Ernst Willkomm
Reeder und Matrose
Ernst Willkomm

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20

Es dunkelte bereits, als Ferdinand in das Zimmer seines Vaters trat, dem sein älterer Bruder und Treufreund Gesellschaft leisteten. Er sagte:

»Eben sind die Erwarteten angekommen. Jacob hat es vorgezogen, den Weg durch die Kanäle einzuschlagen.«

»Warten sie?« fragte Heidenfrei.

»Auf der Diele.«

»Rufe sie unverweilt herauf.«

Ferdinand entfernte sich wieder; der Reeder legte die Hand auf Treufreunds Schulter und sagte: »Sie werden mir das Zeugnis geben, daß Hinfälligkeit, Schwäche, nervöses Zagen und Schwanken meinem Charakter fremd sind. Ich habe manche schwere Stunde durchlebt, viele Schicksalsschläge mit Gleichmut ertragen, und fast nie, möchte ich sagen, bin ich einer entscheidenden Stunde mit solcher Erwartung, mit so peinvoller Spannung entgegengegangen.«

Treufreund wollte antworten, wurde aber durch laute Schritte und das unmittelbar darauf erfolgende Öffnen der Tür daran verhindert.

Der helle Schein der Lampe fiel grell auf die Gesichter der Anwesenden, von denen nur ein einziges von allen zugleich gesucht ward, die ernsten, gebräunten, harten Züge des Matrosen Miguel, der trotzig neben dem vierschrötigen Quartiersmann stand, diesen aber um fast eine halbe Kopflänge überragte.

Auf einen Wink Heidenfreis nahmen alle Platz um den runden, mitten im Zimmer stehenden Tisch, nur Treufreund zauderte, seine angegriffenen Augen blinzelnd und mit vorgebeugtem Kopf eigentümlich stier auf Miguel heftend. Dies merkwürdige Fixieren mochte wohl Ursache sein, daß auch Miguel sich nur zögernd zwischen Ferdinand und Jacob niederließ.

Es entstand eine Pause, die etwas Bängliches hatte, und die doch kein anderer als nur der Reeder brechen konnte. Er tat es auch endlich mit dem ihm geläufigen Aushilfswort:

»Superbe, daß du so pünktlich bist, Jacob! Keine zwei Minuten hast du uns warten lassen. Um so besser. Und dieser schlanke, junge Mann da«, setzte er etwas weniger zuversichtlich hinzu, »will uns so wichtige Mitteilungen machen? Ihre Papiere, mein Bester, sind uns zugegangen. Diese und einige mündliche Versicherungen des Konsuls, der Ihr Geburtsland bei unserer Regierung vertritt, haben uns bewogen, Sie zu ersuchen, das, was Sie etwa wissen oder zu wissen glauben, im Kreise dieser wenigen, uns zu sagen. Sie selbst behaupten und werden es auch zu beweisen vermögen, daß Sie völlig schuldlos sind an der frevelhaften Entführung der Tochter dieses Mannes aus dem Hause, wo Sie jetzt weilen. Sprechen Sie ohne Rückhalt, junger Mann. Man wird Sie mit Ruhe und Aufmerksamkeit anhören; man wird Ihre Mitteilungen zwar einer strengen, aber auch völlig unparteiischen Prüfung unterwerfen, und wenn es Ihnen gelingt, überzeugende Gründe, besser noch gar Tatsachen anzugeben, welche die Entdeckung jenes Frevlers ermöglichen und die so schwer Gekränkte ihren trauernden Eltern und uns allen wiedergeben, so dürfen Sie jeglicher Unterstützung gewiß sein, die Sie wünschen mögen und wir gewähren können.«

Mit niedergeschlagenen Augen, vielleicht, um den rastlos fragenden Blick Treufreunds zu vermeiden, hatte Miguel diese wohlwollend und in aufmunterndem Ton gesprochenen Worte angehört. Da er nicht sogleich darauf antwortete, wandte sich Eduard mit der Frage an ihn:

»Sie liebten das Mädchen, nicht wahr?«

Miguel blickte rasch auf, sein schönes, dunkles Auge flammte in schwärmerischer Glut, und indem er seine für einen Matrosen kleine und schlanke Hand aufs Herz legte. versetzte er mit ungeheuchelter Wärme:

»Wahr, Sennor, heiß und ewig! Immer würde ich gern mein Leben für das Mädchen gelassen haben, dem ich ein treuer Wächter, kein auf Böses sinnender Verfolger war!«

»Erzählen Sie, was Sie wissen«, ermahnte nochmals Heidenfrei, dem die innige Natürlichkeit des jungen Matrosen gefiel. »Erzählen Sie alles, was Sie erlebt haben.«

»Was ich erlebt habe? Das ist wenig und doch wieder auch sehr, sehr viel, nur würde es die Herren hier nicht interessieren.«

»Uns interessiert Ihr ganzes Leben«, warf Treufreund ein. »Sie nennen ein Land Ihre Heimat, mit dem wir in nächster Verbindung stehen, wo viele treue Freunde von uns leben.Mexiko –«

»Ich bin nicht in Mexiko geboren«, fiel Miguel dem alten Buchhalter ins Wort, indem eine kupferfarbene Röte sein bräunliches Gesicht überflammte. »Mein Vaterland ist Brasilien, obwohl ich es weniger kenne, als Mexiko und die Länder am mexikanischen Golf, wo ich meine Jugend verlebte. Aber wozu sage ich Ihnen dies, ich will ja nicht von mir, sondern von denen sprechen, welche diesem braven Mann hier sein Kind so freventlich raubten.«

Der Quartiersmann drückte dem jungen Matrosen, den er jetzt ganz in sein Herz geschlossen und dem er ja bitteres Unrecht im Stillen abzubitten hatte, dankend die Hand und Miguel begann:

»Eine trübe, ruhelose Jugend, die ich an sehr verschiedenen Orten, bald auf ermüdenden Wanderungen, bald unter Sklaven, bald auf stürmischen Meerfahrten durchlebte, gaben mir kaum auf Augenblicke Gelegenheit, mich mit einiger Muße in meinen so häufig wechselnden Umgebungen umzusehen. Das weibliche Geschlecht lernte ich garnicht kennen oder doch nur etwa so, wie eine wohlgefällige Erscheinung, die uns entgegentritt und schnell wieder verschwindet. Erst als Zufall oder Bestimmung mich in diese Stadt führten, trat mir die Frauenwelt etwas näher. Ich hatte das seltene Glück, gleich in den ersten Tagen meines Hierseins das reizende Mädchen zu erblicken, in dem ich bald darauf die Tochter dieses Mannes kennen lernen sollte. Ich liebte Christine damals, wie ich sie jetzt noch liebe; alle Qual meines vergangenen Lebens vergaß ich bei dem Gedanken an Christine! War es da ein Wunder, daß ich ihr möglichst oft zu begegnen suchte, deshalb mein Sinnen und Trachten darauf gerichtet war, sie genauer kennen zu lernen, sie zu sprechen, meine Gefühle der Angebeteten zu offenbaren, sie endlich, wo möglich, ganz und dauernd zu besitzen? – Ich entdeckte mich dem mir befreundeten Steuermann Andreas, dessen Charakterfestigkeit und redliche Gesinnung mir kein Geheimnis mehr waren. Andreas beneidete mich fast um die gemachte Entdeckung, versprach mich zu unterstützen und suchte, da er in der von mir Geliebten eine Gespielin erkannte, die Eltern Christines für mein Anliegen günstig zu stimmen.

Durch Andreas erhielt ich die niederschlagende Nachricht, Christine habe die Wohnung der Eltern verlassen und sei wahrscheinlich bei entfernten Verwandten auf einer der Elbinseln untergebracht worden. Ich eilte sofort nach den bezeichneten Inseln, brachte aber sehr bald in Erfahrung, daß ich auf falscher Fährte spürte. Bei meiner Rückkunft überraschte, erfreute und erschreckte mich Andreas mit der inzwischen von ihm gemachten Entdeckung von Christines wirklichem Aufenthalt. Wir gingen ernstlich und lange mit uns zu Rat, was wir tun sollten; denn von der Gefahr, welche der Arglosen gerade in diesem Hause drohen müsse, waren wir beide überzeugt. Dennoch hielten wir es für klüger, zu schweigen, da es mehr als wahrscheinlich war, daß die offene Darlegung des Sachverhaltes damals für schändliche Verleumdung unsererseits gehalten worden sein würde. Das aber hätte uns in die mißlichste Stellung bringen, unsere ganze Tätigkeit lähmen und Christine weit bedenklicher gefährden müssen. Deshalb beschlossen wir, die Geliebte heimlich, aber unablässig zu bewachen und vor allem die Anstalten des Mannes genau zu beobachten, der schon mehr als einem Mädchen das Herz gebrochen, ihr Lebensglück zerstört hat.«

»Nennen Sie den Namen dieses Mannes«, unterbrach hier Heidenfrei den ruhig Sprechenden, »nennen Sie ihn ohne Furcht, wenn Sie erforderlichen Falles auch beschwören können, daß Sie nur die Wahrheit sagen.«

»Jener Mann, den Christine mehr zu fürchten, mehr zu fliehen hatte, als jedes andere dem Menschen beschiedene Unglück, heißt Don Alonso Gomez.«

»Wirklich Don Gomez?« fiel Eduard ein.

»Ich rede nur die Wahrheit«, fuhr Miguel fort, »und ich werde eines Tages, wie ich hoffe, den Beweis führen, daß ich nur Wahres gesprochen habe. Jetzt bin ich leider noch nicht imstande, dies tun zu können. Sie müssen mir glauben. Können oder wollen Sie dies nicht, so ist all mein Mühen umsonst.«

»Erzählen Sie weiter«, sprach der Reeder, der mit größter Spannung den ferneren Erzählungen des ihm immer interessanter und bedeutender werdenden Matrosen zuhörte.

»Don Alonso Gomez«, fuhr Miguel fort, »hatte fast gleichzeitig mit mir die liebreizende Tochter dieses Mannes von Angesicht zu Angesicht kennen gelernt. Er entbrannte zu ihr in leidenschaftlicher Liebe, wenn Liebe nichts anderes ist, als der Wunsch nach Befriedigung lebhaft begehrter Genüsse. Als ich diese Entdeckung machte, bangte mir für Christine, deren Unerfahrenheit den feinen, einschmeichelnden Künsten des reichen Mexikaners mit seinen vielen bestechenden Eigenschaften leicht unterliegen konnte. Mein Freund Andreas, dem ich mich rückhaltlos anvertraute und hinreichende Mitteilungen über die Vergangenheit und den wahren Charakter des Mexikaners machte, teilte meine Besorgnisse und sicherte mir uneigennützig seine Unterstützung zu.

Unserm fortwährenden Spüren konnte es nicht entgehen, daß sein Vertrauter, der listige und dabei gewissenlose Master Papageno wiederholt geheime Besprechungen mit einigen Fremden hatte, deren Charakter uns verborgen blieb. Auch machte er Ausflüge von mehreren Tagen, deren Ziel wir ebenfalls nicht ermitteln konnten. Andreas erfuhr die Vorbereitungen zu dem glänzenden Familienfest in diesem Hause, selbst die Namen der bei den Vorstellungen Mitwirkenden vermochte er zu ermitteln. Mir fiel es sogleich auf, daß Christine unter diesen so auffallend bevorzugt war und ich schöpfte Verdacht. Bestärkt wurde ich darin durch ein kleines Boot, das mehrmals spät abends langsam die Kanäle befuhr, immer aber wenige Häuser oberhalb des der Familie Heidenfrei gehörenden wieder umkehrte. Den Führer dieses Bootes kannte ich nicht, ich bemerkte aber sehr deutlich, daß er die Tiefe des Kanals an den seichtesten Stellen erproben wollte.

Wozu, fragte ich mich, sollen diese nächtlichen Fahrten dienen? Was bedeutet das Erforschen der Wassertiefe?

Andreas war fest überzeugt, daß Don Gomez eine Entführung Christines beabsichtigte. Sein Vorschlag ging nun dahin, die Entführung wirklich geschehen zu lassen, dann aber die zitternde Christine zu befreien, die Räuber zu binden und im Triumph mit unserer schönen Beute mitten in das Haus der Freunde zurückzuführen. Gelang dieser Anschlag, woran wir nicht zweifelten, so mußte sich durch die ergriffenen Entführer der eigentliche Anstifter der Tat leicht ermitteln lassen, und war dies erreicht, dann stand Don Gomez entlarvt da und ich konnte gegen ihn auftreten und Genugtuung von ihm fordern. Ich erreichte damit ein doppeltes Ziel: ich nahm Rache an meinem Feinde und eroberte mir, wenn nicht den sofortigen Besitz der Geliebten, doch jedenfalls das Recht, um Christines Liebe werben zu dürfen, was ihre Eltern schon deshalb zugegeben haben würden, weil die Papiere, in deren Wiederbesitz ich durch die Entlarvung des Mexikaners zu kommen hoffte, aus dem armen Matrosen Miguel einen begüterten Mann, Don Pueblo y Miguel Saldanha werden ließen.«

»Don Pueblo y Miguel Saldanha?« riefen wie aus einem Munde der Reeder und seine Söhne in höchstem Erstaunen aus, über diese völlig unerwartete Entdeckung ganz außer Fassung gebracht. Miguel konnte sich eines leichten, wohlgefälligen Lächelns nicht enthalten.

»Ich führte, wie ich glaube, seit vier Jahren diesen Namen mit vollem Recht, als es aber diesem Don Gomez, meinem ärgsten Feinde, der mich haßte, noch ehe ich ihn kannte, gelungen war, mich berauben zu lassen, um durch mein Eigentum das seinige noch zu mehren und mich in das Elend mittelloser Armut zu stoßen, weil er eine gewisse Scheu vor dem Blutvergießen hat, konnte mir ein so klangvoller Name nichts mehr nützen. Ich gab ihn auf, bessere Zeiten erwartend und den Räuber meines Eigentums verfolgend. Ohne den Wunsch nach Rache, nach Wiedervergeltung würde ich meinen Freund Andreas nie gefunden, würde ich diese Stadt nie betreten, Christine nie erblickt haben.«

Heidenfrei erhob sich. Er war so erregt, daß er den jungen Mann bat, eine Pause zu machen. Nicht weniger ergriff die Nennung dieses Namens Eduard und Ferdinand. Treufreund blieb äußerlich am ruhigsten. Er betastete sich bisweilen den Scheitel, als besorge er, es sei nicht alles mehr am rechten Platze und sah dann unverwandt den jungen Fremdling an, der ihm mit jeder Minute merkwürdiger wurde.

»Endigen Sie jetzt, wenn ich bitten darf«, sprach der Reeder, als er den Eindruck vollständig bewältigt hatte, und nahm seinen vorigen Platz wieder ein. »Haben Sie die Wahrheit gesagt, dann bleibt auch zwischen uns noch viel Wichtiges, ja wohl das Wichtigste, das es überhaupt geben kann, zu erledigen. Es wäre superbe!«

Jetzt war das Erstaunen auf Miguels Seite. Diese Worte klangen ihm so rätselhaft, daß er sie garnicht zu deuten wußte; denn was konnte er, der Fremde, einer andern Hemisphäre Angehörende, Wichtiges mit dem ihm gänzlich unbekannten, reichen Reeder der großen deutschen Handelsstadt zu besprechen, zu erledigen haben? Der nochmaligen Aufforderung Heidenfreis folgend, begann Miguel aufs neue:

»Gegen zehn Uhr an jenem verhängnisvollen Novemberabend bemerkte ich ein Boot, von zwei Mann geführt, in den Kanal gleiten. Ruderschläge hörte ich nicht, denn der Ruderer, welcher das Boot vorwärts trieb, hatte die Riemen umwickelt. Dies steigerte meinen Verdacht zur Gewißheit. Ich setzte sogleich Andreas von dem Geschehenen in Kenntnis, der als Wachthaltender unter den neugierigen Gaffern auf der Straße der Ankunft der zum Fest Geladenen zusah. Andreas hatte Don Gomez zugleich mit Master Papageno eintreten sehen. Erst wenige Minuten vor meiner Ankunft hatte der Mulatte das Haus wieder verlassen, in einen weiten Regenmantel gehüllt, den er irgendeinem andern entliehen haben mußte, denn er trug nie zuvor einen ähnlichen.

Wir waren jetzt überzeugt, daß irgendein Schelmenstreich ausgeführt werden sollte und zwar von der Wasserseite aus. Dieser Anschlag zeugte von Klugheit und ließ sich nur dann verhindern, wenn bereits andere davon Kunde erhalten hatten. Während Andreas seinen Wachtposten vor dem Hause behielt, eilte ich an den Hafen. In einem mir bekannten Keller, wo viele Seeleute verkehrten, wartete meiner der Malaye Mac-Jong-Kin, ein schlauer, gewandter, ungewöhnlich kräftiger Bursche, der vor mehreren Wochen Händel mit dem Mulatten gehabt hatte und ihm deshalb nicht wohl wollte. Dieser sollte uns behilflich sein, wenn die Zeit gekommen sein würde, den frechen Räubern ihre Beute abzujagen. Nachdem auch dieser genügend instruiert war, begab ich mich abermals zu Andreas und ging mit diesem an die Mündung des Kanals, wo wir den Malayen bereits unserer harrend fanden. Im Schutz einer Brücke legten wir uns auf die Lauer, fest entschlossen, unsern Feind ruhig vorüberfahren zu lassen.

Es kam alles, wie wir vermutet hatten. In unserm Boot liegend erkannte ich den Mulatten, der Christine hielt und ihr eine dichte Kapuze über den Kopf gestülpt hatte. Die Arme wimmerte flehentlich. Das Steuer führte ein wüster Amerikaner, derselbe Mann, der Don Gomez bei seinem gegen mich verübten Schurkenstreich hilfreiche Hand geleistet. Ein Matrose von der Brigg Greatstrings, die zwei oder drei Tage früher elbabwärts gesegelt war, ruderte.

Unser Anschlag wäre ohne Frage geglückt ohne die Unvorsichtigkeit des Malayen. Als wir nämlich noch innerhalb des Binnenhafens an das Boot heranfahren, es festhalten, ich Christine bei Namen nenne und ihr Mut zurufe, springt der Malaye aus unserer Jolle in das Boot, stürzt sich auf Master Papageno und will diesen niederwürgen. Das Unglück will, daß er ausgleitet, in die Wellen stürzt und auf der Stelle unter die vielen daselbst liegenden Schuten getrieben wird.

Dieser böse Unfall änderte sofort unsere Situation und brachte uns in Nachteil. Wir wurden überwältigt, ehe wir recht zur Besinnung kamen. Andreas, das geraubte Mädchen und Papageno landeten an einer Spelunke, wo einige Helfershelfer bereit standen, sie weiter fortzuschaffen. Ich selbst blieb in den Händen des Amerikaners und seines Untergebenen. Es war ihm ein leichtes, in seinem eigenen Boot Blankenese mit mir zu erreichen. Dort vertauschten wir das Boot mit einem größeren Küstenfahrer, legten bei Glückstadt an und pilgerten jetzt zu Fuß durch die Marsch weiter. Noch einmal winkte mir das Glück. Die erweichten Marschwege erschwerten das Gehen. Ich wollte entfliehen – es entspann sich zwischen Greatstring und mir ein verzweifelter Kampf. Unser Geschrei, das wir teils aus Wut, teils auch aus Angst halb unbewußt ausstießen, rief einige Marschbauern herbei. Diese, die mich ebensowenig verstanden, wie ich sie, glaubten dem Amerikaner, halfen mich binden und brachten mich an Bord der amerikanischen Brigg. Zum Glück rannte das Fahrzeug später bei Helgoland auf; ich betrat die Felseninsel und entfloh, nachdem ich die Wachsamkeit Greatstrings durch erheuchelte Harmlosigkeit eingeschläfert hatte, mit Helgoländer Lotsen glücklich den Händen dieses gewissenlosen Mannes. Was später geschehen ist, wissen Sie.«

Es trat jetzt eine längere Pause ein, in welcher der Reeder rasch im Zimmer auf- und abging. Dann öffnete er einen Sekretär und entnahm diesem einen Brief, welchen er vor sich auf den Tisch legte. Jacob hatte bisher schweigend zugehört. Die Angst des Vaters um sein Kind entlockte ihm jetzt die Frage:

»Von meinem Kinde wissen Sie wohl nichts, lieber Herr?«

»Dieselbe Frage schwebte mir auf den Lippen«, fiel Eduard ein. »Was wir bisher von Ihnen hörten, läßt uns erwarten, daß Sie sich streng an die Wahrheit gehalten haben, wir sind aber wenig gebessert, können wir diesem Mann, der durch und für uns gelitten hat, nicht sein Kind frei und rein in die Arme legen.«

»Ich hoffe, Sie auch in dieser Beziehung zufrieden stellen zu können«, erwiderte Miguel. »Zwar weiß ich nicht, wo Christine verborgen gehalten wird, ich habe jedoch Grund anzunehmen, daß es ihr wohl ergeht, daß sie nur der Freiheit entbehrt und daß sie alle Anträge des Mexikaners mit Verachtung abgewiesen hat. Es würde dies viel schwieriger gewesen sein, hätte sie ganz allein dagestanden. Der mit ihr fortgeschleppte Andreas aber war klug genug, das unglückliche Mädchen nicht zu verlassen, und so scheiterte jeder fernere Versuch, die Entführte Don Gomez zu überantworten.«

»Wenn Sie diese Einzelheiten in Erfahrung brachten, wie kam es, daß Ihnen der eigentliche Versteck des armen Mädchens verborgen blieb?« fragte Ferdinand mit einiger Verwunderung.

»Greatstring, in dessen Gesellschaft ich so lange gezwungen weilen mußte, war bisweilen von Grillen geplagt, die er am liebsten durch starke Getränke vertrieb. Hatte er eine gewisse Quantität derselben zu sich genommen, so war er mitteilsam oder er verfiel in die für einen Menschen, der Geheimnisse in seiner Brust verschließt, gefährliche Gewohnheit, laut mit sich selbst zu sprechen. Teils aus diesen lauten Plaudereien des Amerikaners, den ich in solchen schwachen Stunden belauschte, teils aus brockenweisen direkten Mitteilungen erfuhr ich, was ich bereits angedeutet habe. So weit jedoch, daß er den Ort des Verstecks ausgeplaudert hätte, vergaß er sich merkwürdigerweise nie. Diesen zu ermitteln, dürfte aber nicht schwer fallen.« –

»Wie! Sie glauben?« unterbrach Heidenfrei den jungen Mann.

»Ich gelobe Ihnen den dritten Teil meines mühsam Ersparten«, sagte Jacob, »wenn Sie mir Christine, meine liebe Herzenstochter, wieder zuführen.«

»Ich werde Sie an Ihre Dankbarkeit erinnern«, versetzte Miguel, »für eine Handlung der Gerechtigkeit und Humanität aber lasse ich mich niemals bezahlen.«

»Was gedenken Sie zu tun?« fragte der Reeder.

»Don Gomez verkehrte einige Male mit einem jüdischen Händler, dem er mancherlei alte Sachen, wie seine kostbaren, reich mit Silberstickerei verzierten Kleider verkauft hat. Dieser Mann ist von Natur weder gut noch schlecht, aber er macht gern einträgliche Geschäfte. Er steht auch mit Greatstring in Verbindung, da er diesem, wie hundert anderen, Geld vorschießt oder ihnen Waren zu doppelten Preisen aufdrängt. Wer ihn gut bezahlt, dem dient der gefällige Mann. Ich selbst kenne ihn oberflächlich. Sein Name ist Moses.«

»Superbe!« rief Heidenfrei hocherfreut. »Dies ist der richtigste Wegweiser zu Christines Versteck. Es bleibt nichts übrig als Moses zu rufen, durch Geld zu gewinnen und ihn dahin zu bringen, daß er auf geschickte Weise von Don Gomez oder dessen vertrautem Diener zu erfahren sucht, wo das arme Mädchen gefangen gehalten wird.«

Treufreund allein war bisher fast bewegungslos geblieben. Er sah unverwandt den Sprechenden an, dessen Stimme in seinem Herzen wunderbare Ahnungen wachrief. Je länger er die Züge des jungen Mannes betrachtete, desto seltsamere Gedanken stiegen in ihm auf.

Aus diesen träumerischen Grübeleien weckte ihn die Frage Heidenfreis, der inzwischen leise mit seinen Söhnen gesprochen hatte:

»Was ist Ihre Ansicht, lieber Treufreund? Wenden wir uns direkt an den jüdischen Händler, oder wäre es vorzuziehen, dies durch eine Mittelsperson zu tun?«

»Überlassen Sie mir dies Geschäft. Mit diesen Leuten verstehe ich von früher her sehr gut umzugehen. Mich kennt der Mann nicht, faßt also auch schwerlich Verdacht, und überdies glaube ich, bringe ich den geldliebenden Händler für nahe um den halben Preis der Summe, welche das Haus Peter Thomas Heidenfrei zahlen müßte, ebenso gern zum Sprechen.«

»Superbe! So sei es«, bekräftigte Heidenfrei. »Zögern Sie aber nicht, lieber Treufreund! Sie wissen, Zeit ist Geld, manchmal auch noch viel mehr. Mich dünkt, Sie täten am besten, wenn Sie ihm noch heute Abend einen freundschaftlichen Besuch abstatteten.«

»Ich mache mich sogleich auf den Weg«, sagte der dienstwillige, alternde Herr, »weil ich aber abends schlecht zu Fuß bin, besonders in der Dämmerung, könnte mich Jacob vielleicht eine Strecke begleiten.«

»Nicht mehr als gern«, sagte dieser ebenso bereitwillig. »Vorläufig sind wir ja wohl am Ende, und wenn Herr Heidenfrei –«

»Geh nur, geh, Jacob«, unterbrach ihn der Prinzipal. »Deine Angelegenheit ist jetzt in guten Händen, und wer weiß, ob aus der schweren Trübsal, die unvermutet über dich kam, nicht ebenso unvermutet eine noch ungleich größere Freude erblüht. Die Wege des Herrn sind oft wunderbar!«

Nun stand der Reeder mit seinen Söhnen dem Matrosen Miguel allein gegenüber.


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