sei. Wie ein Funke blitzte ihm der Name des Verfassers ins Gesicht: Dr. I. W. Tilenius.

»Donnerwetter noch mal, Donnerwetter ...!«

Er sagte es laut, in seinem Erstaunen, und fand keine anderen Worte. Dann schleuderte er das Heftchen plötzlich auf die Fliesen: »Aber das willst du ja auch, Dummkopf, der du bist! das willst du ja auch! Warum grübelst du dich denn so stumpf? Was sitzest du da ewig und brütest?«

Er schalt sich selbst. War er denn zeitweise wie sinnlos gewesen, lahm und blind? Da lag der Weg, dort winkte das Ziel! Er hob die Broschüre wieder auf und begann zu lesen, während er in seinen Reitstiefeln, mit dem Hut auf dem Kopf dastand, beschmutzt und schwitzend. Aber nach einem Augenblick warf er das Buch wieder hin, zu sehr erfüllt von aufstrebenden Wünschen und Kräften, um die Gedanken eines anderen in sich aufnehmen zu können.

»Dieser Tilenius, weiß Gott! – Und währenddessen sitze ich hier, und niemand hört oder sieht etwas von mir! Ich könnte ebensogut tot und begraben sein. Ja, aber halt mal! Wir sind auch noch da! Jetzt ist es aus mit dem Trödeln und Faulenzen. Jetzt werden wir mal zeigen, was wir können!«

Er warf seinen Rock ab und zog rasch die Stiefel aus, als ob das der Anfang des Handelns wäre, eilte an seinen Schreibtisch und blieb stehen.

»Ja, natürlich, aber wie denn? – ha – zu dumm!«

Die Empfindung von ausbrechendem Schweiß und unerträglicher Hitze brachte ihn zur Besinnung. Er ging in das Badezimmer, um sich zu kühlen. Dann, ruhiger geworden, begann er zu denken und zu überlegen.

»Auf die Art, wie ich angefangen habe, bringe ich es zu nichts,« grübelte er. »So kann ich im besten Falle in zwanzig Jahren ein großes Werk schreiben, aber in der Zwischenzeit komme ich zu nichts. Während ich hier still sitze, überholen sie mich alle. Ich müßte etwas von aktuellem Interesse finden, worüber noch nichts oder doch wenigstens noch nichts Erschöpfendes geschrieben ist. Meiner Karriere würde das natürlich auch nützen. Die Wissenschaft um der Wissenschaft halber, das ist ja alles recht gut und schön – aber namentlich hier in Indien kommt man damit nicht weiter.«

Im Büro dachte er den ganzen Vormittag über die eine Frage nach: wie, durch welche Behendigkeit oder Kraft des Geistes er die Schar der Konkurrenten wohl überflügeln könnte, um allen voraneilend, als einziger das in der Ferne winkende Ziel zu erreichen.

Er konnte die Gedanken nicht auf seine Arbeit konzentrieren; das fiel sogar Dr. Oldenzeel auf, obgleich er selbst an jenem Morgen zerstreut und von sorgenvollen Gedanken erfüllt war, ganz unglücklich über den Brief seines Sohnes, der durch sein Doktor-Examen gefallen war. Zweimal fragte er van Heemsbergen, ob er »auch« schlechte Nachrichten aus Holland erhalten habe? Und nach dem »Nein« des jungen Mannes seufzte er, gleich als hätte die Antwort bejahend gelautet.

»Sagten Sie nicht neulich mal, die auf den Grund und den Grundbesitz bezüglichen Gesetze seien hier in der Provinz sehr mangelhaft definiert?« fragte van Heemsbergen plötzlich.

»Ich?« Dr. Oldenzeels Augen verrieten das größte Erstaunen. »Nein, das kann ich nicht gesagt haben, – ich weiß nichts von der Sache.«

»Nein, jetzt fällt mir's eben ein, es war ein anderer, und er sagte es auch anders.«

Die Worte, mit denen Hendricks über den Zustand des individuellen und kommunalen Grundbesitzes in dieser Gegend gesprochen, waren ihm wieder eingefallen.

»Das würde ein schönes Thema sein,« dachte er erfreut.

Und noch an dem nämlichen Tage begann er die vorbereitenden Arbeiten.

Es zeigte sich, daß das schwerer war, als er es sich gedacht; es war nicht leicht, des einschlägigen Materials habhaft zu werden. Er mußte danach suchen, hier und dort und überall, zwischen alten Akten des Landrates, in Staatsblättern, in Steuerzetteln, in Gouvernements-Beschlüssen, auf Karten und in vor langer Zeit vorgenommenen Messungen. Vieles von dem, was er brauchte, war auch dort nicht zu finden; er sah ein, daß er die Hilfe der Dessahäupter nicht würde entbehren können. Aber die zu erlangen, war beinahe unmöglich. Er konnte nicht direkt mit den Sundanesen sprechen, und der Dolmetscher, der ihnen seine Fragen übermittelte, tat es so unbeholfen, daß die gefragten – man sah das an ihren erstaunten Mienen – selbst nicht begriffen, wonach man sie eigentlich fragte. Er stand machtlos dabei, vom Kopf bis zu den Füßen zitternd vor Ungeduld, während der Dolmetscher in endlos-langatmigen Sätzen und umständlichen Redewendungen seine Worte übersetzte. Das Dessahaupt hörte zu, begriff nichts von der Sache und antwortete endlich mit einem höflichen Lächeln:

»Ohne Zweifel ist dies alles so, wie der Herr Aktuar es sagt.«

Das Dessahaupt blickte scheu in das zornige Gesicht, schlug die Augen nieder und sagte unterwürfig:

»Ja, Herr! so ist es!«

Und wieder übersetzte der Dolmetscher:

»Er sagt, daß das wahr ist, Herr.«

Und van Heemsbergen hielt die geballten Fäuste in seinen Taschen, um nicht der Lust nachzugeben, die beiden beim Kragen zu packen und das eine schläfrige Gesicht gegen das andere zu stoßen. Er ritt zurück durch die brennende Sonne und kam mißmutig und ermüdet nach Hause, mit einem marternden Kopfschmerz als dem einzigen Resultat seiner Exkursion. Überzeugt davon, daß dabei für ihn nichts herauskommen könne, gab er endlich diese vergeblichen Bemühungen auf und begnügte sich mit dem Material, das er aus offiziellen Urkunden schöpfte.

Er hatte deren eine Menge; und jetzt galt es, den Stapel zu sichten und jede Tatsache einzeln auf ihren positiven Wert hin einzuschätzen.

Er hatte Ada von dem Plan geschrieben und sie durch ein paar flüchtige Zeilen darauf vorbereitet, daß sie vorerst keine längeren Briefe von ihm erwarten solle; und die »Aktuars-Arbeiten« erledigte er, so rasch es gehen wollte, während er den Schreibern überließ, was ihnen nur irgend überlassen werden konnte, so seiner auf das allernotwendigste beschränkten Pflicht das bescheidenste Maß an Zeit und Kräften widmend: er konnte beides nun besser verwerten. Die Sitzungen auf Langean und Kaliwangi ließ er im Stich. Und in Kalimas war er schon mehrere Sonntage nicht gewesen.

Frau de Bakker fragte nach ihm.

»Er arbeitet an der Geschichte des Grundbesitzes in Cheribon oder etwas Ähnlichem,« antwortete der Präsident verdrießlich. Selbst ihm, dem van Heemsbergens Arbeitslust bisher stets zu groß gewesen, erschien sie jetzt zu gering.

Er sagte zu seiner Frau:

»Es scheint mir doch eigentlich nicht richtig, daß so ein junger Mann um seiner eigenen Liebhabereien willen den Dienst ganz einfach vernachlässigt.«

Und Frau Oldenzeel antwortete nicht viel. Sie konnte aus ihrem Günstling nicht mehr klug werden.

Van Heemsbergen arbeitete mit heftigem Eifer. Er wollte fertig sein, bevor dieser essende und trinkende kranke van Ryn, der um Urlaub nach Holland eingekommen war, wie um ein letztes Rettungsmittel für sein teures Leben, eine freie Stelle und damit eine Chance auf Beförderung entstehen ließ. Er konnte darauf rechnen, daß man ihn, so wie er in der Reihe der Beförderungsberechtigten fungierte, mit der Wahrnehmung des Landratspräsidiums zu Tjadas betrauen und daß das für ihn den Anfang zu weiterer Beförderung bedeuten würde. Aber es bereitete seinem Ehrgeiz eine gewisse Genugtuung, sich durch eine gut geschriebene Arbeit dieses Vorranges doppelt würdig zu zeigen. Ob der Aspirant-Aktuar van Heemsbergen oder der Verfasser von »Ein Grundriß der Geschichte des Grundbesitzes in Cheribon« befördert wurde, das war längst nicht ein und dasselbe.

Während der ganzen »Poeasa« arbeitete er angestrengt und schlug eine Einladung der de Bakkers auf ihre oberhalb Langean gelegene Villa aus, so sehr er auch das Bedürfnis nach frischer Luft empfand. Er war bei Ablauf der Ferien noch nicht fertig. Aber noch eine Woche beinahe ununterbrochenen Weiterhastens und nach dem Tage, den er als den letzten gerechnet, noch eine Nacht, und er war am Ziel. Bei dem rötlichen Licht des Sonnenaufgangs schrieb er seine Schlußfolgerungen nieder. Er stand auf, fröstelnd, mit steifen Gliedern und brennenden Schläfen und blies das mattgelb gewordene Lampenlicht aus.

Ein letzter Zweifel stieg in ihm auf:

Er war der angeführten Tatsachen nicht ganz sicher, aber schließlich waren sie auch nicht so wichtig – jedenfalls nicht von wesentlicher Bedeutung in bezug auf die Formulierung seines Endergebnisses.

Er las die letzte Seite noch einmal mit lauter Stimme. Sein Stil, der kurz, klar und einigermaßen scharf war, hatte einen kräftigen Klang. Es erschien ihm, als erinnere er unwillkürlich an sicher geführte rasche Hammerschläge. Er wiederholte den Schlußsatz, um den metallenen Klang noch einmal zu hören. Voller Genugtuung schrieb er seinen Namenszug darunter. Er adressierte das Manuskript an die Redaktion der »Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaften« zu Batavia – der Weg zu einem holländischen Blatt war jetzt zu lang – und durch den kühl-gelben Morgensonnenschein brachte er es selbst zur Post, um es dort einschreiben zu lassen.

Er ging langsam zurück und fühlte und genoß bei jedem Schritt die Erholung nach der allzu angestrengten Arbeit.

»Jetzt kann es noch acht, zehn – ich will mal sagen, vierzehn Tage dauern – nein, vierzehn ist zu lang. Aber – für alle Sicherheit – sagen wir mal vierzehn. Noch vierzehn Tage, und ich habe Antwort und vielleicht gar schon die Korrekturbogen.«

Er malte sich aus, wie die Abhandlung gelesen, wie sie durch die Schärfe der Formulierung zum Widerspruch reizen, und darauf freute er sich ganz besonders, – wie sie durch die unantastbare Beweisführung diesem Widerspruch von vornherein die Spitze bieten würde. Er sah sie schon in den Händen von Kollembrandt. Die holländischen Fachblätter nahmen Notiz davon.

»Wenn es nicht von so rein lokalem Interesse wäre, würde es gut gewesen sein, für eine Übersetzung zu sorgen – die »Revue Coloniale« vielleicht? Auch vom finanziellen Standpunkt aus – aber übrigens wird die Redaktion das schon besorgen.

Die dünnen Geschäftsbriefe waren in der letzten Zeit wieder in großer Menge eingelaufen, und das ärgerte ihn, nicht so sehr wegen der Tatsache an sich – die Lieferanten sorgten schon dafür, daß sie nicht zu kurz kamen – als wegen der Bedeutung, die Adas Vormund diesem Umstand beimessen würde. Er glaubte die schmälende Stimme aus der Ferne zu hören.

»Was habe ich dir gesagt? ein Windhund und ein Verschwender!«

Jetzt begann das Warten.

Es machte ihn nervöser, als er anfangs geglaubt hatte, oder wenigstens, als er jetzt zugeben wollte. Alles irritierte ihn; die Berührung mit den täglichen Dingen, die er früher kaum empfunden, ward ihm zum Schmerz, die fleckigen Wände seines Zimmers, die Haufen weißer Ameisen zwischen den Steinen, die Risse in den Bettvorhängen, durch die die Mücken des Nachts hereinsummten, das alles bemerkte er mit plötzlicher Entrüstung. Er nahm Anstoß an dem indischen Akzent seiner Wirtin, an ihrem wackelnden Gang, an den Sarongs und Kabajas und Leibchen, die sie im Garten zum Trocknen über ein straff gespanntes Seil hing. Dr. Oldenzeels Eigentümlichkeiten dünkten ihm plötzlich unerträglich bei einem Menschen, der von guter Herkunft und entsprechend erzogen war. Und er war so ungeduldig, daß ihm sogar das, was ihm früher angenehm gewesen war, jetzt gleichgültig und lästig ward.

Ada hatte sich schon zweimal nach einem Detail bezüglich des javanischen Erntefestes erkundigt, und in ihrem Verlangen, sofort Antwort zu bekommen, augenscheinlich gar nicht daran gedacht, daß das ja unmöglich sei. Als die Frage zum drittenmal kam, reizte sie ihn derartig, daß er den Brief wegwarf; und er mußte erst ein paarmal im Zimmer auf und abgehen, bevor er sich dazu entschließen konnte, ihn wieder zur Hand zu nehmen und zu Ende zu lesen.

So wartete er drei Wochen.

Endlich beschloß er, da er diese Unsicherheit nicht länger ertragen konnte, telegraphisch anzufragen, ob das Manuskript wohl richtig eingetroffen sei.

Als er das Postamt betrat – er hatte seinem Bedienten das Telegramm nicht anvertraut – legte der Beamte den »Java-bode« hin, den er, bevor er ihn dem Adressaten zustellen ließ, erst durchzubuchstabieren pflegte, und nahm dem wartenden Postboten ein Paket ab.

»Für Sie, Herr van Heemsbergen, Korrekturbogen, wie mir scheint.«

Van Heemsbergen riß das Papier auf. Es war sein Manuskript. Mit einem Begleitschreiben der Redaktion. Er hatte eine eigentümliche Empfindung von Kälte und Steifheit in den Armen, während er las.

Sein Artikel war nicht angenommen.

Der Beamte bückte sich diensteifrig nach den Papieren, die auf den Boden geglitten waren. Er wollte seine Chancen auf ein kleines Gespräch ausnützen und gab daher die soeben erfahrenen Neuigkeiten zum besten.

»Der Landrat-Präsident van Ryn geht mit Urlaub nach Europa, und der Aspirant Aktuar Barkmans von Sitoe ist zum stellvertretenden Präsidenten ernannt worden. Ist der nicht zugleich mit Ihnen herausgekommen, Herr van Heemsbergen?«

»Die Auffassung des Themas und die Entwicklung der verschiedenen Thesen verraten ein ungewöhnliches Talent. Aber eine mangelnde Kenntnis inländischer Zustände hat Sie zu falschen Schlußfolgerungen verleitet, und daher sieht sich die Redaktion leider außerstande ...« las van Heemsbergen jetzt schon zum dritten Mal.

Er nahm mechanisch die Papiere in Empfang, die der Beamte ihm reichte.

»Wußten Sie es schon, Herr van Heemsbergen?« fragte der Mann.

»Was?«

»Daß Bartmans stellvertretender Präsident auf Tjadas wird.«

»Was? nicht möglich!«

»Jawohl, es steht unter den Ernennungen in dem »Java-Bode« von heute, ich habe es soeben selbst gelesen,« der Beamte verteidigte die Glaubwürdigkeit der Nachricht. »He, Kitjil! gib mal die Zeitung des Herrn Landrat-Präsidenten her!« Er entfaltete die Zeitung und zeigte van Heemsbergen die beiden Namen in der Rubrik »Ernennungen und Beschlüsse«.

»Sehen Sie? da!«

Ohne zu antworten schritt van Heemsbergen zur Tür.

Auf der Schwelle stieß er mit jemandem zusammen.

»Da hab' ich aber Glück – bin eben bei Ihnen gewesen. – Was haben Sie denn? Sie sind ja so blaß?«

Der Eintretende hielt van Heemsbergen am Arm fest.

»Ah, Herr de Bakker!«

»Was haben Sie?« wiederholte der Pflanzer, während er ihn scharf ansah.

»Ich? Nichts, die Hitze, denke ich.«

»So? Nun, dann kommen Sie mal einen Augenblick mit, ich muß Sie sprechen. Nur gleich in meinen Wagen. Nach dem Hotel, Kutscher!«

Er legte seine schwere Hand auf van Heemsbergens Knie.

»Sie müssen jetzt nicht gleich wieder nein sagen; nehmen Sie sich erst mal die Zeit, ruhig darüber nachzudenken. Hören Sie zu?«

Van Heemsbergen blickte den Pflanzer an.

»Die Sache, von der ich Ihnen neulich sprach, die von dem Vetter meiner Frau und der Inländerin, die sich für seine Mutter ausgibt, muß jetzt in Angriff genommen werden. Er ist gestorben – doch noch ziemlich plötzlich. – Heute morgen das Telegramm erhalten – ich hatte dem Mann, der mich geschäftlich vertritt, Ordre gegeben, verstehen Sie! – Jetzt – jetzt müssen sofort die nötigen Schritte getan werden, damit die Person, oder die Menschen, die sie aufhetzen, uns nicht zuvorkommen. Würden Sie ...? Sie brauchen den Dienst deshalb nicht zu quittieren, Sie können sich ja ohne Gehalt auf ein Jahr beurlauben lassen. Damit ist nichts verloren; und inzwischen können Sie ein schönes Stück Geld verdienen.«

»Ich tue es!« sagte van Heemsbergen.

De Bakker sah ihn überrascht an.

– »Wahrhaftig? na, das freut mich aber, weiß Gott! Und so schlankweg ein Ja, ohne viel hin und herreden. Über die Geldfrage werden wir uns schon einigen, denke ich. Ich bin nicht knauserig. Wollen wir jetzt alles gleich regeln?«

Der Wagen hielt vor dem Hotel.

»Noch eins, van Heemsbergen. Wann ... gedenken Sie, die Sache in die Hand zu nehmen? Wir haben keine Zeit zu verlieren. Können Sie in einer Woche alles hier in Ordnung gebracht haben und bei mir sein?«

Ohne auch nur einen Augenblick nachzudenken, antwortete van Heemsbergen: »Ja.«

*


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