Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

London. Vor dem Obdachlosenasyl. Zehn Uhr abends.

Ein feiner Regen rieselte in dünnen Strähnen auf das Pflaster, ließ es naß erglänzen und spiegelte den trüben Schein der Straßenlaternen. Irgendwo verhallte der klappende Schritt eines Polizisten. Vom Turm einer Kirche schlug es zehn.

Der Portier des Obdachlosenasyles lauschte den verklingenden Schlägen. Dann erhob er sich langsam mürrisch, streckte den Kopf durch das kleine Fenster hinaus, sah sich prüfend um und verließ nun sein Häuschen, begleitet vom Klirren eines Schlüsselbundes. An der Straße schlug er mißmutig das eiserne Tor mit einem metallischen Ruck zu. Die Schlüssel klirrten lauter in seiner Hand, lässig gewohnt, alltäglich. Der schwere Riegel schob sich ächzend in den Verschluß. Dann ging der Portier zurück, schaltete in seinem Häuschen das Licht aus und ließ das Tor des Obdachlosenasyles in trostlos finsterer Ruhe.

Kaum fünf Minuten später kam ein Mann die Straße hinunter und näherte sich dem Asyl mit hastig eilenden Schritten. Sein Anzug war durchnäßt, hing fadenscheinig schlotternd um seine hagere Gestalt. Er hatte den Rockkragen hochgeschlagen und den Hut tief ins Gesicht gezogen. Schon von weitem blickte er auf das Tor und schien beim Anblick des undurchdringlichen Dunkels dort zu erschrecken. Seine matten Schritte wurden rascher, der Atem kürzer. Bald erreichte er das Tor, stand sekundenlang zögernd und legte dann die Hand auf die schwere, eiserne Klinke.

Geschlossen!

»Heda, Portier!« Seine Stimme klang müde und entsagend. Der Blick ruhte ohne Hoffnung auf den dunklen Fenstern des Portierhäuschens. Einen Augenblick lauschte er atemlos auf einen Widerklang seines Rufes. Dann aber, als sich hinter den eisernen Gittern nichts hören ließ, drehte er sich langsam um, warf einen flüchtigen Blick die Straße hinunter durch den geräuschlos rieselnden Regen und ging mit langsamen Schritten davon.

Geschlossen!

Das erregte und berührte ihn kaum. Er fand sich mit der unabwendbaren Tatsache ab. Im ewigen Einerlei seines Daseins brachte dieses »Geschlossen« ihm eine schlaflose Nacht. Es bedeutete zehn Stunden, während der man mit müden, schleppenden Schritten durch die nächtlich leeren Straßen ging, den Körper ein wenig vorgebeugt, den Kopf schwer hängend, die Augen fast geschlossen. Und nur wenn irgendwo ein harter Schritt klappte, schreckte man für Sekunden auf, fröstelte plötzlich in märzlicher Kälte und bog rasch ein in eine dunklere Nebenstraße.

Er achtete nicht auf seinen Weg. Der Blick glitt vor ihm her über das blanke Pflaster. Er tauchte auf in den Lichtkreisen der Straßenlaternen und ging wieder unter im unberührten Dunkel.

Plötzlich stockte sein Schritt, instinktiv, im ständig wachen Mißtrauen des Ausgestoßenen. Er wollte um eine Ecke gehen, sah vor sich in schattenhaften Umrissen die Gestalt eines Mannes, hörte eine erregte männliche Stimme.

»Charter wird dich ...!«

Jäh wurde die Stimme von einem scharfen Knall durchrissen, brach um in einen Schrei. Rauh und rasch verklingend. Die Gestalt des Mannes taumelte, drehte sich einmal um sich selbst. Dann brach sie lautlos zu Boden.

Dem ersten Gedanken folgend, wollte er sich hastig umdrehen und davonhetzen. Aber ein klägliches Aechzen jener Gestalt bannte ihn. Er hörtes ein kurzes, metallisches Klirren, als fiele ein schwerer Gegenstand auf das Pflaster. Dann klappte irgendwo ein Fenster. Er aber achtete kaum darauf, fing es nur mechanisch im Gehör, während er schon mit raschen Schritten neben der am Boden liegenden Gestalt des Mannes stand und sich über sie beugte.

Das Gesicht des Fremden war von Schmerzen verzerrt, die Augen schon glasig starr. Er öffnete den Mund, stieß unzusammenhängend etwas hervor.

»… holen Sie ... betrogen ... sie wollte ... ach!« Er krümmte sich, zuckte wie unter einem Hieb zusammen. »Aber ... ich ... ich zwinge sie!« Ein kurzer Schlag schien durch den Körper des Fremden zu gehen. Er krampfte eine Hand auf, wie zu einer notwendigen Erklärung. Dann fiel er schwer zurück und blieb regungslos liegen.

Der hagere Mann mit dem fadenscheinigen, feuchten Anzug kniete neben ihm und stützte sich mit einer Hand auf das nasse Pflaster, während er mit der anderen den Fremden berührte.

»Sprechen Sie doch ...!« stieß er hervor. »Wer gab den Schuß ab?«

Er wartete bang auf eine Antwort, aber der Fremde bewegte sich nicht. Alles Leben in ihm schien erstorben. Also mußte Hilfe herbeigeholt werden. Ein Arzt! Polizei! Er wollte sich erheben, und dabei berührte seine Hand auf dem Pflaster etwas metallisch Hartes und Kaltes. Tastend spürte er den glatten, kantigen Griff eines Brownings unter seinen Fingern und faßte mechanisch zu.

Und sich nun aufrichtend, hielt er den Browning gedankenlos in der Hand. Sein Blick ruhte sekundenlang fragend auf dem Toten. Ehe er aber noch einen klaren Gedanken fassen und sich auf die Notwendigkeiten dieser Situation besinnen konnte, hörte er schon den harten klappenden Schritt, der ihn auch sonst aufschrecken ließ, wenn er obdachlos durch die Straßen schlenderte.

Jetzt wurde ihm die Gefahr seiner eigenen Lage bewußt. Ein Schuß! Mord! Er stand mit dem Browning neben dem Erschossenen! Und die Schritte kamen näher.

Ratlos verwirrt wollte er sich umdrehen, sich in Bewegung setzen. Mechanisch umklammerten seine Finger noch den Browning. Dann tauchten Uniformen auf. Harte Stimmen. Griffgewohnte Hände. Lichtkegel bestrichen grell enthüllend das Pflaster und ruhten auf dem regungslosen Fremden. Mehrere Beamte umringten den Mann mit dem Browning, leuchteten in sein Gesicht und ließen ihn zusammensinken unter ihren festen Griffen.

»Hier ... er hat den Browning noch in der Hand!« Der eine Beamte entriß ihm die Waffe, schob die Sicherung ein und steckte den Browning in die Tasche.

»Sofort anrufen ... Mordkommission ... wir bringen ihn gleich nach Scotland-Yard!«

Zwei Beamte standen wachend neben dem Erschossenen. Nichts durfte berührt werden, bis die Mordkommission erschien und nach der Untersuchung den Tatort freigab. Die anderen Beamten hielten den mutmaßlichen Täter, sahen forschend in sein Gesicht und ließen die Blicke mißtrauisch prüfend über seinen fadenscheinigen Anzug gleiten.

»Raubmord ... sicherlich!« Ungeduldig wartend blickten die Beamten die Straße hinunter, bis die rasch herbeigerufene Taxe kam und von neugierig hinzukommenden Passanten umringt wurde. Man schob den Gefangenen hinein und zwängte ihn mit festen Griffen nieder in das Polster.

Einmal versuchte er, sich aufzulehnen, eine Erklärung zu geben. Aber die sachlichen Stimmen der Beamten schreckten ihn zurück in sein hilflos verwirrtes Schweigen.

»Ich habe nicht geschossen!«

»Ruhig jetzt – das ergibt sich schon im Verhör. Chauffeur, Scotland-Yard!«

Und während die Taxe nun mit ihm und den beiden Beamten durch die Straße glitt, starrte er regungslos vor sich nieder. Still und ergeben, wie vor dem Tor des Obdachlosenasyls, fünf Minuten nach zehn.

Alles um ihn versank vor der Gefahr dieses Augenblicks. Er fühlte sich aufgerüttelt aus seiner zweijährigen Trägheit eines freudlosen Lebens und zu entschiedener Abwehr gezwungen. Noch vermochte er es nicht, sich einzutasten in die Rätsel dieses Geschehens. Noch wußte er nicht, was werden sollte. Seine Gedanken irrten von einem Moment zum anderen, verweilten hier oder dort länger, blieben aber ohne Schärfe, ungeprägt, und verloren sich in der hilflosen Verwirrung dieses Augenblicks.

Er erinnerte sich des metallischen Klanges. Das mußte der Browning gewesen sein, der zu Boden fiel. Aber dann noch ... Jetzt wußte er es. Ein Fenster klappte zu. Erst fiel der Schuß, dann klappte der Browning auf das Pflaster und nun, zuletzt, schloß sich das Fenster.

Jetzt wurden ihm auch die Worte des Sterbenden wieder bewußt. Und während er sich in ziellosen Grübeleien verlor, bemerkte er nicht, daß die Taxe durch das große Tor auf den Hof Scotland-Yards einbog. Er sah nicht auf, als die Griffe der Beamten ihn jetzt hinausdrängten. Ueber den regenfeuchten Hof, über steinerne Treppen, einen Korridor entlang, in ein Zimmer.

Erst die scharfe Stimme des Kommissars Morton ließ ihn wieder erwachen. Er saß vor einem nüchternen Schreibtisch. Hinter demselben ragte die breite Gestalt des Beamten auf. Die Blicke lauerten unter halbgeschlossenen Lidern hervor in seinem Gesicht, und die Stimme klang einschmeichelnd leise, als wollte sie zur Nachgiebigkeit überreden.

»Wir haben eben kurz den Tatbestand aufgenommen!« erklärte der Kommissar Morton verhalten freundlich. »Wie heißen Sie?«

»Ich? ... Ellermann ... Fred Ellermann!«

Die Feder kratzte über das Papier. Geschäftig, nüchtern und fast erbarmungslos. Fred Ellermann horchte auf dieses Geräusch und erriet, wie wenig der Mensch hier galt und wieviel die Sache.

»Wann geboren?«

»Am 16. September 1895 in Hamburg!« Ellermann kannte alle Fragen, die noch kommen würden. Wie oft hatte er sie beantworten müssen, bei Unterstützungsstellen, im Asyl und auf dem Arbeitsamt. Er beantwortete sie, ohne die Fragen erst zu hören. »Beruf Schauspieler und Artist – seit zwei Jahren ohne Erwerb – der Krieg – ein inneres Leiden durch Gasvergiftung – ich konnte den Beruf nicht mehr ausüben, versuchte es als Kaufmann – zwei Jahre ohne Verdienst!«

»Hm – und wovon haben Sie gelebt?«

»Von Unterstützungen – auch betteln – Gelegenheitsarbeiten –!« Er blickte trübe an seinem Anzug hinunter, schlang die Hände krampfhaft ineinander. »Ich habe ja nicht gelebt – nur vegetiert – nur gesiecht.«

»Das ist Ihre Sache!« Der Blick des Kommissars glitt über den Aktenbogen. »Fred Ellermann, Artist und Schauspieler, geboren am 16. September 1895 in Hamburg. Infolge Gasvergiftung während des Krieges innerlich erkrankt, Umstellung auf kaufmännischen Beruf, seit zwei Jahren ohne Erwerb!«

Fred Ellermann nickte, ohne die Lippen zu bewegen.

»Und jetzt zu den heutigen Vorgängen. Erzählen Sie alles der Reihe nach. Ganz ruhig und sachlich, bitte!«

»Ich kam zu spät zum Asyl – fünf Minuten – es war schon geschlossen!« Er atmete tief auf und hob sekundenlang den Blick in das Gesicht des Beamten, als hoffte er, dort Verständnis zu finden.« So ging ich denn fort – um bis zum Morgen umherzulaufen – trotz des Regens.«

»Geld hatten Sie nicht?«

»Nein, nicht einen Cent. Ich schlenderte durch die Straßen, ganz gedankenlos. Ich weiß nicht einmal, in welcher Straße dieser –« Er stockte unwillkürlich, als zögere er, die Tat zu benennen, »– dieser Mord geschah. Ich bog um die Ecke, sah einen Mann, der mit jemandem sprach –«

»Halt!« Der Kommissar Morton richtete sich auf. Er sichtete die Momente des Vorganges. Scharf und ohne Rücksicht auf die Verwirrung des Verhörten. »Mit wem sprach der Mann?«

Fred Ellermann zuckte die Achseln.

»Ich sah niemanden – nur diesen Mann. Aber ich weiß jetzt alles ganz genau in der Reihenfolge. Plötzlich also fiel der Schuß, der Mann taumelte – dann klirrte ein Browning am Boden und irgendwo klappte ein Fenster zu. Ich eilte hin, um vielleicht noch helfen zu können. Aber der Fremde stieß nur einige Worte hervor, dann war er tot!« Ellermanns Blick hob sich wieder in das Gesicht des Kommissars. Und als er das ungläubige Lächeln sah, krampfte er die Hände fester ineinander.

»Was sagte der Sterbende?«

Ellermann besann sich einen Augenblick, rief den Klang der ersterbenden Stimme in sein Gedächtnis zurück.

»Er sagte zuerst: Charter wird dich – das war, ehe der Schuß fiel. Durch den Schuß wurde er ja erst unterbrochen!« Ellermann redete sich in Eifer. Er legte beide Hände auf den Tisch, blickte den Beamten jetzt eindringlich an und versuchte, seiner Stimme einen überzeugenden Klang zu geben. »Das hörte ich noch, als ich um die Ecke kam!« fuhr er hastig fort. »Dann fiel der Schuß – und als der Fremde am Boden lag, sagte er: Holen Sie – betrogen – sie wollte – Aber – ich – ich zwinge sie –. Dann legte er sich leblos zurück!«

»Und Sie hatten keinen Gedanken, auf wen oder was sich diese Worte beziehen konnten?« Der Kommissar Morton ließ sich deutlich anmerken, daß er Ellermanns Erklärungen keinen Glauben schenkte.

»Nein – ich war zu verwirrt – das alles kam so überraschend. Ich hatte mich über den Erschossenen gebeugt – und als ich mich erheben wollte, stieß ich gegen den Browning. Ganz gedankenlos habe ich ihn aufgenommen – noch gezögert – dann kam die Polizei und fand mich so, trotzdem ich doch nichts damit zu tun habe!« Ellermann atmete auf, während seine Blicke ängstlich im Gesicht des Kommissars forschten.

»Das ist alles?«

»Alles!« wiederholte Ellermann.

Der Kommissar Morton lächelte und schüttelte den Kopf. Fast mitleidig blickte er Ellermann an und beinahe vorwurfsvoll, wie er ihm zumuten könne, das zu glauben.

»Nein, nein – Fred Ellermann. Die Sache wäre denn doch ein bißchen zu einfach erklärt. Nun will ich Ihnen erzählen, zu welchen Schlüssen wir kommen mußten. Sie sind seit zwei Jahren arbeitslos. Sie haben kein Geld, auch keine Aussicht, etwas zu verdienen. Sie haben den Fremden gesehen, vielleicht auch gewußt, daß er eine größere Summe bei sich trug – und dann einfach niedergeschossen. Ehe Sie aber den geplanten Raub ausführen konnten, kamen die Polizisten!«

»Nein!« Ellermann schrie es fast heraus, während er sich erregt aufrichtete. Dann jedoch sank er plötzlich wieder hilflos in sich zusammen vor den kühlen Blicken des Gegenübers. Und im selben Augenblick dachte er ganz nüchtern, ganz sachlich. Alle Erregung fiel ab. Es schien, als wäre etwas von der Kälte des Beamten auf ihn übergegangen. »Und woher sollte ich den Browning haben – ohne Geld?«

Der Kommissar zuckte die Achseln.

»Das wird sich noch ausfindig machen lassen – vielleicht gestohlen. Jedenfalls haben wir die Parterrebewohner des betreffenden Hauses sofort verhört und nichts Verdächtiges gefunden. Alle sind nach dem Schuß ans Fenster geeilt und haben Sie an der Leiche gesehen, anscheinend erschrocken über Ihre eigene Tat. Fingerabdrücke sind bei dem Wetter wohl kaum hinterblieben, das wird noch untersucht. Aber niemand hat eine zweite Person bemerkt. Der Ermordete kann also mit niemandem gesprochen haben. Die Treppenflure der anliegenden Häuser waren bereits geschlossen.« Er richtete sich etwas auf, leicht triumphierend. »Und Sie selbst hätten doch diese zweite Person sehen müssen!«

»Die Person muß unmittelbar vor ihm gewesen sein!« fiel Ellermann heftig ein. »Und da gibt es nur eine Erklärung – das Fenster!« Ellermann gab seiner Stimme Nachdruck. »Ich hörte doch, wie der Browning zu Boden fiel und dann das Fenster rasch geschlossen wurde.«

»Kein anderer hat es gehört – trotzdem die übrigen Parterrebewohner es unbedingt hätten hören müssen!«

»Aber ich – ich habe es gehört!« beharrte Ellermann.

»Das ist nicht ganz maßgebend!« Der Kommissar wurde ungeduldig. Seine einschmeichelnd überzeugende Stimme war vergebens gewesen. An Ellermanns Schuld bestanden keine Zweifel, trotzdem er so hartnäckig leugnete. Alles lag klar auf der Hand. Jahrelange Arbeitslosigkeit, eine Nacht ohne Obdach, Hunger, dann die günstige Gelegenheit. Er erhob seine Stimme schneidend scharf. »Sie bleiben also bei dieser Darstellung?«

»Aber ich kann Ihnen doch nicht mehr als die Wahrheit sagen. Genau so hat es sich verhalten – nicht anders!« flehte Ellermann.

»Gut, bleiben Sie beim Leugnen – wir werden ja sehen!« Morton drückte auf einen Klingelknopf. Zwei Beamte erschienen und nahmen Ellermann in ihre Mitte. »Nach den Ergebnissen der weiteren Ermittelungen setzen wir das Verhör fort, Ellermann –!« Und plötzlich tauchte das leise, zur Nachgiebigkeit überredende Schmeicheln wieder in seiner Stimme auf. »Wenn Sie aber etwas erklären oder ein Geständnis ablegen wollen, Herr Ellermann – melden Sie es dem Wachbeamten!«

Fred Ellermann schüttelte heftig den Kopf und ließ sich hinausführen. Durch lange Korridore, über Treppen an die Zelle. Hinter ihm klappte die Tür zu, klirrten die Schlüssel. Das war alles ähnlich so wie im Obdachlosenasyl.

Ellermann ging mit kurzen, hastigen Schritten durch seine Zelle. Jetzt – da er allein war – wurde ihm die ganze Ohnmacht seiner Lage bewußt. Jetzt kam die Angst und das Entsetzen. Jetzt trieben Sorgen und Befürchtungen in ihm auf, rissen Vermutungen hoch und zwangen ihn zu nüchterner Ueberlegung.

Unbeirrbar deutlich stand vor ihm, was in den nächsten Tagen kommen mußte. Die Ermittlungen der Beamten verliefen ohne nennenswertes Ergebnis. Vielleicht fand man am Browning Fingerabdrücke. Und dann waren es die seinen, denn er hatte den Browning zuletzt in der Hand gehabt. Alles Leugnen würde nichts nützen. Die Mordanklage mußte erhoben werden. Und ebenso unfehlbar folgte auf die Anklageerhebung wegen Raubmordes auch ein dementsprechendes Urteil. Das Gericht konnte zu keinem anderen Ergebnis kommen und würde ihm ebensowenig Glauben schenken.

Und dabei dachte Ellermann ohne Groll an den Kommissar mit der schmeichelnden Stimme. Er sah ein, daß alles gegen ihn sprach, daß auf diesen Tatbestand unweigerlich die Anklage gegen ihn folgen mußte. Der Beamte hatte ja nichts gegen ihn persönlich, nichts gegen den arbeitslosen Fred Ellermann. Auch das Gericht nicht. Er war nur einer unter Hunderttausenden! Den Kommissaren mußte es gleichgültig sein, ob sie nun Ellermann faßten oder irgendeinen anderen, wenn sie sich nur von seiner Schuld überzeugen konnten.

Ellermann begann zu grübeln. Von den Ereignissen der Nacht aber wichen seine Gedanken ab. Er beschäftigte sich mit sich selbst und seinem Leben. Wer war er denn eigentlich, der Schauspieler und Artist Fred Ellermann? Einer unter Hunderttausenden! Das unscheinbare Bestandteil einer Masse, einer Herde, in die er untertauchend einst Schutz zu finden glaubte.

Das war damals, als er aus dem Krieg zurückkehrte und seinen Beruf nicht wieder aufnehmen konnte. Vor den Schreckenstagen des Krieges stand er auf der Bühne oder in der Arena. Hunderte sahen auf ihn. Nur auf ihn! Nach dem Kriege aber war er müde und gleichgültig. Wahllos wollte er sich irgend einem Beruf widmen, der ihn ernähren konnte. Und so tauchte er unter in der Herde der Arbeitslosen, wurde dieses unscheinbare, belanglose Bestandteil und lebte gleichgültig in den Tag. Bis jetzt – –

Vor Stunden hatte eine harte Hand ihn hervorgegriffen aus dieser Schar der Hunderttausenden. Irgendein zufälliges Ereignis schleuderte ihn aus seiner Gleichgültigkeit und stellte ihn auf einen neuen Platz. Ein Browning, der von seinen Fingern umklammert wurde, gab den Anlaß. Kaum hätte man ihn des Mordes so sicher verdächtigen können, wenn die Waffe nicht gewesen wäre.

Nun aber – und dieses Bewußtsein richtete ihn unwillkürlich auf – stand er wieder auf einem Platz, wo Hunderte, vielleicht Tausende auf ihn blickten. Nur auf ihn!

Und in den Blicken dieser Tausenden lag der Glaube an seine Schuld, barg sich schon das Urteil. Man hielt ihn für einen Mörder. Man wartete vielleicht darauf, daß er sich zur Wehr setzte und verzweifelt gegen diese Anklage kämpfte. Welcher Mensch ließe sich widerstandslos vernichten, selbst wenn er ein Mörder wäre?

Für Ellermann entsprang eine Notwendigkeit aus diesen Ueberlegungen. Es mußte etwas geschehen! Er selbst mußte den Beweis seiner Unschuld erbringen, denn die Richter konnten nicht anders, als an seine Schuld glauben.

Es mußte etwas geschehen!

Diese Notwendigkeit wurde ihm zum inneren Zwang. Sie trieb ihn, über sich nachzudenken. Sie weckte Pläne und Erörterungen. Und sie brachte ihm eindringlich zum Bewußtsein, daß er hier in der Zelle wehrlos und gefesselt war, schon jetzt verurteilt, still und ergeben sein Schicksal zu erwarten.

Alle Bedenken verschwanden vor den aufsteigenden Erwägungen einer Flucht. Bisher hatte er sich widerstandslos in sein Elend gefügt. Jetzt aber war er angegriffen. Man zwang ihn, sich zu wehren! Er mußte die Freiheit gewinnen, um seine Unschuld beweisen, das hieß, den Mörder suchen zu können.

Tage verbrachte er mit diesen Gedanken. Bis er zum Verhör gerufen wurde und wieder dem Kommissar Morton gegenüber saß.

»Sind Sie nun zu einem Geständnis bereit, Fred Ellermann?«

»Ich habe nichts zu gestehen – der Wahrheit entsprechend muß ich bei meinen Behauptungen bleiben!« Ellermanns Blick irrte über den Tisch. Er sah dort den Browning liegen, die Mordwaffe. Verschiedene Papiere, in deren Betrachtung er versank.

Der Kommissar griff plötzlich in die Tasche und streckte Ellermann überraschend ein Bild entgegen.

»Kennen Sie diesen Mann?« fragte er hastig.

Ellermann blickte auf die Photographie, ohne sich besinnen zu können. Ja, dieses Gesicht kam ihm bekannt vor. Aber er wußte im Augenblick nicht – –

»Nein, wenigstens weiß ich nicht genau ...!«

»Es ist der Ermordete!« betonte Morton, das Bild nun wieder einsteckend. »Wir sind natürlich auch Ihren Angaben gefolgt. Die Parterrebewohner des betreffenden Hauses scheiden aus. Nirgends auch nur der geringste Anhaltspunkt für einen Verdacht der Täterschaft. Wenn wir Ihren Angaben glauben wollen, könnte es sich nicht um einen versuchten Raubmord handeln. Zwischen dem Mörder und dem Ermordeten müßten sich dann gewisse Bindungen und Zusammenhänge ergeben. Der Ermordete hat jedoch mit keinem der Parterrebewohner etwas zu tun gehabt – niemand kennt ihn dort – niemand hat ihn je gesehen!«

»Das ist unmöglich!« stieß Ellermann hervor.

Der Kommissar lächelte geringschätzig.

»Wenn wir es feststellten, können Sie sich darauf verlassen!« Er legte eine Hand schwer auf den Tisch und erhob die Stimme. »Es bleibt also keine andere Möglichkeit, als versuchter Raub. Und nur Sie können der Täter gewesen sein, denn niemand anders befand sich in der Nähe!«

»Das ist alles?« fragte Fred Ellermann jetzt, wie der Kommissar vor einigen Tagen.

»Nicht ganz –!« Morton schob eine dunkle Platte, eine Art Stempelkissen, zu Ellermann über den Tisch. Daneben eine große Karte, auf der Ellermanns Personalien bereits verzeichnet waren. »Fingerabdrücke.« Der Beamte erhob sich, trat neben Ellermann, führte seine Hand, drückte die Fingerspitzen auf das Farbkissen, dann auf das Papier.

Mit dem schwarzen Abdruck kehrte er an seinen Platz zurück, zog eine Photographie hervor und begann mit Hilfe einer Lupe zu vergleichen.

»Hm – zwei Abdrücke – der eine ist Ihrer – der andere!« Wieder sah er auf und stieß überraschend plötzlich eine Frage hervor. »Wo haben Sie den Browning gestohlen, Ellermann?«

»Ich habe ihn nie besessen!« Ellermanns leise Hoffnungen sprangen jäh über in eine haltlose Verzweiflung.

Er fühlte sich gehetzt und in die Enge getrieben. Es gab ja keinen Ausweg, keinen anderen als die Flucht. So durfte es nicht weitergehen. Diese Stimme, dieses Lauern und dieses überraschende Zuspringen!

Wieder sah er das ungläubige Lächeln und es rüttelte ihn innerlich auf, ließ ihn zornig rot werden und trieb seine Hand hoch in unwillkürlicher Abwehr.

»Na, na – ruhig!« knurrte Morton.

»Aber ich kann Ihnen doch nicht mehr sagen, als ich bereits angab. Ich habe nichts getan – nicht geschossen – niemanden gemordet. Zwei Jahre habe ich mich zurückgehalten – ich habe nicht das Geringste genommen und wenn der Hunger noch so groß war. Ich wollte lieber verhungern, lieber auf der Straße zusammenbrechen, als unehrlich werden. Und jetzt sollte ich – sollte ich –!« Die Erregung erstickte seine Worte. Unwillkürlich hatte er die Hände zu Fäusten geballt, sich etwas aufgerichtet. Seine Augen enthielten plötzlich verhaltene Energie. Das Gesicht wurde ihm heiß. Und in den Schläfen pulste ihm hämmernd das Blut.

»Ruhig, Ellermann!« Morton hatte das Bedürfnis, den Verdächtigen ein wenig abzulenken und zu warten, bis er sich beruhigt hatte. Rasch schlug seine Stimme um zu zweckmäßiger Freundlichkeit. »Der Ermordete ist ein früherer Industrieller – Bob Henderson. Natürlich hatten Sie keine Beziehungen zu ihm, kennen ihn gar nicht –!« Und wieder hob sich seine Stimme zu schneidender Schärfe. »Und deshalb scheiden auch alle anderen Motive aus –!« Morton stutzte, als er das fiebernde Zittern in Ellermanns Fäusten bemerkte und die geschwollenen Adern an den Schläfen. »Bleiben Sie ruhig, Ellermann – die schlechten Zeiten – man wird Ihrem Elend vollstes Verständnis entgegenbringen!«

»Ich brauche es nicht!« Ellermann schrie auf. Dieses geschmeidige Lauern in der Stimme des Kommissars raubte ihm den Rest ruhiger Ueberlegung. Alles in ihm trieb fiebernd und hämmernd nach außen. Angst und Entsetzen, Empörung und Zweifel. Er wollte aufspringen, mit beiden Fäusten auf den Tisch schlagen und dem harten, unbeugsamen Beamten seine innere Not ins Gesicht schreien.

Aber die Erregung nahm ihm die Kraft. Der Hunger schwächt und er hatte oft gehungert. Halb schon sich erhebend, sank er keuchend matt zurück und starrte den Beamten aus fieberglänzenden Augen an.

»Ich kann das nicht ertragen – nein –!« Auch die Stimme verlor sich im Keuchen. Er beugte den Oberkörper weit vor, legte beide Hände auf den Tisch und sah den unnahbaren Beamten an.

Seine krampfhaft geschlossenen Finger lösten sich matt und kraftlos. Vor seinen Blicken schien sich alles zu verwirren. Das Zimmer schien in rasenden Drehungen zu kreisen. Und auch der Schreibtisch, der Beamte, der Browning – der Browning – –

»Ach, ich –!« Er griff an seinen Kragen, als wäre ihm die Kehle zugeschnürt. Vor seinen Augen sah er den Browning in wirbelndem Rasen.

Der Kommissar Morton zuckte die Achseln. Lässig drückte er den Klingelknopf. Ein vor der Tür stehender Wachtmeister trat ein.

»Bringen Sie ihm ein Glas Wasser!«

Der Wachtmeister nickte und verschwand. Und seine auf dem Korridor verklingenden Schritte hallten in Ellermanns Bewußtsein hinein. Er horchte auf. Sein Blick glitt zum Kommissar gegenüber. Der sah ungeduldig, gelangweilt vor sich auf die Akten.

Jetzt waren die Schritte draußen nicht mehr zu hören. Ellermann zitterte vor Erregung. Die Erwägungen der letzten Tage stellten sich ein und reiften zum Entschluß. Die Notwendigkeit des Widerstandes trieb ihn auf.

Draußen war es ruhig. Sein Blick haftete zu dem Browning auf der Schreibtischplatte. Kaum einen Meter von ihm entfernt. Gleich mußten sich draußen die Schritte wieder hören lassen. Dann kam der Wachtmeister mit einem Glas Wasser. Und dann war es zu spät!

Ellermann stöhnte leise auf in innerer Qual und Zerrissenheit. Der Kommissar hob den Blick, betrachtete flüchtig sein Gesicht und lächelte ungläubig, wie vordem. Dieses Lächeln riß Ellermann hoch. Auch an seine innere Not glaubte man nicht, hielt sie für gespielt. Jetzt riß die Verzweiflung alle Bedenken hinweg und peitschte ihn auf.

Ohne Ueberlegung griff die eine Hand zum Browning auf der Tischplatte, schnellte die andere zur Faust geballt dem bestürzten Kommissar ins Gesicht. Der wurde zurückgeworfen, fiel mit dem Stuhl hintenüber.

Ein Satz brachte Ellermann an die Tür. Mit einem Ruck riß er auf, sprang keuchend hinaus und blickte nach beiden Seiten den Korridor hinunter. Niemand zu sehen. Hinten am Ende aber aus dem rechten Flügel näherten sich die Schritte des Wachtmeisters.

Krampfhaft hielten Ellermanns Finger den Browning umschlossen, während er in langen Sätzen durch den Korridor zur Treppe eilte. Kaum fühlte er die steinernen Stufen unter seinen Füßen. Nur das Geschrei hörte er hinter sich. Die Alarmrufe des Kommissars und des Wachtmeisters.

Dann tauchte vor ihm eine breitere Treppe auf. Rechts eine Portierloge. Am Ende der Treppe der Ausgang. Und vor diesem ein uniformierter Beamter draußen an der Straße.

Der Portier hörte eben den Lärm von oben und sah auf. Im selben Augenblick aber schnellte Ellermann schon an der Loge vorüber. Jetzt erreichte er den Ausgang, riß den Flügel auf und schleuderte den betroffen herumfahrenden Beamten mit einer kräftigen Armbewegung zur Seite.

Und dann lief er durch die Straßen, hörte hinter sich lautes Geschrei und sah zu beiden Seiten die Häuser mit den erregt hervoreilenden Menschen. Seine Füße hetzten mechanisch vor, seine Finger umkrampften die Waffe. Er richtete drohend die Mündung vor sich, niemand durfte ihm den Weg versperren. Die Freiheit – und der Mörder – die Schuld. Er wurde vorwärts getrieben von Gedanken und unwiderstehlichen Regungen, deren er nicht mehr Herr war. Nur die eine Angst: nicht gefaßt werden! Nur das eine Ziel: die Freiheit.

Er sah kaum, wohin er lief. Hastend keuchend bog er in ruhigere Nebenstraßen. Vereinzelter blieben die Passanten erstaunt stehen. Er hörte hinter sich noch den Lärm und konnte kaum fassen, daß dieser langsam zu ersterben schien. Er mißtraute der Ruhe, die hinter ihm aufkam.

Dann hörte er das deutliche Knattern einiger Motorräder. Und jetzt sah er auf. Links Häuser, rechts kleine Gärten mit Wohnlauben. Ohne Ueberlegung setzte er mit einem Sprung über eines der niedrigen Gitter und verschwand zwischen Sträuchern und Bäumen.

Das Knattern der Motorräder kam näher. Ellermann brach durch Büsche, setzte über Zäune. Einmal nach rechts, dann wieder links sich wendend. Er hörte, wie die Motorräder verstummten. Stimmen schallten verworren zu ihm.

Dann kam er an das Ende der Gärten und blickte vorsichtig hinaus in eine ruhige Straße. Hastig überstieg er den letzten Zaun, bezwang sich, ruhig auszuschreiten. Während verworren der Lärm über die Gärten zu ihm drang, umschritt er eine Ecke und beschleunigte nun seine Bewegungen. Bald fühlte er sich unbeobachtet, und jetzt betrat er hastig einen Hausflur, schlich leise über die Treppen nach oben.

Er fühlte seine Kräfte plötzlich erlahmen. Die Erschöpfung preßte den Atem in keuchenden Stößen hervor. Er brauchte Ruhe jetzt und Zuflucht.

Aengstlich lauschte er auf jedes Geräusch, stets in der Erwartung, irgendwo könnte sich eine Tür öffnen und jemand laut schreien. Auf jedem Treppenabsatz blieb er sekundenlang stehen. Die Kniee zitterten ihm und auch die Hände, die sich schwer auf das Geländer legten.

Zuletzt stand er lange oben am Vorboden. Unter ihm lag das Treppenhaus in unverdächtiger Ruhe. Er sah sich forschend um, im ungewissen Halbdunkel.

In einer Ecke lag altes Gerümpel aufeinandergestapelt, und er tastete es vorsichtig ab. Da es unter ihm ruhig blieb, räumte er einiges zur Seite und kroch hinter die verschiedenen, wirr übereinander getürmten Gegenstände. Rasch zog er die beiseite geschobenen Teile des Gerümpels wieder vor sich und lag nun ganz ruhig, fühlte sich geborgen und vor einer Entdeckung sicher.

Und trotz seiner plötzlichen Sicherheit wartete er in ängstlicher Spannung. Er vermißte jetzt den Browning und fand ihn in einer Tasche. Unbewußt hatte er ihn während der Flucht durch die Straßen in die Tasche gesteckt. Nun zog er ihn wieder hervor und umklammerte ihn mit fiebernder Hand. Nicht mehr gedankenlos, wie vor einigen Tagen. Jetzt mit dem festen Entschluß der Verzweiflung, sich bis zum Aeußersten zu wehren, wenn man ihm den Weg versperrte.

Ein Browning in Ellermanns Hand!

Alle Ereignisse der letzten Tage standen deutlicher als bisher in seinen Gedanken. Er stützte den Kopf schwer auf den Arm, dessen Hand den Browning hielt. Und er dachte daran, wie diese kleine Waffe ihn jäh aus seinem bisherigen Leben gerissen und auf einen neuen Platz geschleudert hatte.

Er verlor sich in Grübeleien ohne Ziel. Die Augenlider wurden ihm schwer. Die Erschöpfung bannte ihn an den Boden. Und trotz der Angst schlief er widerstandslos ein.

* * *

 


 << zurück weiter >>