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Ziele

Übersetzt von Paul Wertheimer


Der Kritiker als Künstler

Ein Dialog
Nebst einigen Bemerkungen über den Wert des Nichtstuns

I. Teil

Personen: Gilbert und Ernst

Szene: Die Bibliothek eines Hauses in Piccadilly, von der aus man den Green Park überblickt

Gilbert (am Klavier): Mein lieber Ernst, worüber lachst du?

Ernst (aufblickend): Über eine prächtige Geschichte, die ich eben in diesem Band Erinnerungen, der auf deinem Tische liegt, gelesen habe.

Gilbert: Was für ein Buch ist es? Ah! Ich sehe schon. Ich hab' es noch nicht gelesen. Taugt es etwas?

Ernst: Nun ich habe, während du spieltest, nicht ohne Vergnügen darin geblättert, obwohl ich in der Regel kein Freund moderner Memoiren bin. Erinnerungen werden gewöhnlich von Leuten niedergeschrieben, die sich überhaupt nicht mehr zu erinnern vermögen, oder die nie etwas des Erinnerns Wertes vollbracht haben. Das erklärt ohne Zweifel ihre weite Verbreitung. Dem englischen Publikum wird stets behaglich zumute, wenn eine Mittelmäßigkeit zu ihm spricht.

Gilbert: Jawohl, unser Publikum ist wunderbar duldsam. Es verzeiht alles – nur nicht das Genie. Doch ich bekenne, mir gefällt jede Art von Memoiren. Und zwar um ihrer Form wie um ihres Gegenstandes willen. In der Literatur ist der reine Egoismus von besonderem Reiz. Darin liegt für uns der Zauber von Briefen so verschiedener Persönlichkeiten wie Cicero und Balzac, Flaubert und Berlioz, Byron und Madame de Sévigné. Wo immer wir ihm begegnen – es ist merkwürdigerweise ziemlich selten der Fall –, müssen wir ihn willkommen heißen; wir verlieren ihn nicht leicht aus dem Gedächtnis. Die Menschheit wird Rousseau stets aus dem Grunde lieben, weil er seine Sünden nicht dem Priester, sondern der Welt gebeichtet hat. Die schlummernden Nymphen, die Cellini in Bronze für das Schloß des Königs Franz geschaffen hat, selbst der grün-goldene Perseus, der in der offenen Loggia zu Florenz dem Mondlicht jenes todesstarre Entsetzen zeigt, das einst Leben zu Stein gewandelt hat: diese Bildwerke haben der Welt nicht mehr Vergnügen gewährt, als Cellinis Selbstbiographie, in der dieser Erzschuft der Renaissance die Geschichte seines Glanzes und seiner Schmach erzählt. Die Meinungen, das Wesen, die Taten eines Mannes fallen wenig ins Gewicht. Er mag ein Skeptiker sein, wie der adelige Sieur de Montaigne, oder ein Heiliger, wie der verbitterte Sohn der Monika – sobald er uns seine Geheimnisse offenbart, ist er stets imstande, unser Ohr zu bezaubern und unsern Lippen Schweigen zu gebieten. Die Art des Denkens, die Kardinal Newman vertreten hat – wenn man den Versuch, geistige Probleme durch die Leugnung der Herrschaft des Verstandes zu lösen, überhaupt eine Art des Denkens nennen darf – diese Methode wird und kann schwerlich von Dauer sein. Aber die Welt wird nie müde werden, dieser geängsteten Seele zuzuschaun, wie sie von Finsternis zu Finsternissen weiterschreitet. Das einsame Kirchlein zu Littlemore, in dem »der Hauch des Morgens dumpfig weht und wenige Gläubige sich versammeln«, wird uns stets teuer sein. Wann immer man das gelbe Löwenmaul auf dem Wall von Trinity blühn sieht, wird man dieses gottseligen Studenten gedenken, der in der steten Wiederkehr der Blumen die prophetische Kunde fand, daß er für immer mit der Gnadenmutter vereint bleiben werde – eine Prophezeiung, die der Glaube sehr kluger- oder sehr törichterweise nicht zur Erfüllung kommen ließ. Ja, in der Selbstbiographie liegt ein unwiderstehlicher Zauber. Der arme, einfältige eingebildete Herr Sekretär Pepys hat sich in den Kreis der Unsterblichen hineingeschwätzt. Da er sehr wohl wußte, daß indiskretes Ausplaudern des Mutes besserer Teil ist, läuft er geschäftig in dieser Versammlung umher, in seinem »purpurnen Flausrock mit goldenen Knöpfen, Schnüren und Tressen«, den er uns so gern beschreibt. Er schwätzt zu seinem eigenen und zu unserm unendlichen Vergnügen über den indisch-blauen Unterrock, den er für sein Weib gekauft hat, über den »guten Schweinebraten« und das »köstliche französische Kalbsfrikassee«, das er so gerne aß, über sein Bowlingspiel mit Will Joyce, sein Umherschwärmen um alle schönen Frauen. Er erzählt, wie er am Sonntag Hamlet rezitierte, wie er an Wochentagen die Bratsche spielte, und dergleichen langweilig-alltäglicher Dinge mehr. Selbst im wirklichen Leben ist der Egoismus nicht ohne Reiz. Wenn die Leute über andere reden, sind sie gewöhnlich langweilig. Erzählen sie uns dagegen über sich selbst, so werden sie beinahe immer interessant. Wenn man ihnen in dem Augenblick, wo sie uns langweilen, so leicht den Mund schließen könnte, wie man ein Buch zuklappt, dessen man müde geworden, dann wäre an den meisten nichts auszusetzen.

Ernst: In diesem »Wenn«, würde Probstein sagen, liegt ungemeine Kraft. Schlägst du aber im Ernst vor, jeder solle sein eigener Boswell sein? Was sollte aus den emsigen Leuten werden, die das Material für Lebensbeschreibungen und Erinnerungen sammeln?

Gilbert: Was ist aus ihnen geworden? Sie sind geradezu die Pest dieser Zeit. Jeder Mann von Bedeutung findet heutzutage seine Jünger, und immer ist es Judas, der seine Biographie schreibt.

Ernst: Aber mein lieber Freund!

Gilbert: Ich fürchte, ich habe recht. Früher pflegten wir unsre Heroen zu Heiligen zu erheben. Jetzt ist es Sitte, sie dem Pöbel gleichzustellen. Billige Volksausgaben großer Werke sind vielleicht etwas sehr Köstliches, aber billige Ausgaben bedeutender Menschen sind einfach abscheulich.

Ernst: Darf ich fragen, Gilbert, auf wen du da anspielst?

Gilbert: Oh – auf alle unsre Literaten zweiten Ranges. Wir werden von einer Klasse von Menschen heimgesucht, die nach dem Tod eines Dichters oder Malers zugleich mit dem Leichenbestatter das Haus stürmen, von Leuten, die vergessen, daß sie nur eine Aufgabe haben: sich ganz still zu verhalten. Aber sprechen wir nicht von ihnen. Sie sind die Leichenräuber der Literatur. Der eine rafft den Staub, der andere die Asche an sich, die Seele bleibt jenseits ihres Bereichs. Und nun will ich dir Chopin vorspielen, oder ziehst du Dvoøak vor? Soll ich dir eine Phantasie von Dvoøak spielen? Sein Stil ist leidenschaftlich, seltsam-farbig.

Ernst: Nein; mich verlangt jetzt nicht nach Musik. Die Musik ist viel zu unbestimmt. Überdies habe ich gestern abend die Baronin Bernstein zu Tische geführt, und so reizend die Dame sonst ist, sie hörte nicht auf, von Musik zu sprechen, als wäre diese wirklich in deutscher Sprache geschrieben. Nun, wie immer Musik klingen mag, sie klingt erfreulicherweise keineswegs, auch nicht im entferntesten, wie deutsch. Der Patriotismus äußert sich zuweilen auf wirklich erniedrigende Art. Nein, Gilbert, spiele nicht mehr. Dreh dich um und plaudere mit mir. Plaudere mit mir, bis der weißhörnige Tag ins Zimmer steigt. In deiner Stimme liegt etwas Bezauberndes.

Gilbert (sich vom Klavier erhebend): Ich bin nicht in der Stimmung, heute nacht zu plaudern. Warum lächelst du so abscheulich? Es ist wirklich so. Wo sind die Zigaretten? Ich danke. Wie köstlich sind diese gelben Narzissen! Sie scheinen aus Bernstein und kühlem Elfenbein geschnitzt zu sein. Sie gleichen den Gebilden griechischer Kunst aus der besten Zeit. Was ist dies nun für eine Geschichte in den Bekenntnissen des »reuezerknirschten Akademikers«, die dich so sehr belustigt hat? Erzähl' sie mir. Wenn ich Chopin gehört habe, fühl' ich mich seltsam erregt, als hätte ich über Sünden geweint, die ich niemals begangen habe, über Tragödien getrauert, die mich nichts angingen. Ich glaube, die Musik übt immer diese Wirkung. Sie ruft in uns eine Vergangenheit wach, von der man bis dahin nichts wußte, sie erfüllt uns mit der Empfindung von Leiden, die unsern Tränen bisher verborgen blieben. Ich kann mir vorstellen, daß jemand, der bis dahin ein ganz alltägliches Leben geführt hat, zufälligerweise seltsame Musik vernimmt und dann plötzlich entdeckt: seine Seele habe, ihm selbst unbewußt, furchtbare Erfahrungen durchgemacht, schrecklichen Jubel, wild romantische Liebe, furchtbare Entsagungen erlebt. Erzähle mir also diese Geschichte, Ernst. Ich brauche Aufheiterung.

Ernst: Oh – die Sache ist durchaus von keiner Bedeutung. Ich meinte nur: diese Geschichte gibt ein gutes Beispiel für den wahren Wert der landläufigen Kunstkritik. Eine Dame soll nämlich einst den »reuezerknirschten Akademiker«, wie du ihn nennst, sehr ernsthafterweise gefragt haben, ob sein berühmter »Frühlingstag in Whiteley« oder »Das Warten auf den letzten Omnibus« oder andere ähnliche Bilder ganz mit der Hand gemalt seien?

Gilbert: Nun, wurden sie mit der Hand gemalt?

Ernst: Du bist ganz unverbesserlich. Aber reden wir ernsthaft: worin besteht der Nutzen der Kunstkritik? Warum überläßt man nicht den Künstler ganz sich selbst, auf daß er – geht sein Streben dahin – eine neue Welt erschaffe, oder die bestehende, bekannte nachbilde, deren wir alle wohl längst überdrüssig wären, wenn sie nicht die Kunst mit ihrem feinen Geist der Auswahl und Auslese gleichsam für uns reinigt und ihr für einen Augenblick eine gewisse Vollkommenheit gäbe. Ich glaube, die Phantasie verbreitet um sich oder sollte doch eine Atmosphäre der Einsamkeit um sich verbreiten; sie schafft am besten in der Stille und Abgeschlossenheit. Warum sollte der Künstler durch das schrille Geschrei der Kritik aus seiner Ruhe gestört werden? Wie kommen Leute, die selbst nicht imstande sind, etwas zu schaffen, dazu, den Wert einer Schöpfung zu beurteilen? Was wissen sie davon? Ist der Sinn eines Kunstwerks leicht zu erkennen, dann ist die Erklärung überflüssig …

Gilbert: Ist dagegen das Werk unverständlich, dann ist jede Deutung von Übel.

Ernst: Das hab' ich nicht behauptet.

Gilbert: Ah! Du hättest es behaupten sollen. Heutzutage hat man uns so wenig Geheimnisse übrig gelassen, daß wir nicht auf ein einziges verzichten können. Ich glaube, die Mitglieder der »Browning-Gesellschaft« verschwenden ebenso wie die Theologen der liberalen kirchlichen Partei und die Autoren der »Sammlung von Lebensbeschreibungen großer Schriftsteller« ihre Zeit damit, daß sie an ihrer Gottheit solang herumerklären, bis von ihr nichts übrig bleibt. Da ist eine Stelle bei Browning, aus der man die Hoffnung schöpfen dürfte, er sei ein Mystiker gewesen; sogleich gibt man sich Mühe, zu zeigen, daß er hier nur unklar war. Da ist eine andere Stelle, aus der man schließen könnte, daß er etwas zu verbergen hatte – sie klären uns sogleich auf, daß er nur sehr wenig zu enthüllen hatte. Ich spreche aber nur von den einzelnen, aus dem Zusammenhang gehobenen Werken. Als Gesamterscheinung betrachtet, war dieser Mann groß. Er war nicht vom Rang der Olympier, die ganze Unvollkommenheit der Titanen haftete ihm an. Es fehlte ihm der Überblick und ein Sänger war er nur selten. Sein Werk zeigt die Spuren des Kampfes, heftiger Erregung und Anstrengung. Er ging nicht vom Gefühl aus und formte es, er wurzelt vielmehr im Gedanklichen und verschwimmt im Chaos. Dennoch war er groß. Man hat ihn einen Denker genannt – er war sicherlich stets von Gedanken bewegt, und immer dachte er laut. Aber es war nicht das Denken, das ihn reizte, vielmehr waren es die Vorgänge, die das Denken erregen. Die Maschine war es, die er liebte, nicht das Produkt der Maschine. Der Weg, auf dem der Tor zu seiner Torheit gelangt, war ihm so wert wie die letzte Weisheit des Weisen. Der subtile Mechanismus des Geistes übte auf ihn solchen Reiz, daß er die Kunst der Sprache geringschätzte und auf sie als ein unvollkommenes Instrument des Ausdrucks herabblickte. Der Reim, das köstliche Echo, das im gewellten Hügelland der Musen den Ton gebiert und ihn widerklingen läßt; der Reim, der in den Händen des wirklichen Künstlers nicht bloß ein sinnliches Element metrischer Schönheit, sondern auch ein geistiges des Denkens und der Leidenschaft wird – denn er lockt vielleicht neue Stimmungen, neue Gedankengänge hervor oder läßt durch süße und betörende Gewalt des Klangs die goldene Pforte aufspringen, an die selbst die Phantasie vergebens pochte – der Reim, der das Stammeln des Menschen zur Sprache der Götter erheben kann; der Reim, die einzige Saite, die wir der griechischen Leier hinzugefügt haben, – der Reim wurde in Robert Brownings Hand zur grotesken Mißgeburt. Er machte sein Dichten zuweilen zur Maskerade eines kleinen Komödianten, er gab ihm allzuoft den Schein eines Pegasusreiters, der einhergaloppiert, die Zunge in die Backen gepreßt. Manchmal verletzt er durch seine schrecklichen Dissonanzen. Ja, wenn seine Musik nur durch Zerreißen der Saiten seiner Laute zu gewinnen vermag, zerreißt er sie; sie schlagen mißtönend zusammen, und keine attische Zikade läßt sich, die zitternden Flügel melodisch schwingend, auf dem elfenbeinernen Horn nieder, den Rhythmus vollkommen zu machen oder die Intervalle zu mildern. Und doch war er groß: formte er gleich die Sprache zu unedlem Lehm um, er hat daraus Männer und Frauen gebildet, die leben. Seit Shakespeare reichte kein zweiter so dicht an ihn. Shakespeare vermochte mit Myriaden Lippen zu singen, Browning konnte durch tausend Munde stammeln. Noch jetzt, da ich nicht gegen ihn, sondern für ihn spreche, gleiten durch den Raum die Schatten seiner Gestalten. Schleicht hier nicht Fra Lippo Lippi, die Wangen glühend von eines Mädchens heißem Kuß? Hier steht der furchtbare Saul, in seinem Turban schimmern die fürstlichen, großen Saphire. Da ist Mildred Tresham und der spanische Mönch, das Antlitz gelb vor Haß, und Blougram und Ben Ezra und der Bischof von St. Praxed. In der Ecke kauert des Setebos Brut. Sebald blickt, da er Pippas vorübergleitenden Schritt vernimmt, auf das wilde Antlitz der Ottima; ihn ekelt vor ihr, vor der eigenen Sünde, vor sich selbst. Bleich wie der weiße Atlas seines Wamses blickt der melancholische König mit träumerischen Verräteraugen auf den allzu treuen Strafford hin, der seinem Verderben entgegengeht. Andrea erschauert, da er in dem Garten das Pfeifen seiner Vettern hört, er bittet sein edles Weib, hinabzugehen. Ja, Browning war groß. Und wie wird er in der Menschheit Erinnerung fortleben? Als Dichter? Nein, nicht als ein Dichter. Man wird ihn als einen, der in Versen zu fabulieren wußte, im Gedächtnis behalten, vielleicht als den vornehmsten Versfabulisten, den wir je besaßen. In seiner Empfindung für die dramatische Situation hat er keinen Rivalen. Kann er auch die Probleme, die er selbst aufrollt, nicht lösen – er hat doch wenigstens Probleme hingestellt. Vermag ein Künstler mehr? Als Schöpfer von Gestalten steht er dem zunächst, der Hamlet schuf. Wäre er klar und bestimmt gewesen, er hatte neben ihm stehen dürfen. Der einzige, der den Saum seines Gewandes berühren darf, ist George Meredith. Meredith ist ein Browning in Prosa, aber auch Browning ist Prosaiker. Er bediente sich der Poesie als eines Mittels, Prosa zu schreiben.

Ernst: In dem, was du sagst, ist manches Richtige, doch sagst du nicht alles. In manchen Punkten bist du ungerecht.

Gilbert: Es ist schwer, dort, wo man liebt, nicht ungerecht zu sein. Aber kehren wir zu unserem Ausgangspunkt zurück. Was meinst du noch?

Ernst: Einfach dies: in den besten Tagen der Kunst hat es keine Kunstkritik gegeben.

Gilbert: Diese Bemerkung muß ich schon einmal gehört haben, Ernst. Sie hat die Lebenszähigkeit eines Irrtums und ist so langweilig wie ein alter Freund.

Ernst: Sie spricht die Wahrheit aus. Ja, schüttle nur spöttisch den Kopf. Sie spricht völlig die Wahrheit. In den besten Tagen der Kunst gab es keine Kunstkritik. Der Bildhauer schlug aus dem Marmorblock den großen, weißen, geschmeidigen Hermes, der in ihm schlief. Die Polierer und Vergolder gaben der Statue Färbung und Gefüge. Wenn die Welt sie erblickte, ward sie von Ehrfurcht erfaßt und verstummte. Er goß die glühende Bronze in die Sandform, der Strom roten Metalls kühlte sich zu edlen Linien ab und zeigte im Umriß den Leib eines Gottes. Durch Email oder geschliffene Juwelen gab er den blinden Augen Leben. Die hyazinthengleichen Locken kräuselten sich unter seinem Stichel. Und wenn dann der Sohn der Leto im dämmrigen, freskengeschmückten Tempel, oder in der Säulenhalle, die im Sonnenlicht glänzte, auf dem Piedestal stand, fühlten die Vorüberschreitenden, ἀβρῶς βαίνοντες διὰ λαμπροτάτου αἰϑέρος, eine neue Gewalt habe von ihrem Leben Besitz ergriffen. Träumerisch oder mit dem Gefühl seltsam beseligender Freude kehrten sie heim und machten sich an ihre Tagesarbeit, oder sie wanderten vielleicht durch die Pforte der Stadt zu jener Wiese, wo die Nymphen spielten, dort, wo der junge Phädrus die Füße netzte. Auf dem weichen Gras, unter den schlanken, im Winde raunenden Platanen, unter dem blühenden agnus castus gelagert, sannen sie über die Wunder der Schönheit nach und schwiegen in ungewohnter Ehrfurcht. In jenen Tagen war der Künstler frei. Aus dem Bach schöpfte er mit seinen Fingern den zarten Ton. Mit einem kleinen Stäbchen aus Holz oder Bein bildete er daraus Formen, so köstlich, daß man sie den Toten als Spielzeug mitgab; wir finden dergleichen noch in den düstern Grabgewölben der gelblichen Hügelgehänge Tanagras – noch liegt auf Haar und Lippe und Gewand das matte Gold, das erblassende Rot. Auf eine frisch betünchte, rötlich glänzende oder durch Milch und Safran getönte Wand malte er eine Gestalt, die mit ermattetem Fuß über die purpurnen, weißsternigen Asphodeloswiesen dahineilte: Polyxena, Priamus' Tochter, »in deren Lidern des trojanischen Krieges Geheimnis schlief«. Oder er stellte den Odysseus dar, den weisen, listenreichen, mit straffen Seilen an den Mastbaum gebunden, um ohne Gefahr dem Gesang der Sirenen zu lauschen, oder wie er an dem Gestade des klaren acherontischen Stroms dahinwandelte, dort, wo die Geister der Fische über den Kies gleiten. Oder er malte die Perser in ihrer Tracht, mit Hosen und Mitra, wie sie vor den Griechen bei Marathon flohn, oder wie die Schnäbel der Galeeren in der kleinen salaminischen Bucht sich ineinanderhakten. Er zeichnete mit silbernem Stift und Holzkohle auf Pergament und wohlbereitetes Zedernholz. Auf Elfenbeingrund und rosafarbene Terrakotta malte er mit Wachs, das er in Olivenöl flüssig und durch glühendes Eisen fest machte. Das Holzgetäfel, der Marmor, die Leinwand erglänzten herrlich, wenn sein Pinsel darüberfuhr. Und das Leben verstummte, da es sich widergespiegelt fand, kein Laut wagte sich hervor. Ihm war in der Tat das ganze Leben zu eigen: von den Kaufleuten, die auf dem Marktplatz saßen, bis zu den in Mäntel gehüllten, auf dem Hügel lagernden Schäfern. Von den Nymphen, versteckt in Lorbeerhainen, und den Faunen, die um die Mittagstunde flöten, bis zu dem König, den Sklaven auf ölschimmernden Schultern in der schmalen, durch einen grünen Vorhang geschlossenen Sänfte trugen und mit Pfauenfedern fächelten. Männer und Frauen, das Antlitz freudig oder kummervoll bewegt, zogen an ihm vorbei; der Künstler warf einen Blick auf sie und kannte ihr Geheimnis. Durch Farbe und Form schuf er eine neue Welt.

Auch das ganze Gebiet der Kleinkunst beherrschte der Künstler. Er hielt den Edelstein wider die drehende Scheibe – da ward auf dem Amethyst das purpurne Lager des Adonis sichtbar, durch den geäderten Sardonyx hetzte Artemis mit ihren Hunden. Er hämmerte aus dem Gold Rosen und band sie zum Halsschmuck oder Armband zusammen. Er hämmerte aus dem Gold Kränze für Siegerhelme, den Saum für tyrische Kleider, Masken für die toten Könige. Auf der Rückseite des silbernen Spiegels stellte er Thetis dar, wie sie von ihren Nereiden geführt wird, oder die liebessieche Phaedra mit ihrer Amme oder Persephone, die, Erinnerns müde, den Mohn in ihr Haar flicht. Der Töpfer saß in seiner Hütte, und blütengleich erwuchs unter seinen Händen die Vase aus der stillen Scheibe. Er schmückte Fuß und Stiel und Griff der Vase mit zarten Olivenblattmustern, oder mit Blätterwerk des Akanthus, oder mit gekrümmten, schaumgekrönten Wellen. Dann malte er in schwarzen und roten Farben Knabengestalten im Ringkampf oder Wettlauf, Helden in voller Rüstung, die von ihrem muschelartig geformten Wagen sich über die bäumenden Rosse beugen – ihre Schilde zeigen seltsame Wappen, ihre Visiere sind merkwürdig geformt. Er malte Götter, die beim Gastmahl sitzen oder Wunder verrichten, Heroen in ihrem Siegesjubel oder ihrem Weh. Zuweilen ätzte er mit zarten rötlichen Linien auf weißem Grunde den sehnsüchtigen Bräutigam und die Braut. Eros umschwebt sie, einem der Engel des Donatello ähnlich, ein kleines, lachendes Ding mit vergoldeten oder azurnen Flügeln. Auf die Rückseite grub er vielleicht den Namen seines Freundes. ΚΑΛΟΣ ΑΛΚΊΒΙΑΔΗΣ oder ΚΑΛΟΣ ΧΑΡΜΙΔΗΣ – – solche Worte künden uns die Geschichte seiner Tage. Vielleicht zeichnete er um den Rand des weiten, flachen Bechers den äsenden Hirsch oder den ruhenden Löwen, wie die Phantasie es ihm gebot. Von dem kleinen Salbölfläschchen lacht uns Aphrodite, die sich eben putzt, entgegen, und Dionysus tanzt, umgeben von nackt-geschmeidigen Mänaden, um den Weinkrug, bloßen, weinbenetzten Fußes, während der greise Silen satyrgleich die Glieder auf üppigen Fellen spreizt, oder den magischen, von einem Tannenzapfen gekrönten Stab schwingt, den dunkler Efeu umlaubt. Und niemand kam, den Künstler bei seinem Werk zu stören. Er ward durch kein gedankenloses Geschwätz verwirrt. Er wurde nicht durch Meinungen geplagt. An den Ufern des Ilyssus, mein lieber Gilbert, gab es keine albernen Kunstkongresse, die den Provinzialismus in die Provinzen tragen und die Mittelmäßigkeit lehren, den Mund aufzureißen. An den Ufern des Ilyssus gab es keine öden Kunstzeitschriften, worin betriebsame Leute über Dinge schwätzen, die sie nicht verstehen. An den schilfumwachsenen Ufern dieses Flüßchens gab es nicht jenen lächerlichen Journalismus, der sich den Richterstuhl anmaßt, während er sich auf der Anklagebank verteidigen sollte. Kunstkritiker gab es bei den Griechen nicht.

Gilbert: Du bist ganz entzückend, Ernst, aber deine Anschauungen sind durchaus falsch. Ich fürchte, du hast dem Gespräch von Leuten gelauscht, die älter sind als du selbst. Das ist stets gefährlich. Du wirst, wenn du diese Gewohnheit dauernd annimmst, merken, daß man dadurch jede geistige Entwicklung unterbindet. Was den modernen Journalismus betrifft: ich bin nicht zu seiner Verteidigung bestellt. Er rechtfertigt sein Bestehen nach dem großen Darwinschen Grundsatz, daß das Gemeinste sein Dasein behauptet. Ich habe es nur mit der Literatur zu tun.

Ernst: Was ist aber der Unterschied zwischen Literatur und Journalismus?

Gilbert: Oh! Zeitungen kann man nicht lesen, die Literatur wird nicht gelesen. Das ist der ganze Unterschied. Deine Behauptung, die Griechen hätten keine Kunstkritiker besessen – sei versichert, diese Meinung ist ganz absurd. Man könnte mit mehr Recht sagen: die Griechen waren ein Volk von Kunstkritikern.

Ernst: Wirklich?

Gilbert: Ja, ein Volk von Kunstkritikern. Doch möcht' ich durchaus nicht das entzückend unrichtige Gemälde zerstören, das du von dem Verhältnis des hellenischen Künstlers zu dem Geist seines Zeitalters entworfen hast. Was sich nie zugetragen hat, genau zu beschreiben, ist nicht bloß das recht eigentliche Amt des Geschichtschreibers, sondern das unveräußerliche Vorrecht eines jeden, der Begabung und Kultur besitzt. Noch weniger wünsche ich, eine gelehrte Unterhaltung zu führen. Derlei maßt sich nur der Unwissende an, und der geistig Unbeschäftigte macht daraus seinen Beruf. Das sogenannte veredelnde Gespräch aber ist nichts als ein alberner Versuch der noch albernern Philanthropen, auf solche Weise den gerechten Groll der verbrecherischen Klassen zu entwaffnen. Nein, ich will dir lieber einen tollen, scharlachnen Traum Dvoøaks vorspielen. Die bleichen Figuren des Teppichs lächeln uns an, die schweren Augenlider meines bronzenen Narzissus sind zum Schlummer geschlossen. Keine feierlichen Erörterungen worüber auch immer, ich bitte dich. Ich bin mir nur allzusehr der Tatsache bewußt, daß wir in einer Zeit geboren sind, die nur die Langweiligen ernst nimmt. Ich lebe unaufhörlich in der Angst, nicht mißverstanden zu werden. Würdige mich nicht dazu herab, dir nützliche Kenntnisse zu vermitteln. Erziehung ist ja etwas ganz Wundersames, doch muß man sich von Zeit zu Zeit erinnern, daß nichts Wissenswertes gelehrt werden kann. Ich sehe durch den Spalt im Fenstervorhang den Mond; er gleicht einem Stück beschnittenen Silbers. Goldenen Bienen gleich drängen sich die Sterne um ihn. Der Himmel ist ein kantiger, gehöhlter Saphir. Komm, laß uns gehn, schreiten wir in die Nacht hinaus. Denken ist wundervoll, aber noch wundervoller ist abenteuerliches Erleben. Wer weiß, vielleicht treffen wir den Prinzen Florizel von Böhmen, vielleicht hören wir die herrliche Kubanerin, die uns erzählt: Ich bin nicht, was ich scheine?

Ernst: Du bist schrecklich eigensinnig. Ich beharre darauf, dieses Thema mit dir zu erörtern. Du sagtest, die Griechen seien ein Volk von Kunstkritikern gewesen. Was haben sie uns Kunstkritisches hinterlassen?

Gilbert: Mein lieber Ernst, selbst wenn kein einziges kunstkritisches Fragment aus hellenischen oder hellenistischen Tagen auf uns gekommen wäre, gälte nicht minder die Wahrheit: die Griechen waren ein Volk von Kunstkritikern. Sie haben die Kritik der Kunst, wie jede andere Kritik erfunden. Was verdanken wir schließlich den Griechen in erster Linie? Einfach den kritischen Geist. Und mit diesem kritischen Geist, den sie in Fragen der Religion und der Wissenschaft, der Ethik und Metaphysik, der Politik und Pädagogik bekundeten, haben sie auch Kunstfragen behandelt. Sie haben uns in der Tat das lückenloseste aller der Welt geoffenbarten kritischen Systeme der beiden höchsten und edelsten Künste hinterlassen.

Ernst: Was sind für dich die beiden edelsten und höchsten Künste?

Gilbert: Das Leben und die Literatur. Das Leben und den vollendeten Ausdruck des Lebens. Die Grundsätze der Lebensführung, die die Griechen aufgestellt haben, wagen wir in einem Zeitalter nicht zu verwirklichen, das, wie das unsre, durch falsche Ideale verderbt ist. Die für die Literatur geltenden Grundsätze, wie sie uns die Griechen aufbewahrt haben, sind in mancher Richtung so fein, daß wir sie kaum zu verstehen vermögen. Sie erkannten sehr wohl, daß die vollendetste Kunst die ist, die den Menschen in seiner ganzen unendlichen Mannigfaltigkeit widerspiegelt. Darum haben die Griechen ihre Kritik der Sprache, die sie nur als künstlerisches Material ansahen, zu einer Durchbildung gebracht, an die wir mit unserem System der Betonung der logischen oder durchs Gefühl hervorgehobenen Stellen kaum heranreichen. Sie erforschten beispielsweise die metrischen Elemente der Prosa so gründlich-wissenschaftlich, wie ein moderner Musiker Harmonie- und Kontrapunktlehre studiert. Noch dazu, dies versteht sich beinahe von selbst, mit weit schärferem ästhetischen Instinkt. Sie hatten mit dieser Methode, wie mit allem, was sie unternahmen, völlig recht. Seit der Erfindung der Buchdruckerkunst, und seitdem das Lesen unter den mittlern und niedrigen Bevölkerungsschichten dieses Landes sich in so schädlicher Weise verbreitet hat, herrscht in unserem Schrifttum die Neigung vor, sich immer mehr ans Auge, immer weniger ans Ohr zu wenden. Doch ist gerade das Gehör der Sinn, dessen Wohlgefallen, vom Standpunkte der reinen Kunst geurteilt, geweckt werden sollte. Nur an dem, was dem Ohr gefällt, an seine Regeln sollte man sich halten. Selbst das Werk Mr. Paters, der, im ganzen betrachtet, die englische Prosa am vollendetsten unter uns allen meistert, gleicht zuweilen mehr einem Stück Mosaik als einem musikalischen Gebilde. Hier und da entbehren seine Worte der echten rhythmischen Lebendigkeit und jener vornehmen Freiheit und reichen Wirkung, die solch rhythmisches Leben hervorbringt. Wir haben ja das Schreiben zur endgültigen Kunstform erhoben, wir betrachten es als absoluten Endzweck. Den Griechen bedeutete das Schreiben nichts anderes als eine Form chronologischer Aufzeichnung. Ihr Prüfstein war immer das gesprochene Wort in seinen musikalisch-metrischen Beziehungen. Die Stimme war das Kunstmittel, das Ohr übte Kritik. Ich habe mir schon manchmal gedacht, ob nicht die Erzählung von der Blindheit Homers vielleicht wirklich ein Kunstmythos ist. Entstanden in den Tagen kritischer Betrachtung, soll es uns vielleicht daran erinnern, daß ein großer Dichter nicht bloß immer ein Seher ist – freilich nicht so sehr mit leiblichen Augen wie mit den Augen der Seele – sondern auch ein wahrer Sänger, einer, der seinen Sang aus Musik webt, der jede Zeile immer wieder und wieder so lange laut vor sich hinspricht, bis er das Geheimnis ihrer Melodie erfaßt, bis er die lichtbeschwingten Worte ins Dunkel singt. Ob ich nun damit im Rechte bin oder nicht, das eine ist gewiß: Englands großer Dichter hat seiner Blindheit, als einem Anlaß oder einer wesentlichen Ursache, viel von der majestätischen Haltung, dem klangvollen Glanz seiner spätern Verse zu danken. Als Milton nicht mehr zu schreiben vermochte, begann er zu singen. Wer legt an »Comus« den Maßstab, mit dem man »Simon den Kämpfer« oder das »Verlorene –« oder das »Wiedergewonnene Paradies« messen darf? Der erblindete Milton hat nur nach dem Klang der Stimme gedichtet, wie jeder dichten sollte. Solcherart wurde aus dem Rohr, der Flöte – das war er in seinen Anfängen – die mächtige, stimmreiche Orgel, deren brausend widerhallende Klänge die Pracht des homerischen Verses zeigen, wenn sie sich auch nicht um seinen schnellen, leichten Gang bemühen. So ist sein Werk ein unvergängliches Erbgut des englischen Schrifttums. So zieht er strahlend durch alle Zeiten, weil er sie überstrahlt. So ist er ewig bei uns, in seiner Kunstform ein Unsterblicher. Jawohl, das Schreiben hat den Schriftstellern viel Schaden gebracht. Wir müssen uns wieder an die Stimme halten. Sie bildet unsern Prüfstein. Dann wird es uns vielleicht gelingen, manche der Feinheiten griechischer Kunstbeurteilung zu würdigen. Gegenwärtig sind wir noch keineswegs so weit. Manchmal überfällt mich, wenn ich ein Stück Prosa niederschrieb, das ich bescheidenerweise für völlig fehlerlos halte, der furchtbare Gedanke, daß ich mich vielleicht unziemlicher Sprachverweichlichung durch den Gebrauch trochäischer und tribrachyscher Rhythmen schuldig gemacht habe. Dieses Verbrechen wirft ein gelehrter Kritiker des Augusteischen Zeitalters mit gerechter Strenge dem glänzenden, wenn auch manchmal paradoxen Hegesias vor. Es überläuft mich kalt, wenn ich mir solches vorstelle. Ich frage mich oft, ob die wundervoll-sittliche Wirkung der Prosa jenes entzückenden Schriftstellers, der einmal in einer Stimmung rücksichtsloser Offenheit wider den unkultivierten Teil unserer Gesellschaft die schreckliche Lehre verfocht, das Betragen bedeute drei Viertel des Lebens: ich frage mich, ob seine Wirkung nicht eines Tages dadurch völlig vernichtet werden könnte, daß man die Entdeckung macht, daß seine Päone an unrichtiger Stelle stehen.

Ernst: Ah, jetzt sprichst du nicht ernst.

Gilbert: Wie sollte man ernst bleiben, wenn man allen Ernstes hört, die Griechen hätten keine Kunstkritiker gehabt. Ich könnte die Ansicht, der schöpferische Geist der Griechen sei in der Kritik untergegangen, begreifen. Aber daß jenes Volk, dem wir den kritischen Geist danken, niemals Kritik geübt haben sollte, diese Anschauung verstehe ich nicht. Du verlangst wohl von mir nicht einen Überblick der griechischen Kunstkritik von den Zeiten Platos bis zu Plotin. Dazu ist die Nacht allzu lieblich. Der Mond würde, wenn er uns hörte, noch mehr Asche als bisher auf sein Antlitz streun. Erinnere dich nur an ein vollendetes kleines kritisch-ästhetisches Werk, an Aristoteles' Poetik! In der Form ist es keineswegs vollendet, denn es ist schlecht geschrieben. Vielleicht stellt es nur eine Zusammenfassung von Notizen für eine Kunstvorlesung dar oder von einzelnen Fragmenten, die für ein umfänglicheres Buch bestimmt waren. In der Stimmung und dem Ton der Behandlung aber ist es ganz vollkommen. Die sittliche Wirkung der Kunst, ihre Bedeutung für die Kultur, ihre Wichtigkeit für die Charakterbildung, diese Fragen waren bereits durch Plato ein für allemal entschieden. Hier wird aber die Kunst nicht vom moralischen, sondern vom rein ästhetischen Gesichtspunkt betrachtet. Auch Plato hatte sich selbstverständlich mit vielen ausgesprochen künstlerischen Themen befaßt: mit der Bedeutung der Einheit für ein Kunstwerk, der Notwendigkeit von Klang und Harmonie, dem ästhetischen Wert der Erscheinungsformen, mit der Beziehung der sichtbaren Künste zur äußeren Welt und der Dichtung zur Wirklichkeit. Er war vielleicht der erste, der in die Seele des Menschen jenen Wunsch pflanzte, den wir noch nicht befriedigt haben: den Wunsch, den Zusammenhang zwischen Schönheit und Wahrheit zu erkennen und den Rang der Schönheit in der sittlichen und geistigen Ordnung des Weltalls. Die Probleme des Idealismus und Realismus erscheinen vielleicht manchem in jener abstrakt metaphysischen Sphäre, in die Plato sie verlegt, etwas unfruchtbar. Übertrage sie aber in die Sphäre der Kunst, dann wirst du finden: sie sind noch immer lebendig und sinnvoll. Vielleicht ist es Plato bestimmt, als Schönheitskritiker weiter zu leben, vielleicht gewinnen wir eine neue Philosophie, wenn wir nur den Namen seiner Denksphäre ändern. Aristoteles jedoch beschäftigt sich wie Goethe mit der Kunst hauptsächlich in ihren sichtbaren Offenbarungen. Er betrachtet beispielsweise die Tragödie und untersucht ihren Stoff, nämlich die Sprache, ihren Gegenstand, das Leben, die Methode, wonach sie arbeitet, das ist die Handlung, ihre Voraussetzungen, nämlich die Aufführung auf dem Theater, er forscht nach ihrem logischen Aufbau, der Verwicklung, ihrem ästhetischen Endergebnis, der Einwirkung auf den Schönheitssinn durch die Erregung der Leidenschaften Furcht und Mitleid. Diese Reinigung und Vergeistigung der Natur, die er Katharsis nennt, ist, wie Goethe bemerkt, von durchaus ästhetischer, keineswegs, wie Lessing annahm, von moralischer Art. Aristoteles durchforschte in erster Linie den Eindruck, den das Kunstwerk hervorruft, er versucht, diesen Eindruck zu zergliedern, seinen Ursprung aufzufinden, sein Entstehen aufzudecken. Als Physiologen und Psychologen war ihm die Tatsache wohlbekannt, daß das gesunde Fortbestehen einer Kraft in ihrer Betätigung liegt. Die Fähigkeit für ein leidenschaftliches Gefühl zu besitzen und es nicht wirklich zu durchleben, heißt, sich selbst begrenzen, nicht zu seiner Fülle reifen. Des Lebens mimisches Schauspiel, das uns die Tragödie zeigt, reinigt das Herz von manchem »gefährlichen Stoff«. Dadurch, daß man den Gefühlen hohe und würdige Gegenstände darbietet, wird der Mensch selbst gereinigt und vergeistigt. Und nicht nur dies: er wird auch in edle Gefühle eingeweiht, von denen er sonst vielleicht nichts erfahren hätte. Das Wort Katharsis enthält, wie mir manchmal schien, eine Anspielung auf die Zeremonien der Einweihung. Zuweilen möchte ich sogar glauben, daß dies die einzig wahre Bedeutung des Wortes ist. Ich gebe hier natürlich nur eine Skizze des Buches. Aber du siehst bereits, wieviel ästhetische Kritik es enthält. Wer sonst als ein Grieche wäre fähig gewesen, die Kunst so scharf zu zergliedern? Nach der Lektüre dieses Buches wundert man sich nicht länger darüber, daß Alexandria sich so ganz und gar der Kunstkritik ergab, daß die künstlerischen Temperamente jener Zeit jede Frage des Stils und der Technik untersuchten und daß man über die großen akademischen Malerschulen, wie etwa die Schule von Sikyon, welche die erhabene Tradition der Antike zu bewahren suchte, nicht minder heftig diskutierte, als über die Realisten und Impressionisten, deren Ziel es war, das Leben der Gegenwart widerzuspiegeln. Auch über die ideale Richtung in der Porträtmalerei oder die künstlerische Bedeutung des Epos in einer Zeit, die so modern war wie diese, oder über das Stoffgebiet des Künstlers hat man damals Betrachtungen angestellt. In der Tat, ich fürchte, auch die unkünstlerischen Naturen jener Tage waren in Literatur und Kunst emsig am Werke, denn der Plagiatsbeschuldigungen gab es endlos viele. Solche Anklagen werden aber stets von den dünnen Lippen der Unfähigkeit, oder von den verzerrten Mäulern jener erhoben, die zwar keine eigene Art besitzen, aber Ansehen dadurch zu gewinnen hoffen, daß sie laut hinausschreien, sie seien bestohlen worden. Ich versichere dir, mein lieber Freund, die Griechen schwätzten über Maler genau so viel, wie man dies heutzutage tut. Sie hatten ihre Privatansichten, Ausstellungen gegen Entree, Kunst-Handwerkergilden, ihre präraffaelische und ihre naturalistische Bewegung, ihre Vorlesungen über Kunst. Sie schrieben ganz gewiß Essays über Kunst, sie hatten Kunsthistoriker und Archäologen und den ganzen Plunder. Ja noch mehr: Theaterunternehmer nahmen auf ihren Gastspielen ihre Theaterreferenten mit und zahlten ihnen sehr ansehnliche Honorare für lobende Artikel. Man sieht, alles, was unserem modernen Leben das Gepräge gibt, verdanken wir den Griechen. Das Unzeitgemäße stammt aus dem Mittelalter. Die Griechen haben uns das System der Kunstkritik überliefert. Wie fein ihr kritischer Instinkt gewesen ist, mag man aus der Tatsache schließen, daß das Material, das sie kritisch am sorgsamsten durchforschten, wie ich sagte, die Sprache war; denn der Stoff, dessen sich der Maler oder der Bildhauer bedient, ist im Vergleich mit dem Worte dürftig. Aus den Worten tönt nicht nur Musik hervor, die nicht minder süß ist als der Klang der Viola und Laute, Farben leuchten auch daraus, so reich, so lebendig, wie die Farbenglut, die die Leinwand der Venezianer und Spanier für uns so lieblich macht. Den Worten ist Plastik eigen, gerundete Fülle nicht minder als der Bronze oder dem Marmor. Aber auch Denken und Leidenschaft und Geistigkeit strömt aus den Worten – und diese gehören den Worten allein. Hätten die Griechen nur die Sprachkritik geschaffen, sie wären schon deswegen allein die großen Kunstkritiker der Welt. Die Prinzipien der höchsten Kunst zu kennen, heißt, die Prinzipien aller Künste kennen. Ich merke aber: der Mond hat sich hinter eine schwefelfarbene Wolke verborgen. Aus lohgelber Sturmmähne schimmert er wie das Auge des Löwen. Er fürchtet, ich werde dir von Lucian und Longinus, von Quinctilian und Dionysius, von Plinius und Fronto und Pausanias, von all den Männern erzählen, die in der Antike über Kunstthemen geschrieben oder gesprochen haben. Er sei unbesorgt. Ich bin meines Forschens in dem dunkeln, dumpfen Abgrund der Tatsachen müde. Nun bleibt mir nichts übrig als die göttliche μονόχρονος ἡδονή einer neuen Zigarette. Zigaretten haben wenigstens das eine Reizvolle: sie gewähren uns keine Befriedigung.

Ernst: Nimm eine von den meinen. Sie sind ziemlich gut. Ich beziehe sie direkt aus Kairo. Unsre Attachés taugen nur zu einem: sie versehen ihre Freunde mit ausgezeichnetem Tabak. Allein, da der Mond sein Antlitz verborgen hat, laß uns wieder ein wenig plaudern. Ich gebe gerne zu: was ich über die Griechen sagte, ist ein Irrtum gewesen. Sie waren, wie du ausgeführt hast, ein Volk von Kunstkritikern. Ich räume es ein und bedauere sie fast ein wenig. Denn die schöpferische Gabe steht höher als die kritische. Die beiden können wirklich nicht miteinander verglichen werden.

Gilbert: Dieser Gegensatz ist ein ganz willkürlicher. Ohne kritisches Vermögen ward noch nie eine Kunstschöpfung, die solche Bezeichnung verdient, hervorgebracht. Du sprachst vor einem Augenblick von dem feinen Sinn für Auswahl, dem zarten Instinkt für die Auslese, wodurch der Künstler das Leben für uns verwirklicht und ihm für einen Augenblick Vollendung leiht. Nun, dieses Empfinden für die Auslese, dieser feinfühlende Takt für das Ausscheiden ist nichts anders als die kritische Fähigkeit in einer ihrer wesentlichsten Äußerungen. Wer dieser kritischen Fähigkeit ermangelt, vermag in der Kunst überhaupt nichts Schöpferisches hervorzubringen. Arnolds Definition der Literatur als einer Kritik des Lebens ist in der Form nicht sehr glücklich, doch zeigt er damit, wie scharf er die Bedeutung des kritischen Elements in jeder Kunstschöpfung erkannt hat.

Ernst: Ich meine: große Künstler schaffen unbewußt, sie sind »weiser als sie selbst wissen«, wie Emerson, glaub' ich, irgendwo bemerkt.

Gilbert: Das ist in Wirklichkeit nicht so, Ernst. Alle feine Arbeit der Phantasie ist bewußt und überlegt. Kein Dichter singt, weil er singen muß, wenigstens kein großer Dichter. Ein großer Dichter singt, weil er singen will. So ist es jetzt, so ist es immer gewesen. Wir sind manchmal geneigt, zu glauben, jene Stimmen, die in den Dämmerzeiten der Dichtung tönten, seien einfacher, frischer, natürlicher als die unserer Tage gewesen. Wir meinen, jener Welt, worauf der Blick der früheren Dichter fiel und durch die sie schritten, sei etwas Poetisches ursprünglich eigen gewesen, das fast unverändert in Gesang hinübergleiten konnte. Jetzt liegt der Schnee dicht auf dem Olympus, seine schroff zerklüfteten Abhänge sind frostig-unfruchtbare Heide. Vor Zeiten aber – so träumen wir – streiften die weißen Füße der Musen am Morgen den Tau von den Anemonen und zur Abendstunde nahte Apoll und sang im Tal den Schäfern sein Lied. Doch da leihen wir anderen Zeiten nur, was wir für unsere Zeit ersehnen oder zu ersehnen glauben. Unser historischer Sinn ist da in einem Irrtum befangen. Jedes Jahrhundert ist, soweit es Dichtungen hervorbringt, ein künstliches Jahrhundert, und das Werk, das uns als die natürlich einfache Frucht seiner Zeit scheint, ist stets das Ergebnis höchst bewußten Wollens. Glaube mir, Ernst, es gibt keine Kunst ohne Selbstbewußtsein. Selbstbewußtsein aber und kritischer Geist sind das nämliche.

Ernst: Ich sehe, worauf du hinauswillst; es liegt viel Wahres darin. Doch wirst du gewiß zugeben, daß die großen Dichtungen der Frühzeit, die primitiven, namenlosen, zusammenfassenden Dichtungen mehr der Volksphantasie als der Phantasie eines einzelnen entsprungen sind?

Gilbert: Nicht, als sie Poesie wurden. Nicht, als sie die herrliche Form empfingen. Denn es gibt keine Kunst ohne Stil und keinen Stil ohne Einheit. Einheit aber setzt das Individuum voraus. Homer fand ohne Zweifel für sein Werk alte Balladen und Märlein vor, wie Shakespeare Chroniken, Schauspiele und Novellen, aus denen er schöpfen konnte; doch boten sie ihm bloß Rohmaterial. Er bediente sich ihrer und gestaltete sie zum Gesang. Sie wurden sein eigen, denn er war es, der ihnen Lieblichkeit gab. Sie waren aus Klängen gebaut:

»Und so gar nicht gebaut,
Und drum gebaut für immer.«

Je länger man Leben und Literatur studiert, desto deutlicher empfindet man, daß hinter allem Wundervollen die Persönlichkeit steht, daß nicht der Augenblick den Menschen, sondern der Mensch seine Zeit erschafft. Ich neige mich in der Tat der Anschauung zu, daß alle Mythen und Legenden, von denen wir meinen, sie seien dem Wunderglauben, dem Grauen, der Einbildungskraft eines Stamms, eines Volks entsprungen, einem einzelnen erfinderischen Kopf ihr Entstehn verdanken. Die erstaunlich begrenzte Zahl dieser Mythen scheint eine solche Schlußfolgerung nahezulegen. Verlieren wir uns aber nicht in Fragen der vergleichenden Mythologie. Halten wir uns an die Kritik. Was ich ausführen möchte, ist folgendes: ein Zeitalter, das der Kunstkritik entbehrt, ist entweder ein solches, dessen Kunst sich hieratisch-starr auf die Wiedergabe herkömmlicher Typen beschränkt oder das überhaupt keine Kunst besitzt. Es hat kritische Zeitalter gegeben, die, in der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes, unschöpferisch gewesen sind – Zeitalter, in denen der menschliche Geist sich damit beschäftigte, die Schätze seiner Schatzkammer zu ordnen, das Gold vom Silber zu scheiden, das Silber vom Blei, die Juwelen zu zählen, den Perlen Namen zu geben. Allein, es gab nie eine schöpferische Zeit, die nicht zugleich eine kritische gewesen wäre. Denn der kritische Geist ist es, der neue Formen findet. Alles Schaffen neigt dazu, sich selbst zu wiederholen. Dem kritischen Instinkt allein danken wir jede neu auftauchende Schule, jede neue Form, die die Kunst bereit findet. Es gibt wirklich nicht eine Kunstform unserer Zeit, die uns nicht der kritische Geist Alexandrias überliefert hätte; dort wurden diese Formen entweder befestigt oder ersonnen oder zur Vollendung gebracht. Ich sage Alexandria, nicht bloß, weil der griechische Geist dort die höchste Bewußtheit gewann und schließlich sich im Skeptizismus und Theologie verlor, sondern weil Rom aus dieser Stadt, nicht aus Athen seine Vorbilder bezog. Und nur durch ein gewisses Fortleben der lateinischen Sprache ist uns Kultur überhaupt erhalten geblieben. Als zur Zeit der Renaissance griechisches Schrifttum über Europa aufdämmerte, war der Boden dafür in mancher Richtung vorbereitet worden. Lassen wir aber solch historische Einzelheiten; sie ermüden immer und sind gewöhnlich ungenau. Die allgemeine Bemerkung genüge, daß wir dem kritischen Geist der Griechen die Kunstformen verdanken. Ihm verdanken wir Epik und Lyrik, das Drama in all seinen Entwicklungsstufen, die Burleske mit eingeschlossen, wir danken ihm das Idyll, den romantischen, den Abenteurerroman, den Essay, den Dialog, die Rede, leider auch die Vorlesung – diese sollte man ihm vielleicht nicht verzeihen – und das Epigramm in der ganzen umfassenden Bedeutung des Wortes. In der Tat, wir danken ihm jede Form außer dem Sonett – doch finden sich auch dazu bereits in der griechischen Anthologie einige merkwürdige gedankliche Parallelen –, außer dem amerikanischen Journalismus, zu dem es nirgendwo Parallelen gibt, und außer der im unecht-schottischen Dialekt gehaltenen Ballade, die jüngst einer unserer emsigsten Skribenten zur Grundlage einer endgültigen und einmütigen Bewegung machen wollte, deren Ziel es wäre, unseren Dichtern zweiten Rangs das wirklich romantische Gepräge zu verleihen. Jede neue Richtung beklagt sich, so scheint es, über die Kritik, doch ihr allein verdankt sie ihr Entstehen. Der nur schöpferische Trieb erneuert nicht, er schafft nach alten Formen.

Ernst: Du hast über die Kritik als einen wesentlichen Teil des schöpferischen Geistes gesprochen; ich schließe mich jetzt deiner Theorie völlig an. Was soll uns aber die Kritik außerhalb des Schaffens? Ich habe die törichte Gewohnheit, periodische Zeitschriften zu lesen, und ich glaube, der größte Teil der Kritik von heute ist völlig wertlos.

Gilbert: Das gilt auch von den meisten schöpferischen Werken unserer Tage. Die Mittelmäßigkeit hält der Mittelmäßigkeit die Wage, Unfähigkeit klatscht ihrer Schwester Beifall – dieses Schauspiel gewährt uns Englands künstlerische Geschäftigkeit von Zeit zu Zeit. Doch empfinde ich, daß ich hier nicht ganz gerecht bin. In der Regel sind die Kritiker – ich spreche natürlich von den Kritikern höheren Ranges, von denen, die für die Wochenschriften schreiben – weit gebildeter als die, deren Werke sie zu rezensieren haben. Dies entspricht völlig dem, was man erwarten darf; denn das Kritisieren erfordert unendlich mehr Bildung als das Schaffen.

Ernst: Wirklich?

Gilbert: Gewiß. Jeder kann einen dreibändigen Roman verfassen. Dazu bedarf es nur völliger Unkenntnis, sowohl des Lebens wie der Literatur. Für den Rezensenten, mein ich, liegt die Schwierigkeit darin, irgendeinen Maßstab der Beurteilung durchzuführen. Der Stillosigkeit gegenüber ist ein solcher Maßstab natürlich unmöglich. Die armen Rezensenten werden offenbar dazu herabgewürdigt, den literarischen Polizeigerichten als Reporter zu dienen. Sie müssen lediglich die Taten der künstlerischen Gewohnheitsverbrecher registrieren. Man hört oft, sie läsen die Werke, die sie kritisieren sollen, nicht einmal zu Ende. Das tun sie in der Tat nicht. Sie sollten es wenigstens nicht. Würden sie diese Dinge lesen, dann müßten sie für den Rest ihrer Tage ausgesprochene Menschenhasser werden. Es ist auch keineswegs nötig. Um die Zeit der Lese und die Güte eines Weines zu erkennen, braucht man nicht das ganze Faß zu leeren. Man wird in einer halben Stunde sehr leicht ein Urteil darüber gewinnen, ob ein Buch etwas oder gar nichts taugt. Wahrhaftig, zehn Minuten genügen dem, der Formgefühl besitzt. Wozu durch einen dicken Band waten? Man kostet nur, das genügt völlig – es ist mehr als genug, sollte ich meinen. Ich weiß, es gibt viele redliche Handwerker, sowohl auf dem Felde der Malerei, wie auch der Literatur, die der Kritik ihre Berechtigung ganz absprechen. Diese Leute haben ganz recht. Ihre Werke stehen mit dem Zeitalter in keinem geistigen Zusammenhang. Sie erwecken in uns nicht eine neue Nuance der Freude. Sie bieten uns keinen Ausblick auf ein neues Gebiet des Denkens, der Leidenschaft, der Schönheit. Man sollte gar nicht über sie sprechen. Man sollte sie der verdienten Vergessenheit überlassen.

Ernst: Aber mein Lieber – verzeih, wenn ich dich unterbreche –, deine Leidenschaft für die Kritik führt dich wohl ein gut Stück zu weit. Selbst du wirst zugeben müssen: es ist viel schwerer, etwas zu tun, als darüber zu reden.

Gilbert: Schwerer, etwas zu tun als darüber zu reden? Keineswegs. Dies ist ein grober, weit verbreiteter Irrtum. Es ist viel schwieriger, über etwas zu reden, als es zu tun. In der Sphäre des äußerlich-tätigen Lebens liegt das natürlich klar zutage. Jeder kann Geschichte machen. Nur ein bedeutender Mensch vermag, sie zu schreiben. Es gibt keine Art des Tuns, keine Art Gemütsbewegung, die wir nicht mit den niedrigeren Lebewesen teilten. Nur durch die Sprache erheben wir uns über sie oder auch über die Mitmenschen – durch die Sprache allein, und sie ist die Mutter des Denkens, nicht sein Kind. Das Handeln ist wirklich immer leicht. Tritt es uns in der übertriebensten, der Form stetiger Tätigkeit, als Fleiß entgegen, dann bedeutet es einfach die Zuflucht jener, die sonst nichts zu tun haben. Nein, Ernst, reden wir nicht davon. Das Handeln ist immer etwas Blindes. Es hängt von äußerlichen Einflüssen ab, es wird von unbewußten Trieben in Bewegung gesetzt. Alles Handeln muß seinem Wesen nach unvollkommen sein, denn es wird durch den Zufall beschränkt, es kennt im voraus seine Richtung nicht, es führt immer zu einem anderen Ziel als dem vorgesetzten. Phantasiemangel bildet seine Grundlage. Es ist die letzte Zuflucht derer, die nicht zu träumen verstehen.

Ernst: Du behandelst die Welt wie einen gläsernen Ball. Sie ruht in deiner Hand, sie muß sich nach deiner Stimmung drehen. Du tust nichts anders als die Geschichte umschreiben.

Gilbert: Das eben ist unsere einzige Pflicht der Geschichte gegenüber: wir müssen sie umschreiben. Das ist keine der geringsten Aufgaben des kritischen Geistes. Haben wir einmal die wissenschaftlichen Gesetze, die das Leben beherrschen, ganz durchgeforscht, dann werden wir finden, daß es nur einen gibt, der in Selbsttäuschungen noch weit befangener ist, als der Träumer – der Tatenmensch. Er kennt in der Tat weder den Ursprung seiner Handlungen, noch deren Ergebnisse. Er glaubt, Dornen auf einem Felde gesät zu haben, doch wir ernten Wein daraus. Der Feigenbaum, den er zu unserer Freude gepflanzt hat, ist so unfruchtbar wie die Distel, und noch bitterer. Nur weil die Menschheit niemals wußte, wohin sie schritt, hat sie noch immer vermocht, ihren Weg zu finden.

Ernst: Du bist also der Meinung, in der Sphäre des Handelns sei Zielbewußtheit nur Täuschung?

Gilbert: Weit schlimmer als Täuschung. Lebten wir lange genug, die Resultate unserer Handlungen zu erblicken, wie leicht könnte es geschehen, daß die, die sich die Guten nennen, unter dumpfen Gewissensbissen dahinsiechten und daß die sogenannten Bösen ganz geschwellt wären von stolzer Freude. Was wir tun, es sei das Geringste, gerät in die große Maschine des Lebens. Sie zermalmt vielleicht unsere Tugenden zu Staub und nimmt ihnen den Schimmer des Werts. Aus dem, was wir Verbrechen nennen, formt sie das Element einer neuen Kultur – einer Kultur, herrlicher, glanzvoller, als irgendeine, die uns vorausging. Allein der Mensch ist der Sklave des Wortes. Man ereifert sich wider den sogenannten Materialismus und vergißt, daß es keinen materiellen Fortschritt gibt, der nicht die Welt vergeistigt hätte, und daß fast jedes geistige Erwachen die Kräfte der Welt in vergeblichen Hoffnungen, unfruchtbarer Sehnsucht, in leeren oder hemmenden Glaubensbekenntnissen verbraucht hat. Was man gemeinhin »Sünde« nennt, bildet ein wesentliches Element des Fortschritts. Ohne sie würde die Welt stagnieren, alt oder farblos werden. Durch ihre Neugierde vermehrt die Sünde die Erfahrung der Rasse. Durch ihr starkes und bewußtes Betonen des Individuellen bewahrt sie uns vor der Eintönigkeit des Typischen. In ihrem Verwerfen der landläufigen Moralbegriffe ist sie mit der höheren Ethik eins. Und die »Tugenden« erst! Was sind – »Tugenden«? Die Natur, erzählt uns M. Renan, kehrt sich wenig an Keuschheit. Der Schande der Magdalenen, nicht ihrem Keuschsein danken die Lukretien von heute vielleicht ihre Unbeflecktheit. Die Mildtätigkeit, das haben selbst die zugeben müssen, in deren Glaubensbekenntnis dieser Begriff einen großen Platz einnimmt, ruft eine Menge Unheil hervor. Schon die Tatsache, daß wir mit einem solchen Ding wie einem Gewissen begabt wurden, diese Tatsache, worüber man so viel schwätzt, worauf man so stolz ist, beweist die Unvollkommenheit unserer Entwicklung. Das Gewissen muß ganz im Instinkt versinken – früher werden wir nicht erlesen sein. Durch Selbstverleugnung hemmt man einfach das Fortschreiten des eigenen Wesens. Selbstaufopferung ist nur ein Überbleibsel der Verstümmelung aus barbarischer Zeit, ein Rest jener uralten Anbetung des Leidens, die in der Geschichte der Menschheit einen so furchtbar breiten Raum behauptet, die noch jetzt Tag für Tag ihre Opfer heischt, der noch immer Altäre in unserem Lande errichtet werden. Tugend! Wer weiß genau, was dieses Wort besagt? Du nicht. Auch ich nicht. Niemand. Es schmeichelt unserer Eitelkeit, daß wir den Verbrecher töten. Würden wir ihm das Weiterleben gestatten, er könnte uns eines Tages beweisen, wie viel wir durch sein Verbrechen gewonnen haben. Es ist gut für die Seelenruhe des Heiligen, daß er den Märtyrertod erduldet. So wird er davor bewahrt, zu schauen, wie schrecklich die Ernte ist, die seine Saat gezeitigt.

Ernst: Gilbert, du stimmst ein rauhes Lied an. Kehren wir zu den lieblicheren Gefilden der Dichtung zurück. Was war es, was du eben sagtest? Es sei schwerer, über etwas zu reden als es zu tun.

Gilbert (nach einer Pause): Jawohl; ich sprach, glaube ich, diese einfache Wahrheit aus. Du siehst jetzt gewiß ein, daß ich recht habe? Der Mensch ist, wenn er handelt, eine Puppe. Wenn er schildert, wird er ein Poet. Darin liegt das ganze Geheimnis. Es war leicht genug, auf den sandigen Schlachtfeldern des sturmumflatterten Ilion den geschnitzten Pfeil vom bemalten Bogen zu schnellen oder den mächtigen eschenen Speer wider den aus Häuten und Erz gefügten Schild zu schleudern. Es fiel der ehebrecherischen Königin leicht, die tyrischen Teppiche vor ihrem Gebieter auszubreiten und dem im Marmorbad Liegenden das purpurne Netz übers Haupt zu werfen und ihren glattwangigen Liebsten zu rufen, daß er durch die Maschen mit dem Dolch das Herz treffe, das in Aulis hätte brechen sollen. Selbst für Antigone, die der Tod als Bräutigam erwartete, war es leicht, durch die verpestete Luft des Mittags den Hügel hinanzusteigen und mit sanfter Erde den nackten, unglücklichen Leichnam, der kein Grab hatte, zu bedecken. Was ist jedoch über die zu sagen, die solche Taten beschrieben? Die ihnen Leben verliehen, ihnen für immer Dauer gegeben haben? Sind sie nicht größer als jener Mann, und jenes Weib, von denen sie künden? »Hektor, der süße Recke, ist tot«, und Luzian berichtet, wie Menippus in der Düsternis der Unterwelt den bleichenden Schädel der Helena erblickte und wie er sich wunderte, daß um einer so grauenhaften Bildung willen all diese gehörnten Schiffe vom Stapel gelassen wurden, all diese herrlich gepanzerten Helden dahinsanken, all diese betürmten Städte in Staub zerfielen. Dennoch erscheint jeden Morgen die schwanengleiche Tochter der Leda auf den Zinnen und blickt auf das Kriegsgetümmel nieder. Graubärtige Greise bewundern ihre Lieblichkeit, und sie steht an der Seite des Königs. In seinem Gemach aus buntem Elfenbein liegt ihr Buhle. Er putzt seine zierliche Rüstung und streicht über den scharlachroten Helmbusch. Mit Schildknappen und Pagen schreitet ihr Gatte von Zelt zu Zelt. Sie erblickt sein blondes Haar, sie hört oder meint wenigstens, seine klare, kalte Stimme zu hören. Unten im Hof legt der Sohn Priamos' den ehernen Panzer an. Die weißen Arme der Andromache sind um seinen Nacken geschlungen. Er stellt den Helm zu Boden, damit ihr Kind nicht erschrecke. Hinter den gestickten Vorhängen seines Zeltes sitzt Achill in wohlduftendem Gewande, während der Freund seiner Seele den Harnisch von Gold und Silber anschnallt, in den Kampf zu ziehen. Einem seltsam geschnitzten Kästchen, das Mutter Thetis ihm an sein Schiff gebracht hat, entnimmt der Gebieter der Myrmidonen den geheimnisvollen Kelch, den Menschenmund nie berührt hat; er reinigt ihn mit Schwefel und füllt ihn mit frischem Wasser. Er wäscht die Hände, er füllt mit schwarzem Wein die glatte Höhlung des Kelchs und gießt das dicke Blut der Trauben auf den Boden, zur Ehre dessen, den barfüßige prophetische Priester zu Dodona anbeteten. Zu ihm fleht er, unwissend, daß er vergeblich fleht und daß unter den Händen zweier trojanischer Helden, des Euphorbus, des Panthous Sohn, dessen Liebeslocken mit Gold durchflochten waren, und des Priamiden, des Löwenbeherzten, Patroklus, der Gefährte der Gefährten, sein Schicksal erfüllen muß. Sind diese Gestalten Phantome? Helden des Nebels und der Berge? Schatten in einem Lied? Nein: sie leben wirklich. Handeln! Was ist Handeln? Im Augenblick tatkräftiger Entfaltung erstirbt es schon. Handeln ist ein niedriges Zugeständnis an die Tatsachen. Die Welt wird durch den Sänger für den Träumer geschaffen.

Ernst: So lange du sprichst, muß ich dir recht geben.

Gilbert: Ich spreche wahr. Auf dem zu Staub zerfallenen Festungsgemäuer Trojas liegt die Eidechse, wie ein Gebilde aus grüner Bronze. Die Eule hat ihr Nest in Priamus Palast gebaut. Über die leere Heide ziehen Schaf- und Ziegenherden mit ihren Hirten; dort, wo auf der öligen, weinfarbenen Seeflut, dem οἶνοψ πόντος, wie Homer sie nennt, die rotgestreiften mächtigen Galeeren der Danaer mit kupferschimmerndem Bug einherschwammen, sitzt jetzt der einsame Fischer im kleinen Boot und achtet auf den zitternden Kork seines Netzes. Und doch werden jeden Morgen die Tore der Stadt weitaufgetan, und zu Fuß oder in rossegezogenen Wagen ziehen die Krieger in die Schlacht und spotten der Feinde hinter ihrer eisernen Vermummung. Den Tag über fechten sie grimmig. Sinkt aber die Nacht herab, dann glühen die Fackeln an den Zelten, und der Dreifuß raucht in der Halle. Gestalten, die im Marmor oder auf der Leinwand leben, kennen vom Dasein nur einen einzigen köstlichen Augenblick, der allerdings in die Ewigkeit reicht, aber auf den einen Ton der Leidenschaft oder ruhiger Betrachtung gestimmt ist. Die der Dichter ins Dasein ruft, haben unzählige freudige und schreckliche Empfindungen. Mut und Verzweiflung, Jauchzen und Kummer sind ihnen eigen. Die Zeiten wandeln im frohen oder ernsten Gepränge, die Jahre gleiten beschwingten oder schweren Schrittes an ihnen vorüber. Sie haben ihre Jugend, ihre Mannheit, ihre Kindheit und ihr Alter. Um die heilige Helene webt immer jene Dämmerung, in der Veronese sie am Fenster sah. Durch die Morgenluft bringen ihr die Engel das Symbol des Leidens ihres Gottes. Der kühle Morgenwind hebt die goldenen Fäden von ihrer Stirn. Auf jenem kleinen Hügel bei Florenz, wo die Liebenden des Giorgione lagern, leuchtet noch immer die nämliche Mittagssonne im Zenit. So erschlaffend ist diese Sommersonne, daß das schmächtige, nackte Mädchen kaum das klare, gerundete Glas in den Marmorbrunnen zu tauchen vermag und die schmalen Finger des Lautenschlägers träg auf den Saiten ruhen. Zwielicht spielt noch immer um die tanzenden Nymphen, die Corot um die silbernen Pappeln Frankreichs schweben ließ. Im ewigen Zwielicht gleiten sie dahin, diese zarten, durchsichtigen Gestalten. Ihre weißen, zitternden Füße scheinen mit ihrem Tritt das tauige Gras kaum zu streifen. Aber jene Gestalten, die durch das Epos, das Drama, den Roman schreiten, sehn im Kreise der Monate die jungen Monde wechseln und verrinnen, sie können den Zug der Nacht vom Abend- bis zum Morgenstern belauschen, den wechselnden Tag mit seinem Gold und seinen Schatten, vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenniedergang beobachten. Für sie blühen und welken die Blumen wie für uns, und die Erde, die grüngelockte Göttin, wie Coleridge sie nennt, wechselt zu ihrer Freude ihr Gewand! Die Statue gewährt einem einzigen Augenblick der Vollendung Dauer. Dem Bild auf der Leinwand wohnt nichts Geistiges inne, es wächst und entwickelt sich nicht. Diese Gebilde kennen zwar nicht die Schauer des Todes, aber nur deshalb nicht, weil sie wenig vom Leben wissen. Denn die Geheimnisse des Lebens und Sterbens werden nur denen offenbar, nur denen allein, die der Kreislauf der Zeit berührt, die nicht nur Gegenwart, sondern auch Zukunft in sich hegen, die auch vergangener Ruhm, vergangene Schmach zu erheben oder zu stürzen vermag. Bewegung, dieses Problem der sinnfälligen Künste, kann nur durch die Literatur getreu verwirklicht werden. Nur die Literatur zeigt uns den Leib in seiner Hast, die Seele in ihrer Unrast.

Ernst: Jawohl, ich verstehe jetzt, was du meinst. Aber das eine ist sicher: je höher du den schaffenden Künstler stellst, einen desto niedrigeren Rang muß der Kritiker einnehmen.

Gilbert: Wieso?

Ernst: Weil das Beste, das er uns zu gewähren vermag, nichts ist als ein Widerhall reicher Musik, ein blasser Schatten klar umrissener Formen. Das Leben mag in der Tat ein Chaos sein, wie du mir kündest. Vielleicht sind seine Martyrien armselig, seine Heldentaten unedel. Vielleicht ist es wirklich Aufgabe der Dichtung, aus dem Rohstoff äußerlichen Daseins eine Welt zu schaffen, die wunderbarer, dauernder, wahrhaftiger sein wird, als jene, worauf das gemeine Auge blickt, worin die gemeine Natur ihre Vollendung sucht. Doch sicherlich, wenn diese neue Welt durch den Geist und die Kraft eines großen Künstlers einmal geschaffen ist, dann wird sie so vollkommen sein, daß dem Kritiker zu tun nichts übrig bleibt. Ich verstehe jetzt sehr wohl und räume bereitwillig ein, daß es viel schwerer ist, über etwas zu reden, als es zu tun. Doch scheint mir, daß dieser gesunde und verständige Grundsatz, der unser Empfinden so außerordentlich beruhigt, den jede Literaturakademie der Welt zu ihrem Wahlspruch wählen sollte, bloß die Beziehungen zwischen Kunst und Leben angeht, keineswegs die, die vielleicht zwischen Kunst und Kritik bestehen.

Gilbert: Aber ist nicht die Kritik selbst eine Kunst? Und wie die künstlerische Schöpfung der Arbeit des kritischen Geists bedarf und ohne ihn – man darf es sagen – durchaus nicht bestehen kann, so ist die Kritik selbstschöpferisch in der höchsten Bedeutung des Worts. Die Kritik ist in der Tat sowohl schöpferisch als unabhängig.

Ernst: Unabhängig?

Gilbert: Jawohl, unabhängig. Die Kritik darf von irgendeinem niedrigen Gesichtspunkte der Nachahmung oder Ähnlichkeit so wenig beurteilt werden, wie das Werk des Dichters oder bildenden Künstlers. Die Kritik nimmt dem kritisierten Kunstwerke gegenüber die nämliche Stellung ein, wie der Künstler gegenüber der sichtbaren Welt der Form und Farbe, oder der unsichtbaren Welt der Leidenschaft und des Denkens. Der Kritiker bedarf, um seine Kunst zur Vollendung zu bringen, nicht einmal des vornehmsten Materials. Alles dient seinen Zwecken. Wie Gustave Flaubert aus den gemeinen und sentimentalen Liebesgeschichten der albernen Frau eines kleinen Landarztes in dem schmutzigen Dorfe Yonville-l'Abbaye bei Rouen ein klassisches Werk zu schaffen vermochte, ein Meisterwerk des Stils, so kann der echte Kritiker aus Dingen von sehr geringer oder gar keiner Bedeutung ein Werk von fleckenloser Schönheit und Tiefe des Gedankens hervorbringen – etwa aus den Gemälden der Königlichen Akademie dieses oder irgendeines Jahres, aus den Gedichten von Mr. Lewis Morris, aus den Romanen Ohnets oder den Komödien von Mr. Artur Jones, vorausgesetzt, daß es ihm Freude macht, seine Aufmerksamkeit auf solche Dinge zu lenken, vielmehr zu verschwenden. Warum sollte er es nicht? Trübheit lockt immer den Glanz unwiderstehlich hervor, Dummheit ist die ewige » Bestia trionfans«, die die Klugheit aus ihrer Höhle ruft. Was bedeutet einem so schöpferischen Künstler, wie es der Kritiker ist, das Thema? Nicht mehr und nicht minder als es dem Erzähler und dem Maler bedeutet. Wie diese kann er seinen Motiven überall begegnen. Die Behandlung allein ist das Entscheidende. Es gibt nichts, was nicht Stimmungs- oder Wirkungsmöglichkeiten in sich bärge.

Ernst: Ist aber die Kritik wirklich eine schöpferische Kunst?

Gilbert: Warum sollte sie es nicht sein? Sie hat ihre Materialien und bringt sie in Formen, die zugleich neu und entzückend sind. Was kann man von der Dichtung mehr sagen? Fürwahr, ich möchte die Kritik eine Schöpfung innerhalb der Schöpfung nennen. Wie die großen Künstler von Homer und Äschylus bis zu Shakespeare und Keats ihre Stoffe niemals direkt dem Leben entnahmen, sondern in Mythen und Legenden und alten Erzählungen danach suchten, so benützt der Kritiker Stoffe, die die anderen gewissermaßen für ihn gereinigt und denen sie bereits dichterische Form und Farbe gegeben haben. Ja noch mehr. Ich möchte behaupten: die höchste Form der Kritik ist – da sie zugleich die reinste Form persönlicher Empfindung darstellt – schöpferischer als das Schaffen; denn sie kann nur an sich selbst gemessen werden, nur in ihr liegt ihre Daseinsberechtigung; sie ist, wie die Griechen sagen würden, in und für sich selbst ein Zweck. Sicherlich ist sie niemals durch irgendwelche Fesseln der Lebensechtheit geknebelt. Keine unedle Rücksicht auf die Wahrscheinlichkeit, dieses feige Zugeständnis an die endlos langweiligen Wiederholungen unseres privaten und öffentlichen Lebens behindert sie. Von der Dichtung mag man an die Wirklichkeit appellieren. Über der Seele gibt es kein höheres Gericht.

Ernst: Über der Seele?

Gilbert: Ja, über der Seele. Die höchste Kritik ist nämlich in Wahrheit nichts anderes als der Bericht über die eigene Seele. Darum ist sie bezaubernder als die Geschichte; sie beschäftigt sich ja nur mit dem Schriftsteller selbst. Sie ist fesselnder als die Philosophie, denn ihr Gegenstand ist sinnfällig, nicht begrifflich, wirklich, nicht unbestimmt. Sie ist die einzige eines gebildeten Menschen würdige Form der Selbstbiographie; sie beschäftigt sich ja nicht mit den Ereignissen, sondern mit den Gedanken eines Lebens; nicht mit den greifbaren Tatsachen oder Zufälligkeiten des Daseins, sondern mit den Geistesstimmungen, den Leidenschaften der Seele. Die alberne Eitelkeit der Schriftsteller und Künstler unserer Tage, die zu glauben scheinen, die wichtigste Aufgabe des Kritikers bestehe darin, über ihre mittelmäßigen Werke zu schwätzen, bildet für mich eine Quelle steten Vergnügens. Das beste, das man über den größten Teil unserer modernen schöpferischen Kunst sagen kann, ist etwa, daß sie nicht ganz so gemein ist, wie die Wirklichkeit. Der Kritiker mit seinem feinen Unterscheidungsvermögen, seinem ausgebildeten Instinkt für zarte Verfeinerung wird darum lieber in den silbernen Spiegel oder durch den gewobenen Schleier blicken. Er wird sein Auge von dem Wirrwarr und dem Geschrei des wirklichen Lebens abwenden, mag auch der Spiegel getrübt, der Schleier zerrissen sein. Er kennt kein anderes Ziel als dieses: seine Eindrücke aufzuzeichnen. Für ihn werden Bilder gemalt, Bücher geschrieben, für ihn wird der Marmor geformt.

Ernst: Ich glaube, ich habe bereits eine andere Theorie über das Wesen der Kritik vernommen.

Gilbert: Jawohl: sie ist von einem Mann aufgestellt, dessen teures Bild wir alle ehrfürchtig im Gedächtnis bewahren. Der Klang seiner Flöte hat ja einst Proserpina aus ihren sizilischen Gefilden fortgelockt, so daß ihre weißen Füße, und nicht vergeblich, die Primeln von Cumnor bewegten. Er hat gesagt, das wahre Ziel der Kritik sei, die Dinge so zu sehen, wie sie in Wirklichkeit sind. Dies ist jedoch ein sehr großer Irrtum, der von der vollkommensten Form der Kritik keine Kenntnis nimmt, der rein subjektiven Kritik, die sich nur bemüht, das in ihr selbst schlummernde Geheimnis, nicht das Geheimnis der andern zu enthüllen. Denn die Kritik in ihrer höchsten Form beschäftigt sich mit der Kunst nur soweit, wie sie Eindrücke wachruft, keineswegs, sofern sie sich bemüht, etwas auszudrücken.

Ernst: Ist dem wirklich so?

Gilbert: Ganz gewiß. Wer kümmert sich darum, ob Mr. Ruskins Anschauungen über Turner begründet sind oder nicht? Was liegt daran? Die schimmernde, wundervolle Prosa, die ihm eigen, so glühend, so voll wundersam flammender Farben in dem adeligen Schwung ihrer Beredsamkeit, so reich in ihren durchdachten symphonischen Klängen, so sicher und treffend, in der feinen Wahl des Haupt- und des Beiworts: diese Prosa ist ein nicht geringeres Kunstwerk als einer jener herrlichen Sonnenuntergänge, die auf verblichener Leinwand in der Galerie Englands verwesen und verderben. Ja, ein größeres Kunstwerk, möchte man meinen – nicht nur deshalb, weil die nicht geringere Schönheit dieses Werkes dauernden Bestand besitzt, sondern weil dieses Werk eine buntere Fülle von Stimmen in uns wachruft. Seele spricht zu Seele in diesen mächtigen, lange nachhallenden Kadenzen, nicht durch Form und Farbe allein – durch sie allerdings völlig –, sondern auch durch die Ausdrucksmittel des Geistes und der Empfindung: durch erhabene Leidenschaft und den noch erhabeneren Gedanken, durch intuitive Einsicht und dichterische Absicht. Ja, dies Werk Ruskins ist größer, wie denn die literarische Kunst überhaupt die größte ist. Wer fragt, ob Mr. Pater in das Bildnis der Mona Lisa Dinge hineingelegt hat, an die Lionardo auch nicht im Traum dachte? Der Maler ist vielleicht wirklich nur der Sklave eines archaischen Lächelns gewesen, wie manche meinen. So oft ich aber die kühlen Galerien des Louvre durchschreite und vor jener seltsamen Gestalt stehe, »die in ihrem Marmorstuhle lehnt, umgeben von einem Halbrund phantastischer Felsen, wie in mattem Licht der Meerestiefe«, flüstere ich mir selber zu: »Sie ist älter als jene Felsen, in deren Mitte sie ruht; dem Vampir gleich ist sie schon lange gestorben, sie hat die Geheimnisse der Gruft erfahren. Sie ist in tiefe Meere hinabgetaucht und bewahrt um sich deren ermattetes Licht; sie hat um seltsame Gewebe mit Kaufleuten des Orients gefeilscht; sie ist Leda, die Mutter der trojanischen Helena, und die heilige Anna, Marias Mutter, gewesen. Und all dies war für sie nicht mehr als Lauten- und Flötenklang; es prägt sich nur in den zart gegrabenen Linien des wechselnden Mienenspiels aus; es hat ihr bloß Lider und Hände gestreift.« Und ich sage zu meinen Freunden: »Jenes Wesen, das so seltsam neben den Wassern emporstieg, drückt aus, was die Menschen nach einer Wanderung durch Jahrtausende endlich herbeisehnen.« Und einer antwortet: »Ihr ist das Haupt eigen, worauf jedes Ende der Welt fiel, darum sind ihre Lider ein wenig müde.« So wird das Gemälde für uns wunderreicher, als es in Wirklichkeit ist. Es entschleiert uns ein Geheimnis, das ihm selbst fremd geblieben; der Klang der geheimnisvollen Prosa tönt in unser Ohr so süß, wie der Laut des Flötenspielers, der den Lippen der Gioconda jene feinen, verderblichen Furchen lieh. Du fragst, was Lionardo geantwortet haben würde, wenn ihm jemand von diesem Bilde erzählt hätte: »Alle Gedanken und Erfahrungen der Welt haben an diesem Werk mit ihrer ganzen Kraft gebildet und geformt, um seinen Ausdruck zu verfeinern, noch mehr zu beseelen: griechischer Sensualismus, römische Lüsternheit, der Traum des Mittelalters mit seinem übersinnlichen Streben und seinen verzückten Leidenschaften, die Wiederkehr der heidnischen Welt, die Verbrechen der Borgias?« Er hätte vermutlich geantwortet, er habe derlei gar nicht im Sinn gehabt: sondern nur an eine gewisse Anordnung der Linien und Massen gedacht, an neue und seltsame Farbenzusammenklänge von Blau und Grün. Und eben deshalb stellt eine solche Kritik, von der ich sprach, die höchste Form der Kritik dar. Sie nimmt das Kunstwerk nur zum Ausgangspunkt für eine neue Schöpfung. Sie gibt sich keineswegs endgültig zufrieden – nehmen wir das wenigstens für einen Augenblick an –, die wirkliche Absicht des Künstlers zu erforschen. Und darin hat sie völlig recht. Denn der Sinn einer schönen Schöpfung liegt zumindest so sehr bei dem Betrachter, wie in der Seele dessen, der sie schuf. Ja, durch den Betrachter selbst findet erst das Werk die ungezählten Möglichkeiten seiner Deutung. Erst durch den Betrachter wird das Werk wundervoll und gewinnt ungeahnte Zusammenhänge mit der Zeit, so daß es ein Stück unsers Selbsts wird, ein Sinnbild dessen, was wir erfleht haben, oder dessen, wovon wir fürchten, daß es unserem Flehen gewährt werde. Je länger ich sinne, mein lieber Ernst, um so deutlicher wird es mir: die Schönheit der sichtbaren Künste beruht wie die Schönheit der Musik in erster Linie auf dem Empfinden, das sie in uns erweckt. Sie wird durch das Überwiegen geistiger Absichten des Künstlers leicht getrübt. Denn das Werk führt, wenn es einmal vollendet dasteht, ein unabhängiges Leben für sich selbst; es kann anderen eine Botschaft künden, die der Künstler ihm nicht auf die Lippen gelegt hat. Manchmal ist es mir wirklich, wenn ich der Tannhäuser-Ouvertüre lausche, als sähe ich den edlen Ritter, wie er zart das blumenübersäte Gras betritt, als vernähme ich die Stimme der Venus, die aus der Bergeshöhle nach ihm ruft. Ein anderes Mal spricht mir diese Musik von tausend anderen Dingen: von mir selbst und meinem eigenen Leben vielleicht, oder von dem Dasein der anderen, jener anderen, die man liebte und die zu lieben man überdrüssig ward. Oder von den Leidenschaften, die man durchlebte, oder von jenen, die man nicht durchlebte und darum ersehnt hat. Zur Nacht erfüllt uns diese Musik vielleicht mit dem ΕΡΩΣ ΤΩΝ ΑΔΥΝΑΤΩΝ, diesem » Amour de l'Impossible,« der wie ein Wahn viele überfällt, die außerhalb des Bereichs des Leidens in Sicherheit zu leben vermeinen, bis sie plötzlich am Gift unendlicher Sehnsucht erkranken. Im unermüdlichen Einherjagen hinter dem, was sie nie erreichen werden, ermatten sie endlich, sinken hin oder straucheln. Und morgen werden uns diese Töne gleich der Musik, von der uns Aristoteles und Plato berichten, der edlen dorischen Musik der Griechen, lindernd wie ein Arzt berühren. Sie werden uns ein Heilmittel wider den Kummer reichen und die verletzte Seele heilen, sie werden »die Seele in Einklang mit allen rechten Dingen wiegen«. Und was für die Musik gilt, gilt für die anderen Künste nicht minder. Die Schönheit bietet Deutungen, so zahlreich wie die Stimmungen des Menschen. Die Schönheit ist das Sinnbild der Sinnbilder. Die Schönheit enthüllt uns alles, da sie nichts besagen will. Zeigt sie uns ihr eigenes Antlitz, dann hat sie uns die ganze feuerfarbene Welt geoffenbart.

Ernst: Darf man aber ein derartiges Werk überhaupt noch kritisch nennen?

Gilbert: Es ist der Gipfel der Kritik; denn es handelt nicht bloß vom einzelnen Kunstwerk, sondern von der Schönheit selbst. Es füllt eine Form, die der Künstler selbst vielleicht leer ließ, die er nicht erfaßte, oder nicht völlig erfaßte, mit Wundern.

Ernst: Diese höchste Kritik ist also schöpferischer als das Schaffen selbst? Die erste Aufgabe der Kritik wäre demnach, wenn ich deine Theorie recht verstehe, das Objekt anders zu sehen, als es in Wirklichkeit ist?

Gilbert: Jawohl, das ist meine Theorie. Den Kritiker soll das Kunstwerk bloß zu einem neuen, eigenen Werke anregen, das keineswegs notwendigerweise offenkundige Ähnlichkeit mit dem kritisierten Werke zeigen muß. Dies eben ist das Kennzeichen der herrlichen Form: man kann, was immer man will, in sie legen und darin erblicken, was man zu erblicken wünscht; die Schönheit, die dem geschaffenen Werke den allgemein gültigen ästhetischen Wert verleiht, macht aus dem Kritiker selbst einen schöpferischen Geist. Sie flüstert ihm tausend Dinge zu, die nicht in der Seele dessen lebendig waren, der die Statue gebildet oder das Bild gemalt oder den Edelstein geschnitten hat. Oft hört man von solchen, die weder das Wesen höchster Kritik, noch den Reiz höchster Kunst erfassen, die Meinung, der Kritiker schreibe am liebsten über solche Gemälde, die das Anekdotengebiet der Malerei behandeln, und Szenen aus der Literatur- oder Weltgeschichte darstellen. Dem ist keineswegs so. Gemälde dieser Art wirken fürwahr viel zu sehr auf den Verstand. Im ganzen genommen, stehen sie auf der Stufe von Illustrationen und sind, selbst von diesem Standpunkt, ein Mißgriff. Sie entfachen keineswegs die Phantasie, sondern setzen ihr Schranken. Das Reich des Malers ist ja, wie ich früher ausgeführt habe, von dem des Dichters durchaus verschieden. Diesem gehört das ganze Leben in seiner Fülle und Ganzheit; nicht nur die Schönheit, die man erblickt, sondern auch jene, die man erlauscht, nicht bloß die vorüberflatternde Anmut der Form oder der erbleichende Glanz der Farbe, vielmehr das ganze Reich des Empfindens, der ganze Umkreis des Denkens. Der Maler findet seine Begrenzung darin, daß er uns das Geheimnis der Seele bloß in der Maske des Leibes zu zeigen vermag. Ideen kann er nur durch herkömmliche Zeichen versinnbildlichen; nur durch den körperlichen Ausdruck vermag er, sich dem Psychologischen zu nähern. Und wie unvollkommen wird dann eine solche Darstellung! In dem zerrissenen Turban des Mohren sollen wir den edlen Zorn Othellos, in einem alten, im Sturm irrenden Narren den wilden Wahnsinn Lears erblicken! Und doch vermag man es nicht, diesen Leuten, so scheint es, Einhalt zu gebieten. Die meisten unserer älteren englischen Maler vergeuden ihr traurig verlorenes Leben damit, daß sie ins Land der Dichtung einbrechen. Sie verderben sich ihre Stoffe dadurch, daß sie sie plump behandeln, daß sie sich mühen, die Wunder des Unsichtbaren, den Glanz des niemals Geschauten durch sichtbare Form und Farbe wiederzugeben. Ihre Gemälde sind darum natürlich unerträglich langweilig. Sie haben die sichtbaren Künste zu gemeinverständlichen Künsten herabgewürdigt, und wenn etwas überhaupt nicht verdient, beachtet zu werden, so ist es das Gemeinverständliche. Ich behaupte keineswegs, daß Dichter und Maler nicht den nämlichen Gegenstand behandeln dürfen. Sie haben es stets getan und werden davon nicht lassen. Doch mag der Dichter nach seinem Gutdünken malerisch sein oder nicht, – der Maler muß Maler bleiben. Er muß sich beschränken, und zwar nicht auf das, was er in der Natur wahrnimmt, sondern auf das, was auf der Leinwand wahrgenommen werden kann. Darum, mein lieber Ernst, werden Gemälde solcher Art den Kritiker niemals wirklich fesseln. Er wird den Blick von diesen weg zu Kunstwerken wenden, die ihn sinnen und träumen und dichten machen, zu solchen Werken, die ihn geheimnisvoll anregen, die ihm zu sagen scheinen: Es gibt auch von uns ein Entrinnen in eine weitere Welt hinaus. Man hat oft behauptet, die Tragödie des Künstlerlebens bestehe darin, daß der Künstler sein Ideal nicht zu verwirklichen vermöge. Doch liegt die wahre Tragödie, die den Schritten der meisten Künstler folgt, darin, daß sie ihr Ideal allzusehr verwirklichen. Ist es einmal verwirklicht, dann ist es seiner Wunder, seines geheimnisvollen Duftes beraubt; es wird wieder zum Ausgangspunkt für ein neues, von dem früheren verschiedenes Ideal. Darum ist die Musik der vollkommenste Typus der Kunst. Die Musik vermag nie, ihre letzten Geheimnisse zu entschleiern. So erklärt sich zugleich der Wert der Beschränkung in der Kunst. Der Bildhauer leistet gern auf die nachahmende Kraft der Farbe, der Maler auf die wirklichen Maße Verzicht. Durch solchen Verzicht können beide die allzu deutliche Wiedergabe der Wirklichkeit und damit die bloße Nachahmung und die allzu deutliche, nur verstandesgemäße Darstellung des Gedankens vermeiden. Eben durch ihre Unvollkommenheit erreicht die Kunst die vollendete Schönheit. Nur so wendet sie sich nicht an die Fähigkeit des Wiedererkennens oder der Vernunft, sondern allein an den ästhetischen Sinn. Dieser betrachtet Vernunft und Erkennen als Etappen der Wahrnehmung, ordnet jedoch beide dem reinen, synthetischen Eindruck des Kunstwerks als eines Ganzen unter. Mag auch das Werk noch andere Erregungselemente in sich schließen, es bedient sich ihrer Vielfältigkeit nur, dem letzten Eindruck reichere Einheit zu gewähren. Du begreifst also die Gründe, aus denen der geschmackvolle Kritiker jene allzu deutlichen Arten der Kunst ablehnt, die bloß eine Botschaft zu bringen haben und sodann nichtssagend und unfruchtbar werden. Du begreifst, warum er sich lieber solchen Formen zuwendet, die Traum und Stimmung erwecken und durch ihre unwirkliche Schönheit alle Deutungen wahr und keine Deutung als die letzte erscheinen lassen. Einige Ähnlichkeit mag das schöpferische Werk des Kritikers allerdings mit dem Werk verbinden, das ihn zu seiner Schöpfung angeregt hat. Doch ist es jene Ähnlichkeit, die besteht – nicht zwischen der Natur und dem Spiegel, den der Landschafts- oder Figurenmaler ihr angeblich vorhält, sondern zwischen der Natur und dem Gemälde des dekorativen Künstlers. Wie auf den blumenlosen persischen Teppichen Tulpe und Rose wirklich blühn – ein lieblicher Anblick –, obwohl sie darauf nicht in sichtbarer Gestalt und Linie wiedergeformt sind; wie Perlen- und Purpurfarben der Seemuschel in der Markuskirche in Venedig widertönen, wie die gewölbte Decke der wundervollen Kapelle zu Ravenna herrlich vom Gold und Grün und Saphir der Pfauenschweife schimmert, wenn auch die Vögel der Juno nicht durch den Raum fliegen: so reproduziert der Kritiker das Werk, das er beurteilt, nicht durch bloßes Nachbilden – ein großer Teil des Reizes der Kritik liegt eben darin, daß er dies verschmäht. Auf diese Weise enthüllt uns der Kritiker nicht nur den Sinn, sondern auch das Geheimnis der Schönheit. Er gießt jede Kunst in die literarische Form um und löst so das Problem der Kunsteinheit. Ich merke jedoch: es ist Zeit zum Abendessen. Jetzt wollen wir uns ein wenig mit dem Chambertin und den Ortolanen unterhalten. Dann gehen wir dazu über, die Kritiker als Interpreten zu betrachten.

Ernst: Ah! Du gibst also zu, daß man dem Kritiker zuweilen gestatten darf, ein Ding so zu sehen, wie es in Wirklichkeit ist!

Gilbert: Ich weiß es nicht ganz bestimmt. Vielleicht gebe ich das nach Tisch zu. Das Abendessen übt eine feine Wirkung aus.


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