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Der Kritiker als Künstler

Ein Dialog

II. Teil

Nebst einigen Bemerkungen über die Notwendigkeit, alles zu erörtern

Dieselben Personen

Dieselbe Szene

Ernst: Die Ortolanen waren wundervoll, am Chambertin ist nichts auszusetzen. Und nun, kehren wir zu unserem Ausgangspunkt zurück.

Gilbert: Ach! genug davon! Das Gespräch sollte an alles rühren, doch sich in nichts vertiefen. Plaudern wir über »moralische Entrüstung, ihre Ursache und Heilung«, ein Thema, worüber ich zu schreiben gedenke. Plaudern wir über das »Fortleben des Thersites« – nämlich in den englischen Witzblättern. Plaudern wir über irgend etwas, was uns in den Weg läuft.

Ernst: Nein! Ich möchte über den Kritiker und die Kritik diskutieren. Du sagtest mir, die höchste Kritik beschäftigte sich mit der Kunst, nicht soweit sie etwas ausdrücke, sondern sofern sie Eindrücke hervorrufe. Die Kritik sei demnach zugleich schöpferisch und unabhängig, selbst eine Kunst, und stehe dem schöpferischen Werk so gegenüber, wie dieses nur zur sichtbaren Welt der Form und Farbe, oder zur unsichtbaren Welt der Leidenschaft und des Denkens steht. Nun, sage mir: ist der Kritiker nicht manchmal ein wirklicher Ausleger?

Gilbert: Ja, der Kritiker ist auch, wenn sein Wunsch dahin geht, ein Ausleger. Er kann von seiner Gesamtauffassung eines Kunstwerks zur Analyse oder Erklärung des Werkes selbst übergehen. In dieser niedrigen Sphäre – ich halte sie für niedriger – kann viel Schönes gesagt und getan werden. Doch wird die Deutung des Kunstwerks keineswegs immer seine Aufgabe bilden. Vielleicht wird er sich vielmehr bemühen, das Geheimnis des Werkes zu vertiefen, um das Werk und seinen Schöpfer den Schleier des Wunders zu bereiten, der den Göttern und den Anbetenden gleich teuer ist. Gewöhnlich fühlen sich die Leute »in Zion schrecklich behaglich«. Sie nehmen sich vor, mit den Dichtern Arm in Arm zu wandeln. Sie haben eine glatte, aus der Unwissenheit entspringende Art zu fragen: »Warum sollten wir lesen, was über Shakespeare und Milton geschrieben ist? Wir können ja die Schauspiele und Dichtungen selbst lesen. Das genügt.« Aber das Verständnis Miltons bildet, wie einmal der selige Rektor von Lincoln bemerkte, nur den Lohn für ein höchst intensives Studium. Wer Shakespeare wirklich verstehen will, muß die Zusammenhänge begreifen, in denen Shakespeare mit der Renaissance und der Reformation, mit dem Zeitalter Elisabeths und dem Zeitalter Jakobs stand. Er muß vertraut sein mit der Geschichte des Kampfes um die Herrschaft zwischen der alten klassischen Form und dem neuen Geist der Romantik, des Kampfes zwischen den Schulen Sidneys, Daniels und Jonsons und der Schule Marlows und Marlows größeren Sohnes. Er muß wissen, welche Stoffe Shakespeare zur Verfügung standen, er muß die Art und Weise kennen, wie Shakespeare sie benützte. Er muß die Voraussetzungen theatralischer Darstellung im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert, deren Beschränkungen und Freiheitsmöglichkeiten beherrschen, desgleichen die literarische Kritik in den Tagen Shakespeares, ihre Ziele, ihre Methode, ihre Grundsätze. Er muß die englische Sprache in ihrem Wachstum, den Blankvers und den gereimten Vers in seinen verschiedenen Entwicklungsstufen studieren. Er muß das griechische Drama und den Zusammenhang zwischen der Kunst des Schöpfers Agamemnons und Macbeths durchforschen. Mit einem Wort, er muß imstande sein, das London der Elisabeth mit dem Perikleischen Athen zu verknüpfen, er muß Shakespeares wahre Stellung in der Geschichte des europäischen Dramas, ja der Weltliteratur kennen. Der Kritiker wird ohne Zweifel Ausleger und Ausdeuter sein, doch wird er die Kunst nicht als Rätselsphinx betrachten, deren dumpfes Geheimnis ein Wanderer erraten und enthüllen kann, dessen Füße verwundet sind und der seinen eigenen Namen nicht kennt. Er wird vielmehr die Kunst als eine Göttin ansehen, deren Geheimnis zu vertiefen, sein Amt, deren Majestät in den Augen der Menschen noch wunderreicher erscheinen zu lassen, sein Vorrecht ist.

Und hier, Ernst, ereignet sich etwas Seltsames. Der Kritiker wird in der Tat ein Erklärer sein, aber keineswegs in dem Sinn, daß er nur in anderer Form eine Botschaft verkündet, die auf seine Lippen gelegt ward. Denn wie nur durch die Berührung mit der Kunst fremder Nationen die Kunst eines Landes jenes persönliche und gesonderte Gepräge, das wir Nationalität nennen, gewinnt, so vermag in seltsamer Verkehrung der Kritiker nur durch Vertiefung seines eigenen Ichs die Persönlichkeit und das Werk anderer zu deuten. Und je tiefer seine Persönlichkeit in die Auslegung eingeht, desto wirklicher wirkt sie, desto befriedigender, überzeugender und wahrer.

Ernst: Ich wäre der Meinung gewesen, die Persönlichkeit sei ein störendes Element.

Gilbert: Keineswegs. Sie ist ein notwendiges Element der Enthüllung. Wer andere zu verstehen begehrt, muß das eigene Ich vertiefen.

Ernst: Was ist demnach das Ergebnis?

Gilbert: Ich will es dir sagen; vielleicht wird, was ich meine, durch ein bestimmtes Beispiel am deutlichsten. Ich meine, daß der literarische Kritiker allerdings den obersten Rang einnimmt, da er über den weiteren Kreis, den umfassenderen Blick, den vornehmeren Stoff gebietet. Doch hat jede Kunst gewissermaßen ihre vorbestimmten Kritiker. Der Schauspieler ist der Kritiker des Dramas. Er zeigt uns das Werk des Dichters unter neuen Voraussetzungen und durch die ihm eigentümliche Methode. Das ist das geschriebene Wort; durch Bewegung, Gesten, Tonfall der Stimme enthüllt er uns seinen Sinn. Der Sänger, der Flöten- und Lautenspieler sind die Kritiker der Musik. Der Radierer nimmt dem Gemälde die glühenderen Farben; doch zeigt er uns eben durch das Anwenden eines neuen Materials die wahren Farbeneigentümlichkeiten des Werks, seine Tönungen und Vorzüge, die Beziehungen seiner Massen: so wird er auf diesem Weg zum kritischen Beurteiler des Werkes. Ein Kritiker ist ja nur, wer uns ein Kunstgebilde in einer von diesem Gebilde selbst verschiedenen Form klarlegt, und die Verwendung eines neuen Materials bildet so sehr ein kritisches wie ein schöpferisches Element. Auch die Bildhauerkunst hat ihre Kritiker. Entweder sind dies, wie in Griechenland, Edelsteinschneider, oder auch Maler, Mantegna zum Beispiel, der bestrebt war, die Herrlichkeit plastischer Linien und die symphonische Würde des feierlichen Zuges von Basrelieffiguren auf Leinwand zu übertragen. Aus all diesen Beispielen schöpferischer Kunstkritik erhellt das eine klar: die Persönlichkeit ist eine wesentliche Voraussetzung jeder wirklichen Kunsterklärung.

Wenn Rubinstein Beethovens » Sonata Appassionata« spielt, gibt er uns nicht bloß Beethoven, sondern sich selbst; und so gibt er uns Beethoven ganz – Beethoven, der uns durch eine reiche künstlerische Natur nahegebracht, der uns durch diese starke neue Persönlichkeit selbst wundervoll lebendig wird. Spielt ein großer Schauspieler Shakespeare, dann machen wir dieselbe Erfahrung: seine eigene Individualität wird zu einem lebendigen Teil der Auslegung. Man hört zuweilen, Schauspieler gäben uns ihren Hamlet, nicht den Hamlet Shakespeares. Diese schiefe Bemerkung – denn das ist sie, – wird leider selbst von jenem entzückenden und anmutigen Schriftsteller wiederholt, der sich jüngst aus der erregten Sphäre der Literatur in den Frieden des »Hauses der Gemeinen« geflüchtet hat, ich meine den Autor von » Obiter Dicta«. Fürwahr, ein Wesen wie Shakespeares Hamlet gibt es überhaupt nicht. Wenn »Hamlet« etwas von der Bestimmtheit eines Kunstwerkes an sich hat, so ist ihm auch die ganze Dunkelheit, die dem Leben anhaftet, zu eigen. In jedem Melancholiker lebt ein Hamlet.

Ernst: Also so viele Hamlets als es Melancholiker gibt?

Gilbert: Jawohl; und wie die Kunst der Persönlichkeit entspringt, so kann sie sich nur auch der Persönlichkeit enthüllen. Wenn diese beiden Voraussetzungen zusammentreffen, entsteht die wahre, auslegende Kritik.

Ernst: Der Kritiker, als Erklärer betrachtet, gibt uns demnach nicht weniger, als er empfängt? Er leiht so viel, wie er borgt?

Gilbert: Er wird uns stets das Kunstwerk in irgendwelchem neuen Zusammenhang mit unserem Zeitalter zeigen. Er wird uns stets daran erinnern, daß große Kunstwerke lebendige Wesen sind, – daß sie in der Tat die einzigen Wesen sind, die leben. Er wird sich dessen völlig bewußt sein, ja ich bin überzeugt, daß mit dem Fortschreiten der Kultur, mit unserer höheren Entwicklung die erlesenen Geister jeder Zeit, die kritischen gebildeten Geister, gewiß immer weniger Anteil am wirklichen Leben nehmen werden. Ihr Bestreben wird sein, ihre Eindrücke nur aus dem, was die Kunst berührt hat, zu schöpfen. Denn das Leben hat schrecklich wenig Formgefühl. Mit seinen Katastrophen sucht es auf ungeschickte Art die Schuldlosen heim. Um die Komödien des Lebens spielt ein gewisser grotesker Humor; seine Tragödien gipfeln in possenhafter Wirkung. Man wird immer verwundet, wenn man ihm nahe kommt. Die Dinge währen immer zu lange oder nicht lange genug.

Ernst: O armes Leben! Armes Menschenleben! Wirst du nicht einmal von seinen Tränen gerührt? Ein römischer Dichter sagt uns, sie bilden einen Teil seines Wesens.

Gilbert: Sie rühren mich nur allzu sehr, fürcht' ich. Denn, blickt man auf sein Leben zurück, wie es einmal in seiner ganzen Empfindungsfülle so lebendig war, von solch glühenden Augenblicken der Entzückung oder des Jubels erfüllt, dann scheint es Traum und Täuschung. Was sind die unwirklichen Dinge? Jene Leidenschaften sind es, die einmal wie Feuer in uns glühten! Was sind die unglaublichen Dinge? Jene, die wir einst so aufrichtig glaubten. Was ist das Unwahrscheinliche? Was man selbst getan hat. Nein, Ernst, das Leben narrt uns mit Schatten wie der Leiter einer Marionettenbühne. Wir erflehen vom Leben Freude. Die wird uns zuteil, aber in ihrem Gefolge sind Verbitterung und Enttäuschung. Ein edler Kummer kreuzt unsern Pfad – von ihm erwarten wir Purpurwürde der Tragödie unseres Daseins. Allein auch dieser Kummer gleitet an uns vorbei. Nichtiges tritt an seine Stelle, und in einer grauen, stürmischen Dämmerstunde oder an einem Abend voll Duft und silbernem Schweigen entdecken wir mit Schrecken an uns selbst, daß wir stumpfen Sinns das Wunderbare betrachten, daß wir ohne Empfindung das goldschimmernde Lockenhaar betrachten, das wir einmal so wild liebten, so toll küßten.

Ernst: Das Leben ist also verfehlt?

Gilbert: Vom künstlerischen Standpunkt betrachtet, gewiß. Und eben das, was das Leben vom künstlerischen Gesichtspunkt hauptsächlich als etwas Verunglücktes erscheinen läßt, ist das nämliche, was dem Leben seine gemeine Sicherheit gewährt: die Tatsache, daß man die nämliche Empfindung niemals genau zu wiederholen vermag. Wie verschieden ist das alles in der Welt der Kunst! In einem Fach des Bücherregals hinter dir steht » Die göttliche Komödie«. Ich weiß: wenn ich dieses Buch bei einer gewissen Stelle aufschlage, dann werde ich mit grimmem Haß wider einen erfüllt, der mir nie Übles tat, ich werde von heftiger Liebe für einen erfaßt, den ich nie erblicken soll. Es gibt keine Stimmung, keine Leidenschaft, die die Kunst uns nicht einflößen könnte. Wer ihr Geheimnis ergründet hat, vermag vorher zu sagen, welcher Art unsre Erfahrungen sein werden. Wir können unseren Tag, wir können unsre Stunde wählen. Wir können zu uns selbst sagen: »Morgen zur Dämmerzeit werden wir mit dem feierlichen Virgil durchs Tal der Todesschatten schreiten.« Und sieh da! Die Dämmerung findet uns in dem dunklen Wald, der Mantuaner steht an unserer Seite. Wir wandern durch das Tor mit der Inschrift, die jede Hoffnung tötet; wir erblicken mitleidig oder freudig die Schrecken einer anderen Welt. Die Heuchler ziehen vorüber mit ihren bemalten Gesichtern und ihren Kappen aus vergoldetem Blei. Aus den unaufhörlich wehenden Stürmen, die ihn vor sich her treiben, blickt uns der Lüstling entgegen. Wir sehen den Ketzer sein Fleisch zerreißen, den Vielfraß vom Regen gepeitscht. Wir brechen die dürren Zweige vom Baum im Haine der Harpyen, und jeder dunkel gefärbte, vergiftete Ast tropft im bitteren Jammer vor unseren Augen rotes Blut und schreit jammervoll. Aus feurigem Horn redet Odysseus zu uns. Der große Ghibelline erhebt sich aus seiner Flammengruft, und wir empfinden für einen Augenblick selbst den Stolz, der über die Martern dieses Grabes triumphiert. Durch die düstre, purpurne Luft fliegen die, die die Welt durch die Schönheit ihrer Sünden geschändet haben. In der Grube der ekeln Krankheit, den Leib von Wassersucht geschwellt, einem ungeheuerlichen Klumpen ähnlich, liegt Adamo di Brescia, der Falschmünzer. Er fleht uns an, die Geschichte seines Elends zu vernehmen. Wir hemmen unsern Schritt, und mit trocknen, weit geöffneten Lippen erzählt er uns, wie er Tag und Nacht von jenen klaren Wassern träumt, die durch kühle, tauige Rinnen die grünen Hügel von Casento hinabströmen. Sinon, der falsche Grieche von Troja, verspottet ihn. Er schlägt ihn ins Antlitz, und sie ringen. Wir stehen säumend, wie gebannt durch ihre Schmach. Da schilt Virgil und geleitet uns zu der von Riesen umtürmten Stadt, wo der gewaltige Nimrod in sein Horn stößt. Hier erwarten uns wieder neue Schrecklichkeiten. Im Gewande Dantes und mit dem Herzen Dantes eilen wir ihnen entgegen. Wir schreiten über die Sümpfe des Styx, und Argenti schwimmt durch die Schlammwogen ans Boot heran. Er ruft uns, wir werfen ihn zurück. Wir vernehmen seine tiefe Verzweiflung und atmen froh, und Virgil lobt uns um unseres Hohnes Härte. Wir beschreiten die kalte Kristallflut des Cocytus, worin die Verräter gleich Halmen im Glase stecken. Unser Fuß stößt wider den Kopf des Bocco. Er will uns seinen Namen nicht nennen. Wir reißen sein Haar mit vollen Händen aus dem schreienden Schädel. Alberigo bittet uns, das Eis, das auf seinem Antlitz lastet, zu zerbrechen, daß er ein wenig weine. Wir versprechen es ihm, er kündet uns seine schmerzliche Geschichte, doch wir halten unser Versprechen nicht und schreiten weiter; solche Grausamkeit ist unsere Pflicht. Denn was ist gemeiner als Mitleid mit den Verdammten Gottes? Im Rachen Luzifers erblicken wir den Mann, der Christus verraten hat, und im Rachen Luzifers den, der Cäsar erschlug. Wir zittern und eilen fort, wieder die Sterne zu schauen.

Im Fegefeuer ist die Luft freier, und der heilige Berg steigt ins reine Licht des Tages. Da winkt uns Frieden; auch all denen, die hier eine Zeitlang hausen, ist ein wenig Freude gewährt. Doch gleitet, bleich vom Gift der Maremma, Madonna Pia an uns vorüber und Ismene; auf ihrem Antlitz brütet noch der Kummer der Erde. Seele nach Seele läßt uns ihre Reue oder ihre Freude mitempfinden. Er, den die Trauer seiner Witwe den süßen Wermut des Leids trinken lehrte, erzählt uns von Nella, die auf einsamem Lager betet. Aus dem Munde des Buonconte erfahren wir, wie eine einzelne Träne einen sterbenden Sünder aus der Gewalt des Teufels erretten kann, Sordello, der vornehme und hochmütige Lombarde, betrachtet uns von weitem mit dem Blick eines ruhenden Löwen. Kaum erfährt er, Virgil sei ein Bürger Mantuas, so fällt er auf den Rücken. Ihm wird Kunde, er sei der Sänger Roms: da sinkt er ihm zu Füßen. In jenem Tal, dessen Gras, dessen Blumen schimmernder sind als geschliffener Smaragd und indisches Holz, strahlender als Scharlach und Silber, singen, die einst auf Erden Könige waren. Allein Rudolf von Habsburgs Lippen schwellen sich nicht zu dem Gesange der andern, Philipp von Frankreich schlägt sich an die Brust, und Heinrich von England sitzt in Einsamkeit. Wir gehen weiter und weiter. Wir erklimmen die wundervolle Stiege, die Sterne werden größer als zuvor, der Gesang der Könige verhallt, und zuletzt gelangen wir zu den sieben goldenen Bäumen und zum Garten des irdischen Paradieses. In einem greifengezogenen Wagen erscheint die eine, um deren Stirn Olivenlaub geschlungen ist, gehüllt in einen weißen Schleier, von einem grünen Mantel bedeckt, in einem Gewande, strahlend in Farben wie lebendiges Feuer. In uns erwacht die alte Flamme. Unser Blut jagt schrecklich durch die Pulse. Wir erkennen sie: Beatrice, die Frau, die wir ehrfürchtig verehrten. Da schmilzt unser eiserstarrtes Herz. Wilde Tränen der Angst brechen aus unsern Augen, wir neigen die Stirn zur Erde, denn wir wissen, wir haben gesündigt. Wir tun Buße, wir werden gereinigt, wir trinken aus Lethes Quell und baden im Quell der Eunoë; sodann hebt uns die Gebieterin unserer Seele zu des Himmels Paradies empor. Aus der ewigen Perle, dem Mond, neigt sich das Antlitz Piccarda Donatis zu uns herab. Ihre Schönheit verwirrt uns einen Augenblick. Da sie gleich einem Stein, der durch Wasser hinabgleitet, entschwebt, schauen wir sehnsüchtigen Blickes ihr nach. Das süße Gestirn der Venus ist voll von Liebenden. Cunizza, Ezzelins Schwester, Sordellos Herzensbeherrscherin ist da, und Folco, der leidenschaftliche Sänger der Provence, der aus Kummer um Azalais die Welt verließ, und die Kanaanitische Dirne, deren Seele die erste war, die Christus befreite. Joachim von Flora steht in der Sonne, und in der Sonne erzählt Thomas von Aquino die Geschichte des heiligen Franziskus, Bonaventura die Geschichte des heiligen Dominikus. Durch die Glutrubinen des Mars nähert sich Cacciaguida. Er berichtet von dem Pfeile, der vom Bogen der Verbannung geschnellt ward. Er erzählt uns, wie salzig-bitter das Brot, gereicht von andern, schmeckt, wie steil die Stufen im Hause eines Fremden sind. Auf dem Saturn singen die Seelen nicht; selbst sie, die uns führt, wagt nicht zu lächeln. Auf goldner Leiter steigen die Flammen empor und sinken. Endlich erblicken wir die prunkend mystische Rose. Beatrice richtet ihren Blick auf Gottes Antlitz und bleibt darin versunken. Die selige Erscheinung wird uns zuteil. Wir erkennen jetzt die Liebe, die Sonne und Sterne bewegt.

Ja, wir können die Erde um sechshundert Umläufe zurückschieben, mit dem großen Florentiner eins zu werden, mit ihm am nämlichen Altar zu knien, seine Verzückung und seinen Hohn zu teilen. Sind wir der vergangenen Tage überdrüssig geworden, begehren wir, die eigene Zeit mit all ihren Müdigkeiten und Sünden vor uns erstehen zu lassen – gibt es da nicht Bücher genug, die uns in einer einzigen Stunde das Leben stärker empfinden lassen, als das Leben selbst es in vielen schmachvollen Jahren vermag? Dir zur Hand liegt ein kleines Buch, gebunden in nilgrünes, mit vergoldeten Wasserlinien verziertes Leder, geglättet mit hartem Elfenbein. Es ist jenes Buch, das Gautier so geliebt hat: Baudelaires Meisterwerk. Schlag es auf, dort, wo jenes Madrigal steht, das mit den Worten beginnt:

» Que m'importe que tu sois sage?
Sois belle! et sois triste!
«

und du wirst merken, wie du den Kummer nunmehr andächtig verehrst, so wie du nie die Freude verehrtest. Nimm dann jenes Gedicht vor, das von dem Mann handelt, der sich selbst martert. Laß seine zarte Musik sich dir ins Herz stehlen und dein Denken färben, dann wirst du für einen Augenblick der sein, der dieses Lied geschrieben. Nein, viele dürre Mondnächte, viele sonnenlos-unfruchtbare Tage lang wird, nicht bloß für einen Augenblick, eine Verzweiflung, die nicht dir selbst gehört, in dir hausen, an deinem Herzen wird die Not eines andern nagen. Lies das ganze Buch, laß es deiner Seele eines seiner Geheimnisse offenbaren. Dann wird sie mehr zu erfahren begierig werden. Sie wird sich mit vergiftetem Honig nähren, sie wird versuchen, seltsame Verbrechen, woran sie schuldlos ist, zu bereuen. Sie wird für fruchtbare Verzückungen, die sie niemals gekannt hat, büßen. Und wenn du dieser Blumen des Bösen müde geworden, wende dich zu den Blüten im Garten der Perdita; in ihren taugebadeten Kelchen kühle deine glühende Stirn und laß deine Seele durch ihre Lieblichkeit heil und stark werden. Oder weck aus seiner vergessenen Gruft den süßen Syrer Meleager, und bitte den Liebhaber Heliodors, er möge vor dir seine Musik erschallen lassen. Auch in seinem Gesang blühen ja Blumen, rote Granatblüten, Iris, duftend nach Myrrhen, runder Asphodill, dunkelblaue Hyazinthen und Majoran und gefurchte Kamillen. Lieb war ihm der Wohlgeruch, der aus den Bohnenfeldern am Abend steigt, lieb der Duft der Ähren, die auf syrischen Hügeln wachsen, lieb der frische, grüne Thymian, des Weinbechers Zier. Wandelte seine Geliebte im Garten, dann war es, als glitten Lilien über Lilien hin. Sanfter als die schlafbeschwerten Blumenblätter des Mohns waren ihre Lippen, sanfter als Veilchen, und nicht minder duftend. Der flammenlichte Krokus schoß, sie zu betrachten, aus dem Grase hervor. Für sie sammelte die schmächtige Narzisse den kühlen Regen. Um ihretwillen vergaßen die Anemonen die sizilischen Winde, die sie umschmeicheln. Und weder Krokus noch Anemone noch Narzisse waren so herrlich wie sie.

Es ist etwas Seltsames um diese Empfindungsübertragung. Wir fühlen die Krankheit des Dichters, der Sänger beschert uns sein Leid. Tote Lippen künden uns ihre Botschaft, Herzen, die zu Staub zerfielen, teilen uns ihren Jubel mit. Wir eilen, den blutenden Mund der Fantina zu küssen, wir folgen Manon Lescaut über die ganze Welt. Unser ist die Liebesraserei des Tyrers, unser das Grauen des Orestes. Keine Leidenschaft, die wir nicht empfinden könnten, keine Freude, die uns nicht zu erfüllen vermöchte. Wir dürfen die Stunde der Weihe, die Stunde der Freiheit wählen. Leben! Leben! Wenden wir uns nicht an das Leben, um zu unserer Erfüllung, zu unserer Erfahrung zu gelangen. Es ist ein Ding, beschränkt durch Umstände, unzusammenhängend in fernen Äußerungen, ohne jene feine Beziehung von Form und Geist, die einzig und allein dem künstlerischen und kritischen Temperament zu genügen vermag. Wir müssen für ferne Siege einen viel zu hohen Preis bezahlen, wir erkaufen das geringste seiner Geheimnisse um einen abenteuerlich großen Betrag.

Ernst: Wir müssen also alles von der Kunst empfangen?

Gilbert: Alles. Denn die Kunst verletzt uns nicht. Die Tränen, die wir im Schauspiel vergießen, sind ein Beispiel jener köstlichen, zwecklosen Erregungen, die zu erwecken Aufgabe der Kunst ist. Wir weinen, doch wir fühlen uns nicht verwundet. Wir härmen uns, aber unser Harm ist nicht bitter. Im wirklichen Dasein des Menschen ist der Kummer, wie Spinoza irgendwo bemerkt, ein Tor, das zu einer geringeren Vollkommenheit führt. Allein der Kummer, mit dem die Kunst uns erfüllt, »reinigt und weiht uns zugleich« – den großen griechischen Kunstkritiker noch einmal zu zitieren. Durch die Kunst, und nur durch die Kunst erreichen wir unsre Vollendung; durch die Kunst, und nur durch die Kunst schirmen wir uns vor den schmutzigen Gefahren unseres gegenwärtigen Daseins. Das liegt nicht nur in der Tatsache begründet, daß nichts von alledem, was man ersinnt, der Ausführung wert ist, und daß man alles Erdenkliche zu ersinnen vermag, sondern in dem geheimnisvollen Gesetz, wonach die Empfindungskräfte nicht minder als die Kräfte der sinnlichen Sphäre in ihrem Umfang und ihrer Stärke begrenzt sind. Man kann bis zu einer gewissen Grenze empfinden, weiter nicht. Und was liegt daran, mit welchen Wonnen das Leben uns lockt, durch welche Pein es unsre Seele verstümmeln und vernichten will, was liegt daran, wenn man nur im Betrachten der Lebensläufe jener, die nie gelebt haben, das wahre Geheimnis der Freude fand, wenn man seine Tränen um den Tod derer vergoß, die gleich Cordelia und der Tochter Brabantios niemals sterben können?

Ernst: Halt hier einen Augenblick inne. Ich glaube, in alldem was du gesagt hast, ist etwas durchaus Unmoralisches enthalten.

Gilbert: Jede Kunst ist unmoralisch.

Ernst: Jede Kunst?

Gilbert: Jawohl. Denn Erregung um ihrer selbst willen, das ist das Ziel der Kunst, und Erregung als Antrieb zum Handeln ist das Ziel des Lebens, und jener praktischen Organisation des Lebens, die wir Gesellschaft nennen. Die Gesellschaft, die Wurzel und Grundlage aller Moral, hat nur den Zweck, die menschliche Kraft zu konzentrieren. Um ihre eigene Fortdauer, ihr gesundes Bestehenbleiben zu sichern, verlangt sie von jedem Bürger – sie verlangt es ohne Zweifel mit Recht –, daß er irgendwelche nutzbringende Arbeit zum Wohl der Gesamtheit verrichte, daß er sich schinde und plage, damit des Tages Werk geleistet werde. Die Gesellschaft findet oft für den Verbrecher Verzeihung, niemals für den Träumer. Die wundervollen, nutzlosen Erregungen, die die Kunst in uns wachruft, scheinen ihr hassenswert. So völlig beherrscht die Tyrannei dieses schrecklichen, gesellschaftlichen Ideals die Leute, daß sie einen in Privatzirkeln und an anderen allgemein zugänglichen Orten mit der lauten, im Stentortone vorgebrachten Frage: »Was treibst du?« überfallen. Doch ist die Frage: »Was denkst du?« die einzige, die ein zivilisiertes Wesen je einem andern zuflüstern dürfte. Sie meinen es ja gewiß sehr gut, diese ehrenfesten, strahlenden Leute. Das ist vielleicht der Grund, warum sie uns so furchtbar langweilen. Jemand sollte sie darüber aufklären, daß, solange die Betrachtung in den Augen der Leute als schweres Verbrechen gilt, sie in den Augen der Höchstkultivierten als die einzige menschenwürdige Beschäftigung gelten wird.

Ernst: Die Betrachtung?

Gilbert: Jawohl, die Betrachtung. Ich sagte eben: es ist weit schwerer, über etwas zu reden, als es zu tun. Gestatte mir nun die Bemerkung: Gar nichts zu tun, das ist die allerschwierigste Beschäftigung auf dieser Welt, die schwierigste und die, die am meisten Geist voraussetzt. Plato, der sich um die Weisheit leidenschaftlich bemühte, erkannte darin die vornehmste Lebensbetätigung. Aristoteles, der um Erkenntnis leidenschaftlich rang, war der nämlichen Anschauung. Zu der gleichen Erkenntnis gelangten der Heilige und der Mystiker des Mittelalters.

Ernst: Wir sind also auf der Welt, um nichts zu tun?

Gilbert: Nichts zu tun, leben die Auserwählten. Alles Tun ist begrenzt und unabhängig. Unbegrenzt und völlig frei ist bloß der Traum dessen, der ruht und lauscht, wie es ihm eben gefällt, der in der Einsamkeit wandelt und sinnt. Aber wir, geboren an der Neige dieses wundervollen Zeitalters, wir sind zugleich zu überbildet und zu kritisch, allzu geistig verfeinert, allzusehr auf erlesene Genüsse erpicht, um das Durchdenken des Lebens für das Leben selbst hinzunehmen. Uns ist die » città divina« ohne Farbe, die » fruitio Dei« sagt uns nichts. Die Metaphysik genügt unseren Stimmungen nicht mehr, und religiöse Verzückungen sind nicht mehr zeitgemäß. Die Welt, die den Universitätsphilosophen zu einem »Betrachter aller Zeiten und aller Wesen macht«, ist keineswegs eine wirklich ideelle, sondern einfach eine Welt der abstrakten Ideen. Treten wir in diese Welt, dann verschmachten wir inmitten der kühlen mathematischen Denkformeln. Die Höfe der Stadt Gottes sind jetzt nicht für uns geöffnet. Die Unwissenheit bewacht ihre Pforten. Um sie zu passieren, müssen wir alles Göttliche, das in unserer Natur liegt, ausliefern. Genug, daß unsere Väter gläubig waren. Sie haben die Glaubensfähigkeit der Rasse erschöpft. Sie haben uns jenen Skeptizismus, den sie so fürchteten, als Vermächtnis hinterlassen. Hätten sie ihn in Worte gefaßt, dann wäre er nicht in unser Denken gedrungen. Nein, Ernst, nein. Wir finden nicht mehr den Weg zum Heiligen. Vom Sünder kann man weit mehr lernen. Wir finden uns nicht zum Philosophen zurück, und der Mystiker führt uns irre. Wer würde, wie Mr. Pater irgendwo überzeugend ausführt, die Rundung eines einzelnen Rosenblatts für jenes gestaltlose nicht greifbare Sein, das Plato so hochstellt, dahingeben? Was bedeutet für uns die Erleuchtung Philos, Eckharts Abgrund, Böhmes visionäres Gesicht, der ungeheure Himmel selbst, der sich vor dem geblendeten Blick Swedenborgs auftat? Dies alles sagt uns weniger als der gelbe Kelch einer einzigen Narzisse des Feldes, weit weniger als die geringste der sichtbaren Künste; denn wie die Natur Materie ist, die sich zum Geist durchgerungen hat, so ist Kunst Geist, der im Gewand der Materie erscheint. Daher spricht, selbst in den niedrigsten ihrer Offenbarungen, die Kunst zu den Sinnen und zur Seele zugleich. Das Verschwommene stößt immer die ästhetische Empfindung ab. Die Griechen waren ein Volk von Künstlern, weil ihnen der Sinn fürs Grenzenlose fehlt. Wir ersehnen wie Aristoteles, wie Goethe, nachdem er Kant gelesen hatte, das Sinnfällige; nur das Sinnfällige vermag, uns zu genügen.

Ernst: Was schlägst du also vor?

Gilbert: Ich glaube, durch die Entwicklung des kritischen Geistes werden wir imstande sein, nicht nur unser geistiges Leben, sondern auch das gesamte Leben der Rasse zu erleben und auf diese Weise völlig modern zu werden, modern in der wahren Bedeutung dieses Wortes. Denn der, dem nur die Gegenwart gegenwärtig ist, weiß nichts von der Zeit, in der er lebt. Um das neunzehnte Jahrhundert zu durchleben, muß man alle Jahrhunderte, die ihm vorausgingen und zu seiner Gestaltung beitrugen, durchgelebt haben. Um das geringste von sich selbst zu wissen, muß man die anderen bis ins Innerste kennen. Es darf keine Stimmung geben, die man nicht mitzuempfinden, keine abgestorbene Lebensform, die man nicht lebendig zu machen vermag. Ist dies unmöglich? Ich glaube nicht. Das wissenschaftliche Prinzip der Vererbung hat uns darüber aufgeklärt, daß alles Handeln völlig mechanisch vor sich geht. Auf diese Weise hat es uns von der behindernden Last moralischer Verantwortlichkeit, die wir uns selbst auferlegt haben, befreit und uns gewissermaßen das Fortbestehen des kontemplativen Lebens verbürgt. Es hat uns bewiesen, daß wir nie weniger frei sind als in dem Augenblick, wo wir zu handeln versuchen. Es hat um uns das Netz des Jägers gestellt und unsers Schicksals Weissagung auf die Wände geschrieben. Da es in uns lebt, können wir es nicht erspähen. Wir können es nur in einem Spiegel erblicken, der die Seele widerspiegelt. Es ist die Nemesis ohne ihre Maske. Es ist unser letztes Schicksal und unser schrecklichstes. Es ist der einzige der Götter, dessen wirklichen Namen wir kennen.

Und dennoch, mag es auch in der Sphäre des tätigen und äußerlichen Lebens die Tatkraft ihrer Freiheit, das Handeln seines Willens beraubt haben: im Bannkreis der Persönlichkeit, dort, wo die Seele webt, kommt es zu uns, dieses schreckliche Gespenst, und hält manche Gaben in seinen Händen – die Gaben des seltsamen Wesens und der verfeinerten Empfänglichkeit, die Gaben wild-leidenschaftlicher Glut und kühler Gleichgültigkeit, die vielfältigen Gaben der einander widerstreitenden Gedanken, der einander bekriegenden Leidenschaften. So leben wir nicht unser eigenes Leben, sondern das Leben der Toten, und die Seele, die in uns wohnt, ist kein einzelnes geistiges Wesen, das uns das Gepräge des Individuellen gewährt, das, zu unserem Dienste geschaffen, zu unserer Freude in uns einkehrt. Sie ist ein Wesen, das an furchtbaren Stätten geweilt, das in alten Grüften gehaust hat. Sie krankt an vielen Gebrechen und bewahrt die Erinnerung seltsamer Sünden. Sie ist weiser als wir, und ihre Weisheit ist bitter. Sie erfüllt uns mit unerfüllbaren Wünschen; sie läßt uns Dingen nachjagen, von denen wir wissen, daß wir sie niemals erreichen können. Doch einen Nutzen mag sie uns, mein lieber Ernst, gewähren. Sie kann uns aus einer Umgebung führen, deren Schönheit durch den Nebel der Vertraulichkeit getrübt wird, deren unedle Häßlichkeit, deren gemeines Bestreben die Vollendung unserer Entwicklung stört. Sie kann uns helfen, aus der Zeit, in der wir geboren sind, zu flüchten, in andre Zeiten zu tauchen, in deren Sphäre wir uns zu Hause fühlen. Sie kann uns lehren, dem Reiche unserer Erfahrungen zu entfliehen und die Erfahrungen derer zu erleben, die größer sind als wir. Des Leopardi Leid, das wider das Leben laut aufstöhnte, wird unser eigenes Leid. Theokritus spielt auf seiner Flöte, und wir lachen mit den Lippen der Nymphen und Hirten. Im Wolfsfell des Pierre Vidal fliehn wir vor den Hunden, und in Lancelots Rüstung reiten wir von der Laube der Königin fort. Wir haben in der Kutte Abälards das Geheimnis unserer Liebe geflüstert und, bekleidet mit Villons beflecktem Gewand, preßten wir unsere Schmach in Lieder. Wir sehen mit den Augen Shelleys die Dämmerung. Wandern wir mit Endymion dahin, so schwillt der Mond in Liebe zu unserer Jugend. Wir empfinden die Qual des Atys, wir den schwächlichen Zorn und den edlen Kummer des Dänenprinzen. Meinst du, wir danken der Phantasie die Fähigkeit, so zahllos viele Leben zu leben? Allerdings: der Phantasie; und die Phantasie ist das Ergebnis der Vererbung. Sie ist nichts als verdichtete Rassenerfahrung.

Ernst: Wo liegt aber in alldem die Aufgabe des kritischen Geistes?

Gilbert: Die Kultur, die durch diese Übertragung der Rassenerfahrung ermöglicht wird, kann nur durch den kritischen Geist zur Vollkommenheit gelangen; sie fällt in der Tat, man darf es sagen, mit ihm in eins zusammen. Denn wer ist der richtige Kritiker, wenn nicht der, der in sich die Träume und Gedanken und Empfindungen von Myriaden Generationen hegt, er, dem keine Nuance des Denkens fremd, kein Empfindungsimpuls dunkel ist? Und wer ist wahrhaft gebildet, wenn nicht der, dem es durch verfeinerte Bildung und wählerische Ablehnung gelungen ist, seinen Instinkt so bewußt und scharfsinnig zu gestalten, daß er das erlesene Werk vom gemeinen zu unterscheiden vermag? Wer außer dem Manne, der durch inniges Sichversenken und Vergleichen zu den Geheimnissen des Stils und der Schulen durchgedrungen ist und ihre Ziele begreift und ihren Stimmen lauscht und den Geist jener uneigennützigen Neugier zur Entfaltung bringt, der die wahre Wurzel und die wahre Blüte des geistigen Lebens bildet? Wer sonst hat so geistige Klarheit gewonnen und lebt – man darf es ohne Phantasterei behaupten – mit den Unsterblichen, da er das »Beste, was die Welt weiß und was sie gedacht hat«, in sich aufgenommen hat?

Ja, Ernst, das kontemplative Leben, jenes Leben, das nicht das Handeln, sondern das Sein und nicht nur das Sein, sondern das Werden sich zum Ziel gesetzt hat – dieses Leben vermag uns der kritische Geist zu gewähren. Die Götter leben also: in ihre eigene Vollkommenheit versunken, wie Aristoteles erzählt, oder, wie Epikur es ausmalt, mit dem ruhigen Blicke des Zuschauers die Tragikomödie der Welt betrachtend, die sie selbst geschaffen haben. Auch unser Leben könnte dem ihren gleichen, auch wir könnten den mannigfaltigen Szenen, die Menschen und Natur uns darbieten, mit den entsprechenden Empfindungen zusehen. Wir könnten uns vergeistigen, wenn wir uns vom Handeln frei machten, wir könnten zur Vollkommenheit gelangen, wenn wir es ablehnten, Energie zu betätigen. Ich habe oft den Eindruck, als ob Browning etwas Ähnliches fühlte. Shakespeare stößt seinen Hamlet ins tätige Leben; er läßt ihn seine Sendung durch Kraftanspannung vollführen. Browning würde uns vielleicht einen Hamlet beschert haben, der seine Sendung durch Denken erfüllt hätte. Zufälligkeiten und Ereignisse waren ihm unwirklich und unwesentlich. Er machte die Seele zum Protagonisten in der Tragödie des Lebens, er betrachtete die Handlung als das einzig undramatische Element eines Dramas. Für uns aber bildet ohne Zweifel der ΒΙΟΣ ΘΕΩΡΗΤΙΚΟΣ das wahre Ideal. Wir können die Welt von der hohen Zinne des Denkens betrachten. Ruhig, in sich ruhend und in sich vollendet, so betrachtet der ästhetische Kritiker das Leben, und kein zufällig abgeschnellter Pfeil kann in die Fugen seines Panzers dringen. Er wenigstens bleibt heil. Er hat entdeckt, wie man leben sollte.

Ist eine solche Art des Lebens unmoralisch? Jawohl: alle Künste sind unmoralisch, außer jenen niedrigen Formen der sinnlichen oder lehrhaften Kunst, die zu bösen oder guten Handlungen anzuregen suchen. Handlungen gehören, sie mögen wie immer beschaffen sein, ins Gebiet der Ethik. Ziel der Kunst ist einfach, eine Stimmung zu erzeugen. Ist eine solche Art des Lebens etwas Unpraktisches? Ah! es ist nicht so einfach, unpraktisch zu sein, wie sich der unwissende Philister vorstellt. Wäre dies der Fall, dann stünde es um England gut. Kein Land der Welt bedarf so sehr der unpraktischen Leute, wie unser Land. Hierzulande ist das Denken durch die stete Verbindung mit praktischen Erwägungen um seine Würde gebracht worden. Kann man von Leuten, die sich im Wirbel und Gewühl des Alltags bewegen, vom lärmenden Politiker, vom schwatzenden Sozialreformer, oder von jenen armen, kurzsichtigen Priestern, deren Blick durch die Leiden jenes unwesentlichen Teiles der Gesellschaft, in den das Schicksal sie gestellt hat, getrübt ist – kann man von solchen Leuten im Ernst ein uninteressiertes Urteil über irgend etwas verlangen? Jeder Beruf bedeutet ein Vorurteil. Die Notwendigkeit, sich einer Karriere zuzuwenden, zwingt jeden, Partei zu ergreifen. Wir leben in einer Zeit, wo man zu viel arbeitet und zu wenig erzogen ist, in einer Zeit, wo die Menschen vor lauter Fleiß ganz dumm werden. Und so hart es klingen mag, ich muß es aussprechen: die Menschen verdienen ihr Schicksal. Der sichere Weg dazu, nichts vom Leben zu erfahren, ist, eine nützliche Beschäftigung zu ergreifen.

Ernst: Eine reizende Lehre, Gilbert!

Gilbert: Vielleicht. Aber das eine ist sicher: sie hat wenigstens das geringere Verdienst, wahr zu sein. Daß der Wunsch, anderen Gutes zu erweisen, Pedanten üppig in die Halme schießen läßt, ist das allergeringste der dadurch hervorgerufenen Übel. Der Pedant ist ein höchst interessantes psychologisches Studienobjekt, und wenn auch unter allen Posen die moralische die ärgerlichste ist, so bedeutet es immerhin etwas, überhaupt eine Pose zu besitzen. Man erkennt dadurch ausdrücklich an, wie wichtig es ist, das Leben von einem bestimmten überlegten Standpunkt zu behandeln. Die Tatsache, daß Nächstenliebe und Mitgefühl wider die Natur streiten, da sie das Überleben des Unpassenden fördern, mag vielleicht dem Mann der Wissenschaft das Vergnügen an diesen beiden leicht zu erringenden Tugenden verkümmern. Der Nationalökonom mag seine Stimme dawider erheben, weil sie den in den Tag Hineinlebenden dem Sparsamen gleichstellen und auf diese Art das Leben seines stärksten, weil gemeinsten, Antriebs zum Fleiß berauben. Doch in den Augen des Denkers liegt der wirkliche Schade, den die Mitleidsgefühle hervorgerufen, darin, daß sie unser Wissen eindämmen und uns auf diese Weise hindern, irgendein soziales Problem zu lösen. Wir bemühen uns gegenwärtig, die nahende Krise, die nahende Revolution, wie meine Freunde, die Fabier, sie nennen, durch Almosenspenden hintanzuhalten. Nun, wenn die Revolution oder die Krise einmal da ist, werden wir infolge unserer Unwissenheit machtlos sein. Mein lieber Ernst, täuschen wir uns nicht. England wird nicht eher ein kultiviertes Land werden, bis es die Provinz Utopia seinen Besitzungen hinzugefügt hat. Es könnte mehr als eine seiner Kolonien mit Nutzen für ein so herrliches Reich dahingeben. Die Unpraktischen, die über den Augenblick hinüberschauen, über den Tag hinauszudenken vermögen – das sind die Menschen, deren wir bedürfen. Die das Volk zu leiten versuchen, bringen solches nur dadurch zuwege, daß sie selbst dem Mob folgen. Durch den Ruf des Predigers in der Wüste müssen den Göttern die Wege bereitet werden.

Du bist aber vielleicht der Meinung, im Schauen und Betrachten bloß um des Schauens und Betrachtens willen liege etwas Egoistisches. Wenn du das glaubst, so sprich es ja nicht aus. Nur ein durchaus selbstsüchtiges Zeitalter, wie es das unsere ist, kann die Selbstaufopferung zur Gottheit erheben. Nur ein durchaus habsüchtiges Zeitalter, wie das, in dem wir leben, kann jene seichten Tugenden des Gefühls, die in sich selbst sogleich den Lohn finden, über die schönen Tugenden des Geistes stellen. Sie verfehlen auch ihr Ziel, diese Philanthropen und Gefühlsweichlinge unserer Tage, die stets von den Pflichten gegen die Nebenmenschen schwätzen. Denn die Entwicklung der Rasse ist von der Entwicklung des Individuums bedingt, und dort, wo man aufgehört hat, in die Kultivierung seines Ichs das Ideal zu erblicken, senkt sich sofort der geistige Maßstab und geht oft ganz verloren. Kommst du bei Tisch neben einen Menschen zu sitzen, der sein Leben mit der Erziehung seines Selbst verbracht hat – ich gebe zu, das ist heutzutage ein seltener Typus, aber man trifft ihn gelegentlich noch immer –, dann erhebst du dich vom Mahl, bereichert mit dem Gefühle, daß ein hohes Ideal für einen Augenblick deine Tage berührt und geheiligt hat. Aber ach! mein lieber Ernst, neben einem Menschen zu sitzen, der sein Leben mit dem Versuch, andere zu erziehen, verbracht hat! Wie schrecklich ist die Erfahrung, die man da gewinnt! Wie schauderhaft ist die Unwissenheit, die unvermeidlich aus der verhängnisvollen Gewohnheit, Meinungen einprägen zu wollen, entspringt! Wie beschränkt ist der Gesichtskreis eines solchen Menschen! Wie sehr ermüdet er uns, wie sehr muß er sich selbst durch sein endloses Wiederholen, durch sein widerliches Wiederanfangen ermüden! Wie sehr fehlt ihm jede Voraussetzung geistigen Wachstums! In was für einem Kreise falscher Schlüsse drehte er sich hin und her!

Ernst: Du redest, Gilbert, so seltsam ergriffen. Hat dich jüngst diese schreckliche Erfahrung, wie du sie nennst, betroffen?

Gilbert: Ihr entgehen nur wenige. Man sagt, der Schulmeister sei im Aussterben. Ach! ich wünschte, es wäre so. Doch der Typus, von dem er gewissermaßen nur ein Vertreter und keineswegs der wichtigste ist – dieser Typus scheint wirklich unser Leben zu beherrschen. Und wie auf ethischem Gebiet der Philanthrop am meisten Schaden stiftet, so ist in der geistigen Sphäre der ein Schädling, der sich mit der Erziehung der andern so sehr beschäftigt, daß er niemals Zeit zur Selbsterziehung findet. Nein, mein lieber Ernst: Entwicklung seines Ichs ist das wahre Mannesideal. Goethe hat das erkannt, daher sind wir Goethe größern Dank schuldig als irgendeinem Manne seit den Tagen der Griechen. Die Griechen haben dieses Ideal erkannt; sie haben dem modernen Denken den Begriff des kontemplativen Lebens wie die kritische Methode, durch die ein solches Dasein einzig und allein zur Erfüllung gebracht werden kann, überliefert. Dadurch allein ist die Renaissance zu ihrer Größe gelangt, dadurch allein haben wir den Humanismus gewonnen. Dadurch allein könnte auch unser Zeitalter groß werden. Denn Englands wirkliche Schwäche liegt nicht in der Unvollkommenheit der Geschütze, nicht in unbefestigten Küsten, nicht in der Armut, die durch finstere Gassen schleicht, nicht in der Trunkenheit, die in wüsten Höfen lärmt; sie liegt einfach in der Tatsache, daß die Ideale unsers Landes dem Gefühl, nicht dem Geist entspringen.

Ich bestreite keineswegs, daß ein solches geistiges Ideal schwer zu erreichen ist. Noch weniger leugne ich, daß es bei den Massen vielleicht noch unbeliebt ist und viele Jahre lang bleiben wird. Es fällt dem Menschen so leicht, Mitgefühl mit dem Leiden zu hegen, es fällt ihm so schwer, Gedanken zu lieben. In der Tat, die Alltagsmenschen verstehen so wenig, was das Denken überhaupt ist, daß sie glauben, eine Theorie zu verurteilen, wenn sie sie als gefährlich bezeichnen, während eben solche Theorien die einzigen sind, die irgendwelchen wirklichen geistigen Wert besitzen. Ein Gedanke, der nicht Gefahren birgt, ist unwert, überhaupt ein Gedanke zu sein.

Ernst: Gilbert, du machst mich ganz irre. Du sagtest eben, die Kunst sei ihrem Wesen nach etwas Unmoralisches. Gehst du nun so weit, zu behaupten, alles Denken sei dem Wesen nach gefährlich?

Gilbert: Ja, in der Sphäre des wirklichen Lebens ist das der Fall. Die Sicherheit der Gesellschaft beruht auf Gewohnheit und unbewußtem Instinkt. Der Fortbestand der Gesellschaft als eines gesunden Organismus ist durch das völlige Fehlen der Intelligenz bei ihren Mitgliedern bedingt. Die Mehrzahl der Leute weiß das ganz genau. Daher werden sie natürlich Anhänger jenes herrlichen Systems, das die Menschen zur Würde von Maschinen erhebt. Aus diesem Grund rebellieren sie so wild gegen das Eindringen des geistigen Elements in irgendeine Frage des Lebens. Man ist wirklich versucht, den Menschen als ein mit Vernunft begabtes Wesen zu bezeichnen, das stets außer sich gerät, sobald von ihm etwas Vernünftiges verlangt wird. Allein, verlassen wir das Gebiet des praktischen Lebens, reden wir nicht mehr von den abscheulichen Philanthropen. Überlassen wir sie der Gnade des mandeläugigen Weisen am gelben Flusse, Chuang Tsu. Er war es, der nachwies, daß diese geschäftigen, aggressiven Leutchen die einfachen, ursprünglich im Menschen schlummernden Tugendkräfte vernichtet haben. Doch das ist ein langwieriges Thema. Kehren wir wiederum zu jener Sphäre zurück, wo der kritische Geist sich frei bewegen darf.

Ernst: Zur geistigen Sphäre?

Gilbert: Ja. Du erinnerst dich, daß ich behauptete, der Kritiker sei auf seine Weise nicht minder schöpferisch als der Künstler. Ja, des Künstlers Werk ist vielleicht nur von Wert, sofern es dem Kritiker die Anregung zu einer neuen Nuance des Denkens oder der Empfindung bietet – einer Nuance, der der Kritiker in gleicher oder vielleicht größerer Erlesenheit der Form Gestalt zu geben und durch das Anwenden eines neuen Ausdrucksmittels eine neue und vollendetere Schönheit zu gewähren vermag. Nun, ich glaube, du bist gegen meine Theorie ein wenig skeptisch. Oder tue ich dir da unrecht?

Ernst: Ich bin in diesem Punkt keineswegs Skeptiker. Doch muß ich zugeben: ich empfinde sehr deutlich, daß dieses Werk, das der Kritiker nach deiner Darstellung hervorbringt – und es ist ohne Zweifel ein schöpferisches Werk –, notwendigerweise ein rein subjektives ist, während die größten Schöpfungen immer objektiv sind, objektiv und unpersönlich.

Gilbert: Der Unterschied zwischen dem objektiven und subjektiven Werk besteht nur in äußerlicher Form. Dieser Unterschied ist ein zufälliger, kein wesentlicher. Jede künstlerische Schöpfung ist durchaus subjektiv. Sogar die Landschaft war Corot, da er sie betrachtete – er sagt es selbst –, nichts als eine Stimmung der eigenen Seele. Die großen Gestalten des griechischen oder englischen Dramas, die ein eigenes wirkliches Dasein, losgelöst vom Dichter, der sie geformt und gebildet hat, zu führen scheinen, diese Gestalten sind – wenn man sie bis ins letzte zergliedert – nichts als die Dichter selbst: die Dichter, nicht wie sie zu sein, sondern, wie sie nicht zu sein glaubten. Durch diesen Glauben wurden sie seltsamerweise, wenn auch nur einen Augenblick lang, wirklich. Denn wir können nie aus uns selbst heraus. Auch liegt in der Schöpfung nichts, was nicht im Schöpfer gelegen hätte. Ja ich möchte sagen: je objektiver eine Schöpfung scheint, desto subjektiver ist sie in Wirklichkeit. Shakespeare mag Rosenkranz und Güldenstern in den weißen Straßen Londons begegnet sein, er mag gesehen haben, wie die Diener der feindlichen Häuser auf offenen Plätzen widereinander mit den Fäusten losschlugen: doch Hamlet ist aus seiner Seele, Romeo aus seiner Leidenschaft hervorgewachsen. Sie waren Bestandteile seines Wesens; er gab ihnen sichtbaren Ausdruck. Sie waren in ihm treibende Kräfte und wühlten ihn so heftig auf, daß er sie gewissermaßen gewaltsam sich betätigen lassen mußte, und das keineswegs auf dem niedrigeren Felde des wirklichen Daseins, denn dort wären sie gehemmt und behindert worden, sie wären nie zu ihrer Entfaltung gelangt, sondern in jenem Traumlande der Kunst, wo die Liebe wirklich im Tod reiche Erfüllung findet, wo man den Lauscher hinter der Tapete ersticht und im neu geschaufelten Grabe ringt, wo man den schuldbeladenen König den Tod zu trinken nötigt, wo man den Geist des eigenen Vaters erschaut, wie er im Mondesschimmer in voller Stahlrüstung von Nebelmauer zu Nebelmauer schreitet. Das Handeln hätte in seiner Begrenztheit Shakespeare nicht befriedigt, auch hätte es sein Wesen nicht zum Ausdruck gebracht. Wie er imstande war, alles zu vollbringen, weil er nichts zu verrichten hatte, so enthüllt er sich uns in seinen Stücken völlig, eben weil er nie über sich selbst redet. In diesen Dramen offenbart er uns sein wahres Wesen, seine wahren Anlagen weit erschöpfender als selbst in jenen seltsamen, köstlichen Sonetten, worin er seines Herzens verschlossenen Schrank dem hellen Blick eröffnet. Ja, die objektive Form ist in Wahrheit die allersubjektivste. Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er in eigener Person spricht. Gib ihm eine Maske, und er wird die Wahrheit reden.

Ernst: Der Kritiker wird also, da er an die subjektive Form gebunden ist, sein Wesen notwendigerweise nicht so völlig auszudrücken imstande sein, wie der Künstler. Dem Künstler stehen ja immer alle objektiven und unpersönlichen Formen zur Verfügung.

Gilbert: Das ist keineswegs notwendigerweise und sicher dann nicht der Fall, wenn er erkennt, daß jede Art der Kritik auf ihrer höchsten Entwicklungsstufe nichts als eine Stimmung ausspricht, und daß wir niemals uns selber getreuer sind als in den Augenblicken der Inkonsequenz. Der ästhetische Kritiker, nur dem Grundsatz der Schönheit in allen Dingen ergeben, wird immer nach neuen Eindrücken spähen und aus den verschiedenen Schulen das Geheimnis ihres Zaubers schöpfen. Er neigt sich darum vielleicht vor fremden Altären oder lächelt, wenn es seiner Laune gefällt, fremdartigen, neuen Göttern zu. Was die anderen Leute unsere Vergangenheit nennen, bekümmert offenbar diese anderen sehr viel, uns selbst sehr wenig. Wer immer ins Vergangene zurückblickt, ist nicht wert, eine Zukunft vor sich zu haben, in die er zu blicken vermag. Hat man einmal für eine Stimmung den Ausdruck gefunden, dann ist man damit fertig geworden. Du lachst; glaube mir aber, es ist so. Gestern hat uns der Realismus entzückt. Man hat von ihm jenen » nouveau frisson« empfangen, den hervorzubringen sein Zweck gewesen ist. Man analysierte, erklärte ihn und wurde seiner überdrüssig. Mit der sinkenden Sonne kamen in der Malerei die »Luministen« und die »Symbolisten« in der Dichtkunst. Der Geist des Mittelalters, der nicht so sehr einer bestimmten Epoche wie einer besonderen Gefühlsweise angehört, brach in dem an Wunden blutenden Rußland plötzlich hervor. Dieser Geist berührte uns einen Augenblick lang durch den furchtbaren Zauber des Leidens. Heutzutage ist der allgemeine Ruf: Romantik. Und schon zittern die Blätter im Tal, und auf purpurnen Hügeln wandelt die Schönheit zarten, goldenen Fußes hin. Die alten Schaffensformen währen natürlich fort, die Künstler reproduzieren sich selbst, oder einer reproduziert den anderen in ermüdender Wiederholung. Die kritische Kunst aber schreitet stets weiter, der Kritiker entwickelt sich immer.

Auch ist der Kritiker keineswegs an die subjektive Form des Ausdrucks gebunden. Er kann sich der dramatischen sowohl wie der epischen Methode bedienen. Er mag die Dialogform anwenden wie der, der Milton ein Zwiegespräch mit Marvel über das Wesen der Komödie und Tragödie führen und Sidney und Lord Brooke sich im Schatten der Eichen Penshursts über literarische Gegenstände unterhalten ließ. Er kann auch die erzählende Form wählen, wie Mr. Pater das mit Vorliebe tut. Jedes seiner » Imaginary Portraits« – das ist doch der Titel seines Buches? – bietet uns in dichterisch-phantastischem Gewande ein feines und erlesenes Stück Kritik. Da ist eine Abhandlung über den Maler Watteau, eine andere über die Philosophie Spinozas; eine handelt von den heidnischen Elementen der Frührenaissance, die letzte und eindringlichste von der Quelle der sogenannten »Aufklärung«, deren Licht im letzten Jahrhundert über Deutschland aufging und der unsre eigne Kultur so viel verdankt. Die Dialogform, jene wundervolle literarische Form, die die schöpferischen Kritiker von Plato bis zu Lucian und von Lucian bis Giordano Bruno und von Bruno bis zu dem großen alten Heiden, an dem Carlyle solches Entzücken fand, immer gebrauchten, wird als Ausdrucksweise ihre anziehende Kraft für den Denker niemals verlieren. Er findet so die Möglichkeit, sich zu verhüllen und zu enthüllen; er kann jedem Traum Gestalt, jeder Stimmung Wirklichkeitsfülle gewähren. Er kann das Objekt von jedem Gesichtspunkt aus darlegen. Er kann uns das Werk wie ein Bildhauer rings in der Runde zeigen und so zu der reichen, lebendigen Wirkung jener Seitenaussichten gelangen, die sich mit einemmal im Verfolgen der Hauptidee vor uns auftun und sie völlig erhellen. Er kann auch immer noch jene nachträglichen glücklichen Einfälle nutzen, die um den Kern des Gedankenplans erst die geschlossene Fülle breiten und dennoch etwas von dem zarten Reiz des Zufälligen hineinbringen.

Ernst: Er gewinnt auch dadurch die Möglichkeit, einen Gegner zu fingieren und ihn, wenn es ihm gefällt, durch irgendein absurd sophistisches Argument zu bekehren.

Gilbert: Ah! es ist so leicht, andere, es fällt so schwer, sich selbst zu bekehren. Und zu seinem eigenen Glauben zu gelangen, muß man mit fremden Lippen reden. Um die Wahrheit zu erfahren, muß man eine Unzahl von Lügen ersinnen. Denn was ist die Wahrheit? In Fragen der Religion die Anschauung, die den Sieg gewann; in der Wissenschaft die jüngste Aufsehen erregende Erkenntnis; in der Kunst unsere letzte Stimmung. Du siehst jetzt wohl ein, mein lieber Ernst: dem Kritiker stehen so viele objektive Formen des Ausdrucks wie dem Künstler zu Gebote. Ruskin hat seine kritische Lehre ins Gewand dichterischer Prosa gehüllt und wirkt geistig durch seine Umkehrungen und Widersprüche. Browning hat seine kritischen Anschauungen in Blankverse gegossen, er ließ Dichter und Maler uns ihre Geheimnisse offenbaren. Renan wendet die Dialogform, Mr. Pater die Romanform an, und Rossetti hat in der Musik seiner Sonette die Farben Giorgiones und die Linien Ingres und seine eigenen Linien und Farben widerklingen lassen. Er empfand mit dem Instinkt des Künstlers, der sich auf vielerlei Art zu äußern vermag, daß die höchste Kunst das Schrifttum ist, das feinste und vollkommenste Mittel das Wort.

Ernst: Gut, du hast jetzt nachgewiesen, daß dem Kritiker alle objektiven Formen zu Gebote stehen. Nun möchte ich von dir erfahren, welche Eigenschaften den wahren Kritiker charakterisieren.

Gilbert: Welche sind es nach deiner Meinung?

Ernst: Nun, ich möchte meinen, ein Kritiker sollte vor allem gerecht sein.

Gilbert: Ah, nur nicht gerecht! Ein Kritiker kann unmöglich gerecht sein, in der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes. Man kann nur über Dinge, die einen nicht interessieren, eine vorurteilsfreie Meinung abgeben. Darum ist auch eine derartige Meinung stets völlig wertlos. Wer die beiden Seiten einer Frage sieht, sieht überhaupt, nichts. Die Kunst ist eine Leidenschaft; in Kunstdingen wird das Denken notwendigerweise durch die Empfindung gefärbt und ist darum eher fließend als fest bestimmt. Da es von zarten Stimmungen und erlesenen Augenblicken bedingt ist, kann man es nicht in die Starrheit einer wissenschaftlichen Formel oder eines theologischen Dogmas zwängen. Die Kunst spricht zur Seele, und diese kann ebenso sehr eine Gefangene des Geistes wie des Leibes sein. Man sollte sich natürlich von Vorurteilen frei halten. Doch ist es, wie ein großer Franzose schon vor hundert Jahren bemerkt, unser Beruf, in diesen Dingen manche Vorliebe zu besitzen, und in dem Augenblick, wo man Vorliebe hegt, hört man bereits auf, gerecht zu sein. Nur ein Auktionar kann in gleich unbefangener Weise alle Kunstschulen bewundern. Nein, Gerechtigkeit ist nicht eine der Eigenschaften des wahren Kritikers. Sie bildet nicht einmal eine Voraussetzung der Kritik. Jede Kunstform, mit der wir in Berührung kommen, beherrscht uns für den Augenblick so sehr, daß sie jede andere ausschließt. Wir müssen uns dem in Rede stehenden Werk, wie es auch sei, vollständig ausliefern, wenn wir sein Geheimnis ergründen wollen. Solange wir damit beschäftigt sind, dürfen und können wir nichts anderes denken.

Ernst: Der wahre Kritiker wird doch zum mindesten vernünftig sein, nicht wahr?

Gilbert: Vernünftig? Man kann auf doppeltem Wege dazu gelangen, die Kunst zu hassen, mein lieber Ernst. Entweder man haßt sie wirklich oder man liebt sie in den Grenzen der Vernunft. Denn die Kunst ruft – wie Plato, nicht ohne Bedauern, erkannte – im Zuhörer und Zuschauer eine Art göttlichen Wahnsinns hervor. Sie entspringt nicht der Eingebung, aber sie wirkt wie eine Eingebung auf andere. Die Vernunft ist keineswegs die Fähigkeit, an die sie sich wendet. Liebt man die Kunst überhaupt, dann muß man sie mehr als alles auf der Welt lieben. Wider eine solche Liebe würde sich aber die Vernunft empören, wenn man ihrer Stimme Gehör schenkte. Die Verehrung der Schönheit ist nichts Gesundes. Sie ist zu herrlich, als daß es gesund wäre. Die, in deren Dasein diese Note vorherrscht, werden stets der Welt nur als Schwärmer erscheinen.

Ernst: Der Kritiker wird aber zumindest aufrichtig sein.

Gilbert: Ein wenig Aufrichtigkeit ist ein gefährlich Ding, viel davon ist geradezu verderblich. Der wahre Kritiker wird allerdings dem Grundsatz der Schönheit immer aufrichtig ergeben sein. Er wird aber die Schönheit in jedem Jahrhundert, in jeder Schule suchen. Er wird sich nie durch eine bestimmte Gewohnheit des Denkens oder eine feststehende Art der Weltbetrachtung Grenzen ziehen lassen. Er wird sich selbst in vielen Formen und auf tausend verschiedenen Wegen verwirklichen, er wird immer nach neuen Erregungen und neuen Gesichtspunkten spähen. Durch beständigen Wechsel und durch beständigen Wechsel allein wird er zu seiner Einheit gelangen. Er wird sich nie dazu herbeilassen, der Sklave seiner eigenen Meinung zu werden. Denn was ist Geist anders als Bewegung im Reich des Intellekts? Im Wachstum liegt des Denkens und Lebens Kern. Laß dich, mein lieber Ernst, nicht durch Worte schrecken. Was man Unaufrichtigkeit nennt, ist nichts als ein Mittel, unsere Persönlichkeit vielfältig zu gestalten.

Ernst: Ich fürchte, ich habe mit meinen Anregungen wenig Glück gehabt.

Gilbert: Von den drei Eigenschaften, die du erwähntest, greifen zwei, Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit, ins moralische Gebiet hinüber, oder berühren wenigstens seine Grenzen. Das erste aber, was man von einem Kritiker verlangen darf, ist die Erkenntnis, daß Kunst und Ethik zwei ganz bestimmte, voneinander völlig gesonderte Gebiete sind. Verwirren sich die Grenzen, dann kehrt das Chaos wieder. Im England unserer Tage werden diese Grenzen allzuhäufig verwischt. Unsere modernen Puritaner können freilich das Schöne nicht ganz zerstören, aber sie können durch ihren außerordentlich ausgebildeten Sinn für moralische Verlockungen die Schönheit doch wenigstens für einen Augenblick beflecken. Die Meinung dieser Leute findet – ich muß es zu meinem Bedauern bemerken – hauptsächlich durch den Journalismus Ausdruck. Ich bedaure das deshalb, weil man sehr viel zugunsten des modernen Journalismus anführen könnte. Er vermittelt uns die Meinungen der Ungebildeten und hält uns dadurch mit der Unbildung des Gemeinwesens in stetem Zusammenhang. Der Journalismus verzeichnet sorgsam die laufenden Ereignisse unsers zeitgenössischen Lebens und zeigt uns auf diese Weise, von wie geringer Bedeutung dies alles in Wahrheit ist. Er bespricht unaufhörlich das Unnötige und läßt daher in uns die Erkenntnis reifen, welche Dinge für unsere Kultur wesentlich sind und welche nicht. Doch sollte der Journalismus dem armseligen Tartüffe nicht gestatten, Artikel über moderne Kunst zu verfassen. Er stellt sich damit nur selbst als Toren hin. Doch haben Tartüffes Artikel und Chadbands Notizen wenigstens eine gute Folge. Sie erbringen uns den Nachweis für die außerordentliche Begrenztheit des Feldes, das zu beherrschen, Ethik und ethische Betrachtungen beanspruchen dürfen. Die Wissenschaft steht außerhalb des Bereichs der Moral, denn ihr Auge ist den ewigen Wahrheiten zugewandt. Die Kunst steht außerhalb des moralischen Bereichs, denn ihr Blick haftet an den herrlichen, unsterblichen, ewig wechselvollen Dingen. Bloß die niedrigeren, weniger geistigen Sphären fallen ins Gebiet der Moral. Doch mag man die Puritaner, diese Maulhelden, noch immer gelten lassen; sie haben ihre komische Seite. Wer kann sich aber bei dem ernsthaften Vorschlag eines Durchschnittsjournalisten, den Stoffkreis des Künstlers zu begrenzen, des Lachens erwehren? Grenzen werden wohl, und ich hoffe bald, gezogen werden – nämlich dem Wirken einiger unserer Zeitungen und Zeitungsschreiber. Denn sie bieten uns die nackten, gemeinen, widrigen Tatsachen des Lebens. Sie verzeichnen mit gemeiner Gier die Sünden der Unbedeutenden, sie geben uns mit der Gewissenhaftigkeit der Ungebildeten genaue und prosaische Details über das Gehaben von Leuten, die keinerlei Interesse beanspruchen dürften. Wer vermöchte aber dem Künstler Grenzen zu ziehen, ihm, der von dem Leben die Tatsachen empfängt und sie zu herrlichen Schönheitsgestalten modelt und daraus Träger des Mitleids oder der Ehrfurcht schafft? Ihm, der ihre Farbe, das Geheimnisvoll-Wunderbare, das in den Tatsachen liegt, nicht minder als ihre wirkliche ethische Bedeutung offenbart? Ihm, der aus alledem eine Welt baut, wirklicher als die Wirklichkeit selbst und von vornehm-erhabenerem Gepräge? Wer sollte diesem Grenzen ziehen? Keineswegs die Apostel dieses neuen Journalismus, der nichts ist, als die alte Plattheit, dieses Wort »groß geschrieben«. Keineswegs die Apostel dieses neuen Puritanismus, der bloß das Gewimmer der Heuchler ist, und der ebenso schlecht schreibt, wie er redet. Schon der Gedanke daran erweckt Lachen. Lassen wir diese Schädlinge. Betrachten wir wiederum jene künstlerischen Eigenschaften, die für den Kritiker notwendig sind.

Ernst: Und was für Eigenschaften sind dies? Sag es mir selbst.

Gilbert: Temperament ist das erste Erfordernis für den Kritiker – ein Temperament von besonderer Empfänglichkeit für das Schöne und für die bunten Eindrücke, die die Schönheit in uns erweckt. Unter welchen Voraussetzungen, durch welche Mittel dieses Temperament in der Rasse oder im einzelnen erzeugt wird – das wollen wir jetzt nicht erörtern. Genug, wir halten fest: es gibt ein solches Temperament. In uns lebt ein Schönheitssinn, gesondert von den anderen Sinnen und darüber webend. Gesondert von der Vernunft und edler als sie, gesondert von der Seele und an Wert ihr gleich. Ein Sinn, der einige zum Schaffen treibt, andere – es sind wohl die feinern Geister – zur Betrachtung. Um aber zur Reinheit und zur Vollendung zu gelangen, bedarf dieser Sinn einer gewissen erlesenen Umgebung. Ohne diese Umgebung hungert er oder wird stumpf. Du erinnerst dich wohl an jene entzückende Stelle, wo uns Plato schildert, wie ein junger Grieche erzogen werden sollte. Mit welchem Nachdruck weist er auf die Wichtigkeit der Umgebung hin! Er führt aus, der junge Mensch müsse inmitten herrlicher Gebilde und Töne heranwachsen, daß die Schönheit der äußeren Dinge seine Seele zur Aufnahme geistiger Schönheit vorbereite. Unmerklich und unbewußt soll er jene wirkliche Liebe zur Schönheit entwickeln, die, wie Plato zu erinnern nicht müde wird, das wahre Ziel der Erziehung ist. In ihm soll allmählich jenes Temperament entfacht werden, das ihn ganz natürlicher- und einfacherweise dahin führen wird, das Gute dem Bösen vorzuziehen. Gemeines und Unsittliches von sich zu stoßen, mit zartem, instinktivem Geschmack allem Heiteren, Anmutigen und Lieblichen zu folgen. Dieser Geschmack wird endlich notwendigerweise zu einem kritisch-bewußten werden, zunächst aber muß er einfach als kultivierter Instinkt vorhanden sein. »Wer aber diese innerliche Bildung erfahren hat, wird klar und deutlich die Schwächen und Fehler in Kunst und Natur herausfinden; er wird mit untrüglichem Geschmack das Gute lobpreisen und daran seine Freude finden. Er wird es in seine Seele pflanzen und auf solche Weise selbst gut und edel werden. Er wird das Böse schon in den Tagen der Jugend hassen, noch bevor er den Grund dieses Hasses zu erkennen vermag.« Ist der kritisch-bewußte Geist später in ihm zur Entwicklung gelangt, dann wird er ihn »als einen Freund, der ihm durch seine Erziehung schon lange vertraut war, wiedererkennen und begrüßen«. Ich brauche wohl kaum zu sagen, mein lieber Ernst, wie weit wir in England von diesem Ideal abgeirrt sind. Ich kann mir das Lächeln vorstellen, das auf den glatten Philistergesichtern strahlen würde, wenn einer den Mut fände, zu sagen, das wahre Ziel der Erziehungsmittel sei die Entwicklung des Temperaments, die Pflege des Geschmacks und das Erwecken des kritischen Geistes.

Doch bleibt selbst uns noch ein wenig Lieblichkeit der Umgebung. Was liegt an der Langeweile der Erzieher und Professoren? Dürfen wir doch in den grauen Kreuzgängen des Magdalenen-College umherschlendern, dem flötengleichen Gesang in der Kapelle Waynfleetes lauschen oder auf grünen Matten liegen, mitten unter den seltsam schlangenartig gefleckten Blüten der Kaiserkrone, den Blick auf die vergoldete Wetterfahne der Türme gerichtet, die die sonnenverbrannte Mittagsstunde noch schöner vergoldet. Dürfen wir doch unter der fächerförmig gewölbten, schattigen Decke der Christchurch die Stufen emporwandeln und durch das geschnitzte Tor in St. Johns College hineinschreiten. Der Schönheitssinn wird auch keineswegs bloß in Oxford oder Cambridge gebildet, entwickelt, zur Reife gebracht. Über ganz England hat sich die Renaissance der schmückenden Künste verbreitet. Die Tage der Häßlichkeit sind vorüber. Selbst in den Häusern der Reichen waltet Geschmack, und die Häuser der Nichtreichen sind anmutig und behaglich geworden; es ist eine Freude, darin zu leben. Caliban, der arme, lärmende Caliban meint, ein Ding sei überhaupt nicht mehr vorhanden, wenn er aufgehört hat, dazu Grimassen zu schneiden. Doch er hat nur deshalb das Grimassieren aufgegeben, weil man ihm schärferen, kühneren Hohn, als der seine war, entgegengestellt hat; so ist er für einen Augenblick zum Schweigen gezwungen, zu jenem Schweigen, das für immer seine rohverzerrten Lippen schließen sollte. Bisher hat man nur das eine geleistet: man hat den Weg gesäubert. Es ist ja immer schwieriger, niederzureißen als schaffend aufzubauen. Hat man Plattheit und Dummheit umzustürzen, dann erfordert der Vernichtungsplan nicht nur Mut, sondern auch Verachtung. Trotzdem ist das Werk, mein ich, bis zu einem gewissen Grade getan. Wir haben uns des Schlechten entledigt. Nun ist es unseres Amtes, das Schöne hervorzubringen. Die Aufgabe der ästhetischen Bewegung ist es zwar, die Menschen zur Betrachtung, nicht zum Schaffen zu leiten; doch der schöpferische Instinkt ist im Kelten sehr lebendig, und der Kelte weist in der Kunst den Weg. So liegt kein Grund vor, warum in künftigen Jahren diese seltsame Renaissance nicht allmählich auf ihre Art ebenso mächtig erblühe, wie vor vielen Jahrhunderten jene Neugeburt der Kunst in den Städten Italiens erblüht ist. Gewiß, wir müssen uns zur Heranbildung unseres Temperaments an die schmückenden Künste halten: an die Künste, die uns berühren, nicht an jene, die uns belehren. Moderne Gemälde zu betrachten, gewährt ohne Zweifel großes Vergnügen. Wenigstens ist das zuweilen der Fall. Allein man kann in ihrer Umgebung nicht leben. Diese Bilder sind zu gescheit, zu bestimmt, zu bewußt. Ihre Absichten sind zu klar, ihre Technik ist allzu offenkundig. Was sie uns zu sagen haben, erschließt sich uns nur zu bald; dann langweilen sie uns wie Verwandte.

Ich liebe die Arbeiten mancher impressionistischen Pariser und Londoner Maler sehr. Zartheit und Noblesse sind dieser Schule noch immer eigen. Manche ihrer Gruppierungen und Farbenzusammenklänge erinnern uns fast an die Schönheit der unsterblichen » Symphonie en Blanc Majeur« Gautiers, dieses reine Meisterwerk der Farbe und Musik, das wohl vielen ihrer besten Gemälde Richtung und Titel gab. Einer Gesellschaft, die das Unzureichende mit sympathetischem Eifer begrüßt, die das Bizarre mit dem Schönen, das Platte mit dem Wahren verwechselt, erscheinen sie außerordentlich vollendet. Sie verfertigen Radierungen, die den geschliffenen Glanz von Epigrammen besitzen, und Pastelle, die wie Paradoxe blenden. Was ihre Porträte betrifft, so mag der gemeine Geschmack noch so viel an ihnen auszusetzen haben, niemand kann leugnen, daß sie den ganz besonderen wundersamen Reiz besitzen, der Werke reiner Erfindung auszeichnet. Doch werden uns selbst die Impressionisten, so ernst und emsig sie auch sein mögen, nicht helfen. Mir sind sie wert. Ihr weißer Ton mit seinen Variationen in Lila hat eine neue Ära der Farbe eingeleitet. Der Augenblick schafft zwar nicht den Menschen, aber er schafft ohne Zweifel den Impressionisten, und was spricht nicht alles für das Festhalten des Augenblicks durch die Kunst, für »das Denkmal des Augenblicks«, wie Rosetti es nannte? Auch die Kraft der Anregung ist ihnen eigen. Sie haben zwar nicht den Blinden die Augen geöffnet, doch haben sie die Kurzsichtigen lebhaft ermuntert. Ihre Führer besitzen zwar die ganze Unerfahrenheit des Alters, doch sind die Jungen unter ihnen viel zu klug, als daß sie stets Empfindsamkeit bekundeten. Sie fahren gleichwohl fort, die Malerei als eine Art Selbstbiographie, erfunden zum Gebrauch der Ungebildeten, zu behandeln. Sie schwätzen uns immer auf ihrer grauen, griesigen Leinwand über ihr höchst gleichgültiges Selbst und ihre höchst gleichgültigen Anschauungen allerlei vor; sie verwischen durch ihr vulgäres Übertreiben das Beste, das einzig Bescheidene, das sie an sich haben, jene feine Verachtung der Natur. Man wird endlich der Werke solcher Persönlichkeiten müde, deren Persönlichkeit stets geräuschvoll auftritt und in der Regel keinerlei Interesse erweckt. Weit mehr wäre zugunsten der jüngeren Pariser Schule der »Archaicistes«, wie sie sich nennen, zu sagen. Diese lassen den Künstler nicht ganz von der Gnade des Wetters abhängen, sie finden ihr Ideal nicht in bloßen Luftwirkungen. Ihr Streben ist vielmehr auf die phantasievolle Schönheit der Zeichnung, auf die Lieblichkeit erlesener Farben gerichtet. Sie lehnen den langweiligen Realismus jener Schule ab, die bloß malt, was sie erblickt. Sie versuchen, Dinge, die des Sehens wert sind, zu sehen, und das nicht bloß mit wirklichen, leiblichen Augen, sondern mit dem edlern Gesicht der Seele, dessen Blick das Geistige weit sicherer, das Künstlerische weit herrlicher umfaßt. Sie arbeiten jedenfalls, was das dekorative Element betrifft, unter jenen Voraussetzungen, deren jede Kunst zu ihrer Vollendung bedarf; sie haben genug Schönheitsinstinkte, um jenes gemeine und törichte Sichbeschränken auf völlige Modernität der Form, das so viele Impressionisten verdorben hat, zu verwerfen. Noch immer ist die Kunst, die sich freimütig als schmückende bezeichnet, die, mit der man zu leben vermag. Unter allen unseren Künsten ist sie die einzige, die in uns Gefühl und Stimmung weckt. Die Farbe allein, unbefleckt durch Bedeutung, mit Bestimmtheit der Form verbunden, findet tausend Zugänge zur Seele. Die Harmonie, die den zarten Verhältnissen von Linien und Massen innewohnt, spiegelt sich im Geiste wider. Das Wiederholen des nämlichen Musters erfüllt uns mit Ruhe. Die Wunder der Zeichnung erregen die Phantasie. Schon in der Anmut des angewandten Materials liegen Kulturelemente verborgen. Das ist aber noch nicht alles. Die schmückende Kunst erklärt offen, sie betrachte die Natur nicht als wahres Schönheitsideal, sie verwerfe die Nachahmungsmethode der landläufigen Malerei: dadurch macht sie die Seele nicht bloß für die Werke der echten Phantasie empfänglich, sie bringt in ihr jenes Formempfinden zur Entfaltung, worauf die schöpferische nicht minder als jede kritische Tat beruht. Denn der wirkliche Künstler ist der, der vorwärtsschreitet: nicht vom Gefühle zur Form, sondern von der Form zu Denken und Leidenschaft. Er faßt keineswegs zuerst eine Idee und sagt sich dann: »Ich will meine Gedanken in ein geschlossenes, metrisches Gebilde, das vierzehn Zeilen umfaßt, gießen.« Ihm schwebt die Schönheit des Sonettengerüstes vor, er wird von gewissen musikalischen Klängen und Reimmöglichkeiten berührt. Die Form an sich regt ihn zu dem geistigen Gehalt an, womit er sie füllt und ihr die gedankliche und seelische Vollendung gewährt. Von Zeit zu Zeit entrüstet sich die Welt über irgendeinen entzückend artistischen Poeten, weil er, um ihre abgedroschenen einfältigen Phrasen zu wiederholen, »nichts zu sagen hat«. Hätte er etwas zu sagen, dann würde er es vermutlich aussprechen, und das Ergebnis wäre sehr langweilig. Eben weil er keine neue Botschaft zu künden hat, kann er Schönes schaffen. Er schöpft seine Eingebung aus der Form, aus der Form allein, wie es dem Künstler ziemt. Eine wirkliche Leidenschaft würde ihn vernichten. Was wirklich geschieht, ist für die Kunst verdorben. Schlechte Poesie entspringt immer echtem Gefühl. Natürlich sein, heißt ganz einleuchtend sein, und das ganz Einleuchtende ist stets das Unkünstlerische.

Ernst: Ich möchte wissen, ob du wirklich alles glaubst, was du sagst.

Gilbert: Warum staunst du darüber? Nicht in der Kunst allein ist der Körper die Seele. In jeder Sphäre des Lebens nehmen alle Dinge von der Form ihren Ausgang. Die rhythmischen Bewegungen des Tanzes rufen, Plato sagt es uns, sowohl Rhythmus als Harmonie in unserem Geist hervor. Aus den Formen zieht der Glaube seine Nahrung, so verkündete Newman in einem seiner großen Augenblicke der Offenherzigkeit, in denen wir den Mann bewundern und erkennen. Er hatte recht, er wußte vielleicht gar nicht, wie furchtbar recht er hatte. Glaubensbekenntnisse haben Geltung, nicht weil sie vernünftig sind, sondern weil sie wiederholt werden. Ja, die Form ist alles. Die Form ist das Geheimnis des Lebens. Finde den Ausdruck für eine Sorge, und sie wird dir teuer werden. Finde den Ausdruck für eine Freude, und du fühlst ihre Entzückungen noch tiefer. Willst du Liebe empfinden? Sprich ihre Litanei herunter, die Worte werden das Gefühl gebären, aus dem – so meint die Welt – erst die Worte strömen. Zernagt Kummer dein Herz? Lerne vom Prinzen Hamlet und von der Königin Konstantia den Kummer ausdrücken, und du wirst finden: das bloße Aussprechen gewährt bereits eine Art Trost. Die Form, die Wiege der Leidenschaft, die zugleich der Tod des Leidens. Um zur Sphäre der Kunst zurückzukehren: die Form erzeugt nicht bloß das kritische Temperament, sondern auch den ästhetischen Instinkt, diesen untrüglichen Instinkt, der uns alle Dinge unter den Bedingungen der Schönheit offenbart. Beginne die Form zu verehren und kein Geheimnis der Kunst wird dir verborgen bleiben. Sei dessen eingedenk, daß in der Kritik und im Schaffen das Temperament alles ist, und daß man die Kunstschulen nicht nach der Zeit, wo sie wirkten, sondern nach den Temperamenten, an die sie sich wenden, historisch gruppieren sollte.

Ernst: Deine Erziehungstheorie ist entzückend. Doch welchen Einfluß wird ein Kritiker, der in dieser köstlichen Umgebung herangebildet ward, üben? Meinst du wirklich, ein Künstler sei je durch die Kritik beeinflußt worden?

Gilbert: Der Einfluß des Kritikers wird lediglich in der Tatsache bestehen, daß er existiert; er wird den ungetrübten Typus darstellen. In ihm wird sich die Kultur des Jahrhunderts zur Erfüllung gebracht sehen. Du darfst kein anderes Ziel von ihm verlangen, als daß er sich selbst vollende. Der Geist hat, wie man richtig bemerkt hat, nur den einen Wunsch, sich selbst in voller Kraft zu fühlen. Der Kritiker mag allerdings den Wunsch hegen, Einfluß zu üben; in diesem Fall wird er sich aber nicht mit dem einzelnen Individuum, sondern mit dem Zeitalter befassen. Er wird versuchen, es zur Bewußtheit zu erwecken, es heranzubilden, neue Wünsche und Bestrebungen in ihm zu entfachen, ihm den eigenen weiteren Blick, die eigenen edleren Stimmungen einzuprägen. Die Kunst von heute wird ihn weniger als die Kunst von morgen beschäftigen, weit weniger als die Kunst von gestern. Müht sich auch heutzutage der eine oder der andere ab, welche Bedeutung haben diese Emsigen? Sie leisten ohne Zweifel ihr Bestes. Darum geben sie uns natürlicherweise das Schlechteste. Immer sind die übelsten Werke mit den besten Absichten begonnen worden. Und überdies, mein lieber Ernst – wenn ein Mann das Alter von vierzig Jahren erreicht hat, oder Akademieprofessor geworden ist, oder zum Mitglied des »Athenaeum Clubs« gewählt wurde, oder als populärer Romanschriftsteller gilt, dessen Bücher auf den Vorstadtbahnhöfen sehr begehrt werden, dann mag es einen amüsieren, ihn bloßzustellen, man wird aber nie das Vergnügen haben, ihn zu bekehren. Glücklicherweise für ihn! Denn bekehrt zu werden, ist zweifellos weit schmerzhafter als Bestrafung; es ist Strafe in ihrer schlimmsten und moralischsten Form. Diese Tatsache erklärt das vollständige Fehlschlagen aller Bestrebungen der Gesellschaft, das interessante Phänomen, den Gewohnheitsverbrecher zu bessern.

Ernst: Ist aber der Dichter nicht möglicherweise der beste Beurteiler der Dichtung, der Maler der beste Kritiker des Gemäldes? Jede Kunst muß sich zunächst an den Künstler wenden, der in ihr wirkt. Sein Urteil wird ohne Zweifel den meisten Wert besitzen?

Gilbert: Alle Künste wenden sich einfach an das künstlerische Temperament; niemals an die Spezialisten. Die Kunst erhebt den Anspruch, umfassend und in all ihren Offenbarungen gleichwohl einheitlich zu sein. In der Tat ist der Künstler sehr weit davon entfernt, der beste Kunstrichter zu sein – ein wirklich großer Künstler ist vielmehr überhaupt nicht imstande, zu urteilen, er hat kaum über die eigene Schöpfung eine Meinung. Eben jenes Versunkensein in die Fülle der Geschichte, das ihn zum Künstler macht, begrenzt durch die Tiefe der Stimmung seine Fähigkeit, scharfsinnig zu urteilen. Des Schaffens Gewalt treibt ihn blind dem eigenen Ziele zu. Die Räder seines Wagens wirbeln den Staub ringsum wie Wolken auf. Die Götter bleiben einander verborgen. Sie können ihre Anbeter erkennen, das ist alles.

Ernst: Du behauptest, ein großer Künstler vermöge nicht die Schönheit eines Werkes zu verstehen, das von seiner eigenen Art verschieden ist.

Gilbert: Er vermag es unmöglich. Wordsworth sah in »Endymion« nur ein nettes Stück Heidentum. Shelley mit seiner Abneigung gegen die Wirklichkeit war, abgestoßen durch Wordsworths Form, taub für dessen Botschaft. Byron, die große, leidenschaftliche, menschlich-unvollkommene Natur, wußte nicht, den Dichter der Wolke, noch den Dichter des Sees zu würdigen; ihm entging das Wunderbare an der Erscheinung Keats. Des Euripides Realismus war Sophokles verhaßt. Diese niedertropfenden warmen Tränen bargen für ihn keinen musikalischen Klang. Milton mit seiner Empfindung für großen Stil konnte Shakespeares Art so wenig verstehen, wie Sir Joshua Gainsboroughs Weise. Schlechte Künstler bewundern immer gegenseitig ihre Werke. Das nennen sie die große, von Vorurteilen freie Gesinnung. Aber ein wirklich großer Künstler kann sich das Leben, die Schönheit nicht anders als auf seine Manier dargestellt denken. Das Schaffen nimmt all sein kritisches Vermögen für sich in Anspruch. Für die Welt der anderen bleibt nichts übrig. Gerade darum ist, wer ein Werk nicht zu tun vermag, dessen recht eigentlicher Beurteiler.

Ernst: Meinst du das im Ernst?

Gilbert: Jawohl, denn das Schaffen begrenzt, das Betrachten erweitert das Gesichtsfeld.

Ernst: Wie steht es aber mit den technischen Fragen? Jeder Kunst ist ohne Zweifel ihre besondere Technik eigen?

Gilbert: Ganz gewiß. Jede Kunst hat ihre Grammatik und ihr Handwerkszeug. Darin liegt nichts Geheimnisvolles; der Unzureichende kann immer fehlerfrei sein. Sind aber auch die Gesetze, worauf die Kunst beruht, genau bestimmt, so müssen sie, um zur rechten Verwirklichung zu gelangen, durch die Phantasie in solche Schönheit gewandelt werden, daß sie uns alle wie Ausnahmen anmuten. Technik ist wirklich Persönlichkeit. Das ist der Grund, warum der Künstler sie nicht lehren, der Schüler sie nicht lernen, aber der ästhetische Kritiker sie verstehen kann. Für den großen Dichter gibt es nur eine Musik – die eigene. Für den großen Maler besteht nur eine Art des Malens, jene, die er selbst übt. Der ästhetische Kritiker, und nur er allein, weiß alle Formen und Arten zu würdigen. An ihn geht die Sendung der Kunst.

Ernst: Nun, ich denke, ich bin mit meinen Fragen an dich zu Ende. Jetzt muß ich bekennen –

Gilbert: Ah! sag' nur nicht, daß du mit mir übereinstimmst. Wenn mir jemand erklärt, er sei meiner Ansicht, empfinde ich, daß ich gewiß im Unrecht bin.

Ernst: Dann will ich lieber verschweigen, ob ich dir recht gebe oder nicht. Doch möchte ich eine andere Frage an dich richten. Du hast mir deutlich gemacht, die Kritik sei eine schöpferische Kunst. Welches ist ihre Zukunft?

Gilbert: Der Kritik gehört die Zukunft. Das Stoffgebiet, das dem schöpferischen Künstler zu Gebote steht, wird jeden Tag begrenzter, sowohl der Ausdehnung wie der Mannigfaltigkeit nach. Die Vorsehung und Mr. Walter Besant haben, was klar auf der Oberfläche lag, ausgeschöpft. Soll das produktive Element überhaupt noch Bestand haben, dann kann das nur unter der Voraussetzung geschehen, daß es viel kritischer wird, als dies heutzutage der Fall ist. Die alten Pfade und staubigen Landstraßen sind allzu oft durchgewandert worden. Ihren Zauber haben plumpe Füße totgetreten; sie haben das Neue, Überraschende, das für die Dichtung so wichtig ist, verloren. Wer uns jetzt durch Poesie aufrütteln will, muß uns entweder völlig neue Hintergründe zeigen oder die Menschenseele in ihrem innersten Weben enthüllen. Jenes wird vorläufig von Mr. Rudyard Kipling geleistet. Blättert man in seinen » Plain Tales from the Hills«, dann gewinnt man das Gefühl, als säße man unter einem Palmenbaum und läse in dem durch Blitze der Gemeinheit erhellten Buch des Lebens. Der Farbenglanz der Basare blendet unsern Blick. Die müdegehetzten, armseligen Anglo-Inder stehen in reizvollem Gegensatz zu ihrer Umgebung. Eben weil dieser Erzähler des Stils ermangelt, hat seine Schilderung den eigentümlich journalistischen Realismus. Vom literarischen Standpunkt ist Mr. Kipling ein Genie, das mir und mich verwechselt. Vom Standpunkt des Lebens ist er ein Reporter, der die Gemeinheit besser kennt, als irgend jemand vor ihm. Dickens kannte ihre Kleidung und ihre Komödien. Mr. Kipling kennt ihr Wesen und ihren Ernst. Er ist unter den Künstlern zweiten Ranges der erste; er hat ganz wundervolle Dinge durch Schlüssellöcher erspäht, seine Hintergründe sind wirkliche Kunstwerke. Was die zweite Voraussetzung betrifft, so hatten wir ja Browning, wir haben Meredith noch immer. Auch wäre auf dem Gebiet psychologischer Durchforschung noch manche Aufgabe zu lösen. Manchmal wird die Meinung laut, unsere Dichtung werde zu krankhaft. Soweit das psychologische Element in Frage kommt, muß man sagen, sie kann nie krankhaft genug werden. Wir haben nur die Oberfläche der Seele berührt, sonst nichts. In einer einzelnen schimmernden Zelle des Gehirns sind Dinge angehäuft, wundervolle und schreckensreicher als selbst jene träumten, die, gleich dem Verfasser von » Le Rouge et le Noir«, sich mühten, die Seele in ihre innersten Schlupfwinkel zu verfolgen, sie zum Geständnis ihrer liebsten Sünden zu zwingen. Doch ist selbst die Zahl der unverwerteten Hintergründe begrenzt. Auch ist es nicht möglich, daß die weitere Entwicklung der Gewohnheit der Selbstbetrachtung eben der schöpferischen Fähigkeit, der sie neues Material herbeischaffen will, verhängnisvoll wird. Ich selbst neige der Ansicht zu, daß dem Schaffen das Urteil gesprochen ist. Es entspringt aus einem allzu primitiven, allzu natürlichen Instinkt. Wie dem auch sei, das eine ist gewiß, daß der Stoffkreis, der den Schaffenden offen steht, stets begrenzter wird, während das Gebiet des Kritikers täglich an Umfang wächst. Der Geist kann immer neue Stellungen, neue Standpunkte einnehmen. Die Pflicht, dem Chaos Gestalt zu geben, wird durch den Fortschritt der Welt keineswegs geringer. Nie gab es eine Zeit, die der Kritik mehr als die unsere bedurft hätte. Nur durch sie wird sich die Menschheit bewußt, bis zu welchem Punkt sie vorgeschritten ist.

Vor einigen Stunden, mein lieber Ernst, hast du mich um meine Meinung über den Nutzen der Kritik gefragt. Du hättest mich ebensowohl nach dem Nutzen des Denkens fragen können. Die Kritik, so führt Arnold aus, schafft die geistige Atmosphäre des Zeitalters. Die Kritik ist es – ich hoffe, dies einmal breiter auszuführen –, die aus dem Geist ein feines Werkzeug bildet. Wir sind dazu erzogen worden, das Gedächtnis mit einer Fülle zusammenhangloser Tatsachen zu beschweren, wir haben uns viel Mühe gegeben, das emsig erworbene Wissen weiter zu leiten. Wir lehren die Menschen, sich zu erinnern, wir lehren sie nie, zu wachsen. Wir ließen es uns niemals beifallen, den Versuch zu machen, eine feinere Art des Auffassens und Urteilens in unserem Geiste zu entwickeln. Die Griechen taten dies, und wenn wir mit dem kritischen Intellekt der Griechen in Berührung gelangen, können wir uns dem Bewußtsein nicht verschließen, daß, wenn auch unser Stoffgebiet in jeder Richtung weiter und bunter als das ihre geworden ist, sie allein den Weg kritischer Deutung erkannt haben. England hat das eine getan: es hat die öffentliche Meinung erfunden und in die Herrschaft eingesetzt. Das ist ein Versuch, die Unwissenheit der Gemeinschaft zu organisieren und zur Würde physischer Macht zu erheben. Die Weisheit aber blieb dieser Gemeinschaft immer verborgen. Als Denkwerkzeug betrachtet, ist der englische Geist ungeschlacht und unentwickelt. Er kann nur auf eine Weise geläutert werden: durch das Wachsen des kritischen Instinkts.

Der kritische Geist ist es allein, dessen gesammelte Kraft die Kultur ermöglicht. Er greift nach der schwerfälligen Menge schöpferischer Werke und preßt aus ihrem Niederschlag eine feinere Essenz. Wer könnte sich, ohne sein Formempfinden zu verlieren, durch den ungeheuerlichen Bücherwust durchringen, den die Welt hervorgebracht hat, Bücher, worin das Denken stammelt oder die Unwissenheit streitet? Der Faden, der uns durch dieses ermüdende Labyrinth führen soll, liegt in den Händen der Kritik. Ja noch mehr. Dort, wo keine Überlieferung besteht und geschichtliche Aufzeichnungen verloren gegangen sind oder niemals niedergeschrieben wurden, vermag der kritische Geist aus dem geringsten Bruchstück der Sprache oder der Kunst die Vergangenheit mit der nämlichen Sicherheit wieder ins Leben zu rufen, mit der der Mann der Wissenschaft aus einem winzigen Knochen oder der bloßen Fußspur auf einem Felsen die beschwingten Drachen und Rieseneidechsen, unter deren Tritt einst die Erde bebte, für uns erstehen läßt und Behemoth aus seiner Höhle lockt und den Leviathan noch einmal über das sich bäumende Meer schwimmen heißt. Die prähistorische Geschichte ist Sache des philologischen und archäologischen Kritikers. Ihm enthüllt sich der Ursprung der Dinge. Die bewußten Überlieferungen eines Zeitalters führen fast immer irre. Durch die philologische Kritik erfahren wir über Jahrhunderte, die uns keine Aufzeichnungen bewahrten, weit mehr als über jene Zeiten, die uns ihre Schriftrollen hinterließen. Sie leistet uns, was weder Physik noch Metaphysik zu leisten vermögen. Sie kann uns die genaue Geschichte des Denkens in seinem Werdegang zeigen. Sie gibt uns, was die Geschichte nicht zu geben vermag. Sie offenbart uns die Gedanken des Menschen aus der Zeit, ehe er das Schreiben lernte. Du hast mich nach dem Einfluß des kritischen Geistes gefragt. Ich glaube, ich habe diese Frage bereits beantwortet. Doch wäre darüber noch das folgende zu bemerken: der kritische Geist macht aus uns Kosmopoliten. Die Manchesterschule versuchte, den Traum der Menschheitsverbrüderung dadurch zu verwirklichen, daß sie die Vorteile des Friedens für den Handel auseinandersetzte. Sie wollte die wundervolle Welt zu einem allgemeinen Marktplatz für den Käufer und Verkäufer herabwürdigen. Sie wandte sich an die niedrigsten Instinkte und hatte keinen Erfolg. Krieg folgte auf Krieg. Die Glaubenssätze des Kaufmanns hinderten Frankreich und Deutschland nicht, in blutigen Schlachten aneinander zu prallen. In unseren Tagen gibt es eine andere Gruppe von Leuten, die sich an die Empfindsamkeit oder an die seichten Dogmen eines unklaren Systems abstrakter Ethik wenden. Sie haben ihre Friedensgesellschaften, die den Sentimentalen so teuer sind, ihre Vorschläge, ein unbewaffnetes internationales Schiedsgericht einzurichten – ein sehr volkstümlicher Vorschlag bei denen, die nie in der Geschichte gelesen haben. Aber die bloße mitfühlende Empfindung wird uns nicht helfen. Sie ist zu veränderlich und allzu eng mit den Leidenschaften verknüpft. Und ein Schiedsgericht, das, zur allgemeinen Wohlfahrt der Nation, der Macht beraubt sein soll, seine Entscheidungen auch durchzusetzen, wird kaum großen Nutzen stiften. Nur eins ist noch schlimmer als die Ungerechtigkeit, und das ist: Gerechtigkeit ohne das Schwert in der Hand. Recht ohne Macht ist ein Übel.

Nein, die Empfindungen werden uns nicht zu Kosmopoliten machen, so wenig dies der Gewinngier gelang. Nur durch stetes Kultivieren der Gewohnheit, geistige Kritik zu üben, werden wir imstande sein, uns über die Rassenvorurteile zu erheben. Goethe – du wirst wohl meine Bemerkung nicht mißverstehen – war ein Deutscher unter Deutschen. Er liebte sein Vaterland – niemand liebte es mehr. Sein Volk war ihm wert; und er war sein geistiger Führer. Und doch, als der eherne Huf Napoleons über die Weingehänge und Kornfelder stampfte, blieben seine Lippen stumm. »Wie kann man Lieder des Hasses schreiben, ohne zu hassen?« sagte er zu Eckermann, »wie könnte ich, dem bloß Kultur und Barbarei von Bedeutung sind, eine Nation hassen, die zu den kultiviertesten der Erde gehört, der ich einen großen Teil meiner eigenen Kultur verdanke?« Dieser Ton, den Goethe in der modernen Welt als erster anstimmte, wird, denk ich, der Ausgangspunkt für das Weltbürgertum der Zukunft sein. Der kritische Geist wird die Rassenvorurteile zerstören, indem er immer wieder die Einheit des menschlichen Denkens in der Mannigfaltigkeit der Formen betont. Werden wir zu einem Krieg wider ein anderes Volk gereizt, dann werden wir uns erinnern, daß wir einen Bestandteil, vielleicht den wichtigsten, unserer eigenen Kultur zu zerstören suchen. Solange man den Krieg als etwas Verruchtes betrachtet, wird er seinen Zauber behalten. Wird man ihn für etwas Gemeines ansehen, dann wird er seine Popularität verlieren. Der Wandel wird allerdings nur langsam vor sich gehen, man wird sich dessen gar nicht bewußt werden. Man wird nicht sagen: »Wir wollen nicht wider Frankreich Krieg führen, weil seine Prosa vollendet ist,« sondern um der vollendeten französischen Prosa willen wird man dies Land nicht hassen. Die geistige Kritik wird Europa weit inniger verbinden, als der Kaufherr oder der Gefühlsschwärmer dies vermochten. Sie wird uns jenen Frieden bescheren, der dem Verstehen entspringt.

Das ist jedoch keineswegs alles. Die Kritik ist es, die keinen Standpunkt als den endgültigen anerkennt und die es ablehnt, sich durch sein seichtes Schibboleth einer Sekte oder Schule zu binden. Eben dadurch erweckt sie jenen heitern philosophischen Geist, der die Wahrheit um ihrer selbst willen liebt, und darum nicht weniger liebt, weil er ihre Unerreichbarkeit kennt. Wie sehr entbehren wir in England dieses Geistes, und wie sehr bedürfen wir seiner! Der englische Geist lebt in steter Raserei. Der Intellekt der Rasse wird in den gemeinen und stumpfsinnigen Kämpfen der Politiker zweiten oder der Theologen dritten Ranges vergeudet. Einem Mann der Wissenschaft war es vorbehalten, uns das erhabene Beispiel jener »süßen Vernünftigkeit« zu gewähren, worüber Arnold so klug und ach! mit so wenig Wirkung gesprochen hat. Der Verfasser des »Ursprunges der Arten« besaß ohne Zweifel diesen philosophischen Geist. Betrachtet man Englands Durchschnitts-Kathederhelden und Tribünenredner, dann wird man nur die Verachtung Julians oder Montaignes Gelassenheit empfinden können. Der Fanatiker beherrscht uns, und sein ärgstes Laster ist die Aufrichtigkeit. Was sich dem freien Spiel des Geistes auch nur nähert, ist bei uns tatsächlich ganz unbekannt. Die Leute erheben ihr Geschrei wider den Sünder, doch ist es nicht der Sünder, sondern der Dummkopf, der uns zur Schande gereicht. Es gibt keine Sünden außer der Dummheit.

Ernst: Ah! Was für ein Widerspruchsgeist du bist!

Gilbert: Der künstlerische Kritiker und der Mystiker befinden sich immer im Widerspruch zu dem herrschenden Geiste. Gut zu sein – nach den herkömmlichen Begriffen – ist offenbar ganz leicht. Dazu bedarf es nur einer gewissen Menge gemeiner Ängstlichkeit, eines gewissen Mangels an phantasievollem Denken und einer gewissen niedrigen Vorliebe für bürgerliche Anständigkeit. Die Ästhetik steht höher als die Ethik. Sie gehören einer geistigeren Sphäre an. Die Schönheit eines Dinges zu begreifen, das ist das Höchste, zu dem wir gelangen können. Selbst der Farbensinn ist für die Entwicklung des Individuums wichtiger als die Unterscheidung von Gut und Böse. Die Ästhetik sieht tatsächlich in der Sphäre bewußter Kultur zur Ethik im nämlichen Verhältnis, in dem die künstlerische Zuchtwahl in der Sphäre der äußeren Welt zur natürlichen Auslese sieht. Die Ethik macht wie die natürliche Zuchtwahl unser Dasein unmöglich. Die Ästhetik macht, wie die künstliche Zuchtwahl, das Dasein lieblich und wundervoll, füllt es mit neuen Formen, verleiht ihm Fortschritt, Buntheit, Wechsel. Und wenn wir die wahre Kultur, die wir anstreben, erreichen, dann gelangen wir zu jener Vollkommenheit, von der die Heiligen träumten, zur Vollkommenheit der Erlesenen, denen das Sündigen unmöglich ist; nicht weil sie etwa die Entsagung des Aszeten üben, sondern weil sie alles, was sie wünschen, tun können, ohne der Seele zu schaden, weil sie überhaupt nichts wünschen können, was der Seele schadet. Die Seele ist ja ein Wesen von solcher Göttlichkeit, daß es in Elemente einer reicheren Erfahrung, einer vornehmeren Empfänglichkeit, einer neuen Art des Denkens solche Handlungen und Leidenschaften umzuformen vermag, die alle bei der gemeinen Seele gemein, bei der unerzogenen unedel oder bei der schmachbedeckten schimpflich wären. Ist dies gefährlich? Jawohl; es ist gefährlich – alle Ideen sind es, wie ich dir sagte. Allein, die Nacht ist müde geworden. Das Licht der Lampe flackert. Noch muß ich dir eins sagen: Du hast gegen den Kritizismus eingewendet, er sei unfruchtbar. Das neunzehnte Jahrhundert bildet in der Geschichte einen Wendepunkt, und dies ist einfach zwei Männern zu danken: Darwin und Renan. Jener ist der Kritiker des Buchs der Natur, dieser der Bücher Gottes gewesen. Das nicht einzusehen, heißt die Bedeutung einer der wichtigsten Epochen in der Geschichte des Fortschritts der Welt verkennen. Das Schaffen läuft immer hinter dem Zeitalter her. Die Kritik ist es, die uns führt. Der kritische Geist und der Weltgeist sind das nämliche.

Ernst: Doch wer im Besitz dieses Geistes, oder von diesem Geist besessen ist, dieser wird, nehme ich an, nichts tun?

Gilbert: Wie Persephone, von der uns Landor erzählt, die süße, sinnende Persephone, um deren weißen Fuß Asphodill und Amaranth blühen, wird er dasitzen, zufrieden, »in jener tiefen, regungslosen Ruhe, die die Sterblichen bemitleiden, aber an der die Götter sich erfreuen.« Er wird auf die Welt hinausschauen und ihr Geheimnis verstehen. Er wird durch die Berührung mit göttlichen Dingen göttlich werden. Sein Leben, und nur das seine, wird vollendet erscheinen.

Ernst: Du hast mir in dieser Nacht manches Seltsame gesagt, Gilbert! Du hast mir gesagt, es sei schwerer, über etwas zu reden, als es zu tun, und es sei das Allerschwierigste auf der Welt, überhaupt nichts zu tun. Du hast mir gesagt, alle Kunst sei unmoralisch und alles Denken gefährlich; die Kritik sei schöpferischer als das Schaffen, und die höchste Kritik sei die, die im Kunstwerk Dinge entdeckt, die der Künstler selbst nicht hineingelegt hat. Du hast mir gesagt, eben, weil jemand ein Werk nicht zu vollführen vermöge, sei er sein geeigneter Richter, der wahre Kritiker sei unaufrichtig, unehrlich und nicht vernünftig. Mein Freund, du bist ein Träumer!

Gilbert: Jawohl, ich bin ein Träumer. Denn ein Träumer ist der, der seinen Weg nur im Mondschein findet. Und seine Strafe ist, daß er vor der übrigen Welt die Dämmerung sieht.

Ernst: Seine Strafe?

Gilbert: Und seine Belohnung. Doch sieh, es dämmert bereits. Schlag die Vorhänge zurück, öffne die Fenster weit. Wie kühl die Morgenluft weht! Piccadilly liegt uns zu Füßen wie ein weißes, silbernes Band. Herrlicher Purpurduft hängt über dem Park, die Schatten der weißen Häuser sind in Purpur gehüllt. Es ist zu spät, zu schlafen. Komm, gehen wir nach Covent Garden hinab und betrachten die Rosen. Komm! Ich bin des Denkens müde.


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