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12.
An Ferdinand

Köln, Ende October.

Ungeachtet Deiner Verstimmung fahre ich doch von Zeit zu Zeit fort in meinen Berichten. Du hältst noch zu sehr an dem Herkömmlichen und bist furchtsam, wo Du muthig sein solltest. Grade wie es jetzt hergeht in der Welt, hat ein recht frischer Muth nichts zu fürchten. Die Hoffnung auf das Gelingen hält das zagende Herz immer aufrecht und läßt es die schweren Stunden des Kampfes vergessen. So wenigstens fühle ich, seit der Wille der Vorsehung mich in diese Wirren gestellt hat. Ich finde, daß am Ende kein Zustand völlig unerträglich werden kann, mag man sich nur im Geiste eine Aussicht in die Zukunft frei erhalten. Das ist freilich unklug gesprochen, aber die unbewußte Politik des Menschenherzens drängt früher oder später jeden Einzelnen dazu hin. Ich gehöre gewiß nicht unter die Mattherzigen, aber das immerwährende Hereinbrechen zerstörender Lebensstürme hat mich abgehärtet und seit einiger Zeit mit größerer Besonnenheit dem Ziele entgegenstreben lassen. Was ich will, ist mir klar, das Wie? kann allein von den Verhältnissen bestimmt werden.

Seit meinem näheren Zusammentreffen mit Mardochai haben sich die Dinge hier fortgeschoben in dem breiten Gleis der Gewöhnlichkeit. Ein unaufmerksamer Beobachter würde nichts Auffallendes entdecken, mein Auge ist jedoch für die geheimen Lebensregungen geschärft worden, und so kann ich aus dem stillen Fortschieben der Tage eine nahende Krisis herauslesen.

Bardeloh kommt wenig aus. Er arbeitet viel, wie er mir sagt, an seinem Testamente. Dieser Ausdruck möchte wol schwerlich in dem gewöhnlichen Sinne zu verstehen sein; er schreibt an der Gestaltung der Welt, wie sein ungestümer Geist diese sich in der Zukunft denkt. Niemand darf ihn stören, selbst seine Gattin nicht, die ein wahrhaft kummervolles Leben führt. Felix nur hält das beklagenswerthe Weib aufrecht und beglückt es auf Augenblicke. Warum mußte doch grade Rosalie die Frau dieses Mannes werden! Sie wäre glücklich gewesen außer der Ehe.

Eduard oder Bonifacius hat dann und wann eine Art lichter Augenblicke. Ich besuche ihn öfters und weiß man ihn zu behandeln, so ist es nicht eben schwer mit ihm zu verkehren. Nur einzelner Worte darf man sich nicht bedienen, sonst kommt der Geist des Irrsinns mit Furienwuth über ihn und das Leben eines Jeden ist dann gefährdet. Diese Worte sind »Kloster,« »Liebe,« »Gelöbniß,« »Priestereid,« »Mönch« und der Name »Gleichmuth.« – Eine Zeit lang machte mich dieser Abscheu gegen den nicht minder unglücklichen Pastor unmuthig, da ich von ganzem Herzen eine Konfrontation dieser beiden Menschen zu bewerkstelligen wünschte. Mich trieb nicht Neugier dazu, sondern eine Art Instinct, der mich erwarten ließ, ein plötzliches Sehen derjenigen Person, die den Armen vermocht hatte, das unselige Gelübde zu thun, werde wie eine heilsame Medicin auf den Irren wirken. Ein unerwarteter Schreck kann bei Geisteskranken Wunder thun, und grade Bonifacius schien mir seiner ganzen Natur nach geeignet, durch ein solches Mittel allein den Gebrauch seines Verstandes wieder zu erlangen. Die Gelegenheit blieb lange ungünstig, Gleichmuth, begierig auf die Lösung meines gegebenen Wortes, bestürmte mich jedoch täglich, ihn der Ungewißheit zu entreißen und ich wagte endlich einen Versuch. Zuvor unterrichtete ich Bardeloh von meinem Plane und schlug vor, auch Casimir Theil nehmen zu lassen an der Erkennungsscene. Mein Gastfreund war es zufrieden und Tag und Stunde wurden festgesetzt.

Du wirst Dich vielleicht wundern, daß ich hier von einer Confrontation zweier Menschen spreche, die sich schon vor längerer Zeit begegnet sind. Du magst aber nur bedenken, daß jene Begegnung zu einer Zeit sich zutrug, wo Gleichmuth wenig Acht darauf hatte und Eduard durch die lange Kerkerhaft und seine furchtbaren Seelenleiden jede frühere Aehnlichkeit gänzlich verloren hatte. Jetzt verliehen ihm Ruhe und liebevolle Behandlung wieder ein menschliches Aussehen, und ein prüfendes Auge mag wol sogar einige Aehnlichkeit mit Bardeloh in ihm entdecken, auch ohne jenes furchtbare Muttermal dabei zu Rathe zu ziehen.

Es war ein heiterer Abend, die Sonne beschien warm und malerisch die alten grauen Thürme und Giebeldächer. Aus dem Garten, in den die Fenster von Eduards Zimmer hinabsehen, stieg Blumenduft in die Atmosphäre auf. Der Mönch war ganz heiter, sein Auge bekam Leben und Licht, die Angst der Seele schien gänzlich von ihm gewichen zu sein. Guter Hoffnung voll holte ich Gleichmuth ab, der täglich siecher wird und mit ängstlicher Hast an seiner Geschichte der Heiligen arbeitet. Bardeloh war bereit; in seinem fast Jedermann verschlossenen Cabinet fanden wir bereits den dramatischen Dichter und den heitern Felix.

Casimir ist nach seiner Weise zufrieden. Er schreibt an einem neuen wunderlichen Werke, lebt dabei ganz nach Belieben, cynisch, wie's ihm recht ist, und kann seinen Unmuth ungestört auslassen. Mehr verlangt dieser colossale Mensch eigentlich nicht, und ist man ihm dabei zu Willen in Kleinigkeiten, so ist schon ein Auskommen mit ihm. Er stelzte auf eine höchst scurrile Weise in dem feinen Gemache Bardeloh's umher und fluchte dabei still für sich hin, daß die Erde hätte weinen mögen. Um nur etwas zu haben, woran er sich halten konnte, ergriff er einen der drei Todtenschädel, womit Bardeloh seinen Schreibtisch verziert hat, und die ihm des Nachts zu Lampen dienen. Es ist dies nun einmal seine Liebhaberei.

»Kerl,« sagte er eben zu Bardeloh, als ich mit Gleichmuth das Zimmer betrat, »hättest Du nicht diese Gehäuse hier um dich aufgepflanzt, so hielt' ich Dich für eine gewichste Lavendelseele. Daraus aber erkenne ich, daß eine solide Wildheit noch immer auf Dich wirken kann.« Kaum ward er Gleichmuth's ansichtig, als er den Schädel dem Pastor gerade vor das Gesicht hielt und fort fuhr: »So soll mich doch der Satan zu einem Mädchen machen, wenn Du nicht einer verschütteten Leichenpredigt so ähnlich siehst, wie ich einem Narren! Gelt, Du bist eine ambulirende Predigt?«

»Ist's möglich,« sagte Gleichmuth, »Casimir, Du lebst noch?«

»In Sack und Hose, wie ein europäischer Kernphilister, aber weniger sauber. Urdr… ist mein Element, denn aus ihm hat – offen gesprochen – Gott die Welt gemacht.« –

»Und Du hältst Dich wol für seinen Substituten?« warf Gleichmuth fragend ein.

»Behüte der Teufel! Ich bin blos sein Spucknapf. Zu Substituten taugen nur solche Lumpensammler, wie Du, Kerl. Du bist ein wahrhaftiger Leichdorn an der kleinen Zehe des Allmächtigen!«

»Wenn Sie bereit sind,« unterbrach Bardeloh das Gespräch der beiden alten Bekannten, »so wollen wir einen Dritten besuchen. Dir, Casimir, befehle ich Ruhe, oder ich werfe Dich unverzüglich aus dem Hause!«

»Ein majestätischer Spruch wird immerdar respectirt,« versetzte Casimir. »Denkt so eine parfümirte Schneiderseele,« brummte er für sich, »sie sei reif, neue Staaten zu gründen und Republiken auszuspeien, und schleppt doch noch die Eierschalen aller aristokratischen Teufeleien an den Fersen mit sich herum. Daß Du zünftig wirst, macht Dich noch nicht groß.«

Bardeloh schickte seinen Sohn zuerst in das Gemach des Mönches. Aus den wenigen Worten, die er mit dem Knaben sprach, ließ sich eine glückliche Stimmung errathen.

»Treten Sie ein, Gleichmuth,« sagte Richard, »Ihnen gebührt hier der Vortritt.« –

Der Pastor überschritt mit mir zugleich die Schwelle. Der Mönch saß am offenen Fenster, eine Laute lag vor ihm auf der Tafel, denn zuweilen verlangt ihn nach Musik und er klimpert dann ohne Harmonie auf den Saiten. Felix kniete auf einem Schemel und strich dem Wahnsinnigen die wenigen greisen Locken aus der scharf hervortretenden Stirn. Gleichmuth blieb erschrocken stehen. »Wer soll dieser Mann sein? Doch nicht etwa Einer, den ich früher kannte?«

»Fassen Sie ihn in's Auge,« sprach Bardeloh, »und wenn Sie ihn dann erkennen, so gedenken Sie nur der richtenden Geschichte!«

Gleichmuth und Eduard sahen einander unverwandt an, ohne das geringste Zeichen einer früheren Bekanntschaft zu geben. Endlich sprach der Pastor kopfschüttelnd: »Ich kenne den Menschen nicht; es muß ein Irrthum sein.«

»Dann ist Ihre Lebensgeschichte eine Lüge!« sprach Bardeloh.

»Bei Stola und Pritsche,« fiel Casimir ein, »Du hast Recht. Denn dieser von Gebeten auseinandergetriebene Schädel dort hat die Weihen da empfangen, wo ich das Tabernakel plünderte.«

»Himmel und Erde!« rief zusammenbrechend Gleichmuth, »Eduard, der Vertheidiger der Ascese? Er, der meine Wette annahm? – Du bist unglücklich, ich seh's an Deinem versunkenen Auge! – Du hast ein elendes Dasein hingeschleppt als Kette, die der Fluch der Natur an Deinen Eid schmiedete. Eduard, Eduard, kennst Du mich?«

Der Aufgeregte stürzte sich auf den bisher theilnahmlos gebliebenen Mönch. Er ergriff in krampfhafter Wuth seine Hand, suchte in seinen Zügen die Leiden eines mehr als zehnjährigen Lebens zu lesen und bedeckte dann, um Vergebung bittend, die Hand des Wahnsinnigen mit heißen Küssen.

Da schien eine grauenhafte Erinnerung höhnisch lebendig zu werden in Eduard's wahnwitziger Seele. Ein gellendes Gelächter lief schreiend und händeringend an den Wänden hinan; er nahm die Guitarre, griff mit den knöchernen Fingern hinein, daß schrillend die Saiten zerrissen, und wirbelnd sich im Kreise drehend, heulte er den letzten Vers aus seinem Liede, bis er ohnmächtig zu Boden sank. Felix kniete neben ihm nieder, in der Unschuld Thränen das Gesicht des Wahnsinnigen badend. Auch Gleichmuth verließen die Kräfte. Sein siecher Körper konnte wol eine in ruhiger Mäßigung genossene Seelenqual ertragen, nicht aber den Sturm aufgerüttelter Leidenschaften. Er kniete auf die andere Seite des wie todt Hingestürzten, und seine Hand auf die Stirne des Mönchs legend, sprach er: »Du hast verloren wie ich, gewonnen hat allein der tragische Witz des Schicksals. Du fielst ein Opfer der Enthaltsamkeit und ich der entfesselten Begierden. Am Ende aber bist Du doch noch glücklicher als ich. Denn Dein ist nur der Wahn, und Dein Wehe kam aus einem reinen Herzen, mich aber erdrückte die Lust des Gedankens und der umherwandernde Rachegeist des gemißhandelten, urältesten Volkes der Erde.«

»Nicht doch, Hochwürden,« fiel hier eine mir wol bekannte Stimme mit eiskalter Ruhe ein. »Es waren Studien, Experimente, angestellt mit der Physis der Seele, zu Nutz und Frommen der Nachwelt. Daß der Physiker dabei geschickter war, als sein Famulus, war Sache der Vorsehung. Wenn ich mich räche, so baue ich an der Zukunft der Welt, indem ich wol weiß, daß das Fertigwerden dieses neuen Völkerdomes den Tod des Baumeisters bedingt. Doch haben Sie noch je ein Kind aus dem Stamme Juda's thöricht gesehen? Mardochai kann elend sein, dumm ist er nicht! Mardochai stirbt weder am Christenthum, noch unter Christen. Er stirbt allein am Tode des Mosaismus und der Unbarmherzigkeit derer, die sich brüsten, das Privilegium der Barmherzigkeit zu besitzen.«

Der Jude stand hinter uns und musterte die Umgebung. »Lauter alte Bekannte, wie ich sehe,« fuhr er fort, Casimir's Hand kräftig schüttelnd, den er zum ersten Male wieder sah.

»Der Sinn ist Canaille geblieben,« sagte dieser, »nur die Jacke hat sich geändert. Nun darauf geb' ich nichts, die Hauptsache ist immer, daß einer nicht dumm wird an eingemachten Liebesseufzern. Alter, wie geht's Dir? Bist Du munter und schacherst Du noch immer mit gut angelegten Gedanken?«

»Das Gewerbe blüht,« sprach Mardochai, »aber ich hoffe, nicht mehr gar lange! Die geistigen Zungen der Völker sind gewählter geworden.«

»Bravo! Trüffelsaucen für das Pack! Jude, ich sage Dir, geh' in die Pilze. Du bist der Kerl darnach, die giftigsten herauszulesen zur Betäubung dieser sublimen Himmelsfliegen.« – Er deutete auf die kniende Gruppe.

Casimir kam immer tiefer in seine Redeweise hinein, und da Mardochai ihm keinen Widerstand leistete durch vieles Dazwischenreden, so gab uns seine Laune noch Dinge zu hören, wofür keine Schriftsprache Worte besitzt. – Der Mönch erholte sich unterdeß wieder, allein das Bewußtsein war dahin. Wilder und glühender als je, irrten seine Augen in den tiefen Höhlen, er murmelte nur unverständliche Worte, Gleichmuth's Namen allein konnte man deutlich aus dem Wirrwarr heraushören. Da sich eine heftige Tobsucht seiner bemächtigte, mußte er gefesselt werden. Erschüttert verließen wir alle den Schauplatz des Jammers. Gleichmuth war wie vernichtet, Bardeloh brütete still für sich hin. Felix hing sich weinend an meinen Arm. Nur Casimir ließ sich den Humor, wie er es nannte, durch diese »gut durchgeführte Farce der unvermögenden Weisheit« nicht verderben und Mardochai stand einsam da in der Größe seiner Ruhe, wie ein prophetisches Bild, für dessen Sprache die Stunde noch nicht gekommen ist.

Meine Absicht scheiterte an der unheilbaren geistigen Zerstörung Eduard's. – Ich begleitete den Pastor nach Hause und schlich mich dann unter Sternenschein in die Nähe von Mardochai's Wohnung, um irgend wo die liebliche Sara zu entdecken. Ich hatte seit jenem Abende die schöne Jüdin nur ein einziges Mal gesprochen, konnte aber zu kurze Zeit bei ihr verweilen, um sichere Schritte für meine Pläne zu thun. Auch werde ich mich keineswegs durch vorschnelles Handeln übereilen. Ist doch ohnehin Alles bereits so weit zum Abgrunde hingerissen, daß es jetzt wahrlich nicht auf ein Dutzend Elendigkeiten mehr oder weniger viel ankommt! Dem Juden kann ich nicht zürnen, so entsetzlich er mir auch ist. Sein Zweck ist vielleicht eben so edel, als der meinige, aber diese Zerklüftung des Menschen und der Secten nöthigen ihn, zu Mitteln seine Zuflucht zu nehmen, die vielleicht in der schöpferischen Begeisterung eines Gottes noch als Frevel erschienen.

Sara war nirgends zu entdecken, dagegen leuchteten die Fenster Auguste's so liebelockend und sehnsuchtswarm, daß ich nach langer Entsagung wieder einmal ganz dem ungebundensten Glück anzugehören für ein nothwendiges Opfer meiner Natur hielt. Klapperbein, schon gewohnt an mein unvorhergesehenes Kommen und Gehen, wird nach und nach gefüger. Der alte Narr macht mir Spaß, und wollen wir beide recht kindlich glücklich sein, so muß sich der alte Ephraim zu uns setzen und Sagen und Schnurren erzählen. Darin ist er denn Meister, immer vergnügt, sangeslustig und weinselig von früh bis in die Nacht hinein. Erst, wenn man eine so kernfrische Natur sieht bei der Bleichsucht, die unser ganzes Geschlecht ergriffen hat, fühlt man, wie unendlich tief uns diese künstlichen Lebensmaximen herabgestoßen haben von der reinen unverfälschten Menschlichkeit; und immer heißt der Refrain all' meines Wünschens und Denkens: Wiedereinsetzung der Natur in ihre Rechte, oder Auswanderung dahin, wo sie noch thront, und lebt und schafft in ihrer ganzen, ungeschwächten, heiligen Kraft! Wüßte ich nur, wie man schnell diesem so lebenbedürftigen Europa das Nöthige wieder geben könnte! Aber hier sind wir Alle mit unserer Weisheit zu Ende, und nur die Geschichte kann retten und erlösen, was der Misbrauch derselben auf das Rad der Schmach und des Entsetzens geflochten hat. –

 

Im November.

Das Kirmesfest in Deuz führte in den jüngst vergangenen Tagen eine große Anzahl Fremder daselbst zusammen. Nicht allein die Bewohner Köln's wallfahrteten hinüber nach den öffentlichen Vergnügungsorten, auch die nahe gelegenen Ortschaften entsandten eine Menge fröhlicher Menschen zu dem heiteren Volksjubel. Die Tage waren warm und sonnig. Der Herbst schien in einem kurzen Spätsommer nochmals aufleben zu wollen.

Ich hatte viel reden hören von den bei dieser Festlichkeit gewöhnlichen Volksbelustigungen, und fand mich deshalb bei guter Zeit an Ort und Stelle ein. Felix begleitete mich, er war froh einmal aus der gewitterschwülen Atmosphäre des väterlichen Hauses in die freie Luft heraustreten zu können. Unterwegs begegnete uns Mardochai mit seiner Tochter, die außer dem Hause die Liebhabereien des Vaters dem Modegeschmacke zum Opfer bringt. Seit unserm feindlichen Zusammentreffen hält mich ein unheimliches Gefühl ab, in engerem Verkehr mit Mardochai zu leben. Wir gingen daher ruhig grüßend an einander vorüber, nur Sara wechselte ein paar bedeutungsvollere Blicke mit mir. Das wunderliche Mädchen ist in der That zu verführerisch, um es mit kaltem Blute betrachten zu können. Es lag eine offene Einladung in ihrem Blicke, ihr ganzes Auge war eine mit Lächeln dargereichte Visitenkarte. Ein Wink von mir diente als Antwort und ruhig ging ich weiter mit dem plaudernden Felix.

»Das ist recht meine Lust,« sagte der Knabe, als wir der Bellevue vorübergingen. »Unter lustigen Menschen bin ich lebensgern, lache und springe und singe mit ihnen, und vergesse alles Häßliche, was mich zu Hause immer so trübsinnig macht. Begreifen kann ich's doch nicht, warum der Vater immer so verdrießlich ist und die Mutter weinen macht. Wir könnten recht lustig sein, wenn wir viel spazieren gingen und die Natur mehr liebten.«

»Freilich,« erwiederte ich, »die Natur aber kann nicht jeden Mangel ersetzen, liebes Kind, den wir im Herzen fühlen, und dessen Ursprung in dem zu finden ist, was man Leben und Welt nennt.«

»Nun das mag sein, Sigismund, ich kann es aber nicht glauben, daß ein Mensch heiter werde, so lange er blos in der trüben Stube sitzt.«

»Eben darum nehme ich Dich mit in die offene Natur, unter Volksjubel und Festesfreuden. Du wirst Dir schon Heiterkeit sammeln für die nächsten acht Tage.«

»Schade, daß wir den Bruder Bonifacius nicht mitgenommen haben,« fiel der Knabe ein. »Dem würde die Luft erst recht gut thun und das Lachen und Scherzen der Kinder. Laß mich umkehren, Sigismund, ich will ihn herüberbringen.«

Wenige Worte genügten, den gutmüthigen Knaben davon zurückzubringen. Wir hatten die Gesellschaftsorte erreicht, Spiel, Gesang, Festjubel schallte uns entgegen, bunte, lachende Menschengruppen wandelten sorglos umher, die blinkenden Römer in den Händen.

Felix war unermüdlich, er hüpfte von Laube zu Laube, knüpfte mit Jedermann ein Gespräch an und ward Allen lieb und werth. Viele der Anwesenden kannten den Knaben schon und bedauerten mit Achselzucken, daß grade Bardeloh sein Vater sei. »Der Mann ist zwar unermeßlich reich,« sagten sie, »aber nicht minder unermeßlich unglücklich. Das kommt heraus vom Kosmopolitismus und übertriebener Menschenliebe.«

»Ja,« fiel ein dicker Weinküper ein, »dies kosmopolitische Unwesen taugt nicht hier in unser Land. Wir wollen trinken und leben, uns nicht um die Elendigkeiten von Hinz und Kunz viel bekümmern. Reines Haus halten war immer die Hauptsache und wird's bleiben, so lange ein ehrlich gefülltes Weinglas Herz und Auge erfreut. Bleibt mir mit der Kosmopolitik vom Leibe, die pure, simple Politik macht mir schon Kolikbeschwerden.«

Es fanden sich viele solche echtdeutsche Sauerkrautphilister zusammen, und käme es bei einem wahrhaftigen Urtheilsspruch auf die Menge der Mäuler an, so würde sich die Zahl der Stimmfähigen auf ein sehr kleines Häuflein reducirt haben. – Mir lag wenig daran, Politik zu verhandeln und alle Miseren des Lebens abermals durchzukosten. Der Nachgeschmack entgeht einem ja ohnehin keinen Tag. Schon Felix zu Liebe gab ich mich der Unbefangenheit hin und war einmal kindisch froher Mensch, so weit dies in unserer Zeit möglich ist.

Gegen Abend ward das Menschengedränge immer heftiger. Bunte Laternen wurden angebrannt, die Weinlust warf Schwärmer in die Luft und ergetzte sich am Zeter der furchtsamen Mädchen, die in reicher Anzahl versammelt waren. Ich zog mich zurück aus dem ärgsten Getümmel, um in der Dämmerung meinen kleinen Schutzbefohlenen nicht zu verlieren. Der Abend war warm und still. Auf dem breiten Strome schwammen unzählige Gondeln. Das Ufer entlang schwärmten singende Gruppen. Unter den Spazierengehenden fiel mir eine kräftige Männergestalt auf, die in Gang, Haltung und Tracht etwas Fremdartiges hatte. Der Mann war muskulös gebaut, hoch gewachsen, sein Haar zwischen blond und braun. Die Kleidung sehr fein, aber durchaus nicht europäisch. Dabei schien weltmännische Bildung ihm nicht fremd zu sein. Da er ohne Begleitung ging, gesellte ich mich zu ihm. Auf seinem Gesicht lag eine Heiterkeit, wie ich sie fast noch nie gesehen hatte. Es war nicht jener scherzend lose Frohsinn, wie ihn der Sanguiniker unseres Schlages gewöhnlich zur Schau trägt, es lag mehr Kraft, mehr Bewußtsein männlicher Stärke in diesen offenen Zügen. Das Gesicht war stark gebräunt, aber schön, einige leichte Falten umzogen die hohe Stirn, der Mund sprach Festigkeit aus, das Auge blickte frei und besonnen umher. Keine Tücke bog sich verstohlen in den glänzenden Himmel hinein.

Eine solche Physiognomie macht den nämlichen Eindruck, wie jene melancholisch-tiefsinnigen Gesichter, denen wir, namentlich in Deutschland, so oft begegnen. Die gedankenbleichen Gesichter unserer Jünglinge ziehen an, aber wecken auch ein Schmerzgefühl in uns, das mit einem Male jede wahrhaftige Freude lächelnd umbringt. Man kann sich nicht erfreuen an diesem Tiefsinn eines grübelnden Lebens, er drückt nieder, so interessant er ist, es ist der Tod unseres Volkes, der uns auf jedem Schritte heimlich nachschleicht.

Der Fremde blieb an einer Krümmung des schmalen Fußpfades stehen und betrachtete den Strom, die Stadt mit ihren alten vielen Thürmen und dem ungewohnten Leben, das herüber und hinüber zog über die Schiffsbrücke. Sein Auge blieb heiter, ein sanftes Lächeln bewegte in glücklichem Stolz die männlich reifen Züge, die starke Brust schien nie geschwächt worden zu sein durch angstvolles, öfteres Seufzen.

»Das Volk ist heut einmal recht vergnügt,« sprach ich, zu dem Fremden tretend, »man findet eine solche ungebundene Fröhlichkeit nicht alle Tage.«

»Es ist ein mächtig lustiges Leben,« erwiederte der Fremde in reinem Deutsch, aber mit fremdartigem Accent. Das »mächtig lustig« ließ mich sogleich den freien Sohn Nordamerika's in ihm erkennen. Eine junge Hoffnung schoß üppig auf in meinem Herzen bei dieser Wahrnehmung. Es war der erste Amerikaner, den ich sprach, und die letzten Wochen hatten mir das ferne Land im Westen so nahe gebracht, so eng in den Kreis meiner Wünsche und Lebenserwartungen eingesponnen, daß ich mich selbst einen Bürger dieses fabelhaften Weltreichs fühlte.

»Haben Sie Ihr überatlantisches Vaterland schon längst verlassen?« fragte ich, in der Absicht des Fremden Stolz zu wecken und dadurch zu einem Gespräch über Amerika zu nöthigen.

»Woher wissen Sie, daß Amerika mein Geburtsland ist?«

»Ihr freies Wesen, ihr männlich froher Blick verriethen es mir.«

»Wahrlich, Sie verrathen mir gleichermaßen,« erwiederte der Amerikaner, »daß Sie ein Europäer sind. Das ist ein mächtig schmeichelndes Volk, unbehaglich für uns mehr als grade, etwas derbe Menschen. Warum schmeicheln Sie mir, der ich Sie eben so wenig kenne, wie Sie mich?«

Es ist beschämend, gestehen zu müssen, daß ich nicht im mindesten die unbewußt ausgesprochene Schmeichelei gefühlt hatte. So unnatürlich sind wir geworden durch die Verhältnisse, daß selbst die offenste Ehrlichkeit nicht mehr fühlt, wenn sie aus Ehrlichkeit unehrlich wird. Complimente sind so dicht verwachsen mit unserm Leben und Denken, daß ein glücklicher Gedanke gewiß das Halsbrechen riskirte wenn er nicht in gehörigem Schritt dem Leben Reverenz machen dürfte. Es ist zum verzweifeln! Du glaubst nicht, Ferdinand, wie erbärmlich klein ich mich fühlte mit all meiner sublimen Bildung gegenüber der Gradheit dieses ehrlich stolzen Amerikaners. Ich machte keine Entschuldigung, sondern gestand offen und frei meinen Fehler. Dies gefiel dem Amerikaner. »Wie heißen Sie?« fragte er, meine Hand tüchtig schüttelnd. Ich nannte meinen Namen. »Schön,« sprach er, »und der meinige ist Burton. Ich bin aus Cincinnati am Ohio. Kommen Sie. Der Rhein ist ein mächtiger schöner Strom, mit dem Ohio aber kann er sich nicht messen.«

Wir gingen den Strom entlang. Der Jubel des Volks versank in die Ferne. Die Sterne blinkten mild herab vom blauen Himmel, in stillem Glanz stieg der Mond auf und überstrahlte das alte Köln mit duftigem Schimmer. Felix, der bisher den Amerikaner von allen Seiten betrachtet hatte, ergriff jetzt Burton's Hand, indem er sagte: »Laß' mich sie küssen, Amerikaner! Vater hat immer gesagt, ein Amerikaner sei ein ganzer Mensch, und das ist einmal ganz wahr gewesen vom Vater. Ich bin Dir gut, Amerikaner, und ich möchte wol auch einer werden, wenn die Mutter es nur erlauben wollte. Du siehst grade aus, wie ein ganzer Mensch.«

»Ein liebes Kind,« sprach Burton, »nur etwas idealisch. Das taugt nichts, am wenigsten für Amerika. Indeß der Knabe würde sich schon ändern.«

»Auf dem Ohio würde ich Schiffe bauen,« sprach Felix »und damit in den Mississippi fahren. Das muß ein recht großer Strom sein.«

»Es ist ein mächtig großes Wasser, der Vater der Gewässer, mein Sohn.«

Nach einigem Hin- und Herfragen erfuhr ich von Burton, daß er bereits seit zwei Jahren sein Vaterland verlassen habe, um Europa und vor allem Nordamerika's Mutterstaat, England, zu besuchen. Handelsverbindungen und die Lust, Menschen und Länder kennen zu lernen, hatten ihn jüngst nach Deutschland geführt, dessen Volk ihn vor allen europäischen am meisten anzog. Er hatte in seiner Heimath deutsche Ansiedler gesprochen und in ihrem Umgang unsere Sprache erlernt. Das tiefe Gemüth jener Menschen, die durch harte Entbehrungen und unermüdliche Ausdauer alle Schwierigkeiten siegreich überwunden und sich zuletzt zu einem Wohlstand heraufgeschwungen hatten, wie er selten in so geordneter Schönheit sich findet, weckten den Wunsch in ihm, das eigentliche Vaterland dieses im Dulden so großen Volkes kennen zu lernen. Allein noch war ihm bis jetzt jene Lebenskraft nicht begegnet, die er an den Ausgewanderten bewundert hatte. Es ward ihm unheimlich unter diesem gutmüthigen Ceremonienwesen, das nicht Product einer freien Gesinnung, sondern blos Auswuchs einer schiefen Stellung zur Weltgeschichte ist. Der freie, naturfrische Sohn Amerika's konnte nicht fassen, wie es eine Convenienz geben müsse, um mühselig durch's Leben zu schleichen. Dieses hüstelnde Herumpinseln nach irgend einer lockern, schon im Entstehen aus einander fallenden That, widerstrebte dem Stolz seiner Männlichkeit, und er war nahe daran, den Stab zu brechen über die ganze Nation, weil er den Geist des Wollens so wenig sich kund geben sah in Aeußerlichkeiten. Bereits hatte er den Rhein bereist bis Straßburg hinauf, war erst vor Kurzem wieder zurückgekehrt, und stand eben im Begriff, auf einige Zeit nach Paris zu gehen, um an den dortigen Zuständen die Zukunft des europäischen Festlandes zu erproben. Aus Allem sprach ein gesunder, heller Verstand, groß und stark geworden im Kampf mit der riesigen Natur. Kein sanftes Heucheln bog die Lippe zum Geständniß einer wol erzogenen Lüge, wie der Europäer sie so gern hört. Das Auge heftete fest auf den Dingen und erhob aus dem kalt Reellen nur die Zukunft der Welt zu einer idealen Gestalt. Es ist wahr, Burton hatte für Vieles keinen Sinn, womit des Europäers ganzes Dasein auf das Engste zusammengewachsen ist. Die Kunst schien ihm ein völlig thörichter Tand zu sein. »Das ist ein mächtig verweichlichendes Geschäft,« sagte er, »diese Kunstliebhaberei! Dabei kommt nichts heraus, das bildet weder Bürger, noch Menschen, das macht nur idealische Schwätzer.«

Man kann dies zugeben, ohne einem Amerikaner deshalb ein Recht zu überliefern, das er in Anwendung bringen könnte gegen Europa's geistige Civilisation. Es wäre sogar lächerlich, wollte man von dem jungen Nordamerika verlangen, es solle in Kunst und Wissenschaft sich messen mit Europa. Nordamerika ist frei geworden, ohne den blutigen Krankheitslauf einer tausendjährigen Weltgeschichte durchgefühlt zu haben. Es ward frei und ein Mann, als ihm die Geschichte die ersten Zähne ausriß. Es mußte dies werden, weil die Erinnerung an die europäische Weltgeschichte als drohendes Gespenst es anspornte zur That. Nun aber sollte Europa sich von ihm borgen die weise Nüchternheit des im Kampf um Freiheit erstarkten Geistes, um seiner zerbrechlichen Natur wieder aufzuhelfen, und von den tieferen, poetischeren Gütern seines Lebens hinüberflüchten in den großen Tempel der Natur und in die Walhalla der Freiheit, was in Europa nur schwächend und demoralisirend wirken, in Amerika aber dem materiell starken Leben einen heiligeren Geist einhauchen kann. Europa wäre geholfen mit einem ehrlichen Tauschhandel und Amerika könnte dabei auch nur gewinnen.

Das lebhafte Interesse, welches ich an Amerika's Lebensgestaltung nehme, entging Burton nicht. Meine Theilnahme schloß sein Herz auf und ließ ihn Zugeständnisse machen, die ich kaum erwartet hätte.

»Der Europäer,« sagte er, »täuscht sich oft, wenn er unser glückliches Land betritt. An den Küsten wohnt nicht die Freiheit im schönsten Schmuck ihrer jugendlichen Unschuld. Wie das Treibholz vom Nordpol sich ansetzt an Islands kahle Küstenstriche, an die Färöer und Shetlands-Inseln, so steigen rings am Strande des Hudsons, Delaware, Susquehannah, Connecticut, die grau gewordenen Laster aus, die in Europa nicht mehr hinlänglichen Spielraum finden für ihr lüsternes Leben. Die Küstenstriche Nordamerika's sind blos die Vorhöfe der wahren Freiheit. Da treibt sich allerhand Gesindel umher, und wenn auch der Congreß des Volkes Heil beräth nahe an dem Wogenschwall der donnernden Atlantis, die wahre Wohnung der Freiheit muß man suchen im stillen unentweihten Innern Amerika's. Darum, wen aus Europa der Schmerz vertreibt und wer Heilung sucht für sein brechendes Herz, der fliehe die großen volkreichen Städte, in denen, wie überall, wo die Menschheit sich stößt, der Egoismus herrscht und die Sucht nach Gewinn und eitlem Tand. Schnell dringe er vor in das Innere. Die Staaten Tennessee, Ohio, Indiana, Illinois bieten die ungeheuersten Länderstriche dar für ein glückliches Leben. Nur thätig muß Jedermann sein, das Träumen darf er nicht mit herüberschiffen über den Ocean. Wir können jetzt nur mächtig fleißige Menschen gebrauchen, die moralisch aufleben, weil sie kräftig natürlich bleiben. Vielleicht nach hundert Jahren bietet dann auch das amerikanische Familienleben mehr Künste des Friedens dar.«

Mit Freuden hatte ich den Amerikaner sich aussprechen lassen. Wie schmerzte es mich, daß ein ähnliches Lob ohne Lüge nicht über meine Lippe gehen konnte von meinem Vaterlande! Ich eröffnete Burton, daß ich willens sei, in einiger Zeit nach Amerika zu gehen.

»Thun Sie dies,« erwiederte er. »Sie kommen fort, Sie sind noch jung und hoffnungskräftig. Ich werde Ihnen forthelfen, wenn Sie mir Vertrauen schenken wollen.«

»Ich gehe aber nicht allein,« sagte ich, »mich sollen noch Mehrere begleiten, Männer und Frauen. Es lebt hier eine Gesellschaft, die nur todt in Europa Frieden finden kann. Sie sind geistig und physisch zerbrochen worden von dem tödtenden Rade, das Europa zermalmt.«

»Diese Menschen möcht' ich kennen,« versetzte Burton. »Das würde mir einen klaren Begriff beibringen von europäischer Civilisation, die mir noch gar nicht recht zu Sinne will. Die Leute sind hier mächtig gescheidt, aber doch im Grunde wenig klug. Ihr seid allesammt zu gelehrt. Ihr habt viel Geschichte, aber wenig Leben.«

Diese Distinction war amerikanisch verständig und sehr bezeichnend. Die überhand nehmende Dunkelheit hatte uns zurückgeführt nach Deuz. Das Kirmesfest ging ruhig seinen Gang, in mir aber fanden sich keine verwandtschaftlichen Regungen mehr. Ich überschritt an Burton's Seite die Schiffsbrücke. Felix merkte genau auf unser Gespräch und ließ sich von dem Amerikaner führen.

»Wo wohnen Sie?« fragte ich meinen neuen Bekannten, als wir den Brückenzoll erlegten.

»Gleich hier am Rheinberge,« erwiederte Burton, »wenn Sie aber weiter in der Stadt logiren, so begleite ich Sie noch eine Strecke.« Der Abendwind wehte ein paar wehmüthig auszitternde Violinentöne vom Hafen herüber, ein Fieberfrost überlief mich kalt, Burton blieb stehen.

»Was ist das für ein seltsamer Spieler oder Virtuos,« sagte der Amerikaner. »Beinahe alle Abende und oft tief in die Nacht hinein höre ich das Wehklagen seiner Geige, in das sich nicht selten ein so überlautes Jubeln, fast ein Orgiengejauchz von wild tobenden Melodien mischt, daß ich mich einer Wehmuth nicht enthalten kann, die doch sonst meinem ganzen Wesen sehr fremd ist. Ich verstehe wenig von Musik und dennoch wittere ich etwas Geniales heraus aus diesem Spiele! Können Sie mir Auskunft darüber geben?«

»Später,« sagte ich, »nur so viel mögen Sie erfahren, daß jener Spieler einer von denen ist, die ich gern hinüber retten möchte nach Amerika.«

»Sie machen mich neugierig,« erwiederte Burton. »Ihre Bekanntschaft wird mich länger in Köln aufhalten, als ich vor Kurzem willens war.«

»Es wäre dies sehr viel Ehre für mich« – fiel ich ein, doch der Amerikaner unterbrach mich und legte seine kräftige Hand so derb auf meine Schulter, daß ich erschrak.

»Keine Ehre, Sir,« sprach der Sohn des freien Amerika. »Wenn ein Mann offen gesteht, daß ihn eines Fremden Bekanntschaft freut, so begreife ich nicht, wie dies diesem zur Ehre gereichen kann. Es ist Pflicht, Wahrheitsliebe, das zu sagen und weiter nichts. Kein Geschwätz und keine Blumen, Sir, sonst geh' ich.«

Abermals erkannte ich meinen geschminkten Menschen im Spiegel einer gesunden, urkräftigen Natur. Burton begleitete mich an Bardeloh's Haus. »Hier also wohnen Sie?« sagte er und küßte den Knaben auf die freie Stirn. »Ein schönes germanisches Kind, ich beneide den Vater darum.«

»Das würden Sie nicht, wenn Sie ihn kennten!«

»Wie, ist der Knabe nicht Ihr Sohn?«

»Ach ich möchte es wol sein,« fiel Felix recht wehklagend ein, »aber Sigismund meint, es ginge nicht und der Vater hat mich doch gar nicht lieb.«

»Wie kann ein Vater sein Kind nicht lieb haben, und nun gar ein so liebes, talentvolles!«

»In Europa kann dies vorkommen. Ja, Sie zittern, Burton, und können das Entsetzliche dieses Wortes nicht fassen. Jetzt erschrecken Sie vor einer Wahrheit, die eines Europäer's Blut schon längst nicht mehr in Aufruhr bringen kann. Der Sohn wird den Vater, oder der Vater den Sohn hassen, weil es die Verhältnisse bedingen. Es ist der Wille der Weltgeschichte, gegen deren Walten Niemand auch nur einen Finger erheben darf. Bedenken Sie, Burton, daß Sie in einer zweitausend Jahr alten Stadt Europa's wandern! Da liegt viel begraben und mancher Todte könnte mit seinen Seufzern selbst das feste Amerika in seinen Grundfesten erbeben machen.«

»Ihr Europäer seid grauenhaft, wenn Ihr prophetisch werdet!« sprach Burton. »Das Prophezeihen, ja, wahrhaftig, das ist Eure Stärke! Ihr seid mächtig groß im Wort und mächtig klein im Umbilden des Wortes zur That! – Nun, und wer ist denn der Vater dieses schönen Kindes?«

»Der Besitzer dieses Hauses, der reiche Particulier Bardeloh.«

»Bardeloh, Bardeloh!« wiederholte der Amerikaner. »Ist mir's doch, als hätte ich einen Gruß aus England an diesen zu überbringen gehabt. Bardeloh! Hm! Und das Geschäft des Mannes?«

»Die Erziehung des Grames über sein Volk zum rettenden Engel für dasselbe.«

»Ein europäisches Geschäft!« seufzte Burton. Ich hörte ihn zum ersten Male seufzen, man merkte dem Tone an, daß er noch nicht geübt und gebildet war zur Virtuosität. »Und das Ihrige, Sir?«

»Ich vertrete Famulusdienste bei Bardeloh und bin nebenbei Spürhund, um die Hasen aufzujagen.«

»So, so! Und Sie leben?« –

»Von unsern Renten.«

»Warum betreibt Ihr dabei kein einträgliches Geschäft?«

»Sie kennen das einträglichste für arme Europäer. Unser bestes Geschäft ist ein unablässiges Sinnen auf Erlösung!«

»Ihr seid krank, Alle,« sagte Burton, »aber ich besuche nächstens Sie und diesen Bardeloh. Amerika wird Euch brauchen können!« – Wir schüttelten uns die Hände und schieden. –

 

Am 3. November.

Als ich am nächsten Morgen zum Frühstück kam, fand ich Rosalie in einer glücklich heiteren Stimmung. Felix kniete auf dem Tabourettchen vor ihr, und lachte die Mutter so freundlich und kindlich überzeugend an, daß es mich dauerte, diese Friedensscene abzukürzen. Felix hatte mich jedoch schon bemerkt, hüpfte auf mich zu und sprach:

»Nun, da ist ja der Sigismund. Frage ihn nun selbst, Mutter, ob es nicht wahr ist, daß mich gestern Abend ein schöner Amerikaner auf die Stirn geküßt hat?«

Rosalie zog den Knaben an sich, einen fragenden Blick auf mich heftend. »Sie bestätigen des Knaben Behauptung,« sagte sie, »wie aber kämen Amerikaner mit meinem Knaben in Berührung.«

»Ja siehst Du Mutter, das ist so meine Freundlichkeit, die mir alle fremden Menschen an den Hals wirft. Frage nur den Sigismund, der kann Dir's haarklein erzählen, wie lieb mich der Amerikaner hat. Auch soll ich mit ihm nach dem schönen Lande gehen, da will er einen freien Mann aus mir machen, und mir einen Vater geben, der mich lieb hat.«

»Armes Kind,« seufzte Rosalie, »Du begreifst nicht, daß Dein Vater Dich von sich stößt aus Liebe.« – Sie wandte sich zu mir und bat mich um nähere Aufschlüsse über die neue Bekanntschaft. Ich erzählte ihr unser Zusammentreffen mit Burton und was sich daraus gesprächsweise ergeben habe.

»Ich bin neugierig den Mann kennen zu lernen,« erwiederte Rosalie. »Nach dem, was Sie mir von ihm sagen, muß er den Gebildeten seiner Nation angehören. Ich gestehe, daß mein europäischer Sinn diesem Volke nicht gern Zugeständnisse macht, die erniedrigend sind für uns selbst. Ein Mann kann anders fühlen, wir Frauen aber vermögen nicht, uns altgewohnten Verhältnissen so ganz zu entziehen, selbst wenn dies erforderlich wäre zu einer unparteiischen Gerechtigkeit. Seid Ihr oft hart und streng im Verwerfen des Verjährten, so sind wir nicht minder hartnäckig im Festhalten der Ueberlieferung.«

Bardeloh trat ein, still wie immer. Er grüßte mich nur im Vorübergehen, führte mehr aus Gewohnheit als Zärtlichkeit die Hand seiner Gattin zum Munde, und wehrte entschieden und kalt seinen Sohn von sich ab. »Geh',« sprach er, »was thu' ich mit Dir? wozu die Fratzen!«

Felix kam zur Mutter zurück und nahm stillschweigend das Frühstück ein. Unsere Stimmung war gestört, wie ein kältender Reif legte sich die melancholische Theilnahmlosigkeit Bardeloh's um unsere so vollen Herzen. Da mein Gastfreund in kein Gespräch zu ziehen war, hielt ich ein völliges Ignoriren seiner Person für angemessen und fuhr fort, mit Rosalie über Burton und Amerika zu sprechen. Diese Frau könnte einen jeden Mann glücklich machen, lebte sie in einer Atmosphäre, deren duftiger Hauch der Seele mehr Nahrung zuführte, als die unsrige.

»Was Sie da sagen,« sprach sie, »das würde mich beglücken, wäre es mehr als eine bloße jugendliche Schwärmerei der Hoffnung. Sie kennen mich zu genau, um in mir ein Weib zu finden, das sich der Chimäre mit Leichtsinn hingibt. Die Welt hat mich frühzeitig gefunden und durch Prüfungen mein tieferes Wollen erprobt. Ungerecht mag ich nicht sein und mich deshalb beklagen. Es gibt Tausende, die im Elende verschmachten, ich kann mich hüllen in Purpur und Seide. Und dies ist nichts werthloses in unseren Tagen. Höher als Alles muß ich aber doch den Frieden achten, welcher am Herde seine Wohnung errichtet. Dieser geht mir ab durch die Zustände, in die nun einmal die ganze Zeit hinabgestoßen worden ist. Ich weiß dies ruhig zu ertragen, mich sogar zu begnügen – kann dies aber den Ungestüm der Männer zügeln? Euer stürmisches Verbessern reißt jede Stütze nieder, an der sich die allgemeine Schwäche zu einem erträglichen Ziele schleppt. Freilich nennt Ihr das kleinlich, aber seid doch nur gerecht und Ihr werdet den Menschen mit Leichtigkeit aus der Schwäche herauserkennen.«

»Haben Sie etwas von Casimir gehört?« fragte Bardeloh. »Mein Bedienter sagte mir, er sei die ganze Nacht über nicht nach Hause gekommen.«

Ich wußte gar nicht, daß er ausgegangen war. »Die alberne Festlichkeit drüben in Deuz,« fuhr Richard fort, »lockte ihn mit hundert andern Narren, und ich glaube, das ist recht sein Element, um sich zu sättigen in barocken Thorheiten.«

»Wir waren auch dabei, Vater,« fiel Felix ein, »und da haben wir einen Amerikaner gefunden.«

»So,« sprach Bardeloh. »Einen Amerikaner? Ich höre, es sind Einige angekommen. Erwecken die Menschen Interesse?«

»Es kommt auf uns an,« versetzte ich. »Ein Amerikaner sollte keinem Europäer gleichgiltig sein. Sehen wir doch in ihnen die Vorbilder dessen, was wir suchen und nicht finden können.«

»Ein Narr, wer noch sucht, ein Schwächling, der nicht längst gefunden hat!« Mit dieser diktatorischen Grobheit stand Bardeloh auf und wollte das Zimmer verlassen. An der Thür stieß Casimir auf ihn in einer Verfassung, die eben nicht geeignet war, ihn liebenswürdig zu finden. Die Spuren einer durchschwärmten Nacht zeigten sich deutlich auf seinem ohnehin schon leidenschaftlich zerrissenen Gesicht. Weindunst schien noch seine Sinne zu umnebeln, er faßte Bardeloh an der Brust und taumelte mit ihm zugleich auf einen Sessel.

»Willst Du denn durchaus an der Gemeinheit zu Grunde gehen?« sagte Bardeloh, sich losmachend aus Casimirs Umarmung.

»Ich bin Casimir der Vogler,« erwiederte lallend der Dichter, »das wird mir der vermoderte Heinrich nicht übel nehmen. So lang' es Vögel gibt, müssen Vogler sein. Ich find' es richtig und wollt Ihr's nicht glauben, fragt 'mal nach bei Abrahams Schwiegersohne. –«

»Der Mensch ist weintrunken,« sprach Bardeloh und rief einigen Dienern, um ihn auf sein Zimmer zu schaffen. Casimir ließ sich fortführen, perorirte aber ungenirt weiter und rief einmal über das andere: »Mardochai ist dumm, sehr dumm, und Casimir ein ungeheurer Elephant in der Klugheit. Ein Esel, wer Casimir nicht für den Fürsten der Weisheit anerkennt!«

»Was soll dies Geschwätz?« sagte Rosalie, »der Mensch scheint etwas auf dem Herzen zu haben.« – Vergeblich sann ich nach, was Casimir wol mit dem Juden verhandelt haben möchte. Von irgend Einem dieser beiden Menschen selbst etwas zu erfahren, war mehr als unwahrscheinlich, und am Ende sprach doch aus Casimir nur der Wein und seinen Worten fehlte die tiefere Bedeutung.

Richard zog sich wieder auf sein Zimmer zurück. »Kommen Sie,« sprach Rosalie, »und lassen Sie uns noch eins plaudern.« Wir setzten uns auf den Divan, Felix spielte Dame mit sich selbst und blieb natürlich jederzeit Sieger. »Sie wissen,« fuhr Rosalie fort, »daß mein Gatte Schriftsteller ist, aber pseudonym. Was er eigentlich schreibt, ist mir unbekannt, so viel aber weiß ich, daß es das Testament seines Gedankenlebens an die Zukunft Europa's enthalten wird. Von früherer Zeit her wird es Ihnen noch erinnerlich sein, daß Richard von einer ›Doctrin des Hasses‹ sprach, die er gegenüber der Doctrin der Liebe zu errichten für nothwendig hielt. Ich kenne Bruchstücke aus diesem Product, und ich muß als wahrheitliebende Frau offen bekennen, daß die darin niedergelegten Gedanken eine Art Cultus begründen könnten, weil sie die Grundzüge sind einer neuen Religion. Wissen Sie, Sigismund, welchen Namen diese Religion führt?«

»Kann es einen bezeichnenderen geben, als den der modernen?«

»Man sollte daran zweifeln,« versetzte Rosalie, »Bardeloh jedoch hat einen andern zu erfinden gewußt. Er nennt diese Religion, in der Haß und Liebe gleiche Rechte haben, die Religion der Ausgleichung oder der Humanität.«

»Und wer soll ihr Verkündiger werden?«

»Europa's Tod!« hauchte Rosalie leis und zitternd. »Bardeloh sagt in seiner Doctrin des Hasses: für das Christenthum starb sein heiliger Verkündiger, Christus, für die Humanität wird auf dem Golgatha der Welt Europa seinen Geist aushauchen. Denn Europa hat Christi Kreuz auf sich genommen und es fast zertrümmert durch den Fanatismus, in welchen es die verkündigte Liebe sobald zu verwandeln suchte. Darum erhebt sich jetzt der Fluch, welcher lastet auf dem irrenden Volke Juda's, und schlägt an's Kreuz der neuen Versöhnung, die eine Versöhnung aller Völker und aller Welt sein muß, den Erdtheil, welcher frevelte am heiligen Geist der Geschichte. Und so stirbt Europa den Kreuzestod für die Erlösung zweier Welttheile, und sein Opfertod ist die Besiegelung der Wahrheit derjenigen Religion, die sich mit dem Tode Europa's erhebt!«

Nicht die Wahrheit, sondern die poetische Erhabenheit dieses Gedankens riß mich hin zu einer Art gläubigen Bewunderung. Einen Welttheil zum Opferlamm zu machen für die Entsühnung der ganzen Welt, dies – Du wirst es zugeben – ist groß, und nur ein Europäer, reif und tief geworden im Schmerz seines geschichtlichen Lebens, konnte diesen Gedanken fassen. Aber es liegt auch eine jammernde Verzweiflung verborgen in dieser letzten Hoffnung, die dicht an den Wahnsinn hinstreift. Lassen wir fünf Jahrhunderte noch vergehen und in dieser Zeit den in der Einsamkeit gebornen Rettungsgedanken Bardeloh's zur Mythe sich gestalten; dann frage ich, ob diese Mythe nicht mit dazu beitragen wird dem fortschreitenden Menschengeschlecht die Göttlichkeit begreiflich zu machen, welche in der Idee der Erlösung allerwärts zur Erscheinung kommen will?

»Wie jetzt die Sachen stehen,« fuhr Rosalie fort, »kann ich kaum auf eine befriedigende Endschaft hoffen. Es ergeht Bardeloh wie Jedem, der seiner Zeit vorauseilt in Bildung und gedanklicher Weltgestaltung. Sie Alle, die sich hier zusammengefunden haben, sind entweder verloren, oder sie müssen mit dem Fluch der Vernichtung sich Bahn brechen. Deshalb bitte ich Sie, Sigismund, suchen Sie Bardeloh zu bestimmen, bevor er zum Aeußersten schreitet, eine Probefahrt nach Amerika zu unternehmen! Reisen zerstreuen, Reisen können retten, Reisen sind nicht selten auch schon Bekehrer geworden. Ist Bardeloh, sind Sie krank in Herz und Geist, so werden Sie gesunden durch den Anblick einer fremden Welt. Ist es Europa und seine Völker, so haben Sie nichts verloren, wenn Sie Ihren gesunden Geist flüchten aus dem Pesthause. Ich bin bereit Sie zu begleiten. Und nun still, Sigismund. Gehen Sie, bedenken Sie meine Worte. Ich mag den Gedanken nicht fassen, daß ein Vater seinem Kinde verloren sein sollte, weil er begreift, es ist kein Boden für ein freies Leben in dem Lande, worin es geboren wurde.«

Rosalie drückte zitternd meine Hand und verließ schnell das Zimmer. Felix, ganz hingegeben an sein Spiel, hatte nicht auf unser Gespräch gemerkt und wunderte sich, daß die Mutter fortgegangen war.

»Sigismund,« redete er mich an, »wenn besuchst Du denn den Amerikaner? Nicht wahr, Du nimmst mich mit? Denn wenn Ihr nach Amerika geht, so muß ich doch auch ein Wort mit drein reden. Die Mutter sagt immer, ein Kind habe die klügsten Anschläge.«

Ich versprach ihm, was er verlangte, und sann nur über die Art und Weise nach, wie Bardeloh am leichtesten zu einer Reise nach Amerika zu bewegen sein möchte. Es fiel mir ein, daß er jeden Donnerstag Abend ganz allein einen Spaziergang um die Stadt macht, und ich entschloß mich, ihn hier, wie durch Zufall zu begegnen, um mein Anliegen vorzubringen. Burton läßt sich vielleicht auch bewegen, mich zu begleiten, und ist es nur möglich, Richard's tief liegende Phantastik der Hoffnung aufzuregen, so kann ich auf einen erwünschten Erfolg mit Gewißheit rechnen.


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