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Der Inspektor Leeves erschien am Morgen des nächsten Tages früher als sonst in seinem Dienstzimmer und ließ den Kommissar Morton rufen.

»Bringen Sie mir die Sachen aus Ellermanns Kleidung, Morton!« Seine Stimme strotzte von Wohlwollen, seitdem Ellermann gefaßt wurde. »Ich möchte mir die Sachen ansehen – dann die Gegenüberstellung mit Credon, Morton!« – »Sehr gerne, Inspektor.«

Morton entfernte sich eiligst und betrat sein Dienstzimmer. Er zog ein Schlüsselbund hervor und öffnete den Schrank. Mit gewohnter Bewegung wollte er in das Fach greifen, zog aber im selben Augenblick die Hand erschrocken zurück.

Das Fach war leer. In der Nacht hatte er Ellermanns Sachen hineingelegt. Sie waren verschwunden. Erst bei genauerem Hinsehen bemerkte Morton, daß jemand mit Bleistift etwas auf den Boden des Faches geschrieben hatte. Bestürzt blickte er in den Schrank und las. Und währenddessen tauchte der Inspektor ungeduldig hinter ihm auf.

»Wo bleiben –« Auch er erschrak, als er Mortons roten Kopf bemerkte. »Was ist geschehen?«

Morton deutete schweigend in den Schrank auf den Boden des Faches, Inspektor Leeves blickte hinein und ließ ein unwilliges Knurren vernehmen.

»Kommissar Morton!« las er laut ab. »Ich zog es vor, mich Ihrer Obhut zu entziehen. Sie werden es mir nicht verargen können. Im übrigen bitte ich Sie, nicht mehr nach Hendersons Mörder zu suchen, da Sie ihn voraussichtlich doch nicht finden. Ich verbleibe mit außerordentlichem Bedauern Ihr Fred Ellermann.«

Inspektor Leeves trat einige Schritte zurück und schnaufte vor Empörung.

»Das ist – aber ich sagte Ihnen damals gleich, Morton – ein ausgekochter Halunke, dieser Ellermann. Sie natürlich mit Ihrer Kriminalpsychologie – ich will –!« Er sah sich bestürzt um. Der Kommissar Morton war nicht mehr zu sehen.

Morton stand unten zwischen mehreren Beamten im Hof. Gerade als er hinunter kam, war Ellermanns Flucht bemerkt worden.

Morton gab den Beamten verschiedene Befehle, und wenig später verließen drei Autos mit Zivilbeamten in rasender Fahrt den Hof. Er selbst – Morton – blieb zurück. Auch an Edith Golm hatte er gedacht und dort einige Beamte hingeschickt, aber mit wenig Hoffnung auf Erfolg.

Und weder bei Harms, noch bei Credon, noch in der Wohnung Edith Golms wurde der Gesuchte gefunden. Harms wußte von nichts und Credons Frau, die Wirtin, schien empört über die deutlich geäußerten Verdächtigungen.

Nur in der Wohnung Edith Golms erlebten die Beamten eine kleine Ueberraschung. Auf dem Arbeitstisch des Laboratoriums lag ein umfangreiches Kuvert, das Namen und Anschrift des Kommissars Morton trug. Durch den Portier ließ sich feststellen, daß Edith Golm in den frühen Morgenstunden mit einem Herrn das Haus verlassen hatte.

Der Kriminalkommissar Morton öffnete dieses Kuvert mit fiebernder Hast und fand ein engbeschriebenes Heft. Die erste Seite trug das Wort »Geständnis« und die letzte die Unterschrift »Edith Golm«. In einem beigelegten Briefe aber befand sich eine nähere Erklärung:

 

Kommissar Morton!

Nach langen Gewissensqualen habe ich mich entschlossen, doch dem Rat meines Verlobten, Fred Ellermann, zu folgen und mich mit ihm gemeinsam Ihrem Machtbereich zu entziehen. Ich faßte diesen Entschluß in der Erkenntnis, daß Hendersons Ermordung einer unumgänglichen Notwehr entsprach, und daß an ihm nichts als ein skrupelloser Erpresser verloren ging, während mir durch meine Freiheit die Vollendung eines Werkes von großer Allgemeinbedeutung ermöglicht wird. Die Abwägung der Sühne meiner Schuld auf der einen und des Wertes meiner Arbeit auf der anderen Seite nahmen mir alle Bedenken, die meiner Flucht im Wege standen, und ließen eine andere Entscheidung nicht zu. In der Einsamkeit, losgelöst von allen Hemmungen der Vergangenheit, werde ich das Lebenswerk meines Vaters vollenden.

Fred Ellermann läßt wegen der widerrechtlichen Oeffnung Ihres Schrankes um Entschuldigung bitten. Diese Anmaßung gehörte zu einer der zwingenden Notwendigkeiten seines ganzen Handelns, denn ohne sein von Ihnen verwahrtes Geld wäre unsere Flucht nicht möglich gewesen.

Wir hoffen beide, Ihnen nie zu begegnen. Das beiliegende ausführliche Geständnis wollen Sie den Akten beifügen, um erneuten Verdächtigungen Unschuldiger begegnen zu können. Wir bitten Sie, sich über alle Enttäuschungen mit den Gedanken an unser Glück hinwegzutrösten und grüßen Sie herzlich

Edith Golm
Fred Ellermann

Verlobte.

 

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Ende.

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