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Durch die nächtliche Stille des Hauses klangen gedämpfte Schritte. Eine Hand tastete im Dunkeln an die Klinke unter dem kleinen, weißen Schild. Die Hand schien zu zögern, als sie die Tür unverschlossen fand. Bald aber bewegten sich die Schritte unsäglich müde und trostlos durch das Laboratorium jener Tür zu.

Eine matte Bewegung an den Schalter, Das Licht übergoß alles mit gedämpftem Schein.

Fred Ellermann zuckte zusammen. Er hob langsam den Kopf und richtete sich auf, blickte müde zur Tür, in deren Rahmen Edith Golm sich krampfhaft aufrecht hielt.

»Pary!« sagte sie leise, trostlos und ohne Hoffnung.

»Edith!« Er fühlte die Schwere des Brownings in seiner Hand und hob ihn langsam. Ellermann schien innerlich erstorben. Nicht das geringste Anzeichen einer Regung in seinem Gesicht, trostlose Leere in seinen Augen.

Und Edith Golm sah entsetzt, widerstandslos gebannt auf den Browning in Ellermanns Hand.

»Pary!« Sie quälte den Namen mühsam hervor und kam einige Schritte ins Zimmer.

Er schüttelte den Kopf, starrte auf den Browning. Seine Lippen bewegten sich, als wollten sie sprechen. Aber kein Laut kam hervor. Nur ein leises, schweres Stöhnen. Und doch verstand sie die Frage der Verzweiflung, die Frage, die sie sich selbst gestellt hatte:

»Was nun?«

Es war, als hätten beide zu gleicher Zeit diese Frage laut ausgesprochen. Beide schraken zusammen und sahen sich an. Und in ihre Augen legte sich der Ausdruck einer noch nicht erstorbenen Wärme, als ihre Blicke sich ineinander versenken wollten. Edith tastete mit bebender Hand über die Platte des Tisches zu seinen Fingern, die den Browning hielten. Mit mechanischen Bewegungen löste sie seine Finger vom kalten Metall der Waffe, leise und zart, ohne Widerstand zu finden.

Dann schraken sie beide auf, als der Browning polternd zu Boden fiel.

»Du hast den Brief –!« Ellermanns Blick irrte durch die offene Tür ins Laboratorium. Er erinnerte sich jetzt, vorhin den Brief dort nicht mehr gesehen zu haben. – Sie nickte hastig.

»Ich fand den Brief – ich eilte zu Harms, ihn um Rat zu bitten – irgendwie mußte ich doch eine Lösung finden. Aber Harms weiß nicht – es gibt keinen Ausweg, Pary!«

Er sah die Tränen in ihren Augen. Er wußte nicht, was ihn trieb. Plötzlich stand er eng neben ihr und hatte sie umschlungen. Ihre Lippen fanden sich in gemeinsamer Qual.

»Fred!« Unwillkürlich nannte sie seinen richtigen Namen. »Als ich den Browning sah – da wußte ich – und ich fand keinen Ausweg –!«

»Und damals?« Er sah in Gedanken wieder die nächtliche Straße vor sich. Die Ecke. Das unter dem rieselnden Regen glänzende Pflaster. Die dunkle Gestalt. Die Stimme. Dann der Schuß und die ächzende Klage des Ermordeten. »Damals, Edith?«

Sie zog ihn schweigend neben sich auf den Diwan.

»Ich erzählte dir schon einmal von meinem Vater, der fast ein ganzes Leben auf eine große Arbeit verwendete. An dieser Arbeit half ich viele Jahre. Wir experimentierten zusammen und ich verwuchs mit dieser Arbeit und ging in ihr auf. Aber mein Vater betrieb nebenbei noch andere Experimente, die zu kleinen Erfolgen führten. Zeitweilig konnte er der Öffentlichkeit zweckmäßige Neuerungen übergeben, die auch ganz gut bezahlt wurden.

Seine große Arbeit aber verzehrte alle Einkünfte. Er mußte Gelder aufnehmen, um sein Werk fortsetzen zu können. Zu niemandem sprachen wir von dieser Arbeit, hielten sie vor allen geheim, in der steten Sorge, ein unbedachtes Wort könne ihn um den Lohn seiner Mühe bringen.«

»Und Charter finanzierte die Arbeiten?« fiel Ellermann leise ein, als sie schwieg.

»James Charter gab vor, ein Freund meines Vaters zu sein. In Wirklichkeit war er ein hinterhältiger Berater, der auf einen großen Erfolg meines Vaters spekulierte, um daraus auch für sich Nutzen ziehen zu können. Von der großen Lebensarbeit aber wußte er nichts. Unter dem Vorwand eines Freundschaftsdienstes beschaffte er meinem Vater Gelder für unsere Experimente. Sobald aus kleineren Arbeiten nennenswerte Beträge einkamen, zahlten wir unsere Schulden zurück.

Dann eines Tages wurde mein Vater jäh aus dem Leben gerissen, ohne sein großes Werk vollenden zu können. Wir beide experimentierten zusammen und kamen zu günstigen Ergebnissen. In der Erregung jedoch hantierte ich unvorsichtig, ich stellte eine falsche Mischung her – und – –« Sie schwieg einen Augenblick unter dem Eindruck der Erinnerung und fuhr erst nach einer Weile beherrscht fort. »Ein großer Glasballon explodierte. Die giftige Säure ergoß sich über meinen unglücklichen Vater, ich selbst blieb unverletzt. Mehrere Tage lag er noch auf dem Krankenlager – und ich – ich trug in mir die große, schwere Schuld an seinem Tode!«

Wieder schwieg Edith Golm einen Augenblick, während Ellermann mit zarter Geste beruhigend über ihr Haar strich. Dann sprach sie weiter:

»Eine Stunde vor seinem Tode verzieh mir mein Vater diese verhängnisvolle Unvorsichtigkeit. Ich mußte ihm versprechen, dieses Schuldbewußtsein in mir zu tilgen – und ich mußte weiter versprechen, das Werk seines Lebens in rastloser Arbeit zu vollenden. Ich schwor es ihm. Er gab mir sterbend noch Ratschläge, wie ich das vollendete Werk am besten der Oeffentlichkeit übergeben könnte. Dann erlag er den schweren Verbrennungen des Unfalls.

Für mich aber begann eine Zeit schwerer, fast unerträglicher Qualen. Erst nach dem Tode erfuhr ich, daß Charter die Testamentsvollstreckung in Händen hatte, und später noch bemerkte ich erst zu meinem Entsetzen, daß er nicht nur von dem aussichtsreichen Lebenswerk meines Vaters wußte, sondern auch von den Ursachen des Unfalles Kenntnis erhalten hatte und also wußte, daß der Vater den Tod durch meine Schuld erlitt.

Charter regelte anfangs alles gewissenhaft. Nicht die geringste Unregelmäßigkeit kam vor. Im Gegenteil half er mir liebenswürdig, mich so über seine wahren Pläne täuschend. Um aus jener Umgebung, die stets traurige Erinnerungen in mir wecken mußte, fortzukommen, mietete ich dieses Laboratorium und suchte Trost und Vergessen in rastloser Arbeit.

James Charter hatte mir erklärt, daß mein Vater noch eine bestimmte Summe an Schulden hatte. Und ich versprach, diese zu zahlen. Aber ich ließ mich gleichzeitig durch ihn verleiten, die zu meinem Umzug und zu den weiteren Arbeiten notwendigen Geldmittel von ihm anzunehmen. Immer noch glaubte ich ja an seine aufrichtige Freundschaft, bis ich dann eines Tages stutzig wurde.

Hier in meiner Wohnung erschien Henderson, den ich vordem schon einmal bei meinem Vater gesehen hatte. Er war sehr freundlich und liebenswürdig, erkundigte sich, wie es mir ging und erwähnte beiläufig, Laß die durch Charter übermittelten Gelder von ihm stammten. Er hätte mir sehr gerne geholfen, würde mich auch weiterhin unterstützen und wäre jetzt nur einmal gekommen, sich nach meinen Erfolgen zu erkundigen.

Von nun ab kam Henderson öfter. Er traf mit mir Vereinbarungen wegen des geliehenen Geldes, verlangte nur einen bescheidenen Zinssatz und äußerte gelegentlich, um sein Geld wäre ihm nicht bange, denn ich würde schon eines Tages große Erfolge haben und ihm alles zurückzahlen können.

Das ging eine ganze Weile. Bis Henderson dreister und aufdringlicher wurde. Er umwarb mich mit Schmeicheleien und erlaubte sich Dreistigkeiten, die ich nicht dulden konnte. Außerdem sah er sich in meinem Laboratorium recht eingehend um.

Als ich mir dieses Benehmen verbat, wurde er frech und ließ jetzt offen seine wahren Beweggründe erkennen. In seiner zynischen Art erklärte er mir, daß er von der Lebensarbeit meines Vaters wisse und auch von meinem Bestreben, diese zu vollenden. Er schätze mein Vorhaben zwar sehr hoch ein, sähe sich aber gezwungen, dreiviertel aller später einkommenden Gewinne für sich zu beanspruchen, da der Erfolg der Arbeit ja nur seiner materiellen Hilfe zu verdanken wäre. Ueber diese Forderung wollte er mit mir einen Vertrag abschließen, den ich natürlich energisch zurückwies.

Aber ich sollte Henderson einige Tage später schon in seiner ganzen Scheußlichkeit kennen lernen. An jenem Tage ging er, ohne sich zu äußern. Dann kam er wieder und legte mir nochmals seine Forderungen vor. Ich lehnte ab. Er aber erklärte, mir eine Frist bis zum anderen Tag geben zu wollen. Wenn ich bis dahin mich nicht entschlossen hätte, würde er neue Forderungen stellen, die mir sicherlich viel unangenehmer wären. Und an seinen Blicken, mit denen er mich betrachtete, erriet ich, welcher Art diese Forderungen sein würden.

Ich blieb ablehnend, hörte drei Tage nichts von ihm, bis er dann wieder erschien und jetzt an Frechheit alles andere überbot. Er verlangte wie vordem dreiviertel aller Gewinne nach Abschluß der Arbeit. Gleichzeitig aber –« Edith Golm stockte und sah mit scheuem Blick zu Ellermann auf, als fürchtete sie sich, das weitere auszusprechen.

Er nickte ihr ermunternd zu. Erst dann fuhr sie fort: »Ich sollte außerdem seine Geliebte werden!« Sie schwieg wieder, anscheinend eine Aeußerung Ellermanns erwartend. Aber Ellermann war regungslos starr. »Ich war entsetzt, lachte ihn dann schließlich aus. Bis er mir ruhig erklärte, er würde bei der Polizei Strafanzeige gegen mich erstatten, da mein Vater durch meine Fahrlässigkeit ums Leben gekommen wäre. Das war ein Druck, dem ich nichts entgegensetzen konnte. Charter hatte etwas erfahren und es Henderson mitgeteilt. Und Henderson vergrößerte meine Angst noch dadurch, daß er behauptete, man würde mich wegen Vatermordes verurteilen. Denn durch die Aussicht, mich allein in den Besitz aller Erfolge des Lebenswerkes setzen zu können, läge dieses Tatmotiv sehr nahe.

Ich hing am Lebenswerk meines Vaters und lehnte trotz dieser Drohungen noch seine Forderung ab. Aber er ließ nicht locker. Er wiederholte seine Forderungen immer drohender. Und ich sah mit Schrecken die Aussicht, jahrelang im Zuchthaus verbringen zu müssen und von aller Welt verstoßen zu werden. Das Schlimmste aber war für mich, daß im Falle meiner Verhaftung und Verurteilung das Werk meines Vaters in fremde, unberufene Hände geriete.

Und nun griffen die Ereignisse eins ins andere, wie die Räderchen eines genau arbeitenden Uhrwerkes. Ich sah ein, daß ich mich seiner Forderungen nicht erwehren konnte. Ebenso aber war es mir unmöglich, sie zu erfüllen. So bediente ich mich der einzigen Waffe, die mir blieb, der List.

Ich versuchte, ihn hinzuhalten. Und das gelang mir, da ich seine kleinen Schwächen und Eitelkeiten bald erkannte und ausnutzen lernte. Henderson war wohl ein skrupelloser Erpresser, im übrigen aber ein primitiver Mensch.

Ich überwand mich und schmeichelte ihm. Es gelang mir, ihn zu vertrösten. Ich sprach von den Arbeiten, die ich erst zu Ende führen müßte und die mir keine Ruhe ließen. Erst nach Vollendung des Werkes wollte ich alle seine Forderungen erfüllen. Und ich rang ihm immer wieder neue Fristen ab, durch kleine Verlockungen und verheißungsvolle Versprechungen, denen er als primitiver Mensch nicht widerstand.

So vergingen Wochen und Monate, während deren er mich sehr oft besuchte, meine Arbeiten zu kontrollieren. Stets wieder deutete er seine Drohungen an. Ich aber täuschte und belog ihn.

Langsam jedoch wurde sein Mißtrauen wach. Ich sah mich nach neuen Möglichkeiten um und suchte mir einen Helfer. Dieser sollte heimlich alle zu meinen Arbeiten notwendigen wichtigen Chemikalien besorgen, damit Henderson und Charter nicht aus der Art der von mir beschafften Chemikalien Schlüsse auf meine Arbeiten ziehen konnten. Dieser Helfer wurde mir Harms, der vor vielen Jahren einmal bei meinem Vater beschäftigt war. Und zu Harms brachte ich auch die wichtigsten Resultate meiner Arbeiten.

Mit dem erwachenden Mißtrauen wurde Henderson in seinen Forderungen dringender. Ich begann nun, ihn dadurch weiter hinzuhalten, daß ich ihm Teile meiner Arbeit auslieferte. Kleine Aufzeichnungen und Hefte, mit denen er nichts beginnen konnte, da sie lückenhaft und unvollständig waren. Ich behielt natürlich Abschriften und war innerlich froh, daß es wieder einige Wochen reichte, ihn zu beruhigen und das Mißtrauen zu schwächen.

Dann entdeckte Henderson wahrscheinlich mit Charters Hilfe meinen heimlichen Helfer Harms, trotzdem ich nur unter denkbar größten Vorsichtsmaßregeln mit ihm zusammentraf. Ich erfuhr erst nach Wochen, daß Harms mit List und Gewalt bedrängt wurde. Anfangs hatte er aus Rücksicht auf mich geschwiegen. Henderson näherte sich ihm erst unter dem Vorwand, wichtige Chemikalien besonders preiswert beschaffen zu können. Da Henderson jedoch nicht mit ihm zum Ziel kam, beteiligte auch Charter sich an allen Intrigen gegen Harms. Dann sprach er mir eines Tages davon, und nun erzählte auch ich ihm alles. Aber beide waren wir ratlos.

Henderson machte mir große Szenen, da Harms ihm gedroht hatte. Dieser Widerstand brachte Henderson in eine rasende Wut. Er forderte mich nun endgültig als seine Geliebte und die Fortsetzung der Arbeiten unter seiner unmittelbaren Aufsicht. Als ich mich weigerte, fiel er wie ein Tier über mich her, riß mir die Kleidung vom Körper und bedrängte mich, bis ich am Ende meiner Kraft in letzter Verzweiflung zu einer Säureflasche greifen konnte.

Das ernüchterte ihn. Er beruhigte sich und erklärte mir nun spöttisch, eine letzte Frist von drei Tagen zu gewähren. Hätte ich bis zu diesem Zeitpunkte meinen Widerstand nicht aufgegeben und mich nicht von Harms getrennt, dann würde er ohne Zögern die Anzeige erstatten und sich auf keine weiteren Erörterungen mehr einlassen.

Ich sah seinem Gesicht und seinen Augen an, wie ernst es ihm war. Ihn trieb nicht nur die Gewinnsucht, auch die Gier, mich zu besitzen. Und diese machte ihn zu allem entschlossen.

Lange war ich ratlos. Doch noch am selben Tage faßte ich einen Entschluß. Ich wollte mit Harms fliehen und irgendwo einsam und verborgen meine Arbeiten beenden. Während ich alles Notwendige einpackte, beschaffte Harms uns eine Wohnung in einer kleineren Stadt. Einen Tag vor Ablauf der mir von Henderson gegebenen Frist schafften wir alles Gepäck zum Bahnhof. Dort trennten wir uns wieder und erst gegen Abend kurz vor Abfahrt des Zuges wollte ich Harms in seiner Wohnung abholen. Ich hatte die Absicht, inzwischen noch die letzten Angelegenheiten mit dem Verwalter dieses Hauses zu regeln.

Aber ich schritt unschlüssig durch die Straßen und wagte mich nicht hierher. Ich hatte Angst, noch im letzten Augenblick Henderson zu treffen und ging zu Harms.

Inzwischen aber mußte Henderson Verdacht geschöpft haben. Er war hier gewesen und hatte durch den Portier erfahren, daß ich Gepäck fortbringen ließ. Er erriet mein Vorhaben und eilte zu Harms, in der richtigen Vermutung, mich dort zu treffen.

Da die Haustür schon geschlossen war, klopfte er an das Fenster. Ich öffnete und war entsetzt, als ich ihn in sinnloser Wut draußen stehen sah. Alles sah ich nun verloren. Er wußte von meiner Fluchtabsicht. Er war im letzten Augenblick erschienen und hinderte mich. Und als er jetzt am Fenster drohte, sofort die Polizei zu holen, ergriff mich eine wilde, jäh aufbäumende Verzweiflung. Und ich wußte nicht mehr, was ich tat.

Vordem hatte ich den Browning auf dem Waschtisch des Zimmers bemerkt. Harms wollte ihn mitnehmen. Diesen ergriff ich, ehe Harms mich hindern konnte. Ich weiß nicht, wie ich dazu kam. Plötzlich fiel der Schuß. Dann brach ich ohnmächtig zusammen, während mir der Browning entfiel. Und Harms schloß hastig das Fenster.«

Edith schwieg. Weinend sank sie vornüber und barg ihr Gesicht in seinem Schoß. Ellermann blickte nieder auf ihren vom Schluchzen erschütterten Körper. Er dachte daran, welche Qualen sie durchlitten haben mußte. Nicht nur damals, vor jener Tat, auch nachdem, da sie ihn am Browning als Ellermann erkannte.

»Ruhig, Edith!« bat er leise mit zärtlicher Stimme.

»Dann ging ich damals, mir die Gewißheit zu holen, daß Charter schweigen würde. Dabei lernte ich dich im Wartezimmer kennen. Später trennte ich mich so hastig, weil Harms mich im Auto erwartete, um zu erfahren, wie Charter sich zu allen Sachen stellte. Und ich –« fuhr sie mit tränenerstickter Stimme fort, »ich klammerte mich an die Hoffnung, in dir einen Menschen zu finden, dem ich einst alles anvertrauen konnte und der mich dann aufrichten würde. Ich gewann dich lieb – bis ich – an jenem Tag, der Browning in deiner Hand – das warf mich in meine Verzweiflung zurück!« Sie sah trostlos zu ihm auf. »Ich zermarterte mir den Kopf, wie sich vielleicht alles zum Guten wenden ließe bis ich mich heute mit Harms traf – aber auch er wußte keinen Rat. So entschloß ich mich, nach Scotland-Yard zu gehen, um dich von diesem Verdacht zu befreien!«

Trübe und bedrückt sah er auf sie nieder. Als sie den Kopf hob, küßte er sie leise und innig.

»Ich werde gehen, Fred.« Ihre Stimme klang plötzlich fest. »Du kannst nicht unter diesem Verdacht bleiben – Fred –!« Ihre Stimme schlug um in hilflose Klage. »Ich hätte es ja damals schon wissen müssen, welches Ende alles nimmt. Ich hätte gleich ehrlich sein und mich den Behörden stellen sollen – aber, die Arbeit, an der ich hänge – und diese Schande – ich glaubte, es nicht ertragen zu können!«

Fred Ellermann sah auf den Browning, der zu ihren Füßen lag. Er dachte daran, daß dieser der letzte Ausweg sein könnte, wie er der Anfang seines Erlebens war. Aber irgend etwas in ihm lehnte sich dagegen auf.

Er dachte über die Ursachen seines Konfliktes mit der Welt nach. Und irgendwie fühlte er, daß es doch mehr war als das Bestreben, sich von einem unrechten Verdacht zu befreien. Irgend eine Kraft, irgend ein Wollen war gegen seinen Willen in ihm aufgewachsen, hatte ihn hochgerissen und in jäher Wallung gegen allen Zwang durch die Tat protestieren lassen. Und dieses Bewußtsein stärkte ihn. Er sah ein, daß er nicht nachgeben und versagen durfte, daß er weiterkämpfen mußte, schon um Ediths willen. Nicht das Leben sollte ihn, sondern er wollte das Leben bezwingen.

Plötzlich richtete er sich straffer auf. Er erhob sich und schritt mehrmals grübelnd durch das Zimmer. Dann blieb er vor Edith stehen, deren Tränen langsam versiegten.

»Edith!« Das klang unendlich weich und zärtlich.

»Fred?« Sie sah fragend zu ihm auf, leise in ihren Augen die Hoffnung.

»Du glaubst an mich, Edith – und du hast Vertrauen zu mir?«

Sie erhob sich anlehnend vertraulich zu ihm und legte ihren Arm um seine Schulter.

»Ja, Fred – und immer – gleich, was kommt oder geschieht.«

»Und du versprichst mir, dich nicht der Polizei zu stellen?« Er bemerkte ihr Zögern in der Ungewißheit seiner Absichten und fuhr eindringlicher fort. »Ich weiß noch nicht, was geschehen soll, Edith – auch nicht, wie wir alles zum guten Ende bringen. Aber bis jetzt ahnt niemand, wer der wirkliche Täter ist, du bist also sicher – und ich kann mich wie bisher verbergen. Ich möchte nur die Gewißheit haben, daß du dich nicht von Zweifeln quälen und dann doch verleiten läßt, nach Scotland-Yard zu gehen – erst wenn ich dein festes Versprechen habe, Edith, dann kann ich mit der notwendigen Ruhe daran gehen, einen Ausweg zu suchen!«

»Ich verspreche es dir, Fred!« Sie klammerte sich in überströmender Zärtlichkeit an ihn, als er unbewußt eine Wendung zur Tür machte. »Du willst sofort gehen, Fred?«

»Ich möchte bleiben, Edith – Lieb –!« Er versuchte, fest und entschlossen zu sein. »Ich möchte immer bleiben, nie von hier aus diesem kleinen Raum fortgehen – aber ich muß jetzt fort – erst muß das Vergangene abgeschlossen sein!«

Sie nickte. In ihrem Gesicht und in den Augen stand die Hoffnung. Was konnte auch geschehen, wenn er alle Kraft daran setzte, die Vergangenheit zu bannen.

»Ich warte auf dich, Fred – und ich weiß, du findest den Weg!«

»Dank, Edith. Und du unternimmst nichts?«

»Nein, nichts!« versprach sie fest.

Er löste sich mit sanfter Gewalt aus ihren Armen und ging rasch hinaus. Hastig eilte er die Treppe hinunter und betrat die Straße.

Es war spät in der Nacht. Die Straße schien menschenleer, wie ausgestorben. Ohne Zögern, ohne sich einmal umzusehen, wendete Fred Ellermann sich nach rechts, um Mister Flapp aufzusuchen. Sicherlich würde dieser ihn ungeduldig und besorgt erwarten.

Plötzlich – einige Häuser weiter – schreckte Ellermann zurück. Mehrere Gestalten sprangen vor ihm auf aus einem Hausflur. Stimmen, die mit ihrer schneidenden Schärfe ihm allzu bekannt waren.

»Hände hoch – Kriminalpolizei!« Ehe er sich wenden konnte, schnappten die Stahlfesseln um seine Handgelenke zusammen. Morton begrüßte ihn mit einem etwas verächtlichen Lächeln. »Sehen Sie, Ellermann, eine Weile geht es gut – dann haben wir Sie doch!«

Fred Ellermann erwiderte nichts. Das kam zu überraschend, zu niederdrückend. In sich zusammengesunken hockte er neben dem Kommissar Morton in der Taxe. Die Angst um Edith stieg in ihm auf. Sie durfte nicht gefährdet, nicht mit hineingezogen werden.

»Das gibt eine nette Anklage, Ellermann!« äußerte Morton neben ihm. »Einbruchsdiebstahl und Juwelenraub – alle Achtung, Sie haben sich entschieden entwickelt.«

»Und die Mordanklage?« lauerte Ellermann jetzt.

Kommissar Morton wehrte etwas mißmutig ab.

»Müssen wir noch sehen!« Er sah Ellermann aufmerksam von der Seite an. »Bei wem sind Sie übrigens eben gewesen?«

Im Nu hatte Ellermann die Schwäche des Gegners erkannt. Man mußte ihm vom Tanzsaal aus gefolgt sein. Aber man wußte nicht, bei wem er weilte. Man hatte anscheinend keine Ahnung, daß Edith mit in diesen Kreis gehört, der sich um Henderson zog. Vielleicht dachte man im Augenblick nicht einmal daran, daß die Tochter des Professors Golm in derselben Straße wohnte, in der man ihn festnehmen konnte.

Rasch hatte Ellermann sich gefaßt. Er bemerkte mit einer gewissen Genugtuung, wie sorgfältig man ihn diesmal bewachte. Und mit einem stillen Lächeln dachte er an alle guten Ratschläge, die Credon und Mister Flapp ihm gegeben hatten. Er hatte sich wirklich entwickelt, wie Morton sagte. Und der Kommissar Morton sollte ihn noch kennen lernen.

Ruhig ließ Ellermann sich in Mortons Zimmer zum Verhör führen. Schweigend saß er dem Kommissar gegenüber. Morton stellte Fragen und Ellermann antwortete. Ausweichend jedoch und mit genauer Berechnung.

»Juwelenraub?« äußerte er endlich lächelnd. »Das ist Ihre Schuld, Morton – nur dieser unselige Mordverdacht –!«

Morton mußte aber doch bereits mehr wissen, als Ellermann vermutete. Jedenfalls ahnte er etwas. Er nickte still vor sich hin und lauerte dann unter halbgeschlossenen Augenlidern wieder zu Ellermann auf.

»Und wo waren Sie während der letzten Stunden?«

»Meine Sache!« Ellermann wehrte lächelnd ab. »Geben Sie sich keine Mühe, Morton, Sie erfahren es doch nicht!«

»Und wenn ich es schon wüßte?« Kommissar Morton hob sich halb aus seinem Sessel, beugte sich über den Tisch, auf den er beide Hände stützte und sah aus, wie ein Raubtier, das sich jeden Augenblick auf Ellermann stürzen wollte.

Aber für Ellermann hatte das alles seine Schrecken verloren.

»Ja, wenn –!« Er zwang sich zu einem Lächeln. »Sie wissen es eben doch nicht, Morton, sonst würden Sie nicht fragen!«

»Aber ich ahne es, Ellermann – warten Sie, das dauert keinen Tag, dann liegt alles klar auf der Hand!«

»Gut, wir warten also einen Tag!« fiel Ellermann spöttisch lachend ein.

Der Kommissar Morton wurde wütend. Er gab zwei Beamten einen Wink und ließ Ellermanns Taschen leeren. Sorgfältig sah er alles durch, fand auch die Briefe des Kaufmanns Harms und lächelte zufrieden.

»Gut so, Ellermann – wir sind schon auf dem Wege!«

Fred Ellermann schwieg. Er zog sich starr und verschlossen in sich zurück. Mit kaum merklichem Interesse folgten seine Blicke den Bewegungen des Kommissars. Er sah, wie dieser den Inhalt seiner Taschen nahm und in einen einfachen Schrank an der Wand barg.

Fred Ellermann lächelte mit starrem, unbeweglichem Gesicht. Er krampfte die Hände ineinander. Als Morton wieder vor ihm stand und neue Fragen stellen wollte, schüttelte Ellermann heftig den Kopf.

»Nichts, Morton – von mir nicht ein Wort mehr!«

»Wie Sie wollen – morgen Gegenüberstellung mit Credon – Sie werden schon sprechen, Ellermann!« Dann gab er seinen Beamten einen Wink und diese führten Ellermann hinaus, hinunter in die Zelle.

Fred Ellermann setzte sich gelassen auf den kleinen Schemel in der Zelle. Er dachte einen Augenblick an den ersten Tag seines damaligen Aufenthaltes in diesem Gebäude. Aber nur, bis draußen die Schritte der Beamten verhallten.

Dann beugte er sich ruhig nieder und löste die Schnürbänder seiner Schuhe. Er lächelte, als er dabei an Mister Flapp und seine guten Ratschläge dachte. Ruhig zog er erst den einen, dann den anderen Schuh aus, betrachtete beide aufmerksam von allen Seiten, griff dann in den einen hinein und zog eine feste Sohle daraus hervor. Die Schuhe waren von Credon. In ihnen klirrte leise hartes Metall. Fred Ellermann lachte.

* * *

 


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