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Fred Ellermann verbrachte einige Tage in der träumerischen Erwartung eines ungewissen Glücks, das ihm plötzlich verheißen wurde. Er dachte an Miß Golm, während er sich mit Henderson, Charter und Harms beschäftigte und selbst bei der aufmerksamen Lektüre der Presseberichte seines Falles drängte ihr Bild sich ihm auf. Sie erschien ihm als der ruhespendende Pol im Wirbel seines Erlebens, als ein Ziel, das sich ihm erstrebenswert und verlockend bot.

Mehrmals seit jenem ersten Kennenlernen traf er sie. Plaudernd schritten sie dann nebeneinander durch den Hyde-Park und wunderten sich beide insgeheim, wie rasch und sicher sie einander näher kamen, ohne daß Ellermann sich dessen direkt bewußt wurde, löste sich langsam diese unerträgliche Spannung in ihm. Er dachte mit weniger Erbitterung an die Schwere des auf ihm lastenden Verdachtes und mit weniger Sorge an die Ermittlungen der ihn noch suchenden Polizei.

Anfangs hatte er die Absicht gehabt, nach jenem Auto zu fragen, das sie erwartete. Aber rasch gab er diesen Gedanken wieder auf, als er sie zum zweiten Male traf. Sie erschien heiter und unbefangen. Er sah ein, daß es unmöglich war, sich von ihr belogen zu glauben, und er selbst bestritt sich das Recht, in ihre privaten Angelegenheiten zu dringen.

Nur manchmal, sekundenlang, fand er Ursache, nachdenklich zu werden. Bei kleinen Wendungen des Gespräches wurde sie plötzlich einsilbig. Dann legte sich die scharfe Falte einer schweren Sorge in ihr junges Gesicht und in ihren Augen schien verborgen eine hilflose, quälende Angst zu liegen. Blickte er sie jedoch aufmerksamer an, fragte er gar, ob etwas sie bedrückte, so verschwanden im Nu diese Anzeichen des Unerklärlichen und ein mattes, sichtlich erzwungenes Lächeln legte sich um ihren Mund. Sie begann dann rasch und lebhaft von ihren Arbeiten zu sprechen, als hätte diesen die heimliche Sorge gegolten.

Fred Ellermann grübelte oft darüber nach, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Und mit der ständig in ihm wärmer werdenden Neigung zu ihr, drängte er diese kleinen Ueberlegungen zurück und entschuldigte Miß Golm vor sich selbst mit der letzten noch zwischen ihnen liegenden Schranke des Unberührten.

Aber er vergaß seinen Fall darüber nicht. Mehrere Tage verbrachte er mit einer aufmerksamen Beobachtung des Hauses, in dem James Charter wohnte. Er bemerkte nichts Nennenswertes, machte sich jedoch mit den Lebensgewohnheiten des Anwalts vertraut. Seine Ermittlungen schienen auf einen toten Punkt zu kommen. Die ausführlichen Zeitungsberichte vermochten ihm nichts Besonderes zu vermitteln, beschäftigten sie sich doch mehr mit ihm und seinem rätselhaften Verschwinden, als mit der anderen Seite des Falles. Auch den verdächtigen Harms beobachtete er mehrere Tage, gleichfalls ohne Erfolg. Bis er sich endlich darüber klar wurde, daß nur ein heimlicher Besuch bei Charter ihm die letzten Möglichkeiten bieten konnte.

Und warum zögerte er eigentlich so lange mit diesem heimlichen Besuch? Er dachte darüber nach, wie schnell er sich zu seinem Einbruch in der Villa Hendersons entschlossen hatte, mit welcher Eile er Harms den ersten Besuch abstattete. Und er fand die Ursache seines Zögerns bei ihr, bei Miß Golm.

Sie hielt ihn für den amerikanischen Börsenmakler Pary Gill. Er dachte mit Schrecken daran, daß er sie vielleicht eines Tages enttäuschen mußte. Und er hütete sich jetzt unbewußt, leichtfertig in eine Gefahr zu geraten. Gewiß, eines Tages mußte Edith Golm alles erfahren. Wenn er aber festgenommen wurde und sie alles aus der Öffentlichkeit erfuhr, mußte die Wahrheit mit niederdrückender Wucht über sie herfallen. Das durfte nicht geschehen! Er selbst wollte ihr eines Tages erzählen: der und der bin ich, das und das tat ich. Nun entscheide dich! Aber dann erst wollte er ihr davon sprechen, wenn er den letzten Beweis gegen den wirklichen Mörder in Händen hatte und seine Unschuld lückenlos beweisen konnte.

Eines Tages erschien es ihm, als wäre sie bereits mißtrauisch gegen ihn, gegen die Person Pary Gill.

»Sie sind Amerikaner!« sagte sie unvermittelt während eines Spazierganges. »Werden Sie lange in London bleiben, Mister Gill?«

»Immer!« erwiderte er rasch, verbesserte sich aber sofort. »Das heißt, solange mich in London etwas festhält – und solange ich Sie kenne, Miß Golm, wird es mich in London halten!«

Sie nickte, als wäre sie mit dieser Erklärung zufrieden. Aber der Zug leiser Nachdenklichkeit wich nicht aus ihrem Gesicht.

»Seltsam!« Sie schüttelte den Kopf und schien zu zögern. Dann jedoch fuhr sie rasch fort, ihn freimütig anblickend. »Wir sprechen unentwegt von meinem Beruf und von meinen chemischen Arbeiten. Sie sind Börsenmakler, Mister Gill – aber Sie sprechen nie über die Börse, nie über Kurse und Aktien – als wären Sie vollkommen losgelöst von ihrem Beruf!«

Er erschrak fast. Ahnte sie etwas? Lag ein verborgener Sinn in ihrer Frage? Oder entsprang diese nur dem harmlosen Wissensbedürfnis?

Er wehrte verächtlich ab.

»Beruf doch nicht, Miß Golm – Geschäft! Man übt es aus, um Geld zu verdienen, um seinen Besitz zu erweitern. Aber man hängt nicht daran – es ist keine ernste Arbeit, ehe schon ein anreizendes und verlockendes Spiel!«

»Und ein gefährliches Spiel sicherlich auch!« ergänzte sie.

»Auch das!« Er versuchte, das Gespräch rasch zu wenden und auf ihre Arbeiten zurückzukommen. »Sehen Sie, Miß Golm – was durch Ihre Hände geht und was Sie schaffen, bleibt als etwas Beständiges und Greifbares bestehen – es ist vorhanden. Was jedoch durch meine Hände geht – das gehört morgen dem und übermorgen vielleicht schon wieder einem anderen. Heute ist es hundert Pfund wert und morgen vielleicht nur noch zehn – übermorgen vielleicht zweihundert!« Und jetzt tat er seine angebliche Tätigkeit mit einer verächtlichen Geste ab. »Es ist unproduktiv – Ihre Arbeit dagegen, Miß Golm – man kann damit verwachsen und darin aufgehen!«

»Und doch gibt es Männer, die fast nichts tun, als Börsenberichte lesen, die fast ständig ihren Bleistift und den Block in der Hand haben!« fiel sie ein, im fast belehrenden Ton, und als hege sie an seinen Erklärungen Zweifel.

»Das sind alte Männer!« Ellermann lachte verächtlich. »Sie werden vom Fieber der Börse zerfressen und verbraucht – davor hüte ich mich!«

Einen Augenblick schritten sie schweigend nebeneinander her, und es schien ein Zufall zu sein, daß beide unwillkürlich die Richtung einschlugen, in der sie wohnte. Noch kannte er ihre Wohnung nicht, wußte nicht einmal die Straße. Sie sprach nicht darüber und er hatte nicht danach gefragt.

Plötzlich sah Miß Golm wieder auf.

»Gewiß, produktiv und unproduktiv scheinen sich in uns gegenüberzustehen – aber es ist seltsam, daß diese produktive Arbeit in einem Abhängigkeitsverhältnis zu jener unproduktiven steht!«

»Wieso das?« fragte er erstaunt.

»Große Arbeiten und Experimente kosten Geld – oft sehr viel Geld. Und gerade jene unproduktiven Männer halten in Händen, was der produktive Mensch unbedingt braucht, um überhaupt produktiv sein zu können.« Sie schwieg, ohne sich näher zu erklären.

Und jetzt glaubte Ellermann, den heimlichen Grund ihrer so oft erkenntlichen Sorge zu ahnen.

»Sie leiden unter dieser Verteilung des Geldes?« fragte er rasch und hastig, unwillkürlich daran denkend, wie er selbst gelitten hatte.

»Ja und nein!« Miß Golm schien einer klaren Antwort auszuweichen.

»Ich habe einmal darunter gelitten – und dann mußte ich kämpfen –« Wieder legte sich jene scharfe Falte in ihr Gesicht und zeigte sich die quälende Angst in ihren Augen. Und ihre Worte klangen schwer, als wären sie unerträglich reich an Schmerzen und bitteren Erfahrungen. »– ich mußte kämpfen – und – ich glaube – ich habe gesiegt!«

Ellermann fühlte nicht ganz die Schwere dieser Worte.

»Sie sind ein liebes, tapferes Mädel!« sagte er leise. Unwillkürlich ergriff er ihre Hand, hielt sie warm in der seinen. Er wunderte sich, daß sie plötzlich stehenblieb und an der Hausfront hinaufsah. Dann fiel sein Blick auf ein kleines Schild unten im Hauseingang. »Edith Golm, Chemikerin!« Er las es laut ab, und erfreut fügte er hinzu: »Hier wohnen Sie?«

»Ja!« Miß Golm wollte sich verabschieden. »Ich habe im Hinterhaus ein kleines Laboratorium und dazu einen Wohnraum – es genügt für meine Ansprüche!«

Sein Blick ruhte noch auf dem Eingang des Hauses, während er ihre Hand hielt. Und jetzt gab er einem Wunsch Ausdruck, den er lange in sich barg.

»Ihre Arbeiten interessieren mich, Miß Golm – dürfte ich nicht einmal die Räume sehen, in denen Sie so fleißig sind? In denen Ihre zarten Hände so Produktives leisten – und in denen sich Ihr ganzes Denken und Wollen erfüllt?« Er sah sie bittend an.

Miß Golm schien einen Augenblick zu zögern. Er konnte nicht erkennen, welcher Art ihre Bedenken waren. Aber keine Spur eines Mißtrauens gegen ihn zeigte sich in ihrem Gesicht.

»Wenn es Sie interessiert, Mister Gill –« Schon schritt sie der Haustür zu und öffnete.

Er folgte schweigend in freudiger Erwartung. Mit wohlgefälligen Blicken umfaßte er ihre Gestalt, die leicht und gewandt vor ihm herschritt, über die steilen Treppen des Hinterhauses.

Das Klirren der Schlüssel, das Klappen der Tür, alles ging an seinem Bewußtsein vorüber, bis er in einem kleinen Raum stand, der ihm ein Gewirr von Gläsern, Retorten, Flaschen und unbekannten Geräten bot. Hell fiel das Licht durch zwei große Fenster hinein, warf seltsam durchsichtige Schatten der Gläser auf Tisch und Boden und spiegelte auf den Flächen farbiger Flüssigkeiten.

Erst langsam entwirrte sich ihm dieses Durcheinander zu einer mustergültigen Ordnung. Jetzt erkannte er; diese und jene Gegenstände gehörten zusammen. Jenes Glas ergänzte die Reihen einiger Flaschen, und jene Retorte bot mit anderen Gegenständen eine von Zweck und Ziel durchdrungene Einheit.

Er nickte nachdenklich.

»Hier arbeite ich!« durchbrach sie seine Gedanken. »Und hier habe ich bisher die schönsten Stunden meines Lebens verbracht – Erfolg und Schaffensfreude!« Sie schritt leichtfüßig durch den Raum und öffnete eine Tür an der rückwärtigen Wand. »Und hier wohne ich!«

Langsam und zögernd trat er einige Schritte vor, als fürchte er, etwas unantastbares Fremdes zu berühren. Eine wohlige Behaglichkeit strömte ihm aus dem einfachen Zimmer entgegen. Ein Ausdruck jener Ruhe, deren er bedurfte und die er suchte, ohne es selbst zu wissen. Einige bescheidene Stühle, ein kleines Tischchen, ein Lager und ein Diwan. Sonst nichts.

»Alles so freundlich!« Seine Stimme klang leise und drückte alle Sehnsucht aus, die sich in ihm regte. So deutlich, daß sie erraten mußte, was in ihm vorging. »So behaglich warm – ein starker Kontrast zu meinem Hotelzimmer!«

Bald saß er still und sinnend auf dem Diwan, während sie in einer Ecke rasch und geschickt am Spirituskocher hantierte und wenig später den dampfenden Tee auf den Tisch stellte.

Und so saß Fred Ellermann in leisem Geplauder, noch gefangen von der ihn umgebenden Wärme und gebannt von der ihm bisher noch fremd gebliebenen fraulichen Schmiegsamkeit ihres Wesens.

Als er nach Stunden ihre Wohnung verließ und hinaustrat auf die abendlich leere Straße, trug er in sich den Widerhall einer der schönsten Stunden seines Lebens. Unter dem Einfluß ihres nahen, vertrauten Zusammenseins war alle Förmlichkeit von ihnen gefallen, und ohne sich dessen eigentlich bewußt zu werden, ließen sie die hemmende Anrede fort und wählten, ehe er ging, das rasch einander nähernde Du.

Ellermann ging leicht und beschwingt von vielen Hoffnungen und Gedanken. Aber irgendetwas krampfte sich in ihm zusammen, irgendwo lauerten Angst und Sorge, irgendwo regte sich in ihm die quälende Furcht, dieses alles könnte ihm wieder verloren gehen.

Er dachte daran, daß er seine Nachforschungen vernachlässigt hatte. Er mußte sie nun beschleunigen und rasch zum Abschluß bringen. Um so früher konnte er vor ihr von allem Verdacht gereinigt erscheinen.

Und noch ein anderer kleiner Zwischenfall riß ihn aus der Verträumtheit der letzten Wochen jäh hervor in die harte Wirklichkeit. Als er das Hotel betrat, bemerkte er zwei Herren im Gespräch mit dem Direktor. Kurz grüßend ging er vorüber, ohne sich umzusehen. Aber er spürte deutlich, daß die Blicke der beiden Herren ihm aufmerksam folgten, als er die Treppe hinauf in sein Zimmer ging.

Und kaum weilte er fünf Minuten oben, als es klopfte. Kurz und hart, fast erschreckend. Er öffnete beherrscht, nahm sich mühsam zusammen und blickte die beiden Herren erstaunt an, als sie den Aufschlag ihrer Jacketts zurückklappten.

»Scotland-Yard, Kriminalpolizei!«

»Bitte!« Unverdächtig weit öffnete er die Tür seines Zimmers. »Was führt Sie zu mir, meine Herren?«

»Wir möchten die Papiere einsehen!« Und während Ellermann schon in die Tasche griff, während der eine Beamte wartend vor ihm stand, sah sich der andere aufmerksam um.

»Vielleicht erklären Sie mir auch, was diesen Besuch veranlaßt!« Ellermann hatte sich wieder in der Gewalt, als er die Brieftasche mit den guten Papieren in der Hand hielt und öffnete. Kaum zitterte seine Hand, die Stimme klang ruhig.

»Eine allgemeine Recherche!« Der Beamte sprach durchaus nicht drohend. »In allen Hotels – wegen des Falles Ellermann!«

»So, Ellermann also!« Er zwang sich zu einem Lächeln, während der Beamte die Papiere auseinanderfaltete und prüfte.

Einige Sekunden vergingen. Sekunden atemloser Spannung. Sekunden, die alles entscheiden, alles mit einem Schlage vernichten konnten.

Und fast schien es Ellermann, als erwache er aus einem schweren, drückenden Traum. Der Beamte nickte zufrieden, faltete die Papiere sorgfältig zusammen und gab sie Ellermann mit einer entschuldigenden Geste zurück.

»Verzeihen Sie die Störung. Guten Abend!« Dann klappte die Tür hinter den beiden Beamten zu.

Ellermann aber fühlte sich bedroht und gehetzt. Jetzt – da er allein war – fiel die Beherrschung ab und wich der Erschöpfung. Er sank schwer in einen Sessel und starrte trübe vor sich hin.

Man suchte jetzt in den Hotels. Wußte man schon etwas? Hatte man bereits irgendeinen Hinweis? Oder wollte man sich selbst nur durch umgreifende Maßnahmen beruhigen?

Er fühlte sich aufgescheucht aus einer Ruhe, die ihn wohltuend empfing. Und aus diesem Empfinden des Gehetztseins, der sich nähernden Gefahr, entsprang ein kurzer, fester Entschluß.

Er wollte zu James Charter! Noch in dieser Nacht! Der Schuldbeweis gegen Harms mußte endlich beschafft werden!

Lange stand er am Fenster seines Zimmers und blickte hinunter auf die Straße. Dann sah er die beiden Beamten wieder. Sie verließen das Hotel und schritten plaudernd gemächlich in Richtung der City. Man hatte anscheinend also nichts Verdächtiges bemerkt.

Jetzt hieß es, umsichtig sein. Ellermann klingelte dem Boy und verlangte ein Kursbuch. Hastig blätterte er es durch, bis er Passendes gefunden hatte. Jetzt war es gegen elf Uhr. Um zwölf Uhr zehn fuhr ein Zug nach Nottingham, der gegen sechs Uhr früh dort eintraf. Angenommen, er reiste dorthin, so konnte er am späten Nachmittag des nächsten Tages wieder zurück sein.

Er klingelte dem Boy.

»Besorgen Sie mir eine Fahrkarte erster Klasse nach Nottingham. Ich muß heute noch reisen!«

Der Boy sah erstaunt auf.

»Sie geben das Zimmer ab, Mister Gill?«

»Nein, ich bin morgen nachmittag zurück – geschäftlich. Ich gebe unten noch Bescheid wegen eventuell eintreffender Postsendungen!«

Der Boy ging, die gewünschte Karte zu holen. Ellermann hantierte rasch und hastig erregt in seinem Zimmer, getrieben von der inneren Forderung, daß er alles auf schnellstem Wege hinter sich bringen mußte. Sorgfältig barg er die notwendigen kleinen Werkzeuge in den Taschen seiner Kleidung, während er die kleine, lederne Reisetasche mit belanglosen Gebrauchsgegenständen füllte.

Gegen halb zwölf Uhr brachte der Boy die Fahrkarte.

»Eine Taxe, bitte!« Ellermann warf sich den Mantel über den Arm, nahm die lederne Handtasche und ging hinunter. Ein langer prüfender Blick durch das Fenster hatte ihn überzeugt, daß niemand den Eingang des Hotels beobachtete. Unten wendete er sich an den Vertreter des Direktors. »Ich fahre geschäftlich nach Nottingham – bin gegen Nachmittag wieder zurück.« Er bemerkte das Mißtrauen im Gesicht des Gegenübers und dachte an die noch unbezahlte Hotelrechnung. »Es ist möglich, daß eine Nachnahmesendung für mich kommt – ich lasse Ihnen den Betrag hier!« Ruhig zählte er eine Anzahl Pfund-Noten auf den Tisch, mit denen die Hotelrechnung reichlich gedeckt war. Sofort verschwand auch das Mißtrauen. »Falls sie kommt, sind Sie so freundlich und nehmen die Sendung in Empfang!«

»Sehr gerne!«

»Und wenn mich jemand zu sprechen wünscht – morgen gegen Abend. Einlaufende Post kann warten!« Ellermann nickte flüchtig und verließ das Hotel.

Die bestellte Taxe wartete vor der Tür. Ellermann brauchte den Bahnhof nicht erst nennen, der Boy hatte alles erledigt. Rasch stieg er ein und glitt nun durch die leeren Straßen der schlafenden Stadt. Mehrmals blickte er sich während der Fahrt um und bemerkte zu seiner Beruhigung, daß ihm niemand folgte.

Am Bahnhof stieg er aus, entlohnte den Chauffeur und schritt durch die Wandelhalle. Zehn Minuten waren bis zur Abfahrt des Zuges noch Zeit. Auf dem Bahnsteig hatten sich einige Reisende am wartenden Zuge versammelt, und Ellermann wußte in diesem Augenblick, wie er am sichersten alle Spuren seines Hierbleibens verwischte. Der lange Bahnsteig besaß an jedem Ende einen Ausgang. Das mußte ihm helfen.

Lässig und ohne Eile bestieg er den letzten Wagen des D-Zuges, blickte sich in den Abteilen um und belegte einen Platz. Einen Augenblick sah er zum Fenster hinaus auf den Bahnsteig. Noch vier Minuten. Niemand zu bemerken, der ihn vielleicht beobachten konnte.

Er ließ die Tasche auf den Polstern stehen und schlenkerte durch den Gang. Vom letzten in den nächsten Wagen, weiter durch den Zug, zeitweilig einen Blick auf die Uhr des Bahnsteiges werfend, zeitweilig sich sorgsam im Gang umsehend.

Eine Minute vor Abgang des Auges erreichte er den ersten Wagen und blieb wartend an der bereits geschlossenen Tür stehen. Erft als zur Abfahrt gepfiffen wurde, öffnete er rasch und sprang hinaus. Hastig wendete er sich der Treppe zu nach oben, und da hinter ihm niemand den schon fahrenden Zug verließ, wußte er, daß ihm auch niemand gefolgt sein konnte.

Aufatmend betrat er an der anderen Seite des Bahnhofes die Straße. Das hatte geklappt. Man würde zwar seine lederne Handtasche finden, den Besitzer aber nicht feststellen. Und selbst für diesen unwahrscheinlichen Fall konnte er immer angeben, sie im Zuge vergessen zu haben.

Nun zu James Charter. Bis er dessen Wohnung auf Umwegen erreichte, mußte es ein Uhr geworden sein. Dieser Zeitpunkt erschien ihm geeignet.

Sorgfältig mied Ellermann alle belebten Straßen. Ebenso umging er die Lichtkreise der Laternen. Wie oft war er früher so durch die Straßen geschlendert, obdachlos und in steter Flucht vor den Polizisten. Wenn Schritte vor oder hinter ihm klappten, wich er sorgfältig aus, bog ein in dunklere Nebenstraßen.

So erreichte Fred Ellermann kurz nach ein Uhr das Haus des Anwalts James Charter. Und als er sich unweit des Einganges bewegte, dachte er unwillkürlich wieder an seine erste Begegnung mit Edith Golm. Hier hatte er sie kennengelernt. Und diese Gedanken weckten anderes in ihm, als angenehme Erinnerungen. Sie riefen jene Hast wieder hervor, die sich seiner seit heute erneut bemächtigt hatte.

Im Windfang des Hauses stehend, blickte er sorgsam nach beiden Seiten die Straße hinunter. Nirgends ein Schritt, nirgends ein Laut. Er musterte mit prüfenden Blicken die Front des Hauses. Alle Fenster starrten schwarz in die mäßig erleuchtete Straße.

Das Schloß der Haustür gab unter Ellermanns Werkzeugen rasch nach. Bald schlich er leise über die steilen, ausgetretenen Stufen, die zeitweilig unter seinen Füßen verhalten knarrten. Dann stand er vor Charters Tür.

Kurzes angestrengtes Lauschen, das Ohr gegen die Füllung gepreßt. In der Wohnung blieb alles ruhig. Man schlief bereits.

Sorgfältig hantierte er am Schloß der Tür. Bald ein kurzes metallisches Geräusch. Der Riegel sprang zurück. Noch ein zweites Schloß. Dasselbe Geräusch. Die Tür ließ sich leise einen Spalt öffnen. Innen aber hing eine Sperrkette, die leise klirrte. Mit kurzen Bewegungen zog Ellermann die kleine, scharfe Zange aus seiner Tasche und kniff die Kette fast geräuschlos durch. Dann schlüpfte er leise hinein.

Tiefstes Dunkel umfing ihn. Atemlose Stille. Rechts befand sich gleich vorn die Tür des Wartezimmers. Etwa 2 Meter hinter dieser auf derselben Seite die Tür des Arbeitszimmers. Und links hinten im Korridor zwei Türen, die zur Küche und zur Schlafstube gehören mußten.

Ellermann zögerte einen Augenblick, wohin er sich zuerst wenden sollte. Vorsichtig bewegte er sich über den Korridor bis an die beiden linken Türen. Er lauschte an einer derselben und konnte gleichmäßig schnarchende Atemzüge zweier Personen hören. Charter und seine Frau lagen in festem Schlaf.

Kurz entschlossen nun schlich Ellermann an die Tür des Wartezimmers zurück. Er wollte nicht direkt vom Korridor aus in das Arbeitszimmer, da leicht ein Geräusch den Anwalt wecken konnte. Der Weg durch die Verbindungstür des Wartezimmers war kaum weiter und dabei doch gefahrloser.

Ellermann fand die Verbindungstür verschlossen und öffnete sie mit einiger Mühe. Dann glitt der Lichtkegel seiner Taschenlampe durch das Arbeitszimmer des Anwalts. Tastend und suchend, über die hohen, dicht vollgepackten Regale huschend, bis er am Schreibtisch stehenblieb. Und dorthin lenkte Ellermann seine leisen Schritte über den zerschlissenen Teppich.

Vor dem Schreibtisch hockte er nieder. Wenn Charter wichtige Papiere verwahrte, die sich auf Harms und Henderson bezogen, dann nur in irgendeinem Fach des Schreibtisches, nicht aber in jenen dicken, verstaubten Aktenbänden der Regale.

Ellermann öffnete die beiden Schubladen und durchsuchte hastig alle darin liegenden Papiere und Mappen. Zeitweilig horchte er lauschend auf. Aber nichts regte sich. Nur auf der Straße einmal die flüchtigen Schritte eines verspäteten Passanten.

Zwischen den Papieren der Schubladen aber befand sich nichts, das für Ellermann Interesse hätte. Nun öffnete er die beiden Türen der Schreibtischschränke. Er durchsuchte die einzelnen Fächer und Züge. Auch hier nichts. Papiere nur, die auf Charters Praxis Bezug hatten, seine Beziehungen zu Harms und Henderson jedoch nicht berührten.

Ellermann zögerte einige Sekunden unentschlossen. Wo sollte er jetzt suchen? Er erwog die Möglichkeiten eines Geheimfaches und leuchtete, diesem Gedanken folgend, in die beiden Schränke des Schreibtisches.

Und im untersten Fach des rechten Schrankes stutzte er. Die hintere linke Ecke des gelbpolierten Bodens sah etwas dunkler aus, als wäre sie oft berührt und deshalb abgenutzt worden. Dieses mußte einen bestimmten Grund haben.

Ellermann tastete hinein, ohne etwas zu bemerken. Er räumte rasch alle in diesem Fach liegenden Gegenstände aus und tastete nochmals an jene Stelle.

Und fast wäre ihm jetzt ein Ausruf der Freude entschlüpft, als der Boden sich plötzlich bewegte. Durch einen Druck auf jene abgegriffene Stelle hob sich die entgegengesetzte, also vordere rechte Ecke. Eine Oeffnung entstand. Ellermann griff rasch hinein und konnte den Boden nun vollends von seiner Unterlage lösen. Vor ihm befand sich ein verborgenes Fach, das der dicke Sockel des Schreibtisches enthielt.

Sauber geordnet und gebündelt befanden sich zahlreiche Papiere darin. Hastig griff er eins der Bündel heraus, legte die Taschenlampe neben sich auf den Boden und löste die Schnur im kurzen Schein des Lichtes. Er hielt dieselben Papiere in der Hand, die Charter damals in Hendersons Villa in seiner Gegenwart an sich brachte.

Rasch holte er nun die anderen kleinen Bündel hervor. Er bemühte sich sorgfältig, keine Spur seines Hierseins zu hinterlassen. Wenn Charter ihm auch nicht direkt schaden konnte, so bestand doch immerhin die Möglichkeit, daß Harms rechtzeitig durch den Anwalt gewarnt wurde.

Mit fiebernder Hast blätterten Ellermanns Finger die Papiere durch. Sein Atem ging rascher. Sein Gesicht rötete sich, während die Blicke hastig gehetzt die Zeilen überflogen.

Fast eine halbe Stunde mochte vergangen sein. Dann hielt Fred Ellermann einen Brief in der Hand, dessen Schriftzüge er erkannte. Die Unterschrift bestand aus einem H. Nur Harms konnte diesen Brief geschrieben haben, denn auch mit den anderen Schriftproben stimmte er überein.

Der Brief war einen Monat später datiert als der andere aus der Villa. Aufmerksam las Ellermann ihn durch.

 

»Mister Charter!

Heute habe ich Henderson durchschaut. Seine Annäherung ist nichts, als eine niederträchtige Gemeinheit. Durch Henderson selbst erfuhr ich, daß Sie hinter ihm stecken. Ich ersuche Sie, Ihre Bemühungen aufzugeben und gleichzeitig Henderson mitzuteilen, daß ich ihm mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln entgegentreten werde, falls er sich in Zukunft noch um mich bekümmert.

H.«

 

Ellermann nickte zufrieden. Deutlich ließ sich ersehen, daß Henderson sich dem Harms unter irgendeinem Vorwand genähert hatte. Vielleicht auf Veranlassung Charters. Nur eine Frage blieb offen. Welche Absichten verfolgten Henderson und Charter? Was wollten sie von Harms?

Ellermann suchte in fiebernder Hast weiter. Bald fand er einen zweiten Brief, der bereits deutlicher sprach. Das Datum war vom Anfang dieses Jahres, lag etwa fünf Monate zurück. Aber auch dieser Brief besagte nicht Neues, verstärkte nur die Dringlichkeit der einen Frage: Was stand in Hendersons und Charters Absicht?

 

»Mister Charter!

Henderson versuchte trotz meiner Warnung nochmals, etwas bei mir zu erreichen. Warnen Sie Henderson! Er könnte mich treiben, die ganze Angelegenheit den Behörden zu übergeben. Die Mittel seiner und auch Ihrer Drohungen halte ich für erlogene Behauptungen. Ich werde nicht zögern, bei weiteren Angriffen Ihrerseits, das bisher gewahrte Schweigen aufzugeben.

H.«

 

Auch dieser Brief verschwand in Ellermanns Tasche. Wieder knisterten andere Papiere unter seinen Fingern.

Dann ein drittes Schreiben, das Ellermann als endgültigen Beweis aller seiner Vermutungen erscheinen mußte.

 

»Mister Charter!

Heute erhielt ich eine überraschende Erklärung aller Zusammenhänge und zugleich den Beweis für Ihre und Hendersons unmenschliche Niedertracht. Ich sehe ein, daß Sie die Polizei keineswegs zu fürchten haben, möchte Ihnen und Henderson aber zu bedenken geben, wie weittragend die Folgen Ihres Handelns werden können. Ich ersuche Sie dringendst, die bereits in Ihrem Besitz befindlichen Papiere herauszugeben. Sonst kann ich für nichts mehr garantieren. Durch eine Fortsetzung Ihres Treibens werden Sie nicht das ersehnte Ziel erreichen, wohl aber einen Menschen zur restlosen Verzweiflung und zu einer unüberlegten Handlung treiben, die Ihnen, wie auch Henderson verhängnisvoll werden dürfte.

H.«

 

Ellermann fieberte in innerer Genugtuung. Rasch blickte er auf das Datum. Dieser Brief war genau vierzehn Tage vor jenem Mord geschrieben, der hier schon angedeutet wurde. Das war der letzte abschließende Beweis, das mußte genügen, wenn sich nichts anderes mehr fand.

Mit zunehmender Hast durchsuchte Ellermann den Rest der Papiere, ohne noch etwas zu finden. In diesem letzten Brief aber wurde noch von anderen Papieren gesprochen, die Henderson bereits besessen haben sollte. Sicherlich hatte Charter auch diese heimlich aus der Villa Hendersons geholt und hier irgendwo verborgen.

Ellermann legte die gesichteten Papiere wieder an ihren Platz zurück und klappte den Boden darüber. Er wendete sich nun dem anderen Schreibtischschrank zu, und auch dort ließ der Boden sich heben. Die Abnutzung an dieser Ecke war geringer, wahrscheinlich wurde dieses Geheimfach weniger gebraucht.

Rasch hatte Ellermann ein kleines Päckchen hervorgezogen und gelöst. Zwei kleine Tagebücher mit engbeschriebenen Seiten konnte er durchblättern. Sie enthielten Aufzeichnungen über chemische Arbeiten. Aber die Handschrift war eine andere, nicht die des verdächtigen Harms. Zwischen den beiden Heften lag eine Anzahl ebenfalls engbeschriebener Zettel, und bei Durchsicht der Papiere sah Ellermann jene lateinischen Namen wieder, die er bereits in einem anderen Brief gelesen hatte. Der Zusammenhang war also klar. Diese Papiere waren es, von denen Harms in seinem Schreiben sprach.

Ellermann steckte auch diese ein und legte den Boden wieder auf die inneren Kanten des Sockels. Noch durchschaute er nicht, was zwischen Henderson, Charter und Harms geschah. Soviel aber stand fest, beide wollten bei Harms irgendetwas erreichen. Und beide besaßen ein Druckmittel, Harms zur Herausgabe dieser chemischen Aufzeichnungen zu zwingen, mit denen etwas Wichtiges zusammenhängen mußte.

Alles deutete auf diese Erklärung hin. Der Mord war nur der verzweifelte Abschluß eines langen Kampfes zwischen Harms und den beiden Erpressern um diese Papiere.

Wer aber hatte diese Hefte geschrieben? Ellermann grübelte darüber, während er sorgfältig die Türen der Schreibtischschränke wieder verschloß. Deutlich hatte er das Schriftbild vor Augen. Die einzelnen Züge waren zittrig und teigig, die Zeilenreihen hielten sich nicht auf den Linien, waren einmal darüber, dann wieder darunter. Er kam zu der Gewißheit, daß ein alter, kurzsichtiger Mann der Urheber dieser Aufzeichnungen sein mußte.

Plötzlich schrak Ellermann zusammen. Draußen auf dem Korridor klappte eine Tür. Dann schlurften Schritte über den Boden und näherten sich anscheinend dem Ausgang der Wohnung. Wieder klappte eine Tür. Ellermann ließ die Taschenlampe erlöschen und trat rasch an die Verbindungstür zum Wartezimmer. Vordem noch steckte er die kleinen Werkzeuge ein.

Nichts ließ sich jetzt hören. Erst nach einigen Minuten bangen Wartens hörte er leises Hüsteln. Dann wurde wieder eine Tür geöffnet, und Ellermann mußte unwillkürlich lächeln bei dem Gedanken, wo Frau Charter sich eben aufgehalten hatte.

Jetzt jedoch näherte sich überraschend eine unmittelbar drohende Gefahr. Frau Charter mußte eine Lampe oder ein Licht bei sich haben und der Schein desselben war auf die Haustür gefallen.

»Um Gottes willen, die Kette –«, hörte er ihren erschrockenen Ausruf. »James, komm – die Kette – James – Einbrecher!«

Ihre Stimme gellte auf, daß es durch das ganze Haus schallen mußte. Aus der Schlafstube erhob sich ein unwilliges Knurren des Anwalts.

Ellermann jedoch mußte entschlossen handeln. Auch jetzt durfte Charter ihn nicht erkennen, durfte nicht wissen, daß der anscheinend harmlose Pary Gill in Wirklichkeit Fred Ellermann war. Ehe Charter aus der Schlafstube herbeieilte, mußte er die Wohnung bereits verlassen haben.

Kurz entschlossen trat Ellermann ins Wartezimmer und öffnete nun heftig die Tür zum Korridor. Frau Charter fuhr mit einem entsetzten Aufschrei zurück, als sie ihn bemerkte. Aus dem Hintergrund kam Charter bereits bestürzt hervor.

Mit einem Ruck riß Ellermann seine Faust hoch und schlug Frau Charter den Leuchter aus der Hand. Schwarzes Dunkel umhüllte sie. Und schon riß Ellermann die Wohnungstür auf und setzte hinaus an die Treppe.

Hinter sich horte er das gellende Schreien der erschrockenen Frau.

»Sei doch ruhig!« ließ Charters Stimme sich dann vernehmen.

Sie aber schrie unentwegt weiter, weckte die Einwohner des Hauses und lockte sie in das Treppenhaus hervor.

Ellermann hetzte auf die Straße. Er sah geöffnete Fenster, verschlafene Gesichter. In atemloser Hast wendete er sich nach links, von der schreienden Stimme der Frau verfolgt.

»Dort läuft er – dort!« schrien jetzt einige Aufgeschreckte aus dem Fenster.

Keuchend erreichte Ellermann die Ecke und wollte in der Nebenstraße verschwinden. Er prallte zurück. Zwei Polizisten kamen ihm laufend entgegen, eilten anscheinend auf das Geschrei hinzu.

»Halt! Halt!« donnerten die Stimmen ihn an. Die Beamten rissen ihre Waffen hervor.

Mit einem Satz schnellte Ellermann zur Seite. Zurück! Um die Ecke! Auch von dort kamen ihm aufgeschreckte Bewohner und Passanten entgegen. Also nach der anderen Seite!

Der Lärm hinter ihm verstärkte sich, während er atemlos durch eine dunkle Straße rannte. Zwei, drei Schüsse krachten hinter ihm, brachen sich laut widerhallend an den Häusern und grollten durch die nächtliche Stille. Ellermann lief um mehrere Ecken, versuchte, die Verfolger zu verwirren.

Dann, als er vor sich eine grüne Anlage auftauchen sah, hetzte er über die Straße und verschwand zwischen Sträuchern und Büschen. Bis in die Mitte der Anlage behielt er die gerade Richtung. Dort bog er nach links ab, übersprang einen schmalen Bach, der träge das Dunkel durchfloß, und erreichte die seitlich gelegenen Straßenzüge.

Als er aus den Anlagen hervortrat, ging er ruhig und besonnen. Von links hörte er die lärmenden Verfolger. Jetzt hieß es, sich zusammennehmen, keinen Verdacht der durch den Lärm herbeigelockten Passanten erregen. Vielleicht täuschten die Verfolger sich in der Richtung.

Zwei Männer standen an der Ecke, als er die Straße überschritt. Sie lauschten neugierig auf den Lärm aus der Mitte der Anlagen.

Ellermann schritt mühsam beherrscht aus sie zu. Sie hatten gesehen, daß er zwischen den Sträuchern hervorkam. Um den Anschein seiner Harmlosigkeit zu bewahren, warf er lässig eine Aeußerung hin.

»Die suchen schon wieder jemanden – machen einen Spektakel dabei!« Jetzt schritt er vorüber und fühlte das Mißtrauen in ihren Blicken. Sein Gesicht konnten sie kaum erkennen. Sie sahen ihm nach, gaben auf seine Aeußerung keine Antwort zurück.

Und kaum hatte er die nächste Ecke erreicht, als der Lärm hinter ihm an Stärke gewann. Er drehte sich kurz um. Gerade zeigten die beiden Männer hinter ihm her. Die Verfolger begannen wieder zu laufen, an der Spitze jene beiden Polizisten.

Ellermann wurde gehetzt. Er spannte seine Kräfte aufs äußerste an. Nur nicht gefaßt werden. Nur jetzt nicht, da er den sicheren Beweis gegen Harms in Händen hatte!

Die Straßen waren leer und verlassen. Erst hinter ihm schreckte der Lärm der Verfolger Bewohner auf. Aber Ellermann fand noch keine passende Gelegenheit, irgendwo unterzuschlüpfen oder sich durch eine List endgültig den Verfolgern zu entziehen.

Plötzlich fiel sein Blick auf das Namensschild einer Straße. Flüchtig nur, doch lange genug, um den Namen zu erkennen und seine Bedeutung zu erfassen. Kaum zwei, drei Straßen weiter mußte sich der hintere Eingang zu den Räumen Credons befinden. Wenn es ihm gelang, dort unbemerkt in den dunklen Torweg zu kommen, war er vorerst gerettet.

Ellermanns Gedanken arbeiteten fieberhaft, während er keuchend seine Anstrengungen erhöhte. Wieder brachte er eine Ecke zwischen sich und seine Verfolger. Er mußte zu Credon gelangen, ohne diesen durch eine verdächtige Beobachtung der Gegner zu gefährden.

Eben war er links abgebogen. An der nächsten Ecke hielt er sich rechts. Dann wieder links, wieder rechts, wieder links. Einigen Vorsprung konnte er gewinnen. Die Verfolger mußten noch hinter der zweiten Ecke sein, als er jetzt in jene Straße lief, auf die der betreffende Torweg mündete.

Mit einem Satz sprang er hinein. Niemand konnte ihn beobachtet haben. Er eilte nach hinten und klopfte leise gegen die dort befindliche Tür.

Nichts antwortete.

Er hörte die Verfolger näher kommen. Jetzt schienen sie an der einen Ecke zu zweifeln, in welche Richtung er sich gewendet hatte.

Ellermann klopfte lauter, und da sich noch nichts meldete, hämmerte er mit beiden Fäusten gegen die Tür. Jetzt wurden innen Schritte laut. Außen flutete der Lärm der Verfolger vorüber.

Und als Credon nun mit erstauntem Gesicht öffnete, schlüpfte Ellermann an ihm vorbei hinter die Tür und atmete erleichtert auf.

»Ellermann?« Credon schüttelte den Kopf. »Zum Teufel, wo kommen Sie jetzt her?«

»Man verfolgt mich!« Ellermann stand an der Tür und lauschte hinaus. Er konnte es kaum fasten, daß Credon so gleichmütig dabei blieb. »Endlich – sie laufen vorüber!«

Credon schloß jetzt die Tür und legte einen schweren Riegel vor. Eine trübe Lampe beleuchtete den Korridor.

»Wieso kommen Sie auf diesen Torweg, Ellermann – ich ließ Sie doch damals durch das Haus!«

»Ich sah den Torweg – als Sie mich hinausließen!« Ellermann empfand das Bedürfnis, sich jetzt zu setzen und zu ruhen. Die Beine schmerzten ihm und die Lunge. »Dieses war die einzige Zuflucht!«

»Hm – ein teurer Spaß!« Credon grinste.

»Wieso?« fragte Ellermann überrascht.

»Na, so im allgemeinen nehme ich zwanzig Pfund Sterling dafür!« Credon zögerte nicht mehr, ihn in die Stube zu lassen, da er sah, daß Ellermann rasch nach seiner Brieftasche griff.

Ellermann blickte überrascht auf, als ein junger, eleganter Mann sich in der Stube vom Tisch erhob und ihn mißtrauisch schweigend betrachtete. Credon steckte erst gelassen die zwanzig Pfund Sterling ein, dann machte er die beiden miteinander bekannt.

»Der hier ist Ellermann – Sie wissen schon, der Gesuchte!«

Der Fremde nickte, als könne er sich erinnern. Und Credon fuhr zu Ellermann gewendet fort:

»Und der hier ist Mister Flapp – eine Leuchte unserer Zunft – einer unserer sichersten Spezialisten in Steinen und Perlen!«

Die beiden Männer verbeugten sich förmlich, als wären sie in irgendeinem Salon der Gesellschaft. Mister Flapp schien ebenso beruhigt wie Ellermann. Beide hatten einander nicht zu fürchten.

»Dann können wir fortfahren, Credon!« äußerte Mister Flapp. »Ich will mich nicht lange aufhalten bei dir!«

Credon nickte und warf einen fragenden Blick zu Ellermann.

»Sie wollen warten, wie? Bis die Meute sich verlaufen hat –« Er lachte vergnügt. »Sehen Sie doch nur, Mister Flapp, wie er sich aufregt über ein paar Schreier, die hinter ihm her gestolpert sind.«

Mister Flapp nahm kaum Notiz und drängte ungeduldig zur Eile. Ellermann hatte sich aufatmend in einiger Entfernung gesetzt und jetzt sah er zum zweiten Mal, mit welcher verblüffenden Geschicklichkeit Credon einen Menschen verwandeln konnte.

Dem Spezialisten Mister Flapp aber schien es langweilig zu werden. Er knüpfte ein Gespräch mit Ellermann an.

»Etwas zu tun, Ellermann?« fragte er plötzlich in seiner lässigen Art.

Ellermann verstand nicht gleich.

»Was meinen Sie damit –?«

Mister Flapp unterbrach ihn ärgerlich.

»Na, ob Sie irgend etwas in Vorbereitung haben – vielleicht eine kleine einträgliche Sache. Man sieht sich doch beizeiten danach um!«

Jetzt verstand Ellermann und schüttelte lächelnd den Kopf.

»Ich bin doch nur wegen dieses Mordverdachts dazu gekommen – sonst will ich mit diesen Sachen nichts zu tun haben. Nur meine Unschuld möchte ich beweisen!«

Mister Flapp lachte ein wenig spöttisch.

»Und wie steht's mit Ihrer Unschuld, Ellermann?«

Da er nun auch nach dem Grund der Verfolgung fragte, erklärte Ellermann, welche Sachen er bereits in Händen hätte, um die Schuld des verdächtigen Harms beweisen zu können.

Mister Flapp und Credon horchten interessiert auf. Als Ellermann aber geendet hatte, schüttelten sie beide fast gleichzeitig den Kopf.

»Unsinn, Ellermann!« knurrte Credon. »Das ist vielleicht für Sie ein Beweis – da bei Ihnen noch andere Dinge mitsprechen. Die Polizei aber können Sie damit nicht überzeugen!«

»Von meiner Schuld war man doch auch so rasch überzeugt!« fiel Ellermann ein.

»Gewiß!« Mister Flapp räusperte sich. »Gewiß – bei Ihnen – man hat Sie mit dem Browning in der Hand neben der Leiche gefunden. Das genügt für Scotland-Yard – aber Ihre Briefe da – das genügt sicherlich nicht!«

Ellermann schwieg betroffen und starrte vor sich hin, mit raschen Gedanken bereits bei den verschiedensten Möglichkeiten.

Mister Flapp unterbrach ihn.

»Das war doch vorhin nicht Ihr Ernst, Ellermann. Dieses: Ich will nichts damit zu tun haben!«

»Warum nicht?«

»Weil es eine Dummheit wäre!« Mister Flapp lachte, und Credon fühlte sich bemüßigt, beifällig zu grinsen. »Man hetzt und jagt Sie – das ist Grund genug, passende Gelegenheiten auszunutzen und das Leben auch von der angenehmen Seite zu betrachten!«

Ellermann wehrte ab.

»Diese passenden Gelegenheiten suche ich nicht – und es bieten sich auch keine!«

»Doch – jetzt – in diesem Augenblick – durch meine Wenigkeit!« Mister Flapp lächelte und richtete sich auf, da Credon eben seine Arbeit beendet hatte. Er blieb breitbeinig, beide Hände in den Hosentaschen, vor Ellermann stehen und blickte ihn fast mitleidig an. »Ihre Ehrlichkeit ist sicherlich ganz lobenswert, Ellermann, aber sie taugt nichts – sehen Sie«, seine Stimme senkte sich etwas, wurde um einen Grad vertraulicher »– ich habe da eine fabelhafte Sache – bin schon zwei Monate dabei – in drei Tagen soll es klappen – aber mir fehlt noch ein zweiter Mann. Und diesen hoffe ich in Ihnen gefunden zu haben!« Er lachte amüsiert, als Ellermann abwehrend den Kopf schüttelte. »Seien Sie doch kein Narr, Ellermann – in einer halben Stunde verdienen Sie unter Garantie annähernd fünftausend Pfund Sterling!«

»Nein, Mister Flapp – Sie müssen sich schon einen anderen suchen!« Auch Ellermann erhob sich und blickte Mister Flapp fast bedauernd an. »Ich möchte mich nicht noch weiter in diese Dinge verwickeln. Diese eine Sache in der Regentstreet, das war gerade genug!«

»Uebrigens ganz geschickt angefangen – deshalb sind Sie auch der geeignete Mann für mich!« Mister Flapp schien diese Ablehnung unbegreiflich zu finden. »Aber mit Ihren kindischen Ehrlichkeitsbegriffen kommen Sie doch nicht weiter!«

»Wieso weiter – ich habe fast alle Beweise gegen Harms in der Hand. Und mehr wollte ich doch nicht!«

»So – mehr also nicht!« Mister Flapp lachte laut. »Und was dann, wenn Sie den Harms nun überführt haben?«

»Ich liefere alle Beweise seiner Schuld nach Scotland-Yard und warte bis er verhaftet ist. Dann stelle ich mich selbst. Man wird mich wegen des einen Raubes verurteilen, mit Rücksicht auf meine erwiesene Unschuld in der Mordsache aber wohl mildernde Umstände in Betracht ziehen müssen!«

»Köstlich!« Diese Erklärung schien Mister Flapp wirklich zu erheitern. Er lachte und blinzelte Credon zu. Dann machte er nochmals einen Versuch, Ellermann umzustimmen. »Es ist eine Juwelensache – mit dem Verkauf haben Sie nichts zu tun, Ellermann – ich erledige alles selbst. Sie helfen mir und bekommen Ihren Anteil von fünftausend Pfund Sterling. Credon verändert uns. Sie werden nicht gefährdet – ein halbstündiger Besuch in der Juwelenhandlung, etwas schneidiges Auftreten – und ab durch die Mitte!« Er blickte forschend in Ellermanns Gesicht. »Na – ja oder nein?«

»Nein!« erwiderte Ellermann.

»Dann kann ich Ihnen nicht helfen – wirklich eine famose Sache – präparierte Glühbirnen – verdammt, da reißen Sie die Augen auf, he? Davon haben Sie noch nichts gehört, wie?« Er deutete auf Credon. »Fragen Sie den – der weiß, was mit mir los ist!«

Und Credon nickte eifrig. Er wußte es wirklich.

Aber Fred Ellermann blieb fest. In ihm fieberte noch die Erregung dieser Hetze. Als Mister Flapp sich entfernte, verabschiedete er sich, ohne dessen nochmalige Frage zu beantworten. Mister Flapp ging mit einem bedauernden Achselzucken.

Lange saß Ellermann jetzt allein im Zimmer und grübelte vor sich hin. Nun also hatte er jene Papiere, die er als endgültigen Beweis betrachtete. Aber er sah ein, daß diese für die Behörde nicht dieselbe Beweiskraft besaßen, wie für ihn. Es fehlte noch etwas in der Kette. Noch ließen sich nicht alle Fragen klar und eindeutig beantworten. Beispielsweise, was Henderson an jenem Abend vor dem Fenster wollte und mit welchen Druckmitteln er Harms zu dieser Verzweiflungstat trieb. Oder, wer jene beiden Hefte mit chemischen Aufzeichnungen gefüllt hatte. Oder, wie Harms überhaupt mit Henderson und Charter in Berührung kam.

Ellermann sah auf, als Credon wieder eintrat. Der Wirt schien sehr erregt. Er hielt eine Zeitung in der Hand. Vor Ellermann blieb er stehen, faltete die Zeitung mit einem vorwurfsvollen Blick auseinander und hielt ihm die Ueberschrift entgegen.

Ellermann erschrak. Er sah seinen Namen in der fetten Schlagzeile des Blattes.

»Sensationeller Einbruch Ellermanns!« stand dort in schreienden Lettern. Und darunter etwas kleiner: »Eine Spur des Mörders. Die Aussage des Anwalts.«

Ellermann mußte sich erst sammeln, ehe er einen klaren Gedanken fassen konnte.

»Ach, Sie Anfänger – diese Dummheit!« stieß Credon jetzt hervor.

»Woher weiß man, daß ich – niemand hat mich doch erkennen können. Und Charter muß schweigen!« Ellermann sah betroffen auf, als Credon verächtlich lachte.

»Natürlich – Charter hat geschwiegen – wird sich hüten, seine Nase dazwischen zu stecken!« knurrte Credon. »Aber Ihre Finger, Ellermann – warum kamen Sie nicht vordem zu mir – man hat Ihre Fingerabdrücke am Schreibtisch gefunden!«

Und schweigend, starr vor sich niedersehend, hörte Ellermann nun aufmerksam zu, wie Credon ihm den ganzen Inhalt der Presseberichte erzählte. James Charter hatte alles als einen harmlosen Einbruch darzustellen versucht. Die Polizei zwar glaubte ihm nicht recht, hatte aber vorerst keine Möglichkeit, seine Angaben zu widerlegen. Charter behauptete, den Täter nicht zu kennen. Erst die Polizei hatte an Hand der Fingerabdrücke festgestellt, daß es Fred Ellermann gewesen sein mußte.

»Sicherlich ist Charter wütend auf seine Frau, weil sie diesen unsinnigen Lärm geschlagen hat!« Credon legte die Zeitung auf den Tisch. »Die Polizei weiß ja, daß er mit Henderson Geschäfte machte. Vielleicht wird man jetzt ein wenig stutzig in Scotland-Yard!«

»Aber dort steht etwas von einer Spur, die man kennen will!« erinnerte Ellermann.

»Unsinn – fauler Zauber – man will Sie kopfscheu machen, weiter nichts!« Credon überlegte kurz. »Gegen Bezahlung kann ich ja erst jemanden zu Ihrem Hotel schicken und Nachsehen lassen, ob die Luft rein ist!«

Ellermann ging freudig darauf ein. Zwei Stunden verbrachte er in ungeduldiger Erwartung, bis ihm der Bescheid wurde, im Hotel wäre nichts gewesen, er könne unbesorgt dorthin zurückkehren.

»Gehen Sie nur ruhig!« tröstete Credon. »Und nächstes Mal ziehen Sie Handschuhe an.« Credon erwies sich durch gutgemeinte Ratschläge als außerordentlich wohlwollend. »Und überstürzen Sie nicht« – ich meine, die Sache mit diesem Harms. Bis Sie nicht klar und deutlich alles beweisen können, warten Sie lieber. Hat man Sie erst geschnappt, dann ist es mit Ihren Nachforschungen vorbei!« Er geleitete Ellermann zur Tür. »Und überlegen Sie sich die Sache mit Mister Flapp – bis morgen ist es noch Zeit«

Ellermann ging und erreichte auf Umwegen den Bahnhof. Von dort fuhr er in einer Taxe zum Hotel. Mit klopfendem Herzen seine Unsicherheit bezwingend, trat er in die Halle. Aber der Boy, wie auch der Geschäftsführer benahmen sich durchaus unverdächtig und liebenswürdig wie sonst.

»Die Sendung ist nicht eingetroffen. Das Geld steht zu Ihrer Verfügung, Mister Gill!«

»Verrechnen Sie es gleich mit!« Ellermann war froh, als er die Tür seines Zimmers hinter sich schließen und ruhig überlegen konnte.

Aber er kam mit seinen Grübeleien heute zu keinem Ergebnis. Lange saß er am Fenster und betrachtete wieder und immer wieder die gefundenen Briefe. Auch die beiden Hefte und die Zettel mit den chemischen Aufzeichnungen. Und aus allem schien ihm klar und deutlich die Schuld des verdächtigen Harms hervorzugehen.

Harms behauptete hier, von Henderson schmählich getäuscht worden zu sein. Später drohte er Charter und Henderson mit der Polizei, wenn man ihn nicht in Ruhe ließe. Dann wieder gab er zu, sich nicht an die Behörden wenden zu können, warnte aber vor einer Verzweiflungstat, die bei Fortsetzung von Charters und Hendersons Treiben unbedingt geschehen müsse.

Ellermann erhob sich und lief hin und her. Diese Verzweiflungstat war ja geschehen. Und aus den Briefen sprach deutlich genug, daß es nur Harms gewesen sein konnte. Welcher Beweise bedurfte es denn noch?

Und dann dachte er wieder: Gewiß, die Beziehung zwischen Henderson und Harms ist erwiesen. Noch aber nicht, daß Harms jenen tödlichen Schuß abgab, wenn es auch als ziemlich wahrscheinlich gelten konnte. Und plötzlich dachte er an die Möglichkeit einer vierten, ihm noch unbekannten Person. Jene von fremder Hand beschriebenen Hefte ließen auch diese Möglichkeit zu und gaben seinen Vermutungen eine gewisse Berechtigung.

Aber Ellermann kam nicht zu klaren Feststellungen. Er empfand plötzlich ein großes Ruhebedürfnis. Wieder kam jenes Verlangen über ihn, sich in wohliger Behaglichkeit zu strecken und nur an Freudiges zu denken. Diese Verfolgung hatte ihn mehr mitgenommen, als er sich zugestehen wollte. Er mußte sich ablenken, für einige Stunden alles vergessen.

Und schon wenig später machte er sich auf den Weg zu Edith Golm. Er wollte ein wenig mit ihr plaudern, das würde ihm gut tun. Einen Augenblick dachte er daran, ihr die chemischen Aufzeichnungen mitzunehmen, sich von ihr Erklärungen geben zu lassen. Aber er gab es wieder auf. In der Presse wurden bereits Andeutungen auf die Art seiner Beute gemacht und leicht konnte sie ihn damit in Zusammenhang bringen. Das wollte er vorerst vermeiden.

* * *

 


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