Ernst Willkomm
Reeder und Matrose
Ernst Willkomm

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8

Es war zwischen halb und drei Viertel neun Uhr morgens. Die Büros in Heidenfreis Hause begannen sich mit den verschiedenen Persönlichkeiten zu bevölkern, welche ein festes Engagement bei dem viel vermögenden Handelsherrn gefunden hatten. Diese Zimmer bildeten eine ganze Reihe ineinander mündende Gemächer, deren Fenster, da sie im Hinterhause belegen waren, samt und sonders eine sehr unerquickliche Aussicht auf das schmale, hinter dem Hause vorüberfließende Fleet und auf eine Reihe hoher Speicher hatten. Nur die beiden Vorderzimmer, in deren einem Herr Heidenfrei selbst arbeitete, und von denen das zweite seinen Söhnen und dem ersten Buchhalter eingeräumt war, hatten ein etwas freundlicheres Aussehen. Da man aber an derartige Räume seit undenklichen Zeiten gewöhnt war, und die alte, gedrängte Bauart der Häuser vor allem Raumersparnis erzielte, um Platz für Aufstapelung der Waren und für deren Umpackung zu gewinnen, so fiel diese abstoßende Unwohnlichkeit niemand auf, noch gab sie jemals Anlaß zu unfreundlichen Äußerungen.

Zu den schon seit Jahren im Kontor des Reeders angestellten teils älteren, teils jüngeren Leuten war seit einigen Wochen als englischer und spanischer Korrespondent ein junger Mann gekommen, nämlich der immer heitere, zu Scherz und Lust aufgelegte Anton.

Anton saß auf dem hohen Polsterschemel mit kurzer steifer Lehne an seinem Pult, schnitt sich mit schwungvoll geführtem englischen Messer ein ganzes Dutzend der schönsten Hamburger Kiele, die damals eine in ganz Deutschland gesuchte Ware ausmachten und deshalb einen nicht unbedeutenden Handelsartikel bildeten und sah jedesmal, wenn er eine Feder mit wohlgefälligem Lächeln vor sich auf den sauber gehaltenen grünen Tischüberzug seines Arbeitspultes legte, nach dem Fleet hinaus; denn in regelmäßigen Pausen verdunkelten dicke, an dem Fenster vorüberschwebende Gegenstände den nicht besonders günstigen Stand des jungen Mannes. Arbeitsleute waren beschäftigt, große Ballen und Säcke einer soeben gelöschten Schiffsladung nach dem über den bewohnten Räumen des weitläufigen Hauses gelegenen Speicher zu schaffen.

Endlich lag das Dutzend meisterhaft geschnittener dicker gelber Spulen vor dem zufrieden lächelnden Anton. Er schloß nun das Pult auf, nahm einige Bogen des glattesten Briefpapiers von dem darin vorhandenen Vorrat heraus, zupfte sich die saubern Manschetten zurecht und zog ein paar aschgraue Schreibärmel über seinen allerdings etwas zu eleganten Rock von feinstem, niederländischen Tuch. Da hörte er hinter sich schlürfen und sodann hastige kurze Schritte. Er glaubte, Herr Heidenfrei sei es selbst, der zu so ungewöhnlich früher Stunde das Kontor besuche, denn er hatte die Gewohnheit, beim Gehen entweder vernehmlich zu schlürfen oder ganz kleine, kurze Schritte zu machen. Seinen Irrtum sofort erkennend, kehrte er sich etwas brüsk wieder um, stützte den Kopf mit dem wohl geordneten Haar auf den rechten Arm, trommelte mit der Spitze des linken Fußes auf den Tritt unterm Schreibpult und kaute scheinbar zerstreut oder grübelnd an der Fahne der ergriffenen Feder.

»Guten Morgen, wohl geruht zu haben«, sagte eine dünne, etwas heisere Stimme. Anton schwieg. »Hat man den neuen Herrn Korrespondenten etwa beleidigt?« fuhr der Sprecher fort. »Guten Morgen, hab' ich gesagt. Guten Morgen! Verstanden?«

Anton kehrte phlegmatisch dem Sprechenden ein freundlich lächelndes Gesicht zu, in dem freilich alle kleinen Teufelchen der übermütigsten Laune kicherten.

»Allerschönsten guten Morgen, Herr Treufreund«, erwiderte der junge Korrespondent. »Wie haben Sie geschlafen?«

»Geschlafen? Wollen Sie mich foppen, Herr? Wissen Sie nicht, daß ich in voriger Nacht die Wache hatte?«

»Nein, wahrhaftig nicht«, versetzte gutmütig Anton. »Ich bin noch etwas grün hier und kenne mithin die Hausordnung nicht so genau, wie es für mich selbst wohl wünschenswert wäre. Aber ich hörte doch letzthin, Sie könnten das Nachtwachen nicht gut vertragen.«

Herr Treufreund war der älteste, eigentlich schon längst in Ruhestand versetzte Kontorist im Heidenfreischen Geschäft, denn er hörte häufig außerordentlich schwer, sah nicht gut und lag mit seinem Gedächtnis immer im Streit, obwohl er behauptete, niemand besitze ein besseres und zuverlässigeres als er. Treufreund war gewissermaßen ein Stück Inventar, das ebensogut zur Handlung Peter Thomas Heidenfrei gehörte, wie das uralte, wurmstichige Pult und der knarrende, längst schon durchgesessene Schreibstuhl, den er sich nicht nehmen ließ. Aus dem Geschäft entlassen wollte der Prinzipal diesen im Dienst der Firma alt und schwächlich gewordenen Junggesellen nicht, da er nur wenig eigenes Vermögen besaß und keine Angehörigen von ihm mehr lebten. Eine Pension lehnte der ehrgeizige und höchst empfindliche Mann ab, und so behielt denn Herr Heidenfrei den gutmütigen, in jeder Hinsicht braven Alten in seinem Geschäft, doch unter der Bedingung, daß er nur solche Arbeiten übernehme, die ihm der Prinzipal entweder selbst zuweise oder für welche Herr Treufreund sich besonders interessiere.

Mit diesen Bedingungen erklärte sich der frühere Buchhalter – denn diese Stelle hatte er lange bekleidet – einverstanden. Da er sich gern unterhielt und Rat erteilte, so wußte das ganze Personal Treufreund in einer für ihn, wie für alle übrigen gleich angenehmen Weise zu beschäftigen. Jeder fragte ihn, selbst in den allergleichgültigsten Dingen, um seine Meinung, und dem gutmütigen, schwachhörigen Alten fiel es nicht ein, daß man ihn mit diesen Fragen nur zum Besten habe.

Für den Prinzipal hatte dieser brave Mann eine unbegrenzte Verehrung, die soweit ging, daß er sich auch die nicht gerade lobenswerten Eigenschaften des ausgezeichneten Mannes aneignete. Er trug sich genau wie Heidenfrei, ebenso schlotterig, er hatte sich auch den Gang des Prinzipals angenommen. Sämtliche jüngeren Angestellten nannten deshalb den alten überzähligen Herrn den ›Schatten‹, eine Bezeichnung, die vollkommen zutreffend war, denn er glitt wirklich überall wie der Schatten des Prinzipals im Hause umher.

Dieser Mann also stand jetzt mit verdrießlichem übernächtigen Gesicht neben Antons Pult und sagte auf den neugierig fragenden Blick desselben: »Freilich kann ich das Nachsitzen nicht vertragen, aber ich muß doch aushalten.«

»Da möchte ich wohl nach dem Grunde fragen, mein verehrter Herr Treufreund«, erwiderte Anton, »denn soviel ich mich erinnere, hat Sie Herr Heidenfrei ausdrücklich von dem Nachtwachen dispensiert.«

Treufreund riß seine großen, verschlafenen Augen noch größer auf und blickte ordentlich munter um sich: dann mußte er sich aber zur Seite wenden, denn als er den Mund zum Sprechen öffnete, überfiel ihn ein so gewaltiges Gähnen, daß der zahnlose Mund des armen Mannes die Gestalt eines Schlundes annahm.

Anton probierte eine seiner schön geschnittenen Federn und malte mit großen kecken Zügen seinen eigenen Namen auf ein Blatt Papier, um der Lachlust, die ihn packte, Herr zu werden.

»Ich will aber nicht dispensiert sein«, sagte Treufreund trotzig, »denn ich bin kein Krüppel, sondern ein für meine Jahre noch ganz rüstiger und zu jedem Geschäft brauchbarer Mann. Unsereins ist auch jung gewesen und hat sein Leben genossen wie einer, aber mit Verstand, mit vielem Verstand – begriffen? Die jungen Herren von gestern und heute genießen auch das, was sie Leben nennen, Sinn und Verstand aber, mit Verlaub – ich werde nie persönlich, Herr Anton – Sinn und Verstand ist selten in diesem Genuß. Darum sind die feinen Herren von heute mit dreißig Jahren Greise und haben eine Glatze aufzuweisen, die größer ist als die meinige, obwohl ich in siebenzehn Tagen mein zweiundsechzigstes Jahr beschließe und sechsundvierzig Jahre mich rühmen darf, ein Kaufmannsdiener gewesen zu sein, wie er sein soll.«

Treufreund nahm bei diesem Sermon sein gesticktes, sehr buntes Käppchen ab, verbeugte sich etwas spöttisch vor Anton und zog sich zurück an sein Pult, als eben der Prinzipal in Begleitung beider Söhne das Kontor betrat.


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