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Neben dem Eingang eines alten, wenig vertrauenerweckenden Hauses befand sich ein kleines, weißes Schild mit dem Namen des Anwalts, James Charter, und dem Hinweis, daß der Anwalt im ersten Stock täglich von zehn bis vier Uhr zu sprechen sei.

Schmale ausgetretene Stufen führten durch ein ungewisses Halbdunkel hinauf, und als Ellermann diese Stufen betrat, als er dann vor der Tür stand und klingelte, überkam ihm ein seltsames Gefühl der Beklemmung. Alles hier wirkte unheimlich und düster. Die Glocke klang schrill und hart durch die Stille. Ihr folgte Türenklappen, dann schlürfende Schritte.

Eine ältere, unordentlich aussehende Frau öffnete und fragte nach seinen Wünschen.

»Ich möchte den Herrn Anwalt gern in einer Rechtsangelegenheit sprechen!« erklärte Ellermann sicher.

Ein forschender Blick der Frau maß ihn mißtrauisch von oben bis unten.

»Wie heißen Sie denn?« Mürrisch und unzugänglich klang diese Stimme.

»Pary Gill – Börsenmakler!« Ellermann reichte ihr eine Karte.

Und nur der Berufsbezeichnung schien er es zu verdanken, daß die Frau ihn einließ und ein wenig zugänglicher wurde. Hinter ihm schloß sie die Wohnungstür, um eine andere, dicht neben derselben zu öffnen.

»Er ist gerade beschäftigt. Nehmen Sie Platz!«

Hart klappte die Tür hinter Ellermann zu. Er lächelte, während er sich setzte. Eigentümlich wirkte die Umgebung dieses Anwalts, seltsam, wie die Frau und wie die altertümliche, verstaubte Einrichtung des Wartezimmers mit seinen vergilbten Tapeten.

Fred Ellermann war nur zu dem Zweck hergekommen, sich über die Oertlichkeit zu informieren. Jetzt würde er kaum etwas über seinen Fall erfahren. Vorsichtig mußte er unter einem Vorwand eine kurze Unterhaltung mit dem Anwalt führen, und es genügte ihm, wenn er dabei außer der Lage dieses Zimmers auch noch die des Arbeitszimmers kennenlernte. Die beiden linken Türen am Ende des Korridors gehörten vermutlich zu den eigentlichen Wohnräumen.

Durch die Verbindungstür hörte Ellermann gedämpftes Sprechen. Verstehen ließ sich nichts, anscheinend war die Tür von der anderen Seite gepolstert. Und seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Eine Viertelstunde war bereits vergangen, ohne daß sich im Sprechzimmer etwas regte.

Plötzlich zerriß die schreiend schrille Klingel wieder die Stille. Unwillkürlich schrak Ellermann auf und horchte. Die unordentliche Frau – wahrscheinlich die Gattin des Anwalts – schlürfte zur Tür und öffnete.

Und jetzt wurde Ellermanns Aufmerksamkeit durch eine helle, junge Mädchenstimme erregt.

»Guten Tag, Frau Charter – ich möchte Ihren Gatten sprechen!«

Die mürrische Stimme der Alten schien etwas freundlicher zu klingen. Das Mädchen wurde rasch eingelassen, und im selben Augenblick öffnete sich auch schon die Tür des Wartezimmers.

»Eine Weile müssen Sie sich gedulden, Miß Golm – mein Mann hat gerade eine längere Unterredung, und der Herr wartet schon!«

Ellermann sah interessiert auf. Ein schlankes, junges Mädchen trat ein und nickte freundlich. Erst bei genauerem Hinsehen schien ihr Gesicht doch reifer und ernster, als beim ersten Anblick. Sie nahm Ellermann gegenüber Platz und sah zum schmalen Fenster mit seinen bis zur Undurchsichtigkeit verschmutzten Scheiben.

Und Ellermann wurde durch einen Hauch fraulicher Wärme berührt, den sie mit sich in das unfreundliche Wartezimmer brachte. Er fand Muße, sie eingehend zu betrachten.

Blondes, gelocktes Haar quoll unter der kleinen Kappe hervor, die straff anliegend das energisch kluge Gesicht zur vollen Geltung brachte. Modern und ungezwungen hatte sie mit einer fast männlichen Bewegung die Beine übereinandergeschlagen und die Hände über ein Knie gefaltet. Diese Hände waren ein wenig hager, als hätten sie eine anstrengende Beschäftigung, die rasche Fingerbewegungen erforderte.

Irgendetwas in der Erscheinung dieses Mädchens erregte Ellermanns besonderes Interesse. Er war sich selbst nicht darüber klar, was es sein konnte. Vielleicht der etwas abgespannte Ausdruck ihres energischen Gesichts, vielleicht die herbe Hagerkeit der zarten Hände. Einen Augenblick betrachtete er sie noch interessiert. Dann versuchte er, ein Gespräch anzuknüpfen.

»Verzeihung, Miß Golm – Pary Gill, wenn ich mich selbst vorstellen darf!« Er nickte ermunternd, als sie ihm erstaunt ihr Gesicht zuwendete. »Sicherlich müssen wir beide lange warten und können uns mit einer leichten Plauderei ein wenig die Zeit vertreiben!«

»Ja!« Fast schien sie erfreut. Ihr Lächeln wurde um etwas zugänglicher. »Mister Charters Unterredungen dauern immer so entsetzlich lange!« Mit kurzer Bewegung des Kopfes deutete sie auf die Verbindungstür, durch die das leise Sprechen noch gedämpft zu ihnen drang.

»So, Sie kommen öfter zu Mister Charter?«

»Nicht gerade oft – ich war schon eine ganze Weile nicht hier!« Sie schien zu zögern und zu bedenken, daß sie mit einem Fremden sprach. »Mein Vater war ein Freund Mister Charters – daher!«

»Ich fragte nicht aus Neugier!« entschuldigte er sich höflich und setzte sich auf einen anderen Stuhl, ihr näher. Aber er schwieg, suchte angestrengt nach einem Thema, das Gespräch leicht und unverfänglich fortzuführen. Und unwillkürlich fiel sein Blick wieder auf ihre hageren Hände. »Sie arbeiten viel und angestrengt, Miß Golm – Sie sollten sich ein wenig schonen!«

Miß Golm lächelte spöttisch in verhaltener Abwehr.

»Sie sind sehr besorgt um mich, Mister Gill!« Mit lässiger Bewegung löste sie die Hände auseinander, betrachtete sie nachdenklich. »So schlimm ist es nicht!«

»Auch das Gesicht!« fuhr er fort, erfreut, nun einen Anknüpfungspunkt gefunden zu haben. »Ihre ganze Erscheinung trägt einen Hauch ernster und angestrengter Arbeit – trotzdem Sie sicherlich noch sehr jung sind, Miß Golm!«

Und fast erschrak Ellermann im Innersten selbst über die unwillkürliche Wärme seiner Worte. Er versuchte, deren Ursache zu ergründen. Er schwieg einen Augenblick unhöflich, während sie lächelnd eine belanglose Aeußerung hinwarf. Ihr helles Lachen schreckte ihn nach einer Weile aus seinen Gedanken auf.

»Sie sind wirklich seltsam, Mister Gill – erst langweilen Sie sich und bitten um eine Unterhaltung – jetzt grübeln Sie über irgendwelche unergründlichen Dinge und schweigen!«

Als er nun aufsah in ihre spöttisch blitzenden Augen, die zugleich einen Schimmer fraulicher Wärme enthielten, als er den leisen Zug ernster Gedanken um ihren Mund bemerkte, wußte er plötzlich, was diese ungewollte Wärme in seine Stimme legte.

»Verzeihen Sie, Miß Golm – ich neige zum Grübeln. Man kommt ganz von selbst dazu!« Er zögerte sekundenlang, ehe er mit einem fast um Verzeihung bittenden Lächeln fortfuhr: »Man kommt dazu, wenn man niemanden hat, mit dem man einmal plaudern oder zu dem man sich aussprechen kann!«

Und jetzt empfand er, wie sehr ihm ein vertrauter Mensch fehlte. Das war es gewesen, was ihn während all dieser Tage immer wieder zu jener rastlosen Hast und steten Unruhe trieb. Das war es auch, was jetzt diesen warmen Klang ungewollt in seine Stimme legte. Er war allein und einsam. Ihm fehlte etwas. Er war ein Ausgestoßener, durch einen Steckbrief isoliert. Ihm fehlte Vertrauen und Wärme und das Mitempfinden eines andern.

Vergebens versuchte er, dieses plötzliche Anlehnungsbedürfnis in sich niederzukämpfen. Es war vorhanden und ließ sich nicht verleugnen. Mit einem etwas bitteren Lächeln sah er wieder zu ihr auf und bemerkte überrascht, wie ernst ihr Gesicht plötzlich war und wie schmerzlich der Ausdruck ihrer Augen.

Sie fühlte seinen Blick und sah ihn an. Nicht flüchtig mehr wie vorhin, sondern mit warmem, fast herzlichem Interesse.

»Ich kenne dieses verlassene Gefühl, sich einsam und allein zu wissen!« sagte sie leise und unvermittelt, als hätte sie seine Gedanken erraten. »Es ist schwer, einsam zu sein!«

In Ellermann aber regte sich eine leise Freude. Sie selbst schien einsam und verlassen zu sein wie er. Unwillkürlich sprach er jetzt lebhafter und heiterer. Er lächelte ihr ermunternd zu, und in den Gesten, die seine Worte begleiteten, lag unbewußt ein verhaltenes Werben.

»Gewiß, es ist schwer – aber zum Glück nicht unabänderlich!« Seine Hand machte eine Bewegung, als wollte sie die ihre ergreifen. Aber er besann sich. »Es gibt Möglichkeiten, sich zu zerstreuen – irgendwo zu plaudern – sich zu amüsieren!«

Er brach betroffen ab, als sie eine unwillige Handbewegung machte und ihn verwundert anblickte.

»Und warum benutzen Sie alle diese Möglichkeiten nicht, Mister Gill?« fragte sie jetzt. »Warum grübeln Sie trotzdem?«

»Weil –« Er suchte nach einer glaubwürdigen Erklärung, fand diese nicht und half sich mit einem wegwerfenden Lächeln. »Weil es Situationen gibt, in denen man von solchen Möglichkeiten keinen Gebrauch machen will oder –« fügte er nun leiser hinzu: »keinen Gebrauch machen kann!«

»Oder es nicht darf!« Sie nickte versonnen, ohne seinen erstaunten Blick zu betrachten. »Wie wenig geht es nach unserem Wollen – immer steht irgendein Zwang hinter uns und treibt nach vorn!«

»So schlechte Erfahrungen haben Sie mit dem Leben gemacht, Miß Golm?« forschte er in aufrichtiger Teilnahme.

»Mit dem Leben? Nein!« Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Mit den Menschen!«

Er verstand sie. Irgendeine bittere Erfahrung hatte diese ernste Zurückhaltung in ihr Gesicht gezwungen und das lauernde Mißtrauen in ihren Augen.

»Deshalb sind Sie also mißtrauisch!« äußerte er aus seinen Betrachtungen heraus.

»War ich mißtrauisch zu Ihnen, Mister Gill?« In ihrem Lächeln schien wieder etwas wie leiser Spott zu liegen. »Ich kenne Sie seit genau einer Viertelstunde!«

»Ja!« Er schien darüber erstaunt. »Wirklich erst eine Viertelstunde.« Sein Blick ruhte vertrauensvoll in ihrem Gesicht. »Und doch – ich hatte Sie kaum einige Minuten gesehen – da fühlte ich irgendetwas Verwandtes – irgendetwas Gemeinsames –« Plötzlich ergriff er in unwillkürlicher Regung ihre Hand. »Es ist die Einsamkeit, Miß Golm – das gleiche Bedürfnis, Vertrauen zu erwerben und Vertrauen zu verschenken. Man möchte jemandem vertrauen dürfen und sich gleichzeitig durch Vertrauen gewürdigt sehen!« Er bemerkte, daß sie einen schwachen Versuch machte, ihm ihre Hand zu entziehen. Als er sie fester ergriff, gab sie es mit einem matten Lächeln auf. »Gemeinsame Not bindet, Miß Golm – und dieses war die erste schöne Viertelstunde wieder nach vielen, vielen Jahren!«

Beide schwiegen nachdenklich. Beide anscheinend ein wenig verlegen, in der Scheu des ersten seelischen Tastens befangen. Er blickte auf ihre Hand nieder, ein wenig vorgebeugt, während sie mit teilnehmenden Blicken sein Gesicht betrachtete.

Hinter der gepolsterten Tür verstummte jetzt das gedämpfte Sprechen. Schritte ließen sich hören. Am Ende des Korridors klappte eine Tür.

»Mister Charter ist jetzt wohl für Sie zu sprechen!« äußerte sie leise und entzog ihm ihre Hand.

Ellermann sah zu ihr auf. Diese Sekunden des Schweigens hatten zwischen ihnen eine Bindung geschaffen. Beide fühlten etwas Gemeinsames, einer mit dem andern. Irgendwie fühlten sie sich verbunden, ohne sich selbst im Augenblick dessen bewußt zu werden. Für Sekunden versenkten sich ihre Blicke ineinander.

Dann – als draußen auf dem Korridor die schlurfenden Schritte der Frau erklangen – riß Ellermann sich gewaltsam los. Leicht gebeugt, mit bittendem Lächeln stand er vor ihr.

»Ich darf Sie draußen erwarten, Miß Golm?«

Sie nickte schweigend mit einem dankbaren Blicke und machte dann eine andeutende Bewegung auf die Tür. Im selben Augenblick wurde von außen geöffnet. Die Frau des Anwalts blickte herein.

»Sie können nun ins Sprechzimmer gehen, Mister Gill!« erklärte sie mürrisch, schlug die Tür von außen wieder zu.

Fred Ellermann trat an die gepolsterte Tür und öffnete. Vor sich hatte er einen größeren Raum. Links hinten in der Ecke ein breiter Schreibtisch, über dessen mit Akten und Papieren beladene Platte sich die Gestalt des Anwalts beugte. Rundherum an den Wänden zahlreiche Regale mit Ordnern und Aktenbänden. In der Mitte auf dem Boden ein alter, zerschlissener Teppich.

Ellermann trat ein. Der Anwalt hob den Kopf und blickte fragend zu ihm auf. Ellermann aber wäre in diesem Augenblick fast erschrocken zurückgeprallt. Nur mit äußerster Anstrengung konnte er einen Ruf grenzenlosen Erstaunens unterdrücken. Er fühlte, wie er bleich wurde, wie das Blut rascher pulste. Beherrscht zwang er sich, weiter vorzutreten, biß die Zähne aufeinander und bannte die fiebernde Hast in seinem Innern.

Vor ihm, hinter jenem Schreibtisch, saß der Fremde aus Hendersons Villa.

Der Anwalt James Charter jedoch schien seinen Besucher nicht zu erkennen. Mit einer ausdruckslosen Geste deutete er auf einen Stuhl und stellte eine Frage, die er sonst im allgemeinen allem Anschein nach als höchst überflüssig vermied.

»Was führt Sie zu mir, Mister ...!« Er warf einen zögernden Blick auf die Karte. »Mister Gill!«

Ellermann nahm sich mit aller Gewalt zusammen. Er glaubte sicher sein zu können, daß Charter ihn nicht erkannte, hatte er doch Ellermanns Gesicht in der gestrigen Nacht nicht gesehen. Nur die Stimme mußte er erkennen. Diese versuchte Ellermann zu verstellen.

»Ich möchte Sie um eine Rechtsauskunft bitten, Mister Charter!« erklärte er kurz und gepreßt. Dabei lauerten seine Blicke ängstlich besorgt in Charters Gesicht, jeden Augenblick einen Ausdruck des Erkennens erwartend.

James Charter jedoch blieb gleichgültig geschäftsmäßig. Nichts regte sich in seinem schmalen, faltigen Gesicht. Kaum schien er Ellermann eines Blickes zu würdigen.

»Sie sind Börsenmakler?« fragte er ungeduldig.

Ellermann sprach nun rasch und fließend. Charter hatte ihn nicht erkannt, das ließ seine sonstige Sicherheit zurückkehren. Jetzt wußte er die Lage des Sprechzimmers, in dem sich alle Akten befanden. Nach der Unterredung würde er direkt auf den Korridor hinausgehen. Dann konnte er auch die Lage der Wohnräume erkennen. Und damit war der eigentliche Zweck seines Besuches erfüllt.

»Ich bin Amerikaner – erst vor drei Tagen aus Chicago zugereist, Mister Charter. Da ich nie in England weilte, bereitet mir das englische Börsen- und Handelsrecht einige Schwierigkeiten – ich habe einige Fragen –!« Er zog einen Zettel hervor, den er im Hotel sorgfältig mit Fragen beschrieb. »Hier ist alles, was ich wissen möchte!«

Charter nahm den Zettel und las die Fragen. Kaum zehn Minuten dauerte diese Unterredung. Kühl und nüchtern beantwortete James Charter alles, machte seinem Besucher einige kurze Notizen auf dem Zettel und nannte dann eine annehmbare Honorarsumme.

Ellermann zahlte und ging. Er entfernte sich mit dem Gefühl, einer großen Gefahr entronnen zu sein. Nachdenklich schritt er durch das Halbdunkel der Treppe hinunter auf die Straße und blieb in einiger Entfernung stehen.

James Charter also war jener Fremde aus Hendersons Villa. Der Anwalt hatte es nötig, bestimmte Papiere zu beseitigen, um nicht gefährdet zu werden. Jetzt bereute Ellermann es, den gestern von Charter entfernten Papieren nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Und jetzt wußte Ellermann auch, warum Charter so sicher abriet, die übrigen von der Polizei bereits gesichteten Ordner zu durchsuchen. Diese hatte Charter bereits durchsucht und dabei auch alle Papiere entfernt, die eventuell auf Harms Bezug haben konnten.

Henderson – Charter – Harms. Zweifellos besaßen die drei Personen einen festen Zusammenhang. Diesen klären und aufdecken, das mußte zugleich die Enträtselung der Mordaffäre sein.

Ellermann schritt grübelnd auf und ab. Noch sah er klar und deutlich alle Fäden zwischen den einzelnen Personen. Heimliche Geschäfte, Erpressung, Mord.

Plötzlich aber stutzte Ellermann in Gedanken. Unzweifelhaft hatten alle drei miteinander unlautere Geschäfte betrieben und wußten so einer vom anderen genug, um sich gegenseitig in der Hand zu haben. Warum dann aber der Mord? Warum dann diese verzweifelte Abwehr durch Harms, der doch den anderen mit genau denselben Mitteln drohen konnte, wie diese ihm? Wenn Harms mit Henderson oder Charter gemeinsam Strafbares begangen hatte, dann stand es doch in seiner Macht, Henderson einfach mit der Androhung des Verrats entgegenzutreten.

Plötzlich war Ellermann an einen Punkt geraten, der ihn verwirrte.

Diese dringende Frage vermochte er nicht zu beantworten. Irgendwo ahnte er noch einen verborgenen Knoten, der gelöst werden mußte. Und durch diesen erst schien auf dem Ganzen überhaupt der Eindruck des Rätselhaften zu lasten.

Ein anderer Faktor mußte noch in seine Berechnungen gezogen werden. Wie aber ihn finden? Wo ihn suchen? Harms hatte sicherlich gleich nach der Mordtat alles Belastende weggeräumt. Dort zu suchen hatte keinen Zweck. Und bei Henderson würde sich ebenfalls nichts mehr finden. So blieb ihm nur James Charter, der sich alle belastenden Papiere aus Hendersons Villa angeeignet hatte. Dessen Arbeitszimmer mußte er durchsuchen. Er entschloß sich hierzu ohne große Hoffnungen, erschien es doch zweifelhaft, daß Charter belastende Papiere bewahrte. Wiederum aber ließ sich erwarten, daß der Anwalt nach Hendersons Tod allein zum Ziel zu kommen versuchte. Und dazu bedurfte er vielleicht jener Papiere, die Ellermann erlangen wollte.

Jetzt kam Miß Golm ihm raschen Schrittes und freundlich lächelnd entgegen.

»Ich bin wenigstens nicht solange aufgehalten worden!« äußerte sie, während beide nebeneinander die Straße durchschritten. Nach einigem Zögern fügte sie erleichtert hinzu: »Und ich bin zum letzten Mal bei Charter gewesen!«

»Sie gehen nicht gerne hin, Miß Golm?« Ihre deutliche Erleichterung veranlaßte ihn, sie verstohlen von der Seite zu beobachten.

»Nein – wer ginge gerne zu einem so mürrischen und widerwärtigen Menschen!« Wieder dieses kurze Zögern in ihrer Stimme. Dann anscheinend der Entschluß, nicht mißtrauisch gegen Ellermann zu sein. »Charter war ein guter Bekannter meines Vaters, als dieser starb, verwaltete er die Erbschaftsregelung, ich holte mir heute noch einige Papiere, um die ich mich aus Gleichgültigkeit eine ganze Weile nicht bekümmerte!«

»Und ich ging wegen einiger Rechtsauskünfte!« erklärte Ellermann. »Zufällig kam ich vorbei und sah das Schild. Ich wäre kaum hinaufgegangen, wenn ich ihn schon gekannt hätte!« Plötzlich stockte er, lachte und blickte sie scherzhaft an. »Dann aber hätte ich Sie nicht kennengelernt, Miß Golm – und das wäre schade gewesen!«

»Sie legen so großen Wert auf meine Bekanntschaft, Mister Gill?« Sie lachte, als er rasch bejahte. »Ich danke Ihnen – aber wir kennen uns erst eine halbe Stunde. Seltsam doch, wie rasch man miteinander eine Bindung finden kann!«

Als sie an einem Café vorübergingen, lud er sie ein. Schweigend saßen sie eine Weile nebeneinander auf der Terrasse und blickten nachdenklich hinaus auf das hastige Getriebe der Straße.

Als er den Blick vor sich auf den Tisch wendete, sah er ihre feine, zarte Hand, die ihm jetzt fast durchsichtig erschien. Leise ergriff er sie und lächelte, als Miß Golm unter seiner Berührung zusammenschrak und ihn anblickte.

»Nicht zuviel arbeiten!« sagte er leise bittend. »Ich beginne zu grübeln, weil ich allein bin – und Sie stürzen sich in die Arbeit, Miß Golm!« Als sie den Kopf schüttelte, wehrte er ab. »Nein, widersprechen Sie nicht, man sieht es Ihrem Gesicht und Ihren Händen doch an!«

»Es ist doch keine schwere körperliche Arbeit!« wendete sie ein. »Einige kleine Geräte hantieren und ein wenig nachdenken – sonst nichts!«

»Sie üben einen bestimmten Beruf aus?«

»Ja.« Sie nickte. Und sie mußte mit großer Neigung an diesem Beruf hängen, denn ein Schein der Freude legte sich in ihr Gesicht. »Ich erlernte den Beruf von meinem verstorbenen Vater – ich bin Chemikerin – mein Vater war Professor der Chemie – und ich bin vollkommen mit meinem schönen Beruf und der Lebensarbeit meines Vaters verwachsen!«

»Chemie – ja!« Ellermann wurde plötzlich nachdenklich. Er dachte an einen Brief, den er in der Tasche trug. Verschiedene Chemikalien waren darin mit lateinischen Namen benannt und er wollte die Bedeutung dieser Chemikalien kennenlernen.

Er hätte Miß Golm einfach fragen können und sicherlich ausführliche Antwort erhalten. Aber irgendein unbestimmtes Gefühl hielt ihn davon zurück. Er hatte sie schon jetzt schätzen gelernt und freute sich dieser Bekanntschaft. Doch er wollte sie nicht mit den Gefahrenkreisen seines Lebens in Berührung bringen. Er wollte nicht jenen Verdacht, der auf ihm ruhte und nicht die Last, welche er mit der Flucht auf sich geladen hatte, auch auf sie und ihre Gedanken übertragen.

Sicherlich würde sie Fragen stellen, was er mit jenen Chemikalien zu tun hätte. Und er mußte sie dann belügen. Eines Tages konnte aber die Polizei jenen anderen Zettel mit denselben Namen finden und veröffentlichen. In diesem Falle mußte Miß Golm sich seiner Fragen erinnern und erraten, wer er war.

»Sie verstehen auch etwas von der Chemie?« fragte sie interessiert, und als er den Kopf schüttelte, fügte sie rasch hinzu: »Ich dachte es, weil Sie wieder zu grübeln beginnen!«

»Ich verstehe nichts davon – aber es interessiert mich sehr. Die Chemie birgt für den Laien viele Geheimnisse und Wunder.« Er zeigte sein Interesse stärker, als es in Wirklichkeit war. Aber er freute sich, damit ein glücklich verträumtes Lächeln in ihrem Gesicht hervorzurufen.

Ihre Stimme wurde unwillkürlich lebhafter, während sie von ihren chemischen Arbeiten erzählte und von vielen kleinen Erfolgen, die sie im Laufe der letzten Jahre erringen konnte.

»Die Experimente und Versuche kosten aber doch sicherlich sehr viel Geld?« fragte er lächelnd.

»Gewiß – aber ich verdiene immer etwas mit den kleineren Erfolgen!« Sie schwieg einen Augenblick, sah dann jedoch freimütig zu ihm auf. »Manchmal allerdings, da hapert es – dann richtet man sich eben ein bißchen ein. Man muß ja so oft und so viele Wünsche im Leben zurückstellen!«

»So oft!« nickte er nachdenklich. Sie sprachen über das Leben und seine Widerstände. Lange saßen sie nebeneinander auf der Terrasse, bis Miß Golm plötzlich einen erschrockenen Blick auf die Uhr warf und sich erhob.

»Ich muß jetzt gehen – wir haben zuviel Zeit verplaudert!« erklärte sie rasch.

»Sie haben noch eine Verabredung innezuhalten?« Fast regte sich etwas wie Eifersucht in ihm und er atmete erleichtert auf, als sie lächelnd den Kopf schüttelte.

»Nein, ich habe gar keine Zeit zu Verabredungen, Mister Gill – die Arbeit wartet!«

»Auch keine Zeit für eine Verabredung, zu der ich mich einfinde?« Er sah sie bittend an.

Und sie nickte ohne Zögern, erwiderte freudig den herzlichen Druck seiner Hand.

»Doch, Mister Gill – zeitweilig ein Plauderstündchen, das würde mich erfreuen!« Sie schritt dicht neben ihm durch die langsam zur Ruhe kommende City.

Plötzlich aber erschien es ihm, als würde sie unruhiger. Verstohlen beobachtete er sie von der Seite. Sie warf eben einen raschen Blick auf eine Normaluhr und schien zu erschrecken. Nur zu deutlich fühlte er jetzt, sie wollte doch einen bestimmten Zeitpunkt innehalten, hatte also doch eine Verabredung und wurde durch ihn behindert.

Er blieb an der nächsten Ecke stehen und tat, als würde es jetzt auch für ihn Zeit.

»Leider, Miß Golm – es ist doch ein wenig spät geworden!« Er hielt den Hut in der Hand und verbeugte sich höflich. »Die Zeit verplaudert sich rasch!« Als sie lächelnd nickte, anscheinend erfreut, nun allein zu bleiben, ergriff er in warmer Regung ihre Hand. »Aber ich sehe Sie doch wieder, Miß Golm?«

»Ja, gerne!« Und er wunderte sich, wie ehrlich diese Worte klangen. Anscheinend also freute sie sich doch dieser Bekanntschaft, und ihre jetzige Hast, die immer deutlicher wurde, konnte ihre Bindung zu ihm nicht beeinträchtigen. »Wenn Sie Zeit haben – übermorgen mittag?«

»Ich habe immer Zeit – für Sie, Miß Golm!«

»Dann gegen zwei Uhr am Habberton-Square!« Sie erwiderte den Druck seiner Hand, nickte ihm freundlich lächelnd zu und trennte sich. »Dank, Mister Gill, für diese beiden Stunden!« Dann schritt sie rasch davon, zur Ecke der nächsten Nebenstraße.

Er winkte ihr lachend nach, da sie sich noch einmal umdrehte. Als sie seinen Blicken hinter der Ecke entzogen war, wurde er ernst. Ihre plötzliche Hast beunruhigte ihn. Unwillkürlich trat er einige Schritte vor, ihr zu folgen.

Er schämte sich fast dieser Regung. Rasch jedoch überwand er alle Bedenken. Zur Ecke eilend, blickte er in die Nebenstraße und sah in einiger Entfernung ein dort wartendes Auto.

Miß Golm näherte sich diesem mit deutlicher Hast. Im selben Augenblick wurde der Schlag von innen geöffnet. Sie stieg rasch ein. Und kaum klappte die Tür hinter ihr zu, setzte sich auch schon das Auto flott in Bewegung.

Kopfschüttelnd, von Zweifeln bedrängt, blickte Ellermann dem rasch entschwindenden Wagen nach.

* * *

 


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