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Mister Flapp hatte mit Ellermann eine stundenlange eingehende Besprechung, die Ellermann vollkommen in Anspruch nahm und von allen quälenden Zweifeln befreite.

»Außerordentlich einfach!« erklärte Mister Flapp mit einem listigen Lächeln. »Ich beschäftige mich mit so kleinen technischen Sachen – das nur nebenbei!« Er legte eine Hand auf Ellermanns Arm und blickte ihn eindringlich an. »Jedenfalls handelt es sich um den Juwelier Bialer in der Renard-Street!«

Ellermann erinnerte sich, den großen Laden bereits gesehen zu haben, und nickte.

»Ich kenne das Geschäft!«

»Um so besser!« freute sich Mister Flapp. »Die Sache liegt vollkommen klar. Ich habe morgen in den Mittagsstunden dort zu tun. Credon verändert mich für diesen Weg. Ich werde mich bei Bialer damit beschäftigen, einige Glühbirnen der Beleuchtung auszuwechseln.«

»Zu welchem Zweck?« fragte Ellermann interessiert.

»Sie werden sehen – ein überraschender Knalleffekt – Aufruhr und Verwirrung – Dunkelheit – und wenn es wieder Licht wird, haben wir gewonnen!«

Ellermann schüttelte verwundert den Kopf. Diese Erklärung erschien zu sprunghaft und zu unglaubwürdig.

»Ich verstehe noch nicht ganz!«

»Sie werden gleich verstehen!« Mister Flapp lachte vergnügt. Er erhob sich und trat an eine Wand, schraubte dort eine Glühbirne aus ihrer Fassung. Dann entnahm er einem kleinen Handkoffer eine andere Glühbirne und setzte diese nun in die Fassung. »Nun passen Sie auf, Ellermann. Sie sind dann gleichzeitig auf Morgen vorbereitet – nein, nicht näherkommen – bleiben Sie dort sitzen!« Flapp hielt sich den einen Arm schützend vor das Gesicht, mit der Hand des anderen griff er zum Schalter.

Das kurze Geräusch des Schaltens. Einige Sekunden vergingen, während die Glühbirne hell wie die andere leuchtete. Dann ein lauter scharfer Knall. Die Glühbirne zersprang und streute einen eigenartigen weißen Staub von sich. Die Splitter klirrten leise zu Boden. Mister Flapp lachte vergnügt und blickte Ellermann an.

»Verblüffend!« Ellermann mußte lächeln. »Und das weiße Pulver?«

»Brennt ein bißchen in den Augen, sonst nichts!« Mister Flapp setzte sich wieder zu ihm an den Tisch, während sich hinter ihrem Rücken das Pulver leicht zu Boden senkte. »Derartige Birnen schraube ich also morgen mittag bei der Firma Bialer ein!«

»Das ist möglich, ohne Verdacht zu erregen?« fiel Ellermann ein.

»Na, ja – deshalb doch morgen, heute ginge es nicht – übermorgen noch weniger. Ich habe mit dem Elektriker schon vor Wochen gesprochen und mir ihn gegen gute Bezahlung gesichert!« Mister Flapp legte seine Hand wieder auf Ellermanns Arm, als könne er so überzeugender wirken. »Nun die Hauptsache, Ellermann – ich kenne den Laden innen und außen, das genügt. Sie treten morgen, kurz bevor es Abend wird, als eleganter, schwerreicher Käufer auf. Credon ändert Ihr Aussehen. Die Figur und die Bewegungen haben Sie dazu. Ein hochherrschaftliches Privatauto mit Chauffeur steht Ihnen zur Verfügung. Sie betreten den Laden – selbstsicher und ein wenig arrogant. Sie wollen Juwelen kaufen, verstehen Sie?«

»Und dann wollen Sie das Licht einschalten mit Ihrem Knalleffekt?« lachte Ellermann.

»Vorbeigeraten, alter Freund!« Mister Flapp rieb sich vor Vergnügen die Hände. »Die sollen selbst schalten. Wenn Sie kommen, ist noch heller Tag. Sie lassen sich nun eine große Auswahl der kostbarsten Sachen vorlegen – so viel wie nur irgend möglich – Sie suchen und zögern mit dem Kauf so lange, bis es langsam anfängt dunkel zu werden. Der Verkäufer muß also das Licht einschalten – einige Minuten ist es hell, bis die Glühbirnen richtig heiß geworden sind. Diese dort,« er deutete auf das weiße, feine Pulver am Boden, »war nur eine Versuchslampe – die richtigen halten etwas länger. Die Birnen werden also heiß, man hat sich an das grelle Licht gewöhnt, und wenn die Birnen platzen, muß man es bereits als dunkel empfinden – der plötzliche Uebergang, Sie verstehen, Ellermann –.« Mister Flapp atmete tief und fuhr dann fort: »Und das ist dann unser Augenblick – die Birnen platzen – der Knall und der Staub, beides bleibt nicht ohne Wirkung. Sie schreien und schimpfen, nähern sich dabei aber der Tür, ins Auto. Und wenn die Herren Licht machen, dann ist der Tisch leer und das Auto fort!«

Ellermann war verblüfft, so einfach erschien die ganze Sache. Erst nach einer Weile schweigender Ueberlegung kam er zu einigen Bedenken.

»Und warum machen Sie die Sache nicht allein, Mister Flapp?«

Mister Flapp winkte verächtlich ab.

»Mißtrauen, Ellermann? Ganz unbegründet. Erstens habe ich nicht ganz die Art für den eleganten Käufer und zweitens kann ich nicht schreien und fluchen und die Verwirrung vergrößern helfen, wenn ich alles einpacken will. Das ist der Haken, ich finde drei, vier Sekunden Zeit, während Sie zu toben beginnen!«

Sie besprachen noch die verschiedenen Einzelheiten. Ellermann brauchte nach geglückter Tat nicht erst auf den Verkauf der Beute warten. Er sollte seinen Anteil von fünftausend Pfund Sterling sofort nach Abschluß des Abenteuers erhalten. Beide würden im Auto fliehen und dieses an verschiedenen Stellen der Stadt getrennt verlassen, um sich am späten Abend wieder bei Credon zu treffen.

»Hier werden Sie dann wieder Pary Gill, der Sie jetzt sind!« nickte Credon schmunzelnd.

Und rasch hatte Ellermann sich in die Erwartung des bevorstehenden Abenteuers gefunden und sah ihm mit einiger Spannung entgegen. Zeitweilig tauchte flüchtig und unscharf ein Gedanke an Edith auf. Stets jedoch verschob Ellermann diese Frage, die er im Augenblick nicht beantworten konnte. Nach diesem Unternehmen wollte er den letzten Knoten des Falles Henderson gewaltsam lösen.

»Ich möchte Ihnen ja einen guten Rat geben!« äußerte Mister Flapp wohlwollend, als Ellermann einmal davon sprach. »Gehen Sie zu diesem Harms, halten Sie ihm Ihre Beweise und einen Browning unter die Nase und setzen Sie ihm solange zu, bis Sie ein Geständnis herausgequetscht haben. Dann besitzen Sie, was Sie brauchen!«

»Wenn er nur gestehen wollte!« zweifelte Ellermann.

Mister Flapp wehrte verächtlich ab.

»Das liegt ganz bei Ihnen, Ellermann. Ein Browning spricht stets eindringlich und überzeugend – hm.« Er blinzelte Ellermann vergnügt zu. »Falls es sich machen läßt, kann ich Sie ja begleiten. Dann werden Sie lernen, wie geläufig Stumme oft sprechen können!«

Mister Flapp lachte. Und in Ellermann hallte dieses Lachen wider als die Sicherheit einer unbeirrbaren Zuversicht. Jetzt erst gewann er die Ueberzeugung von der Stärke seines Wollens und seiner beherrschten Ueberlegenheit. Erst jetzt, nachdem der Trotz gegen alles Unrecht ihn ergriff und die fiebernd prickelnde Erwartung des Abenteuers ihn fast berauschte.

Ellermann fühlte sich gewachsen. Nicht nur dem Fall Henderson und Harms gegenüber. Ueber alles fühlte er sich jetzt gehoben über die Grenzen aller bestehenden Ordnung hinweg. Er spürte plötzlich in sich den Außenseiter, das bevorstehende Abenteuer erschien ihm nunmehr eine Kraftprobe gegen die feindliche Umwelt und ein nervenpackendes Spiel. Zum ersten Mal vielleicht fühlte Fred Ellermann sich als Verbrecher.

Mister Flapp trennte sich am Vormittag mit kameradschaftlichem Gruß in der Maske eines Installateurs. Nicht die geringste Kleinigkeit wurde von ihm vergessen. Sorgsam prüfte er alles, ehe er die Wohnung Credons verließ, und dann ging er mit dem sicheren Lächeln des Unbesiegbaren.

Ellermann blieb wartend bei Credon zurück.

»Ein Mann von Format!« grinste Credon eine Weile später. Er schien Ellermann mit prüfenden Blicken zu mustern, und plötzlich legte sich etwas wie väterliches Wohlwollen in seine Stimme und sein Gesicht. »Wissen Sie, Ellermann, Sie haben das Zeug dazu, Mister Flapp noch zu überbieten. Bis jetzt sind Sie noch so verrückt, ein ehrlicher Mann werden zu wollen. Geben Sie es auf, Ellermann, es ist ein undankbares Beginnen und führt zu nichts!«

»Wenn ich den Fall Henderson –!«

Aber Credon unterbrach ihn mit einer nachdrücklich verächtlichen Geste.

»Reden Sie doch nicht, Ellermann. Seien Sie doch kein Frosch. Wenn Sie es noch nicht wissen. Sie werden's ja erleben. Der Verdacht kann noch so rein abgewaschen sein, da bleibt immer etwas hängen!« Er triumphierte überlegen. »Und nachdem, Ellermann? He, nachdem? Wollen Sie dann wieder ins Obdachlosenasyl?«

Ellermann dachte an Edith und an seine Liebe. Er schüttelte mit trübem Lächeln den Kopf.

»Nachdem ist ja alles gut, Credon – ich habe fünftausend Pfund – und meine Braut – –!«

Ellermann brach unwillkürlich lachend ab, als Credon grenzenlos entsetzt schien. Erst blickte er Ellermann ungläubig an, dann schüttelte er verzweifelt den Kopf. Und jetzt schien er Ellermann endgültig verloren zu geben.

»Für so verrückt hätte ich Sie doch nicht gehalten, Ellermann!« Credon drehte sich kurz um und sprach kein Wort mehr. Eine Weile hantierte er mürrisch im Zimmer. Als Ellermann lächelnd ein Gespräch anknüpfen wollte, gab er keine Antwort.

Erst nach einer Stunde etwa fragte er ganz unvermittelt, welche Schuhnummer Ellermann hätte. Er ging dann hinaus und kehrte mit einem Paar eleganter Schuhe zurück. Dabei spielte ein spitzbübisches Lächeln um seinen Mund.

»Etwas will ich noch für Sie tun, Ellermann; ziehen Sie diese Schuhe an!« Er trat dicht zu Ellermann, griff in den einen Schuh und zog eine Einlegesohle hervor. Dann deutete er in das Innere des Schuhes. »Darin finden Sie alles, was Sie brauchen – falls es einmal schief gehen sollte. In jedem Schuh etwas – werden Sie glücklich damit!« Und alle Dankesworte wehrte er mürrisch ab.

Wenig später nun holte Credon mehrere Flaschen und Gegenstände hervor, gab Ellermann einen Wink, sich zu setzen und begann schweigend mit gewohntem Eifer zu arbeiten. Ellermann veränderte sich innerhalb einer halben Stunde. Aus dem schmalen sonnengebräunten Börsenmakler wurde ein stubenbleicher, sichtlich etwas sonderlicher Millionär.

»So, nun bewegen Sie sich, Ellermann:« Aufmerksam prüfte Credon die geringste Bewegung, während Ellermann durch das Zimmer ging und sich in seine neue Rolle zu finden versuchte. Es fiel ihm nicht schwer. Credon hatte kaum etwas auszusetzen. »Etwas gebeugter, Ellermann – so, ja. Das Gesicht noch ein bißchen nervöser – so, richtig. Sie haben Ihr Leben lang über Juwelensammlungen gehockt – gut – nun sprechen Sie!« Er lauschte aufmerksam auf Ellermanns verstellte Stimme. »Ein wenig mehr noch krähen – schärfer – richtig – gut, Ellermann. Es ist zu merken, daß Sie Schauspieler gewesen sind!«

Ellermann dankte mit einem zufriedenen Lächeln. Nun erwartete er ungeduldig Mister Flapp und den Beginn ihres Abenteuers. Sie würden alles noch einmal miteinander besprechen. Dann ging es zur Tat über. Nochmals hatte Credon den in der Mitte des Zimmers stehenden Ellermann mit wohlgefälligen Blicken und wie es schien auch mit leisem Bedauern betrachtet. Nach einer Weile näherte er sich ihm.

»Ich will Sie ja nicht drängen, Ellermann – jeder muß schließlich sehen, wie er seinen Weg findet!« Er grinste vergnügt und zwinkerte mit den Augen. »Aber wenn Sie den Fall Henderson gelöst haben – und wenn dann Ihre verrückten Ideen sich als unausführbar erweisen – dann denken Sie an mich und kommen Sie zu mir!«

»Es kommt kaum in Frage, Credon!«

»Wenn schon – manches im Leben wird anders als man denkt!« Credon überlegte kurz und nickte dann wohlwollend. »Jedenfalls bin ich immer gern bereit, aus Ihnen etwas Brauchbares zu machen. Ellermann, Ihnen fehlt noch Uebung und etwas Schneid – dann können Sie es getrost mit Mister Flapp aufnehmen!«

Durch Mister Flapps Rückkehr wurden sie unterbrochen.

»Allright!« Mister Flapp ließ sich lachend auf den Diwan fallen und sah die beiden triumphierend an. »Hat wirklich famos geklappt, habe gleich Auftrag noch für eine neue Anlage im Kontor bekommen. Bedaure, mein Herr, wird sich nicht ausführen lassen!«

Fred Ellermann betrachtete Mister Flapp mit einiger Bewunderung.

»Und wie wollen Sie nun eigentlich nachher in den Laden kommen?« fragte er nach einiger Ueberlegung. »Wenn Sie so rasch zur Stelle sein müssen – sicherlich sind Sie doch schon vordem im Verkaufsraum!«

Mister Flapps Lächeln versiegte und wich der Härte entschlossener Abwehr.

»Hören Sie, Ellermann – unter uns gesagt, gibt es eine Regel, die sich immer als nützlich erweist: Mund halten, und wenn es dem Bruder gegenüber ist. Jeder auf eigenes Risiko. Sonst hätte ich schon öfter gesessen!« Er erhob sich und reichte Ellermann freundlich die Hand. »Das ist kein Mißtrauen gegen Sie, Ellermann, aber man sollte kaum sich selbst vertrauen, viel weniger noch einem anderen!«

Geschickt verstand Mister Flapp es, den Eindruck dieser Worte zu verwischen und mit einem leichten, halb scherzhaften Geplauder die Zeit zu vertreiben. Dann endlich war ihre Zeit gekommen.

Unwillkürlich legte sich in Ellermanns Gestalt schon jetzt die Wesensart seiner Rolle. Mister Flapp war begeistert, als Ellermann mit den etwas unsicheren, nervösen Bewegungen eines Stubenhockers durch den Raum ging und im Tonfall eines sonderlichen, weltfremden Sammlers sprach.

»Richtig, Ellermann. Nun los!«

Sie gingen nebeneinander durch mehrere Straßen. Plötzlich bog Mister Flapp in einen Torweg und betrat am Ende desselben eine Garage. Er wechselte einige Worte mit dem dortigen Monteur. Dann wurde eine der Boxen geöffnet und ein überaus eleganter Wagen hervorgerollt.

Fast im selben Augenblick kam auch schon der engagierte Chauffeur. Er nickte Mister Flapp vertraulich zu, strich mit einer spöttisch liebkosenden Geste über seinen vornehmen Chauffeuranzug und setzte sich ans Steuer.

»Bitte!« Mister Flapp öffnete den Schlag und ließ Ellermann einsteigen. »Er fährt Sie eine halbe Stunde spazieren – inzwischen habe ich meine letzten Vorbereitungen getroffen. Handschuhe besitzen Sie doch?«

»Ja!« Ellermann deutete lächelnd auf seine Seitentasche.

Ein kurzer kameradschaftlicher Händedruck. Der Schlag klappte zu. Mit sanftem Ruck fuhr der Wagen an, und Ellermann war mit sich allein, während er in flotter Fahrt durch die Straßen der City rollte.

Ruhig und sicher bereitete er sich innerlich auf seine Rolle vor. Er ließ keine Bedenken mehr aufkommen. Ein Zurück gab es nicht mehr. Und während er sich alle Einzelheiten seines Vorhabens noch einmal durch die Gedanken gehen ließ, blickte er gleichmütig zur Seite hinaus in das Verkehrsgetriebe der Straßen.

Einmal kam er in Versuchung, mit dem in Aussicht stehenden Gewinn bereits zu rechnen. Aber nur für den Bruchteil einer Sekunde. Wie eine eindringliche Warnung hörte er Mister Flapps Worte wieder in sich klingen:

»Bei allen Teufeln, Ellermann – nichts vordem rechnen – so denken, als könnte alles schief gehen!«

Und dieser Ermahnung folgend, gab er es auf, darüber nachzudenken, wie er Edith das versprochene Geld zustellte und was er mit dem anderen begann. Das hatte Zeit, bis er sich im Besitz des Geldes befand. Einen Augenblick betrachtete er lächelnd seine Hände, dann streifte er die Handschuhe darüber.

Schneller als Ellermann es erwartet hatte, hielt der Wagen vor dem großen Juwelengeschäft Bialer. Im selben Augenblick eilte auch schon ein jüngerer Angestellter herbei und öffnete den Schlag.

Fred Ellermann wurde nun in den Lauf der Ereignisse gerissen, ohne auch nur eine Sekunde zögern zu können. Jetzt hatte nicht mehr er zu bestimmen. Nun gehörte er zum Bestandteil eines sorgfältig ausgeklügelten und automatisch sich abwickelnden Planes. Nur aufpassen und die Geistesgegenwart bewahren. Etwas anderes gab es nicht mehr.

Und weder Fred Ellermann noch Pary Gill betrat die Verkaufsräume des Juweliers, sondern ein geschäftsmäßiger, etwas bleicher und nervöser Amerikaner, dessen Gesten und Bewegungen schon die unwahrscheinliche Höhe des Bankkontos zu beweisen schienen.

»Was steht dem Herrn zu Diensten?« Zwei Angestellte umgaben den aussichtsreichen Kunden.

Fred Ellermann bewegte die Lippen nicht. Er griff lässig in die Tasche und gab eine Karte. Und als die Angestellten den Namen eines großen amerikanischen Konzerns erblickten, knickten sie förmlich in sich zusammen.

»Sehr wohl – wenn der Herr sich bemühen wollen!« Man führte Ellermann an einen Tisch im Hintergrund des länglichen und nicht sehr breiten Ladens. »Einen Augenblick der Herr –!« Man schob Ellermann einen Sessel hin und holte den Chef persönlich, der auch bald mit strahlendem Gesicht erschien.

Mit verstohlenen Blicken hatte Ellermann die anwesenden Personen gezählt. Fünf Verkäufer, der Chef und ein Kunde. Der Weg zum Ausgang war schnurgerade und ohne Hindernisse. Vier Angestellte hielten sich mit ihrem Chef diensteifrig in der Nähe des vornehmen Amerikaners auf. Nur einer bediente den einzelnen Kunden. An der Tür selbst befand sich niemand

Und während Fred Ellermann mit gut verstellter Stimme ein wenig mürrisch seine Wünsche vortrug, berechnete er sorgfältig die Reihenfolge der später notwendigen Bewegungen. Er hatte ja nichts zu tun, als entsetzt aufzuschreien und hinauszulaufen. Alles andere ging ihn nichts an.

Der Weg zur Tür, vielleicht dreißig Schritte, überlegte Ellermann. Es würde dunkel sein. Jedenfalls mußte man den jähen Uebergang vom grellen Licht ins abendliche Dämmern als dunkel empfinden. Und selbst für den Fall, daß sich jemand in seinen Weg stellte, konnte er ihn zur Seite stoßen.

»Wenn der Herr etwas ganz Außergewöhnliches –« Der Chef selbst eilte davon und kehrte nach zwei Minuten wieder. Er öffnete einen glänzenden Ebenholzkasten und legte ein altes Schmuckstück frei, das Ellermann einen ehrlichen Ausruf der Bewunderung entlockte.

Und nun war Fred Ellermann bei der Sache. Bis der Abend nahte, mußte er sich intensiv mit der Auswahl einiger Schmuckstücke beschäftigen.

Ellermann hob den Elfenbeinkasten und ließ die Steine im Licht des Tages glitzern. Er nickte außerordentlich zufrieden, hob dann mit zittrig nervösen Bewegungen seiner Hand den Schmuck heraus und wendete ihn nach allen Seiten.

»Fabelhaftes Stück!« äußerte er mit zögernder Anerkennung.

»Alter englischer Familienschmuck!« erklärte der Chef und konnte sich nicht enthalten, auch die Geschichte dieser Familie im Plauderton zu erzählen.

Ellermann lächelte etwas herablassend.

»Na ja – der alte Adel – gewiß!« So ungefähr: die kommen mit uns amerikanischen Geldleuten nicht mit. »Gewiß – sehr schönes Stück!« Und dann fragte er mit einer Ruhe nach dem Preis, als spielten Millionen nicht die geringste Rolle.

Er zuckte mit keiner Miene, als der Chef eine unwahrscheinlich hohe Summe nannte. Erst nach einiger Ueberlegung schüttelte er den Kopf.

»Zu teuer!« Er begann fachmännisch zu prüfen und auch zu handeln. Er betrachtete forschend jeden einzelnen Stein des Schmuckes, und als er bemerkte, wie der Chef ein wenig erstaunt auf seine behandschuhten Hände blickte, zog er lässig die Handschuhe aus. Es konnte ja nicht schaden, der Schmuck mit seinen Fingerabdrücken geriet ja in Mister Flapps Besitz. Und sicherlich war es nicht Sitte, bei der Auswahl kostbarer Schmuckstücke die Handschuhe anzubehalten.

Er erzielte keine rechte Einigung und bot dann selbst eine Summe. Bis der Chef nickte und sich einverstanden erklärte.

»Gut!« sagte Ellermann. »Dieses Stück also!« Und da ein Verkäufer es sogleich weglegen wollte, wehrte er ab. »Nein, nein, warten Sie – sicherlich finden wir noch Passendes dazu – vielleicht einen schönen Ring – vielleicht auch ein Diadem, das ebenfalls seine Geschichte hat – wissen Sie!« Und nun erzählte er dem Chef von seiner Sammlung, die einen Millionenwert hatte und deren einzelne Stücke alle ihre Geschichte handgezeichnet auf einem Pergament besaßen. »Sie müssen mir diese Geschichte dann noch aufschreiben – ich habe einen großen Kellersaal – Tresor natürlich – die einzelnen Stücke auf Polstern und daneben immer die Geschichte. Ich zahle Scheck auf eine Londoner Bank – Sie schicken mir die Sachen dann in etwa vier Wochen nach Neuyork – ich möchte mich mit dem Zeugs in London nicht belasten!«

Seine ganze Art erweckte Vertrauen und machte einen geradezu begeisternden Eindruck auf den Chef, der immer diensteifriger wurde. Solche Kunden mußte man sich halten. Zahlung per Scheck, Auslieferung der Ware erst nach Wochen, wenn der Scheck bereits lange eingelöst war.

Und vor Fred Ellermann häuften sich die kostbarsten Dinge, ruhig und gelassen von ihm betrachtet. Mehrere Samtplatten mit kostbaren Ringen lagen neben seidenen Polstern, auf denen Halsbänder und Armreifen ruhten. Ellermann dachte unwillkürlich an den ungeheuren Wert der Beute, die Mister Flapp hier machen wollte. Und dieses Unternehmen, trotzdem fünf Verkäufer, aufmerksame und berufsmäßig mißtrauische Männer, ihn umgaben.

Langsam näherte sich der Abend. In Gedanken berechnete Ellermann bereits die Minuten, bis es notwendig wurde, das elektrische Licht einzuschalten. Schon jetzt glaubte er zu spüren, daß sein Herzschlag dann für Sekunden aussetzen mußte. Und auf Sekunden kam es an.

Er wählte ein kostbares Halsband und legte es zum Ebenholzkasten. Mehrere auserlesene Ringe kamen hinzu. Ellermann wunderte sich selbst, welchen fabelhaften Geschmack er entwickelte. Und er empfand eine leichte Freude im miterlebten Gefühl, dieses Kaufens nach Belieben, ohne Rücksicht auf materielle Hindernisse.

Dann – überraschend schnell – war der Augenblick gekommen. Ellermann riß sich zusammen. Die gespielte Nervosität seines Wesens wurde noch um eine Nuance echter.

Der Chef sah auf und blickte prüfend durch den Laden. Ellermann beugte sich etwas weiter über die Kostbarkeiten.

»Wir wollen Licht machen!« Der Chef machte eine halbe Wendung zu der hinter ihm befindlichen Wand, während die Angestellten ruhig einige Schritte entfernt stehen blieben.

Jetzt hatte er die Hand am Schalter. Ellermann sah es nicht, aber deutlich hatte er das Bild vor sich. Der Schalter, die beiden Finger, die jetzt ...

Das kurze Geräusch des Schaltens. Helles Licht flutete durch den Raum und über den Ladentisch. Die Steine funkelten und glitzerten. Ellermann zählte die Sekunden und hörte die Stimme des Chefs nur noch wie aus weiter Ferne.

Unendlich langsam schleichend und qualvoll schienen diese letzten Minuten zu verstreichen. Ellermann glaubte schon, Mister Flapps Plan würde scheitern.

Dann plötzlich ein lauter, ohrenbetäubender Knall. Alle Glühbirnen mußten zu gleicher Zeit geplatzt sein. Jäh schien alles aus der blendenden Helle in tiefschwarzes Dunkel zu tauchen. Es flimmerte vor Ellermanns Augen. Er sah den feinen weißen, nach unten schwebenden Staub. Die Angestellten schrien auf. Und Ellermann übertönte sie mit seiner Stimme.

»Um Gottes willen – mein Geld!« Jäh machte er eine Wendung zur Tür.

Blitzschnell sah er neben sich einen dunklen Schatten auftauchen, an den Ladentisch. Mister Flapp, durchfuhr e« ihn. Dann hörte er einen durchdringenden Schrei des Chefs.

»Meine Augen!« rief jemand.

Schon setzte Ellermann in langen Sprüngen durch den Laden, stieß einen im Weg stehenden Verkäufer zur Seite und erreichte die Tür. Mit einem Ruck auf. Kurz drehte er sich nochmals um. Am Ladentisch erhob sich jener schwarze Schatten, hielt etwas in der Hand und schoß jetzt durch den Laden ihm entgegen.

»Los!« Mister Flapp keuchte neben ihm.

Beide setzten über den Bürgersteig an den Wagen, dessen Schlag schon geöffnet war. Menschen eilten auf den Knall und das Geschrei hinzu. Irgendwo blitzte eine Uniform, erhob sich eine drohende Stimme.

»Haltet sie – Polizei –!« zeterte die Stimme des Chefs hinter Ellermann aus dem Laden.

Er wußte kaum, wie er in das Auto und auf die weichen Polster kam. Plötzlich nur fühlte er wieder Mister Flapp neben sich. Deutlich laut hörte er das Klappen des Schlages. Dann ein jäher Ruck, der ihn zurückriß gegen die Rückenpolster. Knatternd schoß der Wagen vor.

Ellermann hörte mehrere Schüsse, Geschrei, schrille Pfiffe, lautes Hupen. Und plötzlich Mister Flapps ruhige lachende Stimme.

» Allright, Ellermann – das war der beste Griff meines Lebens.«

Jetzt erst sah Ellermann wieder auf, als erwache er aus einer tiefen Betäubung. Sein erster Blick galt der Straße. Sie jagten in rasender Fahrt an Häuserreihen vorüber. Passanten blieben erstaunt stehen. Ellermann drehte den Kopf und blickte durch die kleine Scheibe nach hinten hinaus. Er sah zwei Autos, die ihnen in rascher Fahrt folgten. Auf den Trittbrettern standen Polizisten und Männer in Zivil. Alle mit vorgebeugten Oberkörpern, mit vorgestreckten Köpfen, als wollten sie jeden Augenblick losspringen und zupacken.

»Man verfolgt uns!« sagte er leise.

Mister Flapp lachte laut mit unheimlicher Ruhe.

»Es wäre komisch, wenn man uns nicht verfolgte, Ellermann!« Er wehrte gelassen ab und deutete auf den Chauffeur, der mit nervigen Fäusten das Steuer hielt. »Das überlassen Sie dem – entweder zerschlagen wir irgendwo an einer Mauer – oder wir kommen fort – man muß alles auf eine Karte setzen, wenn man gewinnen will!«

Und Mister Flapps Ruhe griff auf Ellermann über. Es erschien ihm plötzlich nicht mehr absonderlich, daß sie nun von zwei Verfolgern gehetzt durch die Straßen jagten, und daß Sekunden alles zum Guten oder Schlechten entscheiden konnten. Er empfand kaum Erschrecken, wenn sie in den Kurven jäh gegen die Seitenwände des Wagens geschleudert wurden. Er vertraute dem Chauffeur, wie er Mister Flapp vertraute. Fast schon empfand er den nervenfiebernden Reiz des routinierten Spielers.

Mister Flapp deutete auf einen kleinen Lederkoffer neben sich.

»Ich will zehn Jahre Zuchthaus haben, wenn auch nur ein Ring auf dem Tisch geblieben ist!« lachte er vergnügt. »Vier Wochen, Ellermann – genau vier Wochen lang habe ich täglich mehrere Stunden vor einem Tisch mit Talmi gestanden und trainiert.«

Ellermann sah wieder zurück. Die beiden Autos waren in einiger Entfernung noch hinter ihnen. Er blickte Mister Flapp an.

»Und nachher –?«

»Was nachher?« schien Mister Flapp erstaunt. »Der Wagen bleibt irgendwo stehen – Geschäftsunkosten – Sie gehen Ihren Weg – ich den meinen!« Und plötzlich schien er Ellermanns Frage zu verstehen. Er lachte und blinzelte verschmitzt. »Ach so, Ellermann –« Gelassen fuhr seine Hand zur Brieftasche. Und ruhig, als gäbe es weder Polizei noch Autos, zählte er Ellermann fünftausend Pfund Sterling auf die Knie. »Das gehört Ihnen!«

Ellermann ergriff die Banknoten und steckte sie lose ein. Er hörte jetzt, wie der Chauffeur viermal kurz hintereinander hupte. Mister Flapp fuhr herum. Das schien ihm zu gelten. Er warf einen kurzen Blick auf die Straße und sah dann wieder Ellermann an.

»Sie sind gleich dort, Ellermann – passen Sie genau auf. Wir halten vor einem Haus. Sie hinein, Treppen hinauf, Dachboden, dort über di« Leiter auf das Dach. Nach rechts bis zu der offenen Luke eines der nächsten Häuser, dort hinunter bis ins Erdgeschoß, nach hinten hinaus auf den Hof – über eine niedrige Holzplanke, auf einen anderen Hof – und Sie befinden sich in einem Torweg, durch den Sie gemütlich in die Regentstreet spazieren können. Gegen 9 Uhr abends kommen Sie nach Credon. Haben Sie alles behalten, Ellermann?«

Ellermann nickte. Er wiederholte rasch die Beschreibung des einzuschlagenden Fluchtweges und äußerte seine Anerkennung über Mister Flapps Umsicht.

»Notwendig –« Mister Flapp grinste. »Ich beschäftige mich in jedem Jahre nur mit einer Sache – sorgfältig vorbereitet – die geht dann glatt, und bis zum nächsten Jahre reicht es wieder!«

Plötzlich schrien die Bremsen auf. Der Wagen hielt mit einem Ruck. Und ehe Ellermann noch etwas äußern konnte, hatte Mister Flapp den Schlag schon geöffnet und ihn hinausgeschoben.

»Dort!« deutete Mister Flapp auf einen Eingang. Dann knallte der Schlag zu, der Wagen schoß davon.

Fred Ellermann drehte sich kurz um und betrat das Haus. Im Halbdunkel des hereinbrechenden Abends hatte ihn kaum jemand gesehen. Während er über die Treppen zum Dachboden hinaufeilte, hörte er unten die Wagen der Verfolger vorüberjagen. Hinter ihm aber, im Treppenhaus, blieb es ruhig. Selbst wenn ein Bewohner dieses Hauses ihn beobachtet hätte, fand er keine Gelegenheit, es den Verfolgern mitzuteilen, denn diese jagten in rasendem Tempo vorüber.

Und oben öffnete Ellermann die Dachluke, stieg hinaus in das abendliche Dunkel, das sich träge jetzt auf die Häuser senkte und die scharfen Umrisse seiner Umgebung verhüllte.

Ellermann eilte nach rechts über mehrere Dächer, bis er eine geöffnete Luke fand. Er stieg in den Dachboden, ging dann ruhig wie ein harmloser Besucher die vier Treppen hinunter ins Erdgeschoß und wendete sich nach hinten in den Hof. Auf der Straße war alles ruhig.

Wie Mister Flapp beschrieben hatte, fand er die richtige Holzplanke und schwang sich hinüber. Ein zweiter Hof nahm ihn auf. Durch einen Torweg trat er hinaus in das bewegte Leben der Regent-Street.

Unter bunt leuchtenden Reklameflächen schritt er zwischen hastenden Passanten durch das lärmende Getriebe der City und dachte an Edith. Er fühlte den Druck der Banknoten in seiner Tasche. Morgen konnte er Edith das erforderliche Geld bringen, konnte sich mit ihr verständigen. Er empfand eine freudige Erwartung in der Aussicht, ihr gegenüber alles aussprechen zu dürfen, alles aus sich heraus zu reden, was ihn belastete und quälte.

Unversehens stieß er mit einem Passanten zusammen und schreckte auf. Belanglose Worte gegenseitiger Entschuldigung und beide gingen weiter. Aber dieser Anprall hatte ihn aus seinen Grübeleien aufgeschreckt. Seine Blicke glitten die Straße hinunter. Jetzt dachte er wieder an sich und bemerkte, er hatte in Gedanken eine falsche Richtung eingeschlagen.

Nur jetzt nicht grübeln, dachte Ellermann. Erst in Sicherheit sein, dieses Aussehen loswerden und sich wieder als Pary Gill bewegen. Dann hatte er Zeit genug zum Grübeln und dann – –. Schon gingen ferne Gedanken wieder über zu Harms.

Langsam kam über Fred Ellermann eine große Ermüdung. Die Anspannung der letzten zwei Stunden machte sich bemerkbar. Er maß mit mißtrauisch prüfenden Blicken die uniformierten Polizisten an der Bordschwelle und atmete jedesmal auf, wenn er im Vorüberschreiten keinen mißtrauischen Blick bemerken konnte.

Fred Ellermann wurde nervös. Er dachte daran, daß die Beschreibung des angeblich reichen Amerikaners rasch an alle Polizisten gegeben werden konnte. Dieser Gedanke machte ihn unruhiger. Vielleicht besaßen die Polizisten bereits sein Signalement und suchten mit ihren verborgen lauernden Blicken schon nach jenem Amerikaner. Rascher schritt Ellermann aus, Credons sichere Räume zu erreichen.

In abendlicher Ruhe lag jene Straße, als er sie betrat. Zeitweilig nur das Dunkel durchbrochen von den trüben Lichtkreisen der Laternen. Noch einige hundert Schritte. Dann konnte er in den Torweg einbiegen, hinten an die Tür klopfen und sich unter Credons Fingern wieder verändern. Credon und Mister Flapp würden mit ihm zufrieden sein. Als Pary Gill wollte er das Haus wieder verlassen und zu Edith eilen.

Fred Ellermann fuhr erschrocken zusammen, als ihn plötzlich eine Hand jäh aus dem Dunkel an der Schulter packte und seitlich in einen Treppenflur riß. Er wollte sich wehren, erkannte aber im selben Augenblick die Stimme.

»Sssst, Ellermann, ganz ruhig!«

Es war Mister Flapp, der hier verborgen im Hausflur stand und Ellermann abfing.

Ellermann erschrak.

»Was ist dann geschehen?«

»Credon ist verhaftet worden!« knurrt« Mister Flapp mürrisch und machte eine Kopfbewegung zu jenem gegenüberliegenden Torweg. »Anscheinend hat der Monteur von der Garage nicht dicht gehalten. Man hat unseren Wagen gefunden, die Garage ausfindig gemacht und ist so auf Credon gekommen!«

»Und vorher wissen Sie das schon?«

»Weiß ich nicht – kann ich mir denken!« Mister Flapp gähnte, als wäre nichts Besonderes geschehen. Dann spähte er vorsichtig hinaus. »Ein verfluchtes Volk – kein Aas da drüben zu sehen – wäre selbst in die Falle gerannt, wenn ich nicht vorsichtshalber vordem angerufen hätte!«

Beide standen nun schweigend nebeneinander und spähten hinaus. Drüben beim Torweg regte sich nichts. Vermutlich warteten die Beamten versteckt, daß die beiden Juwelendiebe zurückkehrten.

In Ellermann aber regte sich plötzlich eine andere Sorge und wurde ihm eindringlich zum Bewußtsein einer ernsten Gefahr.

»Mister Flapp – was nun – unsere Veränderung!« stieß er plötzlich hervor. »Man kennt mein jetziges Aussehen – ich müßte wieder als Pary Gill erscheinen!«

Mister Flapp lächelte geringschätzig und versuchte, ihn zu beruhigen.

»Das geht jetzt eben nicht, Ellermann. Sie müssen sich so lange in dieser Maske bewegen, bis wir Gelegenheit haben –!« Er brach plötzlich ab und deutete über die Straße. »Da sehen Sie!«

Deutlich konnten sie beobachten, wie ein Zivilist aus dem Torweg auf die Straße trat und sich prüfend umblickte. Dann verschwand er in Richtung der City.

»Natürlich einer aus Scotland-Yard!« Mister Flapp sprach leise, ein wenig hastig. »Das hilft nichts, Ellermann – andere Kleidung, andere Frisur – das schaffe ich Ihnen in einer halben Stunde; aber einige Tage müssen Sie schon darauf verzichten, wieder Pary Gill zu werden.« Als er Ellermanns bestürztes Gesicht sah, fügte er begütigend hinzu: »Sie können sich auf mich verlassen, Ellermann, ich mache jemanden ausfindig, der Pary Gill wieder in Erscheinung treten läßt – zwei, drei Tage vielleicht!«

Und mit dieser Tatsache mußte Fred Ellermann sich abfinden. Mister Flapp beobachtete noch eine Weile die Straße, dann drehte er sich um zur Tür des Hausflures, in dem sie standen, und öffnete mit einem kleinen Werkzeug. Rasch und leise schritten sie durch den Hausflur in den dahinter befindlichen Hof und erreichten nach Ueberwindung kleiner Hindernisse die nächste Straße.

Eine halbe Stunde noch. Dann betraten sie Mister Flapps kleine Wohnung, die aus zwei behaglich eingerichteten Räumen bestand.

»Credon hält dicht – vermutlich muß man ihn nach einer Woche wieder freilassen!« äußerte Mister Flapp. »Legen Sie sich hin – ein wenig schlafen!« Er streifte Ellermanns Gesicht mit raschem Blick. »Sie haben's nötig, Ellermann!«

Und Ellermann wurde von einer Erschöpfung befallen, die keine klare Ueberlegung zuließ. In ihm fieberte und pulste es unermüdlich. Er war nicht mehr Pary Gill. Und Edith kannte nur diesen. Er mußte ihr fremd sein in seinem jetzigen Aussehen. Und trotz dieser unruhigen Gedanken sank er kaum zehn Minuten später auf dem Diwan in einen festen, schweren Schlaf.

Als Ellermann erwachte, war es heller Tag. Mister Flapp saß unweit in einem Sessel, rauchte Zigaretten und studierte mit offensichtlichem Vergnügen die Morgenzeitung.

»Fabelhaft, Ellermann – Sie sind über Nacht eine Größe ersten Ranges geworden; man bekommt Achtung, Sie werden berühmt.« Er lachte und hielt Ellermann die Zeitung entgegen.

Und wieder sah er seinen Namen wie erst vor einigen Tagen. Schreiend drängte die Ueberschrift sich ihm in fetten Lettern auf.

»Sensationeller Juwelenraub Ellermanns. Keine Spur des Gesuchten!« las er mit tonloser Stimme, lenkte dann den Blick in Mister Flapps lachendes Gesicht. »Aber ich – Sie waren doch der Juwelenräuber, Mister Flapp!«

»Gewiß – das wissen die aber doch nicht!« Er wehrte gleichmütig ab und wurde einen Augenblick ernst. »Ein bißchen Reklame kann nicht schaden, Ellermann – diesmal haben Sie die Handschuhe liegen lassen – die Aufregung, natürlich – ganz verständlich!« Er lächelte ohne Vorwurf und nickte Ellermann ermunternd zu. »Noch ein, zwei solcher Unternehmen – und Sie begehen nicht mehr diese kleinen Fehler!«

In Ellermanns Bewußtsein aber drängte sich unerbittlich Ediths Gesicht, mit dem schmerzlichen Ausdruck der Augen und dem herben Zug des Mundes. Sie würde die Zeitung lesen. Und sie wußte, er war Ellermann. Ihr Vertrauen zu seiner Liebe mußte schwinden. Er war zum Verbrecher geworden.

Mister Flapp schien seine Gedanken zu erraten. »Ein wenig naiv, Ihre Anschauungen, Ellermann – darüber setzen Sie sich hinweg, man stolpert zu leicht!« Er lachte, als Ellermann in stummer Resignation den Kopf schüttelte. »Na ja – Sie leben sich schon noch ein!«

Fred Ellermann aber wußte nicht, wie er nun mit Edith sprechen sollte. Alles mußte sie wissen. Nichts wollte er ihr verbergen. Und das Geld? Er griff mit einer hastigen Bewegung an die Seitentasche, ließ die Hand jedoch mutlos sinken. Er brauchte ja dieses Geld, wenn er sich nicht der Polizei überliefern wollte. Und sie brauchte es, um ihr Werk zu vollenden. Vielleicht würde sie sich aus Liebe zu ihrer Arbeit bewegen lassen, sich über alle Bedenken hinwegsetzen.

»Ich muß gehen, Mister Flapp!« Er erhob sich rasch und entschlossen.

»Meinetwegen!« Mister Flapp deutete auf einen Schrank. »Aber erst suchen Sie sich dort einen Anzug aus – dann ändern Sie Ihre Frisur und versuchen Sie, ein etwas anderes Gesicht zu machen. Man wird Sie nicht erkennen!«

Ellermann erwiderte nichts. Schweigend hörte er die Ratschläge Mister Flapps und befolgte sie.

»Dort die Krawatten – dort Strümpfe!« Auch Flapp erhob sich. »Und vorläufig können Sie bei mir wohnen, bis ich jemanden gefunden habe, der Pary Gill wieder herstellt!« Mister Flapp sah Ellermann aufrichtig an. »Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir heute abend zu diesem Harms und sprechen ein vernünftiges Wort mit ihm!«

»Gewiß!« Erst jetzt dachte Ellermann wieder an Harms. Sollte er nicht doch noch mit einem Besuch bei Edith warten, bis er das Geständnis des verdächtigen Harms besaß? Würde er dann nicht Edith von seiner inneren Not überzeugen und die Beweggründe seines Handelns glaubwürdiger erklären können?

Dann fiel ihm ein, daß er Edith auch durch einen Besuch gefährden konnte. Wenn man ihn wider Erwarten auf der Straße erkannte und beobachtete, wenn man feststellte, zu wem er ging, dann mußten sich ihr zahlreiche Schwierigkeiten in den Weg stellen.

Und kaum gedacht, faßte er auch schon den Entschluß. Er wollte warten, bis er den endgültigen Beweis hatte. Einige Minuten dachte er mit Bangen daran, daß Edith inzwischen durch die Presseberichte ein falsches Bild von ihm bekommen und gegen ihn beeinflußt werden könnte. Er mußte ihr wenigstens eine Nachricht zukommen lassen und sie um Geduld bitten.

»Haben Sie Tinte und Feder, Mister Flapp?«

»Natürlich – dort!«

Ellermann setzte sich und schrieb rasch einige Zeilen an Edith. Er deutete an, daß bestimmte Gründe ihn zwängen, ihr einige Tage fernzubleiben. Er wollte seine ganze Energie aufwenden, recht bald alles zu einem glücklichen Abschluß zu bringen. Sie könnte sich ja denken, was ihn triebe und sie möge in Vertrauen zu seiner aufrichtigen Neigung sich gedulden und an ihn glauben.

Einen Augenblick zögerte er in der Absicht, noch etwas hinzuzufügen, sich vielleicht deutlicher zu erklären. Aber sie wußte ja alles, was sollte er über Dinge sprechen, die doch nicht mit wenigen Worten geklärt waren.

Kurz beendete er nun sein Schreiben.

»Ich bitte dich nochmals, Edith, glaube an mich. Alles wird dann gut, und dein Vertrauen wird mir die Kraft geben, alles Gewesene zu überwinden. Dein Pary!«

Mister Flapp hatte ihm schweigend zugesehen, während Ellermann nun den Brief faltete, in ein Kuvert schob und dieses verschloß. Jetzt legte er ihm mahnend die Hand auf die Schulter.

»Keine Dummheiten, Ellermann!«

»Unbesorgt – es hat mit unserer Sache nichts zu tun!«

»Weiß schon, Weibergeschichten.« Mister Flapp legte in dieses Wort seine ganze Verachtung und machte eine mißmutige Handbewegung. »Auch darüber kommen Sie hinweg. Alles Gute, Ellermann!«

Sie verabredeten sich für den Abend zu einem Besuch bei Harms. Dann betrat Ellermann aufatmend die Straße. Einen Augenblick sah er sich forschend um. Nichts Verdächtiges war zu sehen. Während er nun ausschritt, prüfte er sein Bild in den Fensterscheiben. Niemand würde ihn erkennen. Der Unterschied zwischen dem gestrigen Juwelenräuber und dem jetzigen Ellermann war trotz der nur geringen Veränderungen doch ein beträchtlicher.

Und nun erst überlegte Ellermann, wie er Edith den Brief zustellte. Wenn er ihn der Post anvertraute, erhielt sie ihn erst morgen früh. Bis dahin aber hatte sie etliche Zeitungsberichte gelesen und konnte schon gegen ihn beeinflußt sein. Befand sie sich jedoch im Besitz seines Briefes, ehe sie die Erörterungen der Presse las, dann bekamen alle Dinge für sie ein ganz anderes Bild, denn sie wußte dann, daß sie vertrauen durfte und sich nur gedulden mußte.

Ellermann rief eine Taxe an und stieg ein. Er nannte Ediths Adresse, befahl aber, eine Ecke vordem zu halten. Einige Minuten beschäftigte er sich mit Gedanken, selbst hinaufzugehen und den Brief durch den Türschlitz einzustecken. Aber er schrak zurück vor der Möglichkeit, daß sie gerade gehen wollte und ihm plötzlich in der geöffneten Tür gegenüberstand.

Als der Wagen an jener Ecke hielt, wurde sein Vorhaben rasch durch den Gang der Ereignisse entschieden. Ehe er die Taxe verließ, sah er Edith gerade aus dem Hausflur hervorkommen. Erschrocken setzte er sich wieder in die Polster des Wagens und wartete, wohin sie sich wenden würde.

Edith Golm sah sich nur flüchtig um und schritt dann sichtlich eilig in entgegengesetzter Richtung davon.

Nachdenklich blickte Fred Ellermann auf ihre hastbelebte Gestalt. Sekundenlang sprang in ihm die Bewegung auf, hinauszusetzen und ihr nachzueilen. Neben ihr zu schreiten, mit ihr zu sprechen. Dann jedoch empfand er dieses Zusammentreffen als außerordentlich günstig. Jetzt brauchte er seinen Brief niemandem anvertrauen, sondern konnte ihn selbst nach oben bringen.

Als Edith Golm hinter einer Ecke verschwunden war, betrat er rasch das Haus und ging nach oben. Mit einem schmerzlichen Lächeln der Erinnerung stand er vor der Tür und betrachtete ihr kleines Namensschild.

Aber er nahm sich zusammen, schob rasch den Brief durch den Schlitz und wollte sich abwenden. Fast im selben Augenblick jedoch hörte er unten auf der Treppe Schritte. Kam sie vielleicht zurück? Erschrocken trat er an das Geländer und lauschte hinunter.

Es mußten die Schritte eines Mannes sein, die sich langsam und träge näherten. Kurz entschlossen ging Ellermann hinunter, ohne sonderliche Eile. Als hätte er Miß Golm besuchen wollen und müsse nun wieder umkehren. Den Brief würde sie bei ihrer Rückkehr finden.

Auf dem Podest der zweiten Etage begegnete er einem älteren Manne in schlichter Kleidung. Dieser zog grüßend die Mütze und wollte vorübergehen. Er hielt ein geschlossenes Kuvert in der Hand. Ellermann stutzte, flüchtig erkannte er auf dem Kuvert den Namen Golm.

»Miß Golm ist nicht oben!« sagte er freundlich und blieb stehen, den Mann interessiert musternd. Unwillkürlich dachte er an jenen Abend, da sie in ein wartendes Auto stieg. Bisher hatte er sie nicht danach gefragt.

»Nicht oben?« Auch der Mann blieb stehen und schien jetzt in Ellermanns Gesicht zu forschen. »Sie wollten zu ihr?«

»Zu Miß Golm!« verbesserte Ellermann. »Ja ich fand die Tür verschlossen!«

Das jedoch schien dem Alten kein Beweis für ihre Abwesenheit. Er schüttelte besserwissend den Kopf und wendete sich wieder nach oben.

»Dann klopfen Sie nur tüchtig – nach einer Weile macht sie schon auf!« knurrte er, schritt dann weiter und fügte noch hinzu: »Ich weiß mit den Mietern Bescheid – ich bin der Portier.«

Ellermann wollte erwidern, daß er ja gesehen habe, wie Miß Golm das Haus verließ. Aber er bezwang sich, das konnte Verdacht erregen. Wie aber kam dieser Mann zu seiner Behauptung, sie werde schon noch öffnen?

Kurz entschlossen kehrte Ellermann wieder um, interessiert nun, mehr zu erfahren.

»Wenn Miß Golm doch noch öffnen könnte, dann komme ich mit!« äußerte er ruhig.

»Ja, kommen Sie man – ich klopfe schon!« Der Portier nickte gutmütig lächelnd und stieg langsam weiter neben Ellermann nach oben.

Ellermann sah jetzt auf das Kuvert. Es trug den Stempel der Hausverwaltung. Sicherlich eine Mietsmahnung. Er faßte den Entschluß, den Alten auszufragen. Alles interessierte ihn, sofern es Edith betraf. Und zugleich erschienen ihm die Aeußerungen des Portiers auch recht eigentümlich und regten seine Neugier an.

Als sie oben vor der Tür standen, begann der Portier kräftig zu klopfen, mit einer Sicherheit, die bewies, daß er sie bestimmt in der Wohnung vermutete.

»Sie können den Brief doch einfach einwerfen!« meinte Ellermann.

»Nützt ja nichts!« Der Alte schüttelte den Kopf und klopfte weiter. »Sie hat schon einmal behauptet, hätte einen Brief nicht bekommen!«

»So –« erwiderte Ellermann gedehnt, rasch nach einer Aeußerung suchend, die den Alten gesprächiger machen konnte. »Anscheinend bekommt sie also öfter solche Briefe – sicherlich doch wegen der Miete, wie?«

Der Alte grinste breit und schien plötzlich vertraulicher zu werden.

»Sie wissen anscheinend schon Bescheid!« erwiderte er leise. »Die dritte Mahnung für zwei Monat«!«

»Und wenn Sie dann kommen, macht Miß Golm einfach nicht auf, wie?« Ellermann lachte gezwungen. »Eigentlich eine nette Methode, Mahnungen fernzuhalten!«

»Ach ich –« Der Portier machte eine wegwerfende Geste, als wollte er andeuten, daß er selbst die unwesentlichste Person sei.

Ellermanns Interesse wurde reger. Der Portier beendete seinen Satz nicht, sondern betrachtete ihn mißtrauisch. Dann wendete er sich mit einer abschließenden Handbewegung der Tür zu und klopfte wieder. Anscheinend hatte er nicht die Absicht, sich weiter ausfragen zu lassen.

Ellermann aber ließ nicht nach. Der Portier schien mehr zu wissen, als er verriet. Wieder dachte Ellermann unwillkürlich an jenes Auto, und da der Portier jetzt die Achseln zuckte und doch zu zweifeln schien, fuhr er freundlicher fort.

»Wie hoch beläuft sich denn die Mieteschuld?« Erstaunt bemerkte er, wie der Alte bei dieser Frage zufrieden nickte und anscheinend nichts Besonderes daran fand. Ellermann wartete, bis er die Summe genannt hatte. »Gut, ich werde die Schuld und die laufende Miete für das nächste halbe Jahr bei Ihnen hinterlegen – Miß Golm wird es mir gelegentlich zurückerstatten!«

»Wirklich?« entfuhr es dem Alten. Und als Ellermann ihn erstaunt anblickte, fügte er begütigend hinzu: »Entschuldigen Sie – ich meinte nur so – weil doch –!« Er wurde unsicher und schien zu zögern, dem Fremden sein Wissen mitzuteilen.

»Wieso? Was meinen Sie?« In Ellermann kreuzten sich die verschiedensten Vermutungen. Er wurde unruhiger. Irgend etwas war hier nicht in Ordnung. Der Portier verbarg ihm etwas. Und Ellermann wollte – er mußte es wissen.

Lässig spielerisch hielt er eine beträchtliche Banknote zwischen den Fingern und blinzelte dem Portier zu.

»Die bekommen Sie!« meinte er lächelnd.

»Und wofür bekomme ich sie?« Der Alte schien auch an diesem Angebot nichts Erstaunliches zu finden.

»Wenn Sie mir ausführlich erzählen, was Sie alles über Miß Golm wissen!« Ellermann war entschlossen, nicht nachzulassen. »Sie taten vorhin so, als wären Sie nicht der Einzige, der vergebens an diese Tür klopft – und dann erweckten Ihre Worte den Eindruck, als wäre es Ihnen selbstverständlich, daß nicht Miß Golm, sondern eine andere Person die Miete bezahlt!«

Und Ellermann, der mit diesen Worten nur lauern und tasten wollte, erschrak, als der Alte bejahend nickte. Alle mißtrauischen Regungen der Zeit ihres Kennenlernens wurden wieder in ihm wach.

Er wendete sich mit einer einladenden Bewegung nach unten und schritt dem Portier voran. Hier oben konnten sie jeden Augenblick von Edith überrascht werden. Und der Portier schien ganz derselben Meinung zu sein. Bereitwillig führte er Ellermann in seine Halbkellerwohnung und bot ihm in der Stube Platz. Die in Aussicht gestellte Banknote erzielte eine verblüffende Wirkung.

Als Ellermann gerade eine Frage stellen wollte, öffnete sich die Tür und eine ältere Frau steckte neugierig den Kopf herein. Ihr Mann, der Portier, wies sie ärgerlich zurück. Da die Frau aber anscheinend trotzdem auf dem Korridor stehen blieb, ging er mißmutig zur Tür, steckte nun seinerseits den Kopf hinaus und sprach ärgerlich mit seiner Frau.

Ellermann lauschte und erschrak.

»Nun geh' schon – anscheinend hat sie einen neuen gefunden!« sagte der Alte abschließend.

Ellermann erhob sich heftig und stand dem Portier gegenüber. Der blickte erstaunt zu ihm auf, in sein erregtes Gesicht.

»Was war das eben?« herrschte Ellermann ihn an. »Sie ergehen sich in Aeußerungen über Miß Golm, die – –!« Irgendetwas in ihm krampfte sich zusammen. Er wollte, durfte und konnte nicht an seine ärgsten Vermutungen glauben.

Der Portier schüttelte verwundert den Kopf.

»Erst wollen Sie alles von mir wissen!« meinte er vorwurfsvoll. »Und nun schreien Sie mich schon an, wo ich noch gar nichts gesagt habe!«

»Dann erzählen Sie!« Ellermann stützte sich schwer auf den Tisch. »Vordem bezahlte ein anderer Herr die Miete und dieser mußte oft lange klopfen, ehe er eingelassen wurde?«

Der Portier nickte bedächtig.

»Ja, ein anderer Herr!« erklärte er dann. »Der Herr kam sehr oft bei Miß Golm und blieb oft sehr lange bei ihr. Er bezahlte nicht die Miete selbst. Ich erfuhr nur durch einen Zufall, daß Miß Golm sie von ihm erhielt!« Der Alte machte eine bedächtige Pause. Als Ellermann sich nicht äußerte, sprach er weiter. »Dann aber scheint er sich doch nicht mit Miß Golm vertragen zu haben – oder sie wollte nichts mehr von ihm wissen. Jedenfalls sprachen sie oft oben sehr erregt; dann wollte Miß Golm ihn anscheinend nicht mehr hineinlassen – er mußte lange klopfen. Bis er sich dann schließlich einmal mit mir unterhielt und mich ausfragte!« Der Portier warf Ellermann einen Blick zu, als wollte er sagen: »Genau so wie Sie jetzt.« »Ich sollte Miß Golm ein wenig beobachten und bekam gute Trinkgelder dafür!«

»Was sollten Sie beobachten?«

»Ob sie Besuch bekäme!«

»Und?«

»Sie hat nie Besuch bekommen – ist immer allein oben gewesen. Manchmal nur, dann ließ sie diesen Herrn wieder ein, aber jedesmal gab es Krach oben!«

»Und wie kamen Sie darauf, daß dieser Herr die Miete zahlte?« fuhr Ellermann leise fort.

»Na, ich ging einen Tag hinauf, die Miete zu kassieren – und da stand er im Laboratorium, und als ich etwas von der Miete sagte, sah sie ihn an. Er griff dann in die Tasche und warf einige Banknoten bin« Der Portier nickte nachdenklich und fügte hinzu: »Das war aber, als sie sich noch vertrugen.«

»Das ist alles, was Sie wissen?« fragte er aus seinen Gedanken heraus.

»Ja!« nickte der Portier.

»Und dann? Der Herr kam nicht wieder und seitdem wurde die Miete nicht mehr gezahlt?« Er blickte nachdenklich vor sich nieder. »Sicherlich haben sich die beiden doch vordem gestritten, ehe der Herr wegblieb und vielleicht haben Sie einmal einzelne Worte gehört, irgendwelche Aeußerungen aufgefangen?« lauerte er.

Der Portier schüttelte den Kopf.

»Ich habe nie Aeußerungen gehört. Beide schwiegen über den Grund ihres Streites. Und sie stritten sich auch nur dann, wenn niemand sie verstehen konnte!« Der Portier schwieg einen Augenblick als müßte er erst in seiner Erinnerung suchen. »Na, und dann eines Tages hatte Miß Golm mehrere Koffer gepackt und ließ sie wegbringen – wohin, weiß ich nicht. Und gegen Abend kam der Herr ganz erregt und wollte zu ihr. Ich sagte ihm das von dem Gepäck, und daß sie wahrscheinlich doch wegfahren wollte. Und seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen; er ist wie ein Wahnsinniger davon gelaufen – und dann – dann kam ja die Geschichte mit dem Ellermann dazwischen!«

Der Portier verstummte jäh, als Ellermann mit einem Laut des Erschreckens herumfuhr und ihn in höchster Erregung an den Schultern packte.

»Aber – –!«

Ellermann schien nichts mehr zu sehen und zu hören.

»Was hat das mit Ellermann zu tun?« stieß er keuchend hervor. Und als der Portier vor Erschrecken nicht antworten konnte, schrie er ihn an. »Mensch, sprechen Sie doch – was ist mit Ellermann – um Gottes willen, so sprechen Sie doch!«

Der Portier erholte sich rasch und entwand sich Ellermanns Händen. Vorsichtig trat er erst einen Schritt zurück.

»Was regen Sie sich denn auf, Herr!« Er schüttelte verständnislos den Kopf, während Ellermann ihn anstarrte. »Der Herr ging am Abend und am anderen Tage las ich in der Zeitung, daß irgendein Vagabund ihn erschossen hat!«

Fred Ellermann sank in sich zusammen, starrte vor sich auf den Boden und wußte im Augenblick nicht, was er denken und was er beginnen sollte.

»Und warum – ich meine – warum haben Sie das nicht der Polizei gemeldet?« fragte er mit tonloser Stimme.

»Warum der Polizei?« schien der Portier unangenehm berührt. »Man weiß doch, daß der Henderson das Opfer eines Raubmordes wurde – und wozu sollte ich mir und Miß Golm unnütze Scherereien mit den Behörden machen?«

Ellermann schwieg.

Langsam begann das Chaos seiner Gedanken sich zu ordnen. Zwar konnte er keine Schlüsse ziehen. Aber es gelang ihm, den Fäden zu folgen, die von Henderson aus nach verschiedenen Richtungen führten. Bisher war die Linie klar und deutlich gewesen. Sie ging von Henderson über Charter zu Harms. Jetzt aber ergab sich eine neue Verbindung, von Henderson über Charter zu jenem verstorbenen Professor Golm und seiner Tochter Edith. Und seltsamerweise berührte der Konflikt zwischen Henderson und Harms chemische Arbeiten. Jetzt zweifelte er nicht mehr daran, daß jene beiden Hefte von Professor Golm geschrieben wurden.

Also Henderson, Charter und Harms! dachte er, sich mühsam zu ruhiger Ueberlegung zwingend. Und dazwischen mußte sich irgendwo in der Kette der Ereignisse der Professor Golm befinden. Aber Edith? Von Henderson zu Edith führte eine Verbindung, die ihm jetzt durch einen Zufall zur Kenntnis kam. Henderson hatte sie besucht, sich mit ihr gestritten.

Ellermann erinnerte sich der Fragen jener beiden Kriminalbeamten und fast fand er in diesen eine gewisse Beruhigung. Henderson hatte Arbeiten des Professors Golm finanziert, und es war durchaus nichts Ungewöhnliches, daß er nach dem Tode des Professors nun auch die Arbeiten der Tochter finanzierte.

Ellermann sah auf. »Und nach Hendersons Ermordung, was geschah dann?« fragte er leise.

»Nichts geschah. Miß Golm kehrte mit ihrem Gepäck zurück, wahrscheinlich als sie erfuhr, daß sie nun keine lästigen Besuche mehr zu befürchten hatte. Sie sprach mit mir und bat mich, über Hendersons Besuche zu schweigen, da sonst ihr Ruf gefährdet wäre. Henderson hatte Geld für ihre Experimente gegeben, die Leute aber würden sicherlich glauben, es sei noch etwas anderes gewesen!«

Ellermann nickte. Das alles klang durchsichtig und verfänglich. Gewiß, Edith hatte sich bestimmte Arbeiten von Henderson finanzieren lassen. Er aber war dann sicherlich zu unerfüllbaren Forderungen übergegangen.

Aber der Browning! Warum erschrak sie beim Anblick des Brownings in seiner Hand? Kannte sie die Waffe? Credon behauptete, sie wäre nicht in der Presse beschrieben worden.

Ellermann fühlte den forschenden Blick des Portiers auf sich gerichtet und straffte sich unwillkürlich. Sein Blick fiel auf die Banknote zwischen seinen Fingern. Er fügte dieser eine zweite zu und reichte beide dem Portier.

»Ich danke Ihnen. Eine für Ihre Auskunft, die andere für Ihr ferneres Schweigen. Sprechen Sie mit niemandem mehr über diese Angelegenheit, verstehen Sie!« Und als der Portier beruhigend nickte, erinnerte er sich ihrer Mietsschuld und hinterlegte diese.

»Ich schweige schon!« versprach der Portier nochmals, während er Ellermann hinausließ und ihm kopfschüttelnd nachblickte.

Ellermann dachte nicht einen Augenblick daran, Edith in Beziehung zu jenem Mord zu bringen. Seine Neigung zu ihr ließ einen solchen Gedanken einfach nicht zu. Aber er dachte daran, daß die beiden bei Charter gefundenen Hefte unzweifelhaft dem Nachlaß des Professors Golm angehörten. Charter war der Erbschaftsverwalter gewesen. Aber Harms? Wie kam Harms in Beziehungen zu jenen chemischen Aufzeichnungen?

Charter mußte den Wert der Aufzeichnungen erkannt haben und hatte vielleicht die Absicht gehabt, sie mit Harms zu verwerten. Sicherlich über Henderson, mit dessen finanzieller Beteiligung. Von diesem Gesichtspunkte aus gesehen, ließen sich auch Harms' briefliche Aeußerungen erklären, daß er getäuscht worden wäre. Vielleicht ahnte er nichts von den unlauteren Absichten der beiden, und als er sie durchschaute, drohten sie ihm.

An diese leichte und klare Erklärung klammerte Ellermann sich mit hartnäckiger Ueberzeugung. Professor Golm kannte Charter, dieser wieder Henderson und Harms, und er wurde so der Mittler zwischen den einzelnen Personen der Handlung. – Und Edith?

Ellermann lächelte in Gedanken. Sie war ahnungslos hier mit den Fäden eines Geschehens in Berührung gekommen, das sie nur insofern anging, als es sich um die hinterlassenen Arbeiten ihres Vaters handelte. Sie stand vollständig isoliert außerhalb dieser Fäden zwischen den einzelnen Personen. Nur eine lose Bindung bestand mit Charter durch die Erbschaftsregelung und mit Henderson durch die finanzielle Hilfe. Da Edith Golm Harms nicht kannte, konnte sie auch in keinerlei Beziehung zum Tatort stehen und mit dem Mord nichts zu tun haben.

Als Ellermann gegen Abend Mister Flapps Wohnung betrat, schien dieser sehr erschrocken.

»Was ist Ihnen begegnet, Ellermann? Sie sehen aus wie der leibhaftige Tod!« Er schien eine Unvorsichtigkeit Ellermanns zu fürchten und eine dadurch veranlaßte Gefahr. Beruhigt atmete er auf, als Ellermann abwehrte. »Nichts, Mister Flapp – wenigstens nichts, was mit unserer Sache zu tun hätte!«

»Diese verfluchten Wei…!« Er brach kurz ab vor dem schmerzlichen Ausdruck in Ellermanns Gesicht. »Verdammt, Ellermann, es scheint Ihnen reichlich nahe gegangen zu sein – suchen Sie sich eine andere!«

Ellermann schien diese Aeußerung zu überhören.

»Sie kommen mit mir zu Harms?«

»Natürlich – möchte gerne ein vernünftiges Wort mit dem reden – von wegen Mordverdacht, sitzen lasten und so weiter!« Mister Flapp nickte zustimmend.

»Und jetzt gleich?«

Mister Flapp warf einen raschen Blick auf die Uhr, dann durch das Fenster ins Freie. Nun schüttelte er den Kopf. »Noch zu hell, Ellermann. Die Luft braucht nicht durchsichtig zu sein, wenn wir beide ausgehen; warten wir, bis es dunkel wird!« – »Meinetwegen!«

Und während er innerlich zur Ruhe kam, sich abklärte, wurde er sich bewußt, daß tief verborgen in ihm ein Verdacht gegen Edith lauerte und nur darauf zu warten schien, plötzlich mit niederdrückender Gewalt hervorzubrechen. Unentwegt kreisten seine Gedanken wieder um Edith, und Mister Flapp mußte ihn derb rütteln, als es an der Zeit war, sich auf den Weg zu machen.

Sie fuhren mit einer Taxe bis in die unmittelbare Nähe jener Ecke und betraten das Haus erst, als sie feststellten, daß kein Beamter zu sehen war.

Ellermann klingelte in fiebernder Unruhe. Er lauschte auf den Widerhall der Glocke im Korridor der Wohnung und wartete wie damals auf das Klappen einer Tür und auf die näherkommenden Schritte.

Aber es blieb still hinter der Tür.

Er klingelte ein zweites, ein drittes und viertes Mal. Nichts bewegte sich.

»Vermutlich nicht anwesend!« Mister Flapp schien das Türschloß prüfend zu mustern. »Hm – wie wäre es, wenn wir hineingingen?«

Ellermann zuckte die Achseln.

»Wir könnten beobachtet werden – es ist noch früh am Abend!«

Das jedoch schien Mister Flapp nicht zu stören. Er trat mit Ellermann auf die Straße zurück und wartete in einiger Entfernung, ob ein Bewohner des Hauses ihnen nachblickte. Da sich nichts bemerken ließ, kehrten sie bald wieder um, und Mister Flapp öffnete die Tür, als besäße er den richtigen Schlüssel.

Rasch traten sie ein und machten hinter sich zu. Einen Augenblick standen sie lauschend im Korridor. Draußen regte sich nichts, niemand hatte sie also bemerkt. Und nun bewegte sich Mister Flapp mit einer Sicherheit, die jahrelange Uebung erkennen ließ. Er holte Papiere und Briefe hervor, öffnete die Schreibtischschubladen mit der größten Ruhe und winkte Ellermann, schleunigst alles zu durchsuchen.

Ellermann stand am Tisch, blätterte hastig zwischen den Papieren und seufzte schwer auf, da sich nichts finden ließ.

Plötzlich stieß Mister Flapp einen leisen Pfiff aus und lachte. Er reichte Ellermann eine kleine Karte.

»Dorthin wird er gegangen sein!«

Ellermann sah erstaunt ein kleines ausgeschnittenes Zeitungsinserat, das jemand auf die Mitte einer sonst leeren weißen Karte geklebt hatte. Es handelte sich um die Reklame eines Tanzlokales mittleren Ranges.

»Heute trifft sich alles wieder einmal im ›Eldorado‹!« stand darauf. Sonst nichts, da dieses Tanzlokal in der Stadt genügend bekannt war.

»Sie meinen, dorthin ist er gegangen?« fragte Ellermann.

»Sicherlich – er erhielt das als Einladung zu einer Verabredung – ist doch offensichtlich!« Mister Flapp sah sich suchend um. »Dieser Harms scheint übrigens mit allen Hunden gehetzt zu sein. Das Kuvert mit der handgeschriebenen Adresse hat er vernichtet – es ist nicht zu finden!«

Beide zögerten einen Augenblick. Da sich aber zwischen den Papieren und Briefen nichts Bemerkenswertes befand, entschlossen sie sich, Harms in jenem Tanzlokal zu suchen. Rasch räumten sie alles wieder ein und verließen unbemerkt die Wohnung.

Während sie nun mit einer Taxe zu jenem Lokal fuhren, kreisten Ellermanns Gedanken um eine neue Frage, die ihn beschäftigen mußte. Wer schickte Harms auf diese seltsame Art die Aufforderung zu einer Zusammenkunft? Befand sich noch eine unbekannte Person im Spiel? Oder war es vielleicht Charter, der ihn sprechen wollte?

»Vielleicht!« erwiderte Mister Flapp auf seine Aeußerung. »Wir haben ja den Harms bald – und werden vermutlich nicht mehr lange rätseln müssen!«

Schon von weitem leuchtete ihnen die bunt schreiende Lichtreklame des stadtbekannten Tanzlokals entgegen. Als Ellermann neben Mister Flapp auf der Rolltreppe nach oben glitt, überkam ihn ein seltsames, unerklärliches Gefühl der Angst.

Auch Mister Flapp schien es zu bemerken, den Grund sogar zu erraten.

»Mensch, Ellermann, reißen Sie doch die Nerven ein bißchen zusammen. Solange konnten Sie die Zeit nicht abwarten, ans Ende zu kommen, und jetzt haben Sie Angst davor!« Er lachte nicht ohne Spott.

Musik und Tabaksdunst schlug ihnen entgegen, durchdrungen vom schlurfenden Kreisen Hunderter Schuhe. Sie blieben am Eingang stehen und blickten aufmerksam über die Köpfe des Publikums hinweg.

»Harms wird mich kaum erkennen – wie ich jetzt aussehe!« äußerte Ellermann, als wollte er sich selbst beruhigen. »Wir können uns also ziemlich ungezwungen bewegen.«

Sie gaben Hüte und Mäntel an der Garderobe ab, schritten dann lässig schlendernd durch den lebhaften Betrieb. Vom Podium der Kapelle schwang sich ein Tango durch den weiten Saal, wurde durch zahlreiche Lautsprecher verstärkt und wiegte die Paare in Drehungen durcheinander. Kellner eilten geschäftig hin und her.

Sie hielten sich am Rand des Parketts zwischen den Tanzenden und den langen Tischreihen an der Wand. Durch viele stoffbespannte Zwischenwände wurde die Tischreihe in eine Anzahl kleinerer Nischen geteilt.

Ellermanns Blick irrte unstet suchend durch dieses Gewirr, bald glaubte er Harms erkannt zu haben, dann wieder war es ein Irrtum, und suchend schritten sie weiter.

Plötzlich packte Ellermann in heftigem Erschrecken Mister Flapps Arm und zwang seinen Begleiter, neben ihm stehen zu bleiben. Ellermann war kreidebleich geworden, seine Hand zitterte, während er hastig einige Schritte zurücktrat.

»Was ist denn –?«

Ellermann unterbrach ihn kurz.

»Kommen Sie etwas zurück, ich möchte nicht gesehen werden!«

»Na, man erkennt Sie doch nicht!« lächelte Mister Flapp.

»Doch – sicherlich –!« Und Ellermanns Blick irrte wieder hinüber zu der querlaufenden Reihe zahlreicher Tische und Zwischenwände. Noch lag Unsicherheit in seinem Gesicht, die leise Hoffnung, sich getäuscht zu haben. Dann aber sah er klar und deutlich, was er seit Kenntnis jener seltsamen Einladung an Harms unbewußt bang erwartete.

Dort drüben an einem Tisch saß, allein und von niemandem beachtet, Edith Golm.

»Wenn Sie mir wenigstens sagen würden –!« wollte Mister Flapp sich erkundigen, wurde aber wieder unterbrochen.

»Nicht, Flapp – wir wollen hier bleiben – ich möchte den Tisch dort beobachten!«

Sie wurden durch eine der vielen Zwischenwände gedeckt. Edith Golm konnte sie von ihrem Platz aus nicht sehen. Ellermann dagegen entging nicht die geringste Bewegung.

Er bemerkte, wie Edith trübe vor sich in das Glas starrte und an nichts zu denken schien. Um ihren Mund lag jene herbe Falte, herber noch als sonst, und sicherlich würde auch wieder diese heimliche hilflose Angst in ihren Blicken liegen.

Aber noch wußte Ellermann ja nichts. Noch wartete er. Fiebernd in seiner Ungeduld und in der Angst, die jetzt bestimmter auf ihn eindringenden Vermutungen könnten sich bestätigen.

Dann trat der gefürchtete Augenblick ein. Aus dem Gewirr der Gäste löste sich die Gestalt eines Mannes und blieb vor Edith mit einer höflichen Verbeugung stehen. Sie wurde zum Tanz gebeten. Sie sah auf, anscheinend teilnahmslos, schien sekundenlang zu zögern. Dann senkte sie bejahend den Kopf.

Beide schienen einander fremd. Niemand konnte etwas Verwandtes zwischen ihnen bemerken. Fast zurückhaltend in ihren Mienen wiegten sie sich zwischen den anderen Paaren über das Parkett. Ellermann ließ sie nicht eine Sekunde aus den Augen. Er wußte ja, daß es kein Zufall sein konnte, wenn Harms und Edith sich hier trafen.

Eine Weile tanzten sie schweigend zusammen. Dann begannen sie leise miteinander zu sprechen. Alles in ihrem Aeußeren wirkte unnahbar, zurückhaltend. Aber Ellermann entging die Hast und die Angst nicht, mit der Edith die Lippen bewegte und eindringlich auf Harms einsprach.

Fred Ellermann wußte nicht, was ihm geschah. Was nun? Was nun? Diese Frage hämmerte in seinem Hirn, hämmerte in seinem Herzen und schrie vergebens nach einer endgültigen entscheidenden Antwort.

»Ellermann – Sie sind ja vollkommen hinüber – setzen Sie sich hin!« raunte Mister Flapp ihm zu.

Fred Ellermann schüttelte den Kopf. Der Kreis ist geschlossen! dachte er. Die eine Lücke fehlte bis jetzt. Die Verbindung zwischen Harms und Edith. Daß er nicht eher darauf gekommen war. Wie klar liefen jetzt die Ereignisse vor ihm ab, wie lückenlos verbanden die Fäden nun alle Personen zu einem einzigen eng zusammenhängenden Kreis.

»Edith!« Er wollte aufschreien in der Qual seiner Enttäuschung. Jäh sah er sich zurückgeschleudert in die Verzweiflung der ersten Tage seiner Haft.

»Setzen Sie sich, Ellermann – wir fallen noch auf!« stieß Mister Flapp jetzt heftiger hervor, faßte ihn am Arm und wollte ihn auf einen Stuhl niederziehen.

Ellermann riß sich mit einem Ruck los. Er blickte Mister Flapp an, wie einen Fremden, wie einen Feind.

»Ellermann, Sie werden ja wahnsinnig – Ellermann!« Mister Flapp wich erschrocken einen Schritt zurück vor dem Ausdruck in Ellermanns Gesicht.

Aber Ellermann wußte nicht mehr, was er tat, nicht, was ihm geschah. Mit einem Satz schnellte er vor, mitten hinein in die Paare der Tanzenden. Ehe Mister Flapp ihm folgen oder auf ihn einreden konnte, teilte er die erschrockenen Paare mit heftigen Armbewegungen auseinander, lief vor, stockte wieder und lief nochmals. Bis er den Ausgang erreichte, die Türen aufstieß und mit einigen Sätzen über die Treppe hinunter auf die Straße eilte.

Nur für den Bruchteil einer Sekunde stand er hier still, atmete tief die kalte nächtliche Luft ein, strich sich mit einer Handbewegung über die schweißfeuchte Stirn. Dann hetzte er davon.

Und in ihm fieberte und hämmerte es, schrie in ihm auf. Was nun? Was nun? Er sah weder die erstaunt aufblickenden Passanten, noch das Kopfschütteln der verwunderten Polizisten. Er bemerkte nicht, daß eine Taxe ihm folgte, auch nicht, daß der Schweiß ihm in dichten Perlen über Stirn und Gesicht rann.

Nur vorwärts jetzt, in Bewegung. Nur jetzt nicht zur Ruhe kommen, nur jetzt keinen klaren Gedanken fassen. Vorwärts, weiter, gehetzt, gejagt.

Er fühlte den Druck des Brownings in seiner Tasche und riß ihn mit einer kurzen Bewegung hervor. Die Berührung des kalten Metalls schien ihn zu ernüchtern. Plötzlich blieb er keuchend stehen, blickte nieder auf den Browning in seiner Hand und hob langsam die Waffe. Nachdenklich grübelnd blickte er in die dunkle Mündung. Der Browning, das war der Anfang, der Browning, das war das Ende!

Er lachte auf und hob den Blick. Er stutzte. Wie abwesend sah er auf einen kleinen, weißen Fleck an der Wand des Hauses. Und aus diesem schrie ihm höhnisch herausfordernd etwas entgegen.

»Edith Golm, Chemikerin!«

Fred Ellermann kam zur Besinnung. Mit einem bitteren Lächeln der Enttäuschung steckte er den Browning ein und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er schüttelte verwirrt den Kopf. Hier oben, drei Treppen, ein Laboratorium. Und dahinter ein kleiner Raum, in dessen wohliger Behaglichkeit ein glücklicher Traum begann.

Mechanisch und ohne Ueberlegung setzte er die Füße vor. Er schritt durch den Hausflur über den Hof und hinten über die schmalen Stufen nach oben.

»Edith Golm, Chemikerin!« Und hinter dieser Tür lag noch sein Brief. Sicherlich war sie inzwischen noch nicht wieder in der Wohnung gewesen.

Er lehnte sich schwer atmend gegen die Tür und dachte nach. Plötzlich überkam ihn eine Erschöpfung, die zur Ruhe zwang und die aufgepeitschten Nerven schläferte.

Was hatte er nun eigentlich getan? Ob sie ihn gesehen hatte im Saal? Ob sie wieder hierher kommen würde in diesen Raum? Ob sie ihn jetzt floh, wie damals Henderson?

Ohne Ueberlegung, nur seiner inneren Eingebung folgend, griff er in die Tasche und holte Credons Werkzeuge hervor. Er hantierte lange am Schloß der Tür, bis er öffnen und langsam eintreten konnte. Lässig warf er die Tür hinter sich zu und durchquerte mit schweren müden Schritten das Laboratorium. Dann blieb er stehen vor der geschlossenen Tür zu jenem kleinen Raum der Geborgenheit.

Erst nach einigem Zögern öffnete er die Tür, schleppte sich mühsam hinein, an jenen Diwan. Er setzte sich, starr auf den Boden blickend. Seine Hand machte eine Bewegung an den Browning. Langsam zog er ihn hervor und blickte wieder in die dunkle Mündung.

Dann trieb etwas in ihm auf. Unwiderstehlich strich die Erschöpfung alles Aufbäumen in ihm hinweg. Hilflos müde sank er auf den Diwan zurück, in der Hand noch den Browning. Er tastete verwundert in sein Gesicht, als es feucht wurde. Tränen, dachte er, gewiß – –

Und schluchzend barg er das Gesicht in den Kissen.

* * *

 


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