Ernst Willkomm
Reeder und Matrose
Ernst Willkomm

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31

Die See ging hoch. Kapitän Ohlsen saß vor seinem Journal und notierte die Abtrift des Schiffes seit den letzten zwölf Stunden. Die Bark ›Marie Elisabeth‹, von Melbourne kommend und nach Hamburg bestimmt, segelte sechs bis sieben Knoten in der Stunde. Sie befand sich im Eingang des Kanals, hatte ungünstigen, aber starken Wind, und mußte wiederholt über Stag gehen. Es war Mitte Februar 1825. Das Schiff hatte eine glückliche Reise gemacht und fast immer guten Wind gehabt. Erst auf der Höhe vom Kap Finisterre änderte sich das Wetter, die Luft wurde unruhig, der Himmel bezog mit schwerem Gewölk, der Wind lief häufig um und das Schiff trieb vielmals ab. Kapitän Ohlsen beobachtete sehr genau, traf alle Vorkehrungen für einen bevorstehenden Sturm und führte sein Schiffs-Journal mit der peinlichsten Gewissenhaftigkeit.

»Es gibt Sturm, Kapitän«, sagte Steuermann Paul, als sämtliche Bramsegel eingezogen und die Stengen eingenommen worden waren. »Die Böen häufen sich, der Seegang wird immer höher.«

»Alle Anzeichen deuten auf Sturm«, versetzte der Kapitän, »ich denke aber doch, wir passieren, ehe er losbricht, den Kanal. In der Nordsee halten wir ihn dann wohl aus.«

Die Vermutungen des erfahrenen Seemannes bestätigten sich vollkommen. Das Schiff hatte häufige, harte Windstöße auszuhalten, denen dann wieder milderes Wehen, verbunden mit hohem Seegang, folgte. Die Mannschaft mußte hart arbeiten, blieb aber vor jedem Unfall beschützt. Die Bark machte keine Havarie und erreichte nach fünf Tagen glücklich das Ende des Kanals. In der Nordsee aber trat schon nach zwölf Stunden bei dicker Luft ein steifer Wind ein, der abwechselnd aus West, Südsüdwest, Westsüdwest und Nordwest wehte, und in einer Entfernung von vierzig Seemeilen von der Insel Helgoland plötzlich in einen vollen Weststurm überging, welcher die Bark weit abtrieb in der Richtung nach der Küste Jütlands. Nach beinahe vierundzwanzigstündigem Wehen ging der Wind mehr nördlich, ließ zur Flutzeit nach, wuchs während der Ebbe von neuem und ging zur nächsten Flut in einen wilden Orkan über. Nur der großen Umsicht Kapitän Ohlsens, der kräftigen Führung des Steuers und der Aufopferung und Ausdauer der Mannschaft verdankte das schwer gefährdete Schiff seine Rettung. Es verlor jedoch in diesem bösen Wetter mehrere Segel, zwei Mann wurden von Sturzseen über Bord gespült, und im Augenblick der äußersten Bedrängnis sah der Kapitän sich sogar genötigt, einen Teil der Ladung über Bord werfen zu lassen.

*

Mutter Silberweiß war über dem Geplauder ihrer Nichte mit Christine eingeschlafen. Miguels Braut hatte in den letzten Wochen schon einigemal ihre ehrwürdige Pate besucht, und ihr dann wie früher aus der Bilderbibel vorgelesen. Sie kam seitdem häufig, denn sie gestand offen, daß sie jetzt gern in dem kleinen, aber sauber gehaltenen Kellerstübchen weile, weil es der Ort sei, wo ihr Miguel sie als unbedeutende arme Wäscherin zuerst erblickt habe. Christine mußte der Blinden viel von ihrem Verlobten und dessen Vater erzählen, da sie nicht müde wurde, von den ganz unglaublichen Schicksalen des Vaters und Sohnes zu hören. So unbegreiflich manches der blinden Greisin vorkommen mochte, sie bezweifelte nie die Wahrheit des Gehörten, und fromm, gottergeben, vertrauensvoll, wie sie immer gewesen, fand sie überall die leitende Hand des Schöpfers heraus und pries ihre junge Pate glücklich, daß der Himmel ihr ein so seltenes Los bestimmt habe.

Heute mußte Christine der Pate Silberweiß die Geschichte von der Sündflut vorlesen. Die Blinde erbaute sich immer von neuem an dieser biblischen Erzählung. Trudchen hörte zwar auch auf die Worte der Lesenden, beschäftigte sich aber doch mehr noch mit der spielenden Katze und besah nebenbei die in den Text der Bibel eingedruckten Bilder, welche die Arche Noah, den Eintritt der Flut, deren schreckliches Wachsen, den Tod der damaligen Erdbevölkerung, die Rückkehr der Taube mit dem Ölblatt, endlich das Gebirge Ararat mit der Arche und dem opfernden Noah darstellten.

Trudchens Geplauder unterhielt Christine, und das junge Mädchen würde noch mehr Genuß von dem Geschwätz des Kindes gehabt haben, hätten die heftigen Windstöße, die rauschend über die hohen Giebeldächer fuhren, sie nicht bisweilen erschreckt. Christine liebte den Wind nicht. Sie mußte bei starkem Wehen immer der Seefahrer und der ihnen drohenden Gefahren gedenken, und dann zitterte sie für ihren Bruder Paul, der ja, wie sie wußte, jetzt gerade unterwegs war und schon den Kanal erreicht haben konnte. Auch mußte sie sich unwillkürlich schaudernd der windigen Regennacht erinnern, wo die bestochenen Helfershelfer des Mexikaners sie aus dem schützenden Hause des reichen Reeders entführten.

»Ich wollte, Vater ließ nicht lange auf sich warten«, sagte Christine zu dem plaudernden Trudchen. »Ich habe einen so häßlichen Heimweg, und bin ich glücklich im Hause, quäle ich mich wieder um den heimkehrenden Vater. Bei solchem Wetter regnet es in unsern engen Twieten immer Ziegelbrocken und Dachpfannen.«

Der Wind schlug gegen die Kellerfenster, als würfe man grobkörnigen Sand an das Glas. Mutter Silberweiß erwachte.

»Was gab es? Rief mich jemand?« fragte die Blinde. »Ihr seid doch bei mir geblieben?«

»Gewiß, Pate – Großmama«, versetzten gleichzeitig Christine und Trudchen.

Das Geräusch von vorhin wiederholte sich, aber stärker, prasselnder. Ihm folgte der Fall eines harten schweren Gegenstandes, dann ein gleichmäßiges Rauschen, das sich eigentümlich anhörte.

»Es weht bös, das gibt Unglück auf See«, sagte Mutter Silberweiß und faltete die Hände. »Wenn Ihr morgen oder übermorgen am Stock der Büchse, wo für Schiffbrüchige gesammelt wird, vorübergeht, dann vergeßt ja nicht ein paar Schillinge hinein zu stecken! Die armen Menschen brauchens. – Da – sind von mir auch zwei Schillinge, die steckt mit hinein. – Horch, wie das braust und heult!«

»Hallo, Nachbarin«, rief jetzt eine Stimme auf dem Hofe, »werft euern Pelz um und macht euch fertig! Die Flut kommt! Beim Zippelhause stehen schon alle Keller voll Wasser. Habt ihr das Stürzen der Wellen noch nicht gehört?«

»Um Gott, die Flut steigt, und der Vater kommt nicht!« rief Christine erschrocken, stand auf und öffnete die Tür nach der Treppe. Deutlich vernahm sie jetzt zwischen den brausenden Stößen des Windes das gleichmäßige Rauschen des seine Ufer übersteigenden Wassers, das in alle Vertiefungen in zahllosen Wasserfällen sich ergoß. Auf den Wällen wurden die Kanonen gelöst. Überall hörte man in den kurzen Pausen, die der Wind machte, rufende Stimmen, die bald befehlshaberisch, bald ängstlich klangen. Weinende Kinder kreischten dazwischen, ausgelassene Jungen gröhlten und patschten in die ersten trüben Pfützen, die sich auf der Straße zeigten.

Diesmal jedoch gestattete das Hochwasser der Jugend keinen Spielraum zu unnützen Störungen. Der Spiegel der Elbe stieg in so erschreckender Weise, der Sturm heulte so wild, der Regen stürzte in solchen Massen dabei aus den graugelben Wolken nieder, daß jedes Scherzwort erstarb und alle nur zu bald den tiefen Ernst des Augenblicks erkannten und mit sprachlosem Entsetzen den Schrecken der nächsten Zukunft entgegen sahen.

Christine hüllte schnell entschlossen die alte Pate in wärmende Kleider und sprach ihr Mut zu.

»Noch haben wir Zeit, Pate«, sagte das jetzt mit Umsicht handelnde Mädchen. »Vater kennt die Elbe, wenn der Nordweststurm sie aufwühlt, er kommt sicher zur rechten Zeit, um uns abzuholen. Er muß nur zuvor auch die Mutter in Sicherheit bringen.«

Trudchen begann zu weinen, nahm ihre Katze auf den Arm, liebkoste sie und setzte sich mit dem Tier auf den Tisch. Noch vergingen lange, angstvolle zehn Minuten, dann kamen Schritte vom schmalen Gang herein, und die Harrenden erkannten in dem mit Absicht sehr laut Sprechenden die Stimme des Quartiersmannes. Christine ging ihm bis auf den Hof entgegen.

»O Vater, ist das Wetter so bös?« sprach die Tochter. »Gottlob, daß du da bist! Und da ist ja auch der treue Andreas und Trudchens Vater. O, wie danke ich euch! Wie möcht' ich euch allen so recht, recht von Herzen erkenntlich sein!«

»Mach' nur jetzt nicht viel Worte, mein Kind«, versetzte Jacob sehr ernst. »Wir haben Eile. Geh' voran mit Trudchen und Andreas, Krume und ich kommen mit der Pate nach. Noch, hoff' ich, können wir mit Hilfe des an schlimmeres Wetter gewöhnten Andreas die hohe Brücke passieren. Aber es ist die höchste Zeit. Eine halbe Stunde später schlägt der Sturm auch im Binnenhafen die schwerste Jolle um.«

Den Flüchtenden kam das strudelnde Wasser schon entgegen. Überall vor den Eingängen der Höfe sah man Kähne, Laternen eilten hin und wieder, Taue wurden aus den Häusern herabgelassen, Betten und andere Utensilien eingepackt. Männer fluchten, Weiber schrieen, Kinder weinten. Alles drängte vorwärts, und vieles wurde in der Eile des Flüchtens beschädigt.

»Die Deiche brechen!« rief plötzlich eine Stimme.

Niemand wußte woher sie kam. Dann hörte man wieder nichts wie das Niederschurren abgerissener Dachpfannen; Schornsteine stürzten, die ganze Wand eines Hauses wurde niedergeworfen. Aus der entstandenen Öffnung fiel unter wimmerndem Weheruf ein Mensch ins Fleet, wo er noch ein paarmal auftauchte und dann für immer verschwand.

Die Geflüchteten erreichten glücklich die festgekettete Jolle. Jacob und Krume trugen die Blinde, die übrigen waren schon eingestiegen. Andreas faßte das Steuer, Jacob ergriff zwei Ruder und setzte sie scharf in das schäumende, wühlende Wasser.

»Das walte Gott!« sprach er, als Andreas durch eine Wendung des Steuers das Boot mitten ins Fahrwasser trieb. Wider Erwarten erreichten sie ziemlich schnell den schützenden Kanal und auf diesem Heidenfreis Haus. Hier erreichte das Wasser schon beinahe die Laube, und man konnte mit Sicherheit annehmen, daß bei gleichmäßigem Steigen der Springflut weder die Diele, noch die Kontorzimmer verschont bleiben würden.

Der Reeder stand mitten in einer Gruppe Menschen, die von ihm Aufträge erhielten. Er grüßte die erschrockene Christine nur flüchtig und rief Jacob zu, er möge sich bereit halten, um mit einer genügenden Zahl Arbeiter sogleich in den gemieteten Speicher zu gehen und dort im untersten Raume die vom Wasser bedrohten Waren zu bergen. Der Quartiersmann bejahte kurz und trug die vor Angst und Frost zitternde, sprachlose Blinde in das Zimmer seiner Tochter, wo er sie nebst dem kleinen, nicht weniger verängstigten Trudchen deren Pflege überließ.

Andreas hatte sich zu den Männern gesellt, welche Heidenfrei umgaben. Er fragte, ob der Reeder wünsche, daß er im Hause bleiben solle, da man doch nicht alle möglicherweise eintretenden Zwischenfälle voraus berechnen könne. Das Krachen der Lärmkanonen, das sich jetzt abermals hören ließ, verkündigte neuerdings das fortwährende Steigen der Springflut.

»Ich bin Ihnen für Ihr Anerbieten sehr verbunden«, versetzte der Reeder. »Verweilen Sie, wenn nicht dringende Geschäfte oder früher eingegangene Verbindlichkeiten Sie irgendwo andershin rufen, bei uns. Eine kräftige Hand ist unter solchen Verhältnissen oft viel wert. Ich selbst bin genötigt, mein Haus zu verlassen. Ich habe soeben die wenig tröstlich lautende Nachricht erhalten, daß der schwache Stadtdeich von der Flut bedroht ist. Kann ich nun auch etwaiges Unheil nicht abwenden, wenn die Gewässer den Anstrengungen menschlicher Kräfte spotten, so ist es doch Pflicht für mich, denjenigen, die in meinem Dienste stehen, so viel wie möglich Hilfe angedeihen zu lassen. Und überdies habe ich dort draußen auch Eigentum zu beschützen. bricht der Deich, so schwemmt mir die eindringende Elbe ein enormes Kapital fort, das ich in Holz angelegt habe.«

Treufreund kam aus dem Kontor, eine Last großer Bücher auf dem Arm.

»Wohin?« fragte Heidenfrei.

»Nach meinem Zimmer«, antwortete der ›Schatten‹. »Es sind Hauptbücher, die ich geführt habe. Dringt das Wasser ein, so wäre der Schaden, feuchtete es die Blätter dieser Bücher an, durch nichts in der Welt mehr zu ersetzen.«

»Aber, bester Treufreund«, fiel der Reeder ein, »wie soll das Wasser bis über die Pulte steigen können! Halb Hamburg würde ja in solchem Falle total von den Wellen verschlungen werden!«

»Der Dunst, Herr Heidenfrei, der bloße kalte Fleetdunst, der einen eigentümlich scharfen Geruch besitzt«, erwiderte Treufreund, »könnte sich in den Blättern festsetzen, und das wäre beinahe ein ebenso großes Unglück, als deren Durchweichung. Ich stehe auf der Stelle wieder zu Befehl.«

Er verbeugte sich und stieg die Treppe hinauf, um den geliebten Büchern, in denen der beste Teil seines Selbst und, wie er oft behauptete, die Ehre und Größe des Hauses Thomas Peter Heidenfrei aufbewahrt war, an einem völlig sichern Ort unterzubringen.

Heidenfrei schüttelte den Kopf über dies sonderbare Gebaren des wackern Alten, es blieb ihm aber nicht lange Zeit, das Nutzlose desselben zu überlegen, denn sein Sohn Ferdinand trat, von dem Korrespondenten Anton gefolgt, sehr aufgeregt ins Haus.

»Bester Vater«, sagte Ferdinand, »wenn mich nicht alles trügt, wird diese Nacht eine schreckenreiche, deren Angedenken lange fortleben dürfte in den Annalen unserer Stadt. Das Wasser steht in diesem Augenblick bereits auf einer Höhe von über siebenzehn Fuß. Die halbe Altstadt wird von der Elbe durchströmt, alle Keller sind voll Wasser, die Not der Geflüchteten ist groß, das Jammern und Schreien Hilfloser, die nicht wissen, wo sie unterkommen, wohin sie sich vor dem Hagel niederstürzender Ziegelstücke retten sollen, zerschneidet jedem Mitleidigen das Herz. Am allertraurigsten aber lauten die Nachrichten vom Stadtdeich. Dort rettet sich bereits, wer kann und flieht der Stadt zu, denn der schwache, längst schon stark mitgenommene Deich wird dem furchtbaren Andrang der Wellen, dem wilden Schlagen und Peitschen der Sturmflut schwerlich widerstehen. Ich komme, um deine Meinung zu hören. Bist du noch Willens hinauszufahren?«

»Wir müssen den Feind bekämpfen, so lange wir können«, versetzte der Reeder. »Hier sind meine Anordnungen getroffen, ich selbst bin vor der Hand entbehrlich. Da kommt auch Jacob zurück. Er geht in den gemieteten Speicher, um dort zu retten, was möglich ist. Begleite ihn und tue, was der Augenblick erheischt. Ich eile nach dem Deich. Wer will mich begleiten?«

»Ich«, rief Anton. »Mein Auge ist scharf, mein Fuß fest. Schwindlig und schreckhaft bin ich auch nicht, und außerdem kann ich zur Not noch schwimmen.«

»Gut«, fuhr Heidenfrei fort, »ich nehme Ihre Begleitung an. Machen Sie sich fertig, ich bin sogleich wieder zur Stelle.«

Der aufgeregte, dabei aber sehr besonnen handelnde Reeder eilte zu den Seinigen, sagte diesen mit kurzen Worten Lebewohl, empfahl allen Ruhe und Gottvertrauen und versprach möglichst bald zurückzukommen. Bleibe er länger aus. sollte man sich seinetwegen nicht ängstigen, Anton begleite ihn.

»O, Gott!« seufzte Elisabeth, und alle Farbe wich aus ihrem sanften Gesicht. »Wärst du doch schon wieder hier und diese schreckliche Sturmnacht glücklich überstanden.«

»Mut, mein Kind, Mut, und das Köpfchen immer oben behalten!« versetzte Heidenfrei scherzend. »In der Not nicht verzagen, macht uns dieses Lebens und der mancherlei Freuden und Segnungen desselben erst würdig!«

»Gott begleite euch!« sagte Margaretha, den Gatten nochmals umarmend und als er das Zimmer verlassen hatte, zwischen der bang aufatmenden Tochter und der ganz schweigsamen Ulrike wieder Platz nehmend, die sich der bloßen Zerstreuung wegen jede mit einer Handarbeit beschäftigten.

Antons beherztes Wesen erlitt einen bedeutenden Stoß, als er vor dem Deichtor einen ersten Blick auf den rasenden Strom warf. Der Anblick war furchtbar schön, bis zum Entsetzen erhaben. Bald lagerten über dem gelbgrauen strudelnden Abgrund schwarze Regenwolken, die in rasender Eile vom Sturme gepeitscht südwärts zogen, bald hob sich diese graue Wolkendecke, zerflatterte nach allen Seiten und einzelne Sterne blickten, brechenden Augen eines Sterbenden ähnlich, auf den Graus der Erde. Die Elbe wogte wie ein stürmisches Meer. Zahllose Trümmer zerschlagener Holzflöße trieben und tanzten auf den gurgelnden, zischenden Wellen, Hausgerät lag zerbrochen, vernichtet am Deichrande. Schauerlich klangen zwischen dem Brüllen des Nordweststurmes die Hilferufe der Menschen, welche die Flut überrascht und jeder Aussicht auf Rettung beraubt hatte, und nicht weniger erfüllte das ängstliche Blöcken fortgerissener Schafe, das heisere Brüllen der Kühe, das wimmernde Wiehern fortgeschwemmter Pferde das Herz jedes fühlenden Menschen mit Entsetzen. Wenn dann auf Augenblicke ein großer heller Raum in die Wolken riß und das bleiche, kalte Mondlicht auf die furchtbare Vernichtungsszene fiel, erbebte auch der mutigste Mann vor diesem Anblick, und der Kälteste, Hartherzigste sogar fühlte eine Anwandlung von Mitleid mit den Unglücklichen, denen die entfesselte Wut zweier Elemente vielleicht alles raubte.

Nur mit Aufwendung aller Kräfte gelang es dem Reeder, die Gegend zu erreichen, wo sich sein Holzlager befand. Ein Teil der Bedachung war schon der Gewalt des Sturmes erlegen. Das ganze Gebäude zitterte unter der Wut der Windwogen, und von der Stromseite zischten bereits Wassermassen über den Deichkamm. Überall waren zahlreiche Hände beschäftigt, den offenbar zu niedrigen Deich mittels aufgehäufter Sandsäcke zu erhöhen. Heidenfrei war, soweit das andringende Wasser es zuließ, überall zur Hand und Anton mit seinem scharfen Auge, seiner geschmeidigen Gelenkigkeit, die dem Sturme besser, als der hagere, schwache Körper des Reeders die Spitze bot, leistete diesem sehr wesentliche Dienste.

Beinahe anderthalb Stunden kämpfte und rang die vereinte Kraft vieler hundert Menschen mit der immer höher steifenden Flut. Bei dem Durchglänzen vereinzelter Mondstrahlen konnten die Arbeitenden bemerken, daß die Wassermasse immer wilder wogte und alles Land weit umher schon in einen weiß schäumenden See verwandelt war, aus welchem nur Baumgruppen, kahle, schwarze Streifen von Deichen und hohe, steile Strohdächer umfluteter Wohnungen emporragten.

Heidenfrei hatte die Holztreppe erstiegen, welche zu seiner Niederlage führte, die größtenteils hinter dem Deiche, tief unter dem Spiegel des angeschwollenen Stromes lag. Anton leitete von der untersten Stufe der Treppe aus die Arbeiten am Deich. Da drang plötzlich ein wilder Schrei durch das Brausen des Sturmes, ein Schauer trüben Wassers spritzte herauf bis zum Standort des greisen Reeders, der sich, um dem Winde zu trotzen, mit beiden Händen an den obern Querbalken der Tür festklammerte und sich vergebens anstrengte, das Chaos zu durchschauen, das wenige Schritte entfernt sich gestaltete. Alles wankte, rollte, stürzte durch- und übereinander, der Strom brauste, die hochschlagenden Wogen schäumten wie Meeresbrandung, Bäume fielen, die Erde bebte, sank ein, trieb fort, krachend versanken Häuser, Menschen, Steinwerk in einen breiten, strömenden Wassersturz, der alles in seine Strudel fortriß und begrub. Der Deich war gebrochen! –

Auch der lauteste Ruf einer Menschenstimme blieb in dem Gebrause von Wind und Wogen unhörbar. Heidenfrei bemerkte das Fortschurren des Erddammes, er fühlte den Druck der losgerissenen Schollen gegen das Holzgebälk, das ihn trug, er sah, wie Anton strauchelte, fiel, zwischen Erdgeröll und braungelben Wellen sich überschlug – er rief ihm zu, er streckte die Hand nach dem sinkenden Jüngling aus, erfassen aber konnte er ihn nicht.

Noch wenige Augenblicke und die Treppe brach. Auch Heidenfrei stürzte zwischen Brettern, Erdschollen und Steingeröll in die brüllenden Wogen und trieb mit zahlreichen andern fort auf den zerstörenden Fluten. Sein graues, dünnes Haar flatterte im Sturm und machte ihn vielen kenntlich. Anton, der so glücklich war, einen gewichtigen Balken zu fassen und sich rittlings darauf zu schwingen, erkannte den bedrängten alten Mann und rief ihm, seine eigene Gefahr vergessend, ratende Worte zu. Jede Rettung aber würde unmöglich gewesen sein, hätte der erste gewaltige Schwall des Wassers, von der Menge Erde, die er mit fortriß, sich nicht kurze Zeit an einem querziehenden, mit vielem Buschwerk besetzten Damm gestaut. Hierhin trieben viele der Fortgetragenen und manchem gelang es, einen Baumast zu erreichen, in der Angst der Verzweiflung sich emporzuschwingen und so auf einem der starken, alten Bäume vorläufig Rettung, oder doch wenigstens eine Zuflucht zu finden.

Zu diesen Glücklichen gehörte Anton. Kaum sah er sich selbst momentan geborgen, so dachte er auch schon an die Rettung anderer. Er gewahrte den Reeder auf den Trümmern der Treppe, die er mit beiden Händen festhielt, sah ihn herantreiben, zwischen den Baumstämmen verschwinden, wieder erscheinen, endlich sich festhaken. Ein Zeichen, ein Ruf, ein greller Schrei machten Heidenfrei aufhorchen. Anton wagte, wie eine Eichkatze weiter zu klettern auf einem der breiteten Äste der blätterlosen Rüster, die ihn trug. Die strudelnden Wasser streiften seine Füße, er tauchte sogar mit dem schwankenden Ast, der seinen Körper kaum zu tragen vermochte, bis zum halben Leibe in die kalte, lehmige Flut, aber er verlor den Mut nicht und gab auch sein Unternehmen nicht auf. Mit fast übermenschlicher Anstrengung schwang er sich auf einen andern Ast, von diesem auf einen dritten und vierten. Endlich faßte es wieder festen Fuß auf einem starken knorrigen Stamm. Er vermochte, dem hier zwischen zwei Stämmen festsitzenden Reeder die Hand zu reichen und zog ihn zu sich herauf.

Dann schlang er seinen Arm um den Leib des Prinzipals, zog sein Taschentuch, knüpfte es mit dem des Reeders zusammen und band diesen, der mit geschlossenen Augen den Stamm umklammerte, um von der rasch vorüberziehenden Flut nicht schwindlig zu werden, mit diesem Nottau, so gut es gehen wollte, fest an den schützenden Baum.


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