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Die Reform der Gefängnisse

An den Herausgeber des » Daily Chronicle«

Sehr geehrter Herr!

Ich erfahre, daß die Gesetzesvorlage des Ministers des Inneren über die Reform der Gefängnisse diese Woche zum ersten oder zweiten Male gelesen werden soll, und da Ihre Zeitung die einzige in England gewesen ist, welche ein wirkliches und lebhaftes Interesse an dieser wichtigen Frage genommen hat, so hoffe ich, daß Sie mir als einem, der das Leben in einem englischen Gefängnis aus langer persönlicher Erfahrung kennen gelernt hat, erlauben werden darzutun, welche Reformen in unserem gegenwärtigen törichten und barbarischen System dringend notwendig sind.

Aus einem Leitartikel, der in Ihren Spalten vor ungefähr einer Woche erschienen ist, ersehe ich, daß die wichtigste beantragte Reform eine Vermehrung der Inspektoren und der offiziellen Besucher ist, welche zu unseren englischen Gefängnissen Zutritt haben sollen.

Solch eine Reform ist gänzlich zwecklos. Der Grund dafür ist höchst einfach. Die Inspektoren und Friedensrichter, welche die Gefängnisse besuchen, kommen dorthin, um darauf zu sehen, daß die Gefängnisvorschriften ordnungsgemäß beobachtet werden. Sie kommen zu keinem anderen Zwecke, auch haben sie nicht irgendwelche Macht, selbst wenn sie den Wunsch hätten, eine einzige Bestimmung in den Vorschriften abzuändern. Kein Gefangener hat je die geringste Erleichterung, Aufmerksamkeit oder Fürsorge von irgendeinem der offiziellen Besucher erfahren. Die Besucher kommen nicht, um den Gefangenen zu helfen, sondern um darauf zu sehen, daß die Vorschriften ausgeführt werden. Ihre Aufgabe bei einem Besuch ist es, die Durchführung einer törichten und unmenschlichen Gesetzesvorschrift zu verbürgen. Und da sie eine Beschäftigung haben müssen, so verrichten sie ihre Aufgabe höchst gewissenhaft. Ein Gefangener, dem die geringste Vergünstigung gewährt worden ist, fürchtet die Ankunft der Inspektoren. Und an dem Tage jeder Gefängnisinspektion sind die Gefängnisbeamten den Gefangenen gegenüber sogar brutaler als sonst. Sie wollen vor allem die glänzende Disziplin zeigen, welche sie aufrecht erhalten.

Die nötigen Reformen sind sehr einfach. Sie betreffen die körperlichen und geistigen Bedürfnisse jedes unglücklichen Gefangenen.

Was die ersteren betrifft, so sind drei ständige und vom Gesetz vorgesehene Strafmittel in englischen Gefängnissen: i. Hunger, 2. Schlaflosigkeit, 3. Krankheit.

Die den Gefangenen dargebotene Kost ist völlig unangemessen. Meistens ist sie geradezu widerwärtig. Stets ist sie unzureichend. Jeder Gefangene leidet Tag und Nacht unter Hunger. Eine gewisse Menge Nahrung wird peinlich genau nach Gramm jedem Gefangenen zugewogen. Sie reicht gerade aus, um, wenn auch nicht das Leben, so doch die Existenz aufrechtzuerhalten. Aber man wird stets gefoltert von der Qual und der Übelkeit des Hungers.

Die Folge der Ernährung, – welche in den meisten Fällen aus weichem Haferschleim, Talg und Wasser besteht – ist Krankheit in Form unaufhörlichen Durchfalls. Diese Krankheit, welche schließlich bei den meisten Gefangenen zur chronischen Krankheit wird, ist eine anerkannte Einrichtung in jedem Gefängnis. Im Gefängnis zu Wandsworth z. B., wo ich zwei Monate lang saß, bis ich ins Krankenhaus überführt werden mußte, wo ich zwei weitere Monate verblieb, machen die Wärter zweimal oder dreimal täglich die Runde mit stopfenden Medikamenten, die sie an die Gefangenen als etwas ganz Natürliches austeilen. Es erübrigt sich, zu sagen, daß nach ungefähr einwöchiger Dauer solcher Behandlung die Medizin überhaupt keine Wirkung mehr hervorruft. Der elende Gefangene wird dann eine Beute der schwächendsten, niederdrückendsten und demütigendsten Krankheit, welche man sich denken kann: und wenn, was oft eintritt, er wegen Körperschwäche nicht die vorgeschriebenen Umdrehungen an der Kurbel oder der Mühle vollführt, wird er wegen Trägheit angezeigt und mit größter Strenge und Brutalität bestraft. Das ist noch nicht alles!

Nichts Schlimmeres gibt es als die sanitären Einrichtungen der englischen Gefängnisse. In früherer Zeit war jede Zelle mit einer Art Latrine versehen. Diese Latrinen sind jetzt beseitigt worden. Sie bestehen nicht mehr. Ein kleines Blechgefäß wird jedem Gefangenen dafür geliefert. Dreimal täglich darf ein Gefangener seine Notdurft verrichten. Aber zu den Klosetten des Gefängnisses hat er nur während der einen Stunde, wo er sich im Freien ergeht, Zutritt. Und nach fünf Uhr abends darf er seine Zelle unter keinem Vorwand und aus keinem Grunde verlassen. Ein unter Durchfall leidender Mensch wird infolgedessen in eine so ekelhafte Lage versetzt, daß es unnötig ist, ja sogar unziemlich wäre, dabei zu verweilen. Das Elend und die Qualen, welche Gefangene infolge der empörenden sanitären Einrichtungen durchzumachen haben, spotten jeder Beschreibung. Und die verdorbene Luft der Gefängniszellen, welche durch ein gänzlich unwirksames Lüftungssystem noch verschlechtert wird, ist so ekelhaft und ungesund, daß es bei Wärtern nicht selten ist, wenn sie des Morgens aus der frischen Luft kommen und jede Zelle öffnen und besichtigen, daß ihnen sehr übel wird. Ich habe das selbst bei mehr als drei Anlässen wahrgenommen, und verschiedene der Wärter haben es mir gegenüber als eine der größten Abscheulichkeiten erwähnt, die ihr Beruf ihnen auferlegt.

Die den Gefangenen dargebotene Nahrung sollte angemessen und bekömmlich sein. Sie sollte nicht so beschaffen sein, daß sie unaufhörlichen Durchfall erzeugt, welcher zuerst eine Unpäßlichkeit, schließlich zu einer chronischen Krankheit wird.

Die sanitären Einrichtungen in englischen Gefängnissen müßten gänzlich abgeändert werden. Jeder Gefangene sollte zu den Klosetten so oft als nötig Zutritt haben und seine Notdurft ebenfalls so oft als nötig verrichten dürfen. Das gegenwärtige Lüftungssystem in jeder Zelle ist gänzlich zwecklos. Die Luft kommt durch enge Gitter und durch eine kleine Luftklappe in dem winzigen Gitterfenster, welches viel zu klein ist und zu schlecht eingerichtet, um eine zureichende Menge frischer Luft zuzuführen. Man darf aus seiner Zelle nur eine Stunde lang während der vierundzwanzig langen Stunden des Tages heraus, und so atmet man dreiundzwanzig Stunden hindurch die denkbar schlechteste Luft ein.

Was die Strafe der Schlaflosigkeit betrifft, so besteht sie nur in chinesischen und in englischen Gefängnissen. In China wird sie verhängt, indem man den Gefangenen in einen kleinen Käfig aus Bambusrohr steckt; in England vermittels des Lattenbettes. Der Zweck des Lattenbettes ist, Schlaflosigkeit zu verursachen. Es hat keinen anderen Zweck und erreicht ihn immer. Und selbst wenn einem später eine harte Matratze zugestanden wird, wie es im Laufe der Haft vorkommt, leidet man immer noch unter Schlaflosigkeit. Denn der Schlaf ist, wie alle gesunden Funktionen, eine Gewohnheit. Jeder Gefangene, der auf einem Lattenbett gelegen hat, leidet unter Schlaflosigkeit. Es ist eine empörende und törichte Strafe.

Was die geistigen Bedürfnisse anbetrifft, so wollen Sie mir erlauben, einiges darüber zu sagen.

Das gegenwärtige Gefängnissystem scheint es fast auf die Vernichtung und Zerstörung der geistigen Fähigkeiten abgesehen zu haben. Der Wahnsinn ist, wenn auch nicht sein direkter Zweck, so doch sein schließliches Ergebnis. Das ist eine verbürgte Tatsache. Die Ursachen dafür springen in die Augen. Der Bücher und allen menschlichen Verkehrs beraubt, jedem wohlwollenden und menschenfreundlichen Einflusse ferngehalten, zu ewigem Schweigen verdammt, aller Beziehungen mit der Außenwelt beraubt, wie ein unvernünftiges Tier behandelt, ja schlimmer als ein rohes Tier, kann der Unglückliche, der in einem englischen Gefängnis eingesperrt ist, kaum dem Wahnsinn entrinnen. Ich möchte bei diesen Greueln nicht verweilen; noch weniger irgendwelches vorübergehendes sentimentales Interesse an diesen Dingen erwecken. So will ich mit Ihrer Einwilligung lediglich dartun, was zu geschehen hätte.

Jeder Gefangene sollte eine angemessene Anzahl guter Bücher bekommen. Gegenwärtig darf jemand während der ersten drei Monate der Haft überhaupt keine Bücher erhalten, ausgenommen eine Bibel, ein Gebet- und ein Gesangbuch. Später wird einem ein Buch wöchentlich bewilligt. Das ist nicht nur unzureichend, sondern die Bücher, welche eine durchschnittliche Gefängnisbibliothek zusammensetzen, sind auch gänzlich nutzlos. Sie bestehen hauptsächlich in Büchern dritten Ranges, schlecht geschriebenen sogenannten Erbauungsbüchern, welche offenbar für Kinder abgefaßt und für Kinder wie für jeden anderen gänzlich ungeeignet sind. Gefangene sollten im Gegenteil zum Lesen angehalten werden und jedes gewünschte Buch erhalten; die Bücher sollten gut ausgewählt sein. Gegenwärtig wird die Auswahl der Bücher von dem Gefängniskaplan getroffen.

Unter dem gegenwärtigen System darf ein Gefangener nur viermal im Jahre seine Freunde sehen, und zwar jedesmal zwanzig Minuten lang. Das ist gänzlich verkehrt. Ein Gefangener sollte wenigstens einmal monatlich seine Freunde sehen dürfen, und zwar eine angemessene Zeit hindurch. Die gegenwärtig herrschende Art, einen Gefangenen seinen Freunden vorzuführen, müßte geändert werden. Unter dem gegenwärtigen System wird der Gefangene entweder in einen großen eisernen Käfig oder in einen großen hölzernen Kasten gesperrt, der mit einer kleinen mit einem Drahtgeflecht überspannten Öffnung versehen ist, durch welche er blicken darf. Seine Freunde werden in einem ähnlichen Käfig untergebracht, und zwar auf etwa drei oder vier Fuß Entfernung, zwei Wärter stehen dazwischen, um zuzuhören und, wenn sie wollen, der Unterhaltung ein Ende zu machen, oder sie zu unterbrechen, je nachdem. Ich schlage vor, daß ein Gefangener seine Verwandten oder Freunde in einem Zimmer sehen dürfte. Die gegenwärtigen Vorschriften darüber sind unsagbar empörend und beunruhigend. Ein Besuch seitens unserer Verwandten oder Freunde verstärkt für jeden Gefangenen nur die Demütigung und die geistige Pein. Viele Gefangene wollen, ehe sie sich solch einer Quälerei unterziehen, lieber ihre Freunde überhaupt nicht sehen. Und ich kann nicht sagen, daß mich das überrascht. Wenn man seinen Anwalt bei sich sieht, so sieht man ihn in einem mit einer Glastür versehenen Raume, auf deren anderer Seite der Wärter steht. Wenn jemand seine Frau und seine Kinder oder seine Verwandten und Freunde bei sich sieht, sollte man ihm dieselbe Vergünstigung gewähren. Gleich einem Affen in einem Käfig solchen Leuten gezeigt zu werden, die einem zugetan sind und an denen man hängt, ist eine unnötige und furchtbare Erniedrigung.

Jeder Gefangene sollte wenigstens einmal monatlich einen Brief schreiben und erhalten dürfen. Gegenwärtig darf man nur viermal im Jahre schreiben. Das ist ganz unzureichend. Eine der furchtbarsten Wirkungen des Gefängnislebens besteht darin, daß das Herz des Menschen zu Stein wird. Die Gefühle natürlicher Zuneigung müssen, wie alle anderen Gefühle, Nahrung erhalten. Sie sterben sonst leicht an Verkümmerung. Viermal im Jahre ein kurzer Brief ist nicht ausreichend, um die edleren und menschlicheren Affekte wach zu erhalten, durch welche schließlich die Natur für irgendwelche edlen und schönen Einflüsse empfänglich erhalten wird, die ein gescheitertes und zugrunde gerichtetes Leben heilen können.

Der Gepflogenheit, Gefangenbriefe zu verstümmeln und Streichungen daran vorzunehmen, sollte Einhalt getan werden. Gegenwärtig wird, wenn ein Gefangener in einem Briefe sich irgendwie über das Gefängnissystem beklagt, der betreffende Teil des Briefes mit einer Schere herausgeschnitten. Wenn er andererseits in einem Gespräch mit seinen Freunden durch das Gitter des Käfigs oder durch die Öffnung des hölzernen Kastens hindurch irgendwelche Beschwerde vorbringt, wird er von den Wärtern brutal behandelt und jede Woche zur Bestrafung angezeigt, bis seine nächste Besuchszeit heran ist, und bis dahin erwartet man dann, daß er nicht zwar Weisheit, wohl aber Verschmitztheit gelernt hat, und das lernt man immer. Das gehört mit zu dem wenigen, was man im Gefängnis lernt. Zum Unglück ist, in einigen Fällen wenigstens, das andere von größerer Wichtigkeit.

Wenn ich nun Ihre Geduld etwas länger in Anspruch nehmen darf, darf ich dann noch folgendes erwähnen? Sie regten in Ihrem Leitartikel an, daß kein Gefängniskaplan irgendwelche Fürsorge oder Beschäftigung außerhalb des Gefängnisses selbst versehen dürfte. Aber das ist ein Moment von gar keiner Wichtigkeit. Die Gefängniskapläne sind gänzlich überflüssig. Sie sind zwar im ganzen wohlgesinnte, aber törichte, ja man könnte sagen einfältige Männer. Sie leisten keinem Gefangenen irgendwelche Dienste. Einmal in etwa sechs Wochen dreht sich ein Schlüssel in der Zellentür, und der Kaplan tritt ein. Man ist natürlich sehr aufmerksam. Er fragt einen dann, ob man die Bibel gelesen habe. Man antwortet »Ja« oder »Nein«, je nachdem. Er zitiert dann einige Stellen, geht hinaus und schließt die Tür ab. Manchmal läßt er einen Traktat da.

Diejenigen Beamten, die keine Tätigkeit außerhalb des Gefängnisses verrichten oder irgendwelche Privatpraxis ausüben dürften, sind die Gefängnisärzte. Gegenwärtig haben die Gefängnisärzte gewöhnlich, wenn nicht immer, eine große Privatpraxis und versehen Ämter bei anderen Behörden. Die Folge davon ist, daß die Gesundheit der Gefangenen gänzlich vernachlässigt wird und die sanitären Verhältnisse des Gefängnisses dabei vollständig zu kurz kommen. Im ganzen betrachte ich seit meiner frühesten Jugend den Beruf des Arztes als den bei weitem menschenfreundlichsten im Gemeinwesen. Aber die Gefängnisärzte muß ich davon ausnehmen. Sie sind, soweit ich mit ihnen in Berührung gekommen bin und nach dem, was ich von ihnen im Krankenhaus und sonstwo gesehen habe, brutal in ihrer Art, roh von Gesinnung und gänzlich ohne Interesse für die Gesundheit der Gefangenen oder für ihr Wohlbefinden. Wenn den Gefängnisärzten die Privatpraxis untersagt würde, würden sie notgedrungen einiges Interesse an der Gesundheit und sanitären Lage der ihnen unterstellten Leute nehmen.

Ich habe nun versucht, in meinem Briefe einige der unserem englischen Gefängnissystem notwendigen Reformen anzugeben. Sie sind einfach, praktisch und menschenfreundlich. Sie sind natürlich nur ein Anfang. Aber es ist Zeit, daß ein Anfang gemacht wird, und dieser kann nur durch einen starken Druck der öffentlichen Meinung, der in Ihrer einflußreichen Zeitung formuliert und durch dieselbe gestützt wird, hervorgerufen werden.

Aber um auch nur diese Reformen wirksam zu gestalten, muß noch viel geschehen. Und die erste und vielleicht sogar schwierigste Aufgabe ist es, die Gefängnisdirektoren zur Menschlichkeit, die Wärter zur Zivilisation und die Kapläne zum Christentum zu erziehen.

Ergebenst
Der Verfasser der »Ballade aus dem Zuchthaus von Reading.«
23. März.


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