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Die Wahrheit der Masken

Bemerkungen über die Illusion

In einigen der ziemlich heftigen Angriffe, die jüngst gegen den Glanz der Ausstattung, der jetzt in England unsere Wiedererweckung Shakespeares kennzeichnet, erhoben wurden, hat die Kritik, so scheint es, stillschweigend angenommen, Shakespeare selbst sei das Kostüm seiner Schauspieler mehr oder minder gleichgültig gewesen; könnte er Mrs. Langtrys Darstellung von »Antonius und Cleopatra« sehn, dann würde er vermutlich sagen, auf das Stück allein komme es an, alles andere sei Leder und Stoff. Und was die Frage der historischen Genauigkeit des Kostüms betrifft, hat Lord Lytton in einem Artikel im » Nineteenth Century« das Kunstdogma ausgesprochen: archäologische Genauigkeit wäre bei der Darstellung der Shakespeareschen Stücke durchaus nicht am Platz, der Versuch, sie einzuführen, sei eine der albernsten Pedanterien eines Zeitalters, das vom Entlehnen lebe.

Lord Lyttons Standpunkt werde ich später prüfen. Was jedoch die Theorie betrifft, Shakespeare habe auf die Garderobe seines Theaters wenig geachtet, so wird jeder, der sich die Mühe nimmt, Shakespeares Methode zu studieren, erkennen, daß es keinen Dramatiker der französischen, englischen oder athenischen Bühne gibt, der um der Illusionswirkung willen auf das Kostüm seiner Schauspieler so viel Gewicht wie gerade Shakespeare gelegt hätte.

Ihm war wohl bekannt, wie sehr das künstlerische Temperament immer durch die Schönheit des Kostüms bezaubert wird. Eben darum flicht er stets in seine Stücke Maskenzüge und Tänze ein, bloß der Freude wegen, die sie dem Auge gewähren. Wir besitzen noch für die drei großen Prozessionen in »Heinrich dem Achten« seine szenischen Vorschriften, die durch minutiöse Genauigkeit im Detail, bis herab zu den Kragen Seiner Eminenz und den Perlen im Haar Anna Boleyns, ausgezeichnet sind. Wahrhaftig, es würde einem modernen Direktor nicht schwer fallen, die Festzüge genau nach Shakespeares Anweisungen auf die Szene zu stellen. Diese waren so peinlich genau, daß einer der Hofbeamten jener Zeit in einem Bericht über die letzte Aufführung dieses Stücks am »Globe-Theater« einem Freund gegenüber sich tatsächlich über ihren Realismus beklagt, besonders darüber, daß man die Ritter des Hosenbandordens in der Tracht und mit den Insignien des Ordens auf die Bühne bringe. Dies habe den Zweck, die wirklichen Zeremonien lächerlich zu machen. Genau im nämlichen Geist hat die französische Regierung vor einiger Zeit dem M. Christian, diesem entzückenden Schauspieler, verboten, in Uniform auf der Bühne zu erscheinen; daß ein Oberst karikiert werde, schädige den Ruhm der Armee. Und auch sonst wurde der Prunk, der die englische Bühne unter Shakespeares Einfluß auszeichnete, von den Kritikern seiner Zeit zum Gegenstand des Angriffs genommen, in der Regel allerdings nicht aus Gründen der demokratischen Tendenzen des Realismus, sondern zumeist aus jenen moralischen Motiven, die stets die letzte Zuflucht derer bilden, denen Schönheitssinn mangelt.

Was ich jedoch nachträglich betonen möchte, ist keineswegs, daß Shakespeare durch die Verbindung malerischen Beiwerks mit der Poesie seine Schätzung des reizvollen Kostüms zu erkennen gab, sondern daß er die Bedeutung des Kostüms als eines Mittels, gewisse dramatische Wirkungen hervorzubringen, erkannte. Die Illusion in manchen seiner Stücke, wie z. B. »Maß für Maß«, »Wie es euch gefällt«, »Die beiden Edelleute von Verona«, »Ende gut, alles gut«, »Cymbeline« u. a. hängt von der Verschiedenartigkeit der Kleidung ab, die der Held oder die Heldin trägt. Die entzückende Szene in »Heinrich dem Sechsten«, die von den modernen Wunderkuren handelt, die der Glaube verrichtet, diese Szene verliert ihre Wirkung gänzlich, wenn Gloster nicht in Schwarz und Scharlach gekleidet auftritt. Und bei der Lösung des Knotens in den »Lustigen Weibern von Windsor« ist die Farbe des Gewandes der Anna Page von wesentlicher Bedeutung. Für die Verwendung der Verkleidung bei Shakespeare gibt es zahllose Beispiele. Posthumus verbirgt seine Leidenschaft unter eines Bauern Kleid und Edgar seinen Stolz unter den Lumpen eines Wahnsinnigen. Porzia bedient sich der Tracht eines Anwalts, Rosalinde erscheint »durchaus wie ein Mann« gekleidet. Pisanios Mantelsack verwandelt Imogen in den Jüngling Fidele. Jessica entflieht, als Knabe verkleidet, aus dem Haus ihres Vaters, Julia knüpft ihr blondes Haar in phantastische Liebesknoten und legt Hose und Wams an. Heinrich der Achte wirbt um seine Dame als Schäfer, Romeo als Pilger; Prinz Heinz und Poins erscheinen zuerst als Wegelagerer in steifleinenem Anzug, dann mit weißen Schürzen und Lederjoppen als Kellner in einer Schenke. Und tritt uns Fallstaff nicht als Straßenräuber, als altes Weib, als »Herne, der Jäger«, als Wäsche, die ins Waschhaus gebracht wird, entgegen? Auch die Beispiele der Steigerung der dramatischen Situation durch die Anwendung des Kostüms sind nicht weniger zahlreich. Nach der Ermordung Duncans erscheint Macbeth in seinem Nachtgewand, als sei er eben vom Schlaf aufgestanden. Timon, der das Stück in Pracht eröffnete, endet in Lumpen. König Richard schmeichelt den Londoner Bürgern durch seine geringe und schäbige Rüstung, und, kaum daß er durch Blut zum Thron geschritten ist, zieht er durch die Straßen, angetan mit Krone und den Insignien des Hosenbandordens. Der Höhepunkt des »Sturms« ist in dem Augenblick erreicht, wo Prospero die Tracht eines Zauberers von sich wirft, Ariel nach seinem Hut und Degen entsendet und sich als der große italienische Herzog zu erkennen gibt. Selbst der Geist in »Hamlet« ändert seine geheimnisvolle Tracht je nach der Wirkung, die er zu üben gedenkt. Was Julia angeht, so würde ein moderner Stückeschreiber sie vermutlich in ihrem Sterbehemd zur Schau gestellt haben; er hätte damit nur eine Schauerszene gewonnen. Shakespeare aber gibt ihr reiche und prunkvolle Gewänder, deren Lieblichkeit die Gruft zu einer »Festhalle voller Licht«, das Grab zu einem Brautgemach wandelt und Romeos Reden über den Triumph der Schönheit über den Tod veranlaßt und begründet.

Selbst geringfügige Details der Kleidung, wie die Farbe der Strümpfe eines Majordomus, das Muster im Taschentuch einer Frau, die Ärmel eines jungen Soldaten, die Hüte einer Dame von Welt werden in Shakespeares Händen Momente von wirklich dramatischer Bedeutung. Die Handlung eines Stückes hängt zuweilen völlig davon ab. Viele andere Dramatiker haben sich des Kostüms als eines Mittels, den Zuhörern den Charakter einer Person sogleich bei ihrem Auftreten klar zu machen, bedient, doch keiner so glänzend wie Shakespeare im Falle des Gecken Parolles, dessen Kleidung, beiläufig gesagt, nur ein Archäologe verstehen kann. Der Scherz, daß Herr und Diener vor dem Publikum die Kleider wechseln oder daß Schiffbrüchige über die Verteilung eines Haufens kostbarer Gewänder in Zank geraten, und daß etwa ein Kesselflicker in seinem Rausch wie ein Herzog aufgeputzt wird, kann als Teil der wichtigen Rolle betrachtet werden, die das Kostüm von der Zeit des Aristophanes bis zu Mr. Gilbert in der Komödie gespielt hat. Doch hat aus bloßen Einzelheiten des Anzugs und des Schmucks keiner solch ironische Gegensätze, solch unmittelbare tragische Wirkungen, so viel Mitleid und so viel Pathos zu gewinnen gewußt, wie Shakespeare. Von Kopf zu Fuß bewaffnet, schreitet der tote König auf den Schlachtgefilden von Elsinore einher, weil etwas im Staate Dänemark faul ist. Shylocks Judenkaftan bildet mit einen Teil des Schimpfs, unter dem diese verletzte, verbitterte Seele sich krümmt. Arthur, um sein Leben flehend, findet keinen besseren Fürsprecher als das Tuch, das er Hubert gegeben hat.

»Habt ihr das Herz? Als euch der Kopf nur schmerzte,
So band ich euch mein Schnupftuch um die Stirn,
(Mein bestes, eine Fürstin stickt' es mir,)
Und niemals fordert ich's euch wieder ab.«

Und Orlandos blutbeflecktes Tuch wirft den ersten düsteren Schatten in jenes köstliche Waldidyll und zeigt uns die Tiefe des Gefühls, das unter dem phantastischen Witz, den eigenwilligen Scherzen der Rosalinde verborgen liegt.

»Es war an meinem Arm noch gestern abend;
Da küßt ich's: wenn's nur nicht zu meinem Herrn,
Zu sagen geht, ich küßte sonst noch was«,

sagt Imogen und scherzt über den Verlust des Armbands, das bereits auf dem Weg nach Rom war, ihr die Treue des Gatten zu rauben. Der kleine Prinz spielt, zum Tower schreitend, mit dem Dolch im Gürtel seines Oheims. Duncan schickt in der Nacht, wo er gemordet wird, der Lady Macbeth einen Ring, und der Ring der Porzia wandelt die Tragödie des Kaufmanns in die Komödie einer Frau. York, der große Rebell, stirbt, eine papierne Krone auf dem Haupt; Hamlets schwarzes Gewand bedeutet im Stück eine Art Farbenmotiv, wie das Trauerkleid der Chimène im Cid, und der Höhepunkt der Rede des Antonius ist erklommen, da er Cäsars Gewand vorweist:

»Noch erinnere ich mich
Des ersten Males, daß es Cäsar trug,
In seinem Zelt, an einem Sommerabend,
Er überwand den Tag die Nervier. –
Hier, schauet! fuhr des Cassius Dolch herein;
Seht, welchen Riß der tück'sche Casca machte!
Hier stieß der vielgeliebte Brutus durch.
Wie? weint ihr, gute Herzen, seht ihr gleich
Nur unsers Cäsars Kleid verletzt?«

Die Blumen, mit denen sich Ophelia in ihrem Wahnsinn schmückt, sprechen eine so leidenschaftliche Sprache wie die Veilchen, die auf einem Grab blühen. Mehr als Worte vermögen, ergreift uns König Lears irrendes Wandern auf der Heide durch seinen phantastischen Putz. Und als Cloten, verletzt durch den Vergleich, den seine Schwester zwischen ihm und ihres Gatten Kleidung zieht, das Gewand dieses Gatten selbst anlegt, um an ihr die schmachvolle Untat zu begehn, da fühlen wir, daß im ganzen modernen französischen Realismus, selbst in der » Thérèse Raquin«, diesem Meisterstück des Schaurigen, es keine Stelle gibt, die sich an furchtbarer und tragischer Symbolik mit der seltsamen Szene in »Cymbeline« messen könnte.

Auch im Dialog werden einige der lebhaftesten Momente durch das Kostüm angeregt. Rosalindes:

»Denkst du, weil ich wie ein Mann ausstaffiert bin, daß auch meine Gemütsart in Wams und Hosen ist?«

Constantias:

»Der Gram füllt aus die Stelle meines Kindes
Und gibt den leeren Kleidern seine Form;«

und der rasche scharfe Schrei Elisabeths:

»Ah! durchschneidet meine Schnüre!«

sind nur wenige der sehr zahlreichen Beispiele, die man anführen könnte. Eine der feinsten Wirkungen, die ich von der Bühne herab je empfing, danke ich Salvini, im letzten Akt des »Lear«. Er riß von der Mütze Kents die Feder herab – und legte sie auf Cordelias Lippen in dem Augenblick, wo er die Worte zu sprechen hat:

»Die Feder regt sich! Ja. Sie lebt!«

Mr. Booth, dessen Lear viele herrliche Momente der Leidenschaft besaß, riß – ich erinnere mich noch daran – aus seinem archäologisch fehlerhaften Hermelinpelz zu diesem Zweck ein paar Haare. Die Wirkung aber, die Salvini erzielte, war schöner und zugleich lebensechter. Und alle, die im letzten Akt von »Richard dem Dritten« Mr. Irving sahn, haben ohne Zweifel nicht vergessen, wie sehr Pein und Schrecken seines Traums durch den Gegensatz gesteigert wurde, der zwischen der vorausgegangenen Ruhe und Stille und dem Vortrag solcher Verse liegt, wie:

»Nun, ist mein Sturmhut leichter, als er war?
Und alle Rüstung mir ins Zelt gelegt? Sieh zu.
Daß meine Schäfte fest und nicht zu schwer sind –«

Zeilen, die für die Zuhörer doppelte Bedeutung hatten; denn sie erinnerten sich der letzten Worte, die Richards Mutter ihm nachrief, da er nach Bosworth zog:

»Drum nimm mit dir den allerschwersten Fluch,
Der mehr am Tag der Schlacht dich mög ermüden
Als all die volle Rüstung, die du trägst.«

Was die Hilfsmittel, die Shakespeare zu seiner Verfügung hatte, betrifft, muß bemerkt werden, daß er sich zwar mehr als einmal über die Kleinheit der Bühne beklagt, worauf er große historische Stücke darstellen sollte, über den Mangel an Dekorationen, der ihn zwinge, manche sehr wirksame Vorgänge, die vor aller Augen sich ereignen sollten, wegzulassen – trotz alldem schreibt er als Dramatiker, der eine sehr reiche Theatergarderobe zu seiner Verfügung hatte und sich darauf verlassen konnte, daß seine Schauspieler auf ihre Kostümierung Mühe verwenden würden. Selbst jetzt ist es schwer, ein Stück wie die »Komödie der Irrungen« aufzuführen. Wir danken dem pittoresken Zufall, daß Miß Ellen Terrys Bruder ihr ähnelt, eine recht gute Aufführung von »Was Ihr wollt«. In der Tat bedarf man zur Inszenierung irgendeines Shakespeareschen Stücks in dem Sinne, wie er es selbst gewünscht hätte, eines tüchtigen Requisitenarbeiters, eines geschickten Perückenmachers, eines Theaterschneiders, der Sinn für Farbe und Kenntnis der Gewebe besitzt, eines Kenners der Schminkmethoden, eines Fechtmeisters, eines Tanzmeisters und eines Künstlers, der persönlich die ganze Aufführung leitet. Denn Shakespeare verwendet auf die Schilderung der Kleidung und des Auftretens jeder Figur sehr viel Mühe. »Racine verabscheut die Wirklichkeit,« sagt Auguste Vacquerie irgendwo; »er hält es unter seiner Würde, sich mit dem Kostüm abzugeben. Würde man sich an die Vorschriften des Dichters halten, dann müßte man Agamemnon mit einem Zepter und Achilles mit einem Degen ausstaffieren.« Bei Shakespeare jedoch ist das ganz anders. Er gibt uns Winke über das Kostüm der Perdita, des Florizel und Autolycus, der Hexe in »Macbeth« und des Apothekers in »Romeo und Julia«; er läßt es an sorgfältigen Beschreibungen seines feisten Ritters und an umständlichen Schilderungen des seltsamen Aufzugs, in dem Petruchio seine Hochzeit zu begehen hat, nicht fehlen. Rosalinde, erzählt er uns, soll schlank sein und einen Speer und einen kleinen Dolch tragen; Celia ist kleiner und soll ihr Gesicht braun schminken, damit sie sonnverbrannt aussehe. Die Kinder, die die Feen im Windsorwalde mitspielen, sollen in Weiß und Grün gekleidet werden – ein Kompliment, nebenbei gesagt, für die Königin Elisabeth, deren Lieblingsfarben dies waren –, und mit weißen und grünen Girlanden und vergoldeten Masken sollen die Engel zu Katharina nach Kimbolton kommen. Bottom erscheint in grobem Wollstoff, Lysander unterscheidet sich von Oberon dadurch, daß er in athenischer Tracht auftritt, und Launce hat Löcher in seinen Stiefeln. Die Herzogin von Gloucester steht im Büßerhemd da, hinter ihr der Gatte in Trauerkleidung. Das buntscheckige Kleid des Narren, der Scharlach des Kardinals, die französischen Lilien, gestickt auf englische Röcke: dies alles wird im Dialog zu witzigen oder spöttischen Bemerkungen benutzt. Wir kennen die Zierate auf der Rüstung des Dauphins und dem Schwert der Pucelle, wir kennen den Helmbusch Warwicks und die Farbe der Nase Bardolphs. Porzia hat goldblondes, Phoebe schwarzes Haar, Orlando hat kastanienbraune Locken, und Sir Andrew Aguecheeks Haar hängt, gleich Flachs auf dem Rocken, herab und will sich nicht kräuseln. Manche seiner Figuren sind dick, manche mager, einige sind gerade gewachsen, andere bucklig, einige von lichter, andere von dunkler Haarfarbe und einige sollen ihr Gesicht schwarz färben. Lear hat einen weißen Bart, Hamlets Vater einen grauen, und Benedikt muß im Verlauf des Stücks rasiert werden. In der Tat, über die Bühnenbärte verbreitet sich Shakespeare sehr ausführlich; er erzählt uns von den vielen verschiedenen Farben, die zur Anwendung kommen. Er gibt den Schauspielern den Wink, stets darauf zu achten, daß ihre Bärte festsitzen. Es kommt ein Tanz von Schnittern mit ihren Strohhüten und von Bauern vor, die in ihren haarigen Kleidern den Satyrn gleichen; eine Maskerade der Amazonen, eine Maskerade der Russen und eine Maskerade in klassischen Trachten; unsterbliche Szenen mit einem Weber, dem der Kopf eines Esels aufgesetzt ist; ein Raufhandel wegen der Farbe eines Rocks, den der Lordmayor von London schlichten muß; eine Szene zwischen einem erzürnten Gatten und der Putzmacherin seiner Frau wegen eines Ärmelschlitzes.

Was die Metaphern Shakespeares, die der Kleidung entnommen sind, was die aphoristischen Bemerkungen betrifft, die er darüber macht, seine Sticheleien auf die lächerlich großen Damenhüte und die vielen Beschreibungen des mundus muliebris vom Lied des Autolycus im »Wintermärchen« bis herab zu der Schilderung des Gewands der Herzogin von Mailand in »Viel Lärm um nichts« – dergleichen findet sich bei Shakespeare zu häufig, als daß man es zitieren könnte. Doch darf man vielleicht erinnern, daß in der Szene Lears mit Edgar die ganze Philosophie der Kleidung enthalten ist – eine Stelle, die vor der grotesken Weisheit und den manchmal bombastischen metaphysischen Ausführungen des » Sartor Resartus« den Vorzug der Kürze und des Stils besitzt. Ich denke jedoch, aus allem, was ich sagte, ergibt sich bereits klar, daß Shakespeare sich für das Kostüm sehr interessierte. Ich meine das nicht in jenem törichten Sinn, in dem man etwa aus seiner Kenntnis der Urkunden und Asphodills den Schluß gezogen hat, er sei der Blackstone und Paxton der Elisabethanischen Zeit gewesen. Aber er erkannte, daß das Kostüm dazu dienen kann, gewisse Eindrücke im Zuschauer wachzurufen und gewisse Charaktertypen auszudrücken und daß es eins der wichtigsten Hilfsmittel für den wahren Illusionisten ist. Ja, ihm war Richards Mißgestalt so wert wie die Anmut der Julia; er stellt den groben Kittel des Volksmannes neben das seidene Gewand des Lords; er erkennt die Bühnenwirkung, die man aus beiden ziehen kann; er findet an Caliban so viel Gefallen wie an Ariel, an Lumpen so viel wie an goldenen Gewändern, er erfaßt die künstlerische Schönheit des Häßlichen.

Die Schwierigkeit, die Ducis bei der Übersetzung Othellos darin fand, daß einem so gewöhnlichen Ding, wie es ein Taschentuch ist, solche Bedeutung beigemessen wird, und sein Versuch, die Derbheit des Ausdrucks dadurch abzuschwächen, daß er den Mohren den Ruf ausstoßen ließ: » Le bandeau! le bandeau!«, mag als Beispiel für den Unterschied zwischen der tragédie philosophique und dem Drama des wirklichen Lebens dienen. Der Augenblick, da das Wort mouchoir im Théâtre Français zum erstenmal gebraucht wurde, leitete in der romantisch-realistischen Bewegung, deren Vater Hugo heißt und deren enfant terrible Zola ist, eine neue Ära ein, genau wie zu Beginn des Jahrhunderts der Klassizismus darin seinen stärksten Ausdruck gefunden hat, daß Talma sich weigerte, griechische Helden in gepuderter Perücke zu spielen. Dies bildet, beiläufig bemerkt, eins der vielen Beispiele für das Streben nach archäologischer Genauigkeit des Kostüms, das die großen Schauspieler unserer Zeit auszeichnete.

In einer Kritik über die Wichtigkeit, die dem Geld in der » Comédie Humaine« beigemessen wird, sagt Gautier, Balzac gebühre der Ruhm, einen neuen Helden » le héros métallique«, für die Dichtung gefunden zu haben. Von Shakespeare kann man behaupten, daß er der erste war, der den dramatischen Wert von Wämsern erkannte, und daß eine Peripetie von einer Krinoline abhängen kann.

Der Brand des Globe-Theaters – ein Ereignis, das, nebenbei bemerkt, durch die Leidenschaft, Illusion zu erwecken, welche die Shakespearesche Bühnenleitung auszeichnet, verursacht wurde, hat uns bedauerlicherweise vieler wichtiger Dokumente beraubt; doch findet man in dem noch erhaltenen Inventar der Garderobe eines Londoner Theaters zur Zeit Shakespeares eine Reihe besonderer Kostüme erwähnt: Kostüme für Kardinale, Hirten, Könige, Clowns, Mönche und Narren; grüne Röcke für das Gefolge Robin Hoods und ein grünes Kleid für Maid Marian, ein weißes und goldenes Wams für Heinrich den Fünften und ein Staatskleid für Longshanks; überdies Chorhemden, Chorröcke, Damastmäntel, Gold- und Silber-, Taffet-, Kalikogewänder, Samt-, Seiden- und Friesröcke, Jacken aus gelbem und schwarzem Leder, rote, graue Anzüge, französische Pierrotkostüme, ein Gewand, »um unsichtbar zu werden«, das für 70 Mark billig scheint, und vier unvergleichliche Reifröcke. All dies zeigt den Wunsch, jeder Figur das ihr entsprechende Kleid zu geben. Da sind auch spanische, maurische und dänische Kostüme verzeichnet, desgleichen Helme, Lanzen, gemalte Schilde, Kaiserkronen und päpstliche Tiaren, Kostüme für türkische Janitscharen, römische Senatoren und für all die Götter und Göttinnen des Olymps; sie erweisen zur Genüge die tüchtigen archäologischen Bemühungen des Theaterdirektors. Es ist richtig, daß auch eines Korsetts für Eva Erwähnung getan wird, doch haben die Ereignisse dieses Stücks vermutlich nach dem Sündenfall gespielt.

Wahrhaftig, jeder, der sich die Mühe nimmt, das Zeitalter Shakespeares zu studieren, wird finden, daß das Interesse für Archäologie eins seiner Merkmale ist. Nach jenem Wiederaufleben der klassischen Form der Architektur, das eins der Kennzeichen der Renaissance ist, und nachdem man in Venedig und an anderen Stätten die Meisterwerke der griechischen und römischen Literatur zu drucken angefangen hatte, erwachte ganz natürlich das Interesse für den Schmuck und die Trachten der antiken Welt. Diese Dinge studierten die Künstler nicht um der Kenntnisse willen, die sie daraus schöpfen konnten, sondern der Schönheit wegen, die sie hervorbringen wollten. Die seltsamen Werke, die durch Ausgrabungen unaufhörlich ans Licht gebracht wurden, ließ man nicht in Museen vermodern, damit ein stumpfsinniger Konservator sie betrachte, oder ein Polizist, der nichts zu tun hat, sich dabei langweile. Man benützte sie als Motive zur Hervorbringung einer neuen Kunst, die nicht bloß schön, sondern auch ungewöhnlich sein sollte.

Infessura berichtet uns, daß im Jahre 1485 einige Arbeiter bei Ausgrabungen auf der appischen Straße einen alten römischen Sarkophag fanden mit der Inschrift: »Julia, Tochter des Claudius«. Als man das Behältnis öffnete, entdeckte man in seinem Marmorschoße die Leiche einer wundervollen Jungfrau, die etwa fünfzehn Jahre alt sein mochte und durch die Geschicklichkeit des Einbalsamierers vor dem Verderben und dem Verfall der Zeit bewahrt worden war. Ihre Augen waren halb offen, ihr Haar umkräuselte sie in goldenen Locken, und von ihren Lippen und Wangen war die Blüte des Mädchentums noch nicht geschwunden. Man brachte sie aufs Kapitol zurück, da bildete sich um sie plötzlich ein neuer Kult, von allen Seiten strömten Leute herbei, um vor dem seltsamen Grabmal ihre Andacht zu verrichten. Der Papst ließ endlich, aus Furcht, die, die das Geheimnis der Schönheit in einer heidnischen Gruft gefunden hätten, möchten vergessen, welche Geheimnisse Judäas rauhes Felsengrab berge, den Leichnam zur Nacht wegschaffen und insgeheim bestatten. Mag diese Erzählung eine Legende sein oder nicht, ihr Wert wird deshalb nicht geringer; sie zeigt uns die Stellung der Renaissance gegenüber der Antike. Die Archäologie galt dieser Zeit nicht bloß als Wissenschaft für den Antiquar; sie galt ihr als Mittel, den trockenen Staub der Vorzeit in den Atem und die Schönheit des Lebens selbst zu verwenden, mit neuem Wein der Romantik Formen zu füllen, die sonst alt und abgenützt gewesen wären. Von Niccola Pisanos Katheder bis zu Mantegnas »Triumph des Caesar« und dem Tafelgeschirr, das Cellini für König Franz entwarf, kann man den Einfluß dieses Geistes nachweisen. Dieser war jedoch nicht bloß auf die unbeweglichen Künste beschränkt – jene Künste, die nur einen Augenblick festhalten –, sein Einfluß trat auch bei den großen griechisch-römischen Maskenzügen zutage, die die stete Unterhaltung der heiteren Höfe jener Zeit bildeten. Auch in den öffentlichen Festzügen und Umzügen, mit denen die Bürger der großen Handelsstädte die Fürsten bei ihren gelegentlichen Besuchen zu begrüßen pflegten, merkt man diesen Geist. Diese Aufzüge galten, nebenbei erwähnt, für so wichtige Ereignisse, daß man sie in mächtigen Druckwerken, die veröffentlicht wurden, festhielt – eine Tatsache, die das allgemeine Interesse, das man damals an diesen Dingen nahm, bekundet.

Diese Verwertung archäologischer Kenntnisse auf der Schaubühne ist keineswegs eingebildete Pedanterie, vielmehr etwas durchaus Berechtigtes und Schönes. Denn auf der Bühne treffen nicht bloß alle Künste zusammen, hier findet auch die Kunst den Weg zum Leben zurück. In archäologischen Romanen scheint zuweilen durch die Anwendung fremder und veralteter Ausdrücke die Wirklichkeit unter allerlei gelehrten Dingen vermummt. Ich darf wohl sagen: vielen Lesern von Notre Dame de Paris ist die Bedeutung solcher Bezeichnungen wie la casaque à mahoitres, les voulgiers, le gallimard taché d'encre, les craaquiniers und dergleichen wenig klar geworden. Wie anders auf dem Theater! Die alte Welt erwacht aus ihrem Schlummer, die Geschichte schreitet in festlichem Zuge an unserem Blick vorüber, ohne daß wir genötigt wären, unsere Zuflucht zu einem Wörterbuch oder einer Enzyklopädie zu nehmen. Es liegt wirklich nicht die geringste Notwendigkeit vor, dem Publikum die Gewährsmänner für die Inszenierung eines Stücks bekanntzugeben. Aus Materialien, die der Mehrzahl des Publikums vermutlich nicht sehr vertraut sind, hat Mr. E. W. Godwin, einer der künstlerisch feinsten Geister in England dieses Jahrhunderts, die wundersame Anmut des Bühnenbilds im ersten Akt des »Claudian« gewonnen. Er hat uns das Leben von Byzanz im vierten Jahrhundert deutlich gemacht – nicht durch trockene Vorlesungen und eine Reihe langweiliger Beispiele, nicht durch eine Erzählung, die eines Glossariums zu ihrer Erklärung bedarf, sondern durch die lebensvolle Darstellung der großen Stadt in ihrem ganzen ruhmvollen Glanz. Die Kostüme waren wahrheitsgetreu bis herab zu den geringsten Details von Farbe und Zeichnung; dennoch ist dies alles nicht so unnatürlich hervorgehoben, wie naturgemäß in einer bruchstückweisen Vorlesung, sondern die Details sind der Größe des Kompositionsplans und der Einheit künstlerischer Wirkung untergeordnet. Mr. Symonds sagt von dem großen Gemälde des Mantegna, das sich jetzt in Hampton Court befindet, der Künstler habe ein antiquarisches Motiv zu Linienmelodien umgeformt. Das gleiche hätte man mit Recht von Godwins Bühnenbilde sagen können. Nur die Narren nannten es pedantisch, nur die, die weder zu sehen noch zu hören vermögen, sagten, die Leidenschaft des Stücks werde durch seine szenische Ausschmückung zerstört. Dieses szenische Bild war nicht bloß in seiner malerischen, sondern auch in seiner dramatischen Wirkung vollendet, denn es ersetzte die langweiligen Schilderungen, es offenbarte uns durch die Farbe und Art des Gewandes des Claudian und seiner Begleiter das ganze Wesen, das ganze Leben des Mannes, all seine Neigungen vom philosophischen System, das er liebte, bis herab zu den Pferden, auf die er beim Rennen wettete.

In der Tat ist die archäologische Wissenschaft nur dann wirklich reizvoll, wenn sie in irgendeine Kunstform umgegossen wird. Ich will die Dienste des emsigen Gelehrten durchaus nicht unterschätzen, doch fühle ich, daß Keats von Lemprières Doktrinär weit wertvolleren Gebrauch gemacht hat, als Professor Max Müller, der dieselbe Mythologie als eine »Krankheit der Sprache« behandelt. »Endymion« ist jeder gesunden, oder, wie in diesem Falle, ungesunden Theorie über eine Epidemie unter den Adjektiven vorzuziehen! Und wer fühlt nicht, daß der Hauptruhmestitel des Buchs Piranesis über Vasen ist, Keats zu seiner »Ode an eine griechische Urne« die Anregung gegeben zu haben? Die Kunst, die Kunst allein kann die Archäologie zu etwas Herrlichem machen. Die Kunst des Theaters kann dies auf die unmittelbarste und lebendigste Art; denn sie vermag in einer ausgezeichneten Aufführung, die Illusion des wirklichen Lebens mit den Wundern der unwirklichen Welt zu verbinden. Doch das sechzehnte Jahrhundert war nicht bloß das Zeitalter des Vitruv, es war auch die Zeit des Vecellio. In jeder Nation scheint plötzlich das Interesse für die Trachten ihrer Nachbarn erwacht zu sein. Europa begann seine eigenen Trachten zu durchforschen, die Zahl der Bücher, die über Nationalkostüme publiziert wurden, ist ganz außerordentlich groß. Zu Beginn des Jahrhunderts erreichte die »Nürnberger Chronik« mit ihren zweitausend Illustrationen die fünfte Auflage, und noch vor Ende des Jahrhunderts waren über siebzehn Auflagen der Münsterschen »Kosmographie« veröffentlicht. Außer diesen beiden Büchern erschienen noch Werke von Michael Colyns, von Hans Weigel, von Amman und von Vecellio selbst; alle diese waren mit trefflichen Bildwerken versehen, einige der Zeichnungen bei Vecellio sind vermutlich von der Hand Tizians.

Auch schöpfte man seine Kenntnisse nicht bloß aus Büchern und Abhandlungen. Es entwickelt sich die Gewohnheit, Reisen ins Ausland zu unternehmen. Der kaufmännische Verkehr zwischen den Ländern nahm an Ausdehnung zu. Immer häufigere diplomatische Missionen gewährten jeder Nation viele Möglichkeiten, die Trachtenbuntheit der Zeitgenossen zu studieren. Nachdem beispielsweise die Gesandten des Zaren, des Sultans und des Prinzen von Marokko England verlassen hatten, veranstalteten Heinrich der Achte und seine Freunde verschiedene Maskenspiele im Kostüm ihrer Besucher. Später erblickte London, vielleicht zu häufig, den finsteren Glanz des spanischen Hofs. Aus allen Ländern kamen Gesandte zu Elisabeth. Deren Trachten gewannen – Shakespeare berichtet es uns – für das englische Kostüm große Bedeutung.

Das Interesse beschränkte sich auch keineswegs auf klassische Gewänder oder auf die Kostüme fremder Nationen. Die Theaterleute stellten insbesondere über die früher in England selbst üblichen Trachten Nachforschungen an. Wenn Shakespeare im Prolog zu einem seiner Stücke seinem Bedauern darüber Ausdruck gibt, daß er nicht in der Lage war, Helme aus jener Periode vorzuweisen, spricht er als Theaterleiter, nicht nur als Dichter der Elisabethanischen Zeit. In Cambridge wurde beispielsweise zu Shakespeares Lebzeiten ein Stück, »Richard der Dritte«, aufgeführt, in dem die Schauspieler in den wirklichen Kostümen der Zeit auftraten. Man hatte sich diese Kostüme aus der großen Sammlung historischer Gewänder im Tower beschafft, die stets dem Besuch der Theaterleiter offen stand und diesen bisweilen zur Verfügung gestellt wurde. Ich kann den Gedanken kaum unterdrücken, daß diese Aufführung, soweit das Kostüm in Frage kommt, eine viel künstlerischere gewesen sein muß, als die Garricksche Darstellung des Shakespeareschen Dramas über diesen Gegenstand. Garrick trat darin in einem seltsam phantastischen Gewande auf, die anderen Schauspieler trugen Kostüme aus der Zeit Georgs des Dritten. Insbesondere Richmond wurde in der Uniform eines jungen Gardisten sehr bewundert.

Denn welchen Nutzen sollte die Schaubühne aus der Archäologie, die unsere Kritiker so seltsam erschreckt hat, ziehen, als den, daß sie, und nur sie allein, uns die Architektur und das äußere Gepräge der Zeit, in der die Handlung des Stücks vor sich geht, vermitteln kann. Sie setzt uns in die Lage, einen Griechen wie einen Griechen, einen Italiener wie einen Italiener angezogen zu sehen, die Bogengänge Venedigs und die Balkone Veronas zu unserer Freude zu schauen. Spielt das Stück in einer der großen Epochen der Geschichte unseres Vaterlandes, so vermag man dadurch diese Zeit in ihrem eigenen Gewande und den König in dem Kleid, in dem er lebte, zu betrachten.

Ich würde, nebenbei bemerkt, gerne wissen, was Lord Lytton noch vor kurzem dazu gesagt hätte, wenn im Prinzeßtheater bei der Aufführung des Dramas seines Vaters, »Brutus«, sobald der Vorhang aufgezogen, der Titelheld in einem Sessel aus der Zeit der Königin Anna gelehnt hätte, geschmückt mit einer wallenden Perücke und angetan mit einem geblümten Morgenrock, einem Kostüm, das man im letzten Jahrhundert als für das antike Rom besonders passend ansah. In jenen ruhigen Tagen des Theaters bedrohte noch kein Archäologe den Frieden der Bühne oder beunruhigte die Kritiker. Unsere unkünstlerischen Großväter saßen friedlich in einer niederdrückend anachronistischen Atmosphäre und betrachteten mit dem sanften Behagen dieses prosaischen Zeitalters einen bepuderten Jago, der Schönheitspflästerchen trug, einen Lear mit Spitzenmanschetten, eine Lady Macbeth in einer weiten Krinoline. Ich begreife, daß man die Archäologie wegen ihres allzu realistischen Gepräges angreift. Man schießt aber weit übers Ziel, wenn man sie als pedantisch bekämpft. Es ist überhaupt töricht, sie aus irgendwelchen Gründen zu befehden. Man könnte ebensowohl über den Äquator aburteilen. Die Archäologie bedeutet, als eine Wissenschaft, weder etwas Gutes, noch etwas Schlimmes; sie ist einfach eine Tatsache. Ihr Wert hängt gänzlich von dem Gebrauche ab, den man davon macht, und nur ein Künstler kann sie benutzen. Wir wenden uns wegen des Materials an den Archäologen, wegen der Art, wie man es verwendet, an den Künstler.

Beim Entwerfen der Szenerie und der Kostüme eines Shakespeareschen Stücks hat der Künstler zunächst die Zeit, in der dieses Drama spielt, möglichst genau zu fixieren. Dieses Datum sollte mehr aus dem allgemeinen Geiste des Stücks als aus den darin vorkommenden historischen Bemerkungen gewonnen werden. Die meisten Aufführungen des »Hamlet«, die ich gesehen habe, waren in eine viel zu frühe Zeit verlegt. Hamlet ist seinem Wesen nach ein Student aus den Tagen der Wiederbelebung der Wissenschaft, und wenn auch die Anspielung auf den jüngst erfolgten Einbruch der Dänen in England das Stück ins neunte Jahrhundert zurückverlegt, so wird es hinwiederum durch den Gebrauch der Rapiere in eine viel spätere Epoche versetzt. Steht das Datum nun einmal fest, dann hat uns der Archäologe die Tatsachen an die Hand zu geben, der Künstler hat sie in Wirkungen umzuwandeln. Man hat bemerkt, die Anachronismen in den Stücken selbst bezeugten, daß Shakespeare wenig Wert auf historische Genauigkeit gelegt habe, man hat daraus, daß Hektor in sehr unangebrachter Weise Aristoteles zitiert, viel Kapital geschlagen. Andererseits sind wirklich nur wenig Anachronismen da, auch scheinen sie nicht sehr bedeutend. Wäre Shakespeares Aufmerksamkeit von einem anderen Künstler auf diese Dinge gerichtet worden, er hätte sie vermutlich verbessert. Denn wenn man sie auch kaum als Flecken bezeichnen kann, die großen Schönheiten seines Werks liegen keineswegs darin. Wäre dem so, dann könnte der Reiz dieser Anachronismen nur herausgearbeitet werden, wenn das betreffende Stück ganz im Stile des richtigen Datums ausgestattet würde. Betrachtet man Shakespeares Stücke im ganzen, so fällt ihre außerordentliche Treue, sowohl in den Personen wie den Verwicklungen der Fabel, ins Auge. Viele seiner » dramatis personae« sind Menschen, die tatsächlich gelebt haben. Einige von ihnen sind seinen Zuhörern wohl im wirklichen Leben begegnet. Der häufigste Angriff, den man gegen Shakespeare richtete, war ja, er habe Lord Cobham karikiert. Was die Verwicklungen seiner Fabeln betrifft, so hat Shakespeare sie stets entweder der verbürgten Geschichte oder den alten Balladen und Überlieferungen entnommen, die im Publikum zur Zeit der Elisabeth als Geschichte galten und die selbst heute kein gelehrter Historiker als völlig unwahr verwerfen würde. Und er hat nicht nur statt phantastischer Erfindungen Tatsachen zur Grundlage vieler seiner Dichtungen genommen, er verleiht auch jedem Stück den allgemeinen Charakter, mit einem Wort die soziale Atmosphäre der Zeit, um die es sich handelt. Er erkannte, daß Dummheit eine der ständigen, charakteristischen Eigenschaften der gesamten europäischen zivilisierten Menschheit bildet, darum findet er keinen Unterschied zwischen dem Londoner Mob seiner Tage und dem römischen Mob der heidnischen Zeit, zwischen einem einfältigen Wächter in Messina und einem albernen Friedensrichter in Windsor. Hat er es aber mit höheren Charakteren zu tun, mit jenen Ausnahmeerscheinungen einer Zeit, die so erlesen sind, daß sie Zeittypen werden, dann gibt er ihnen Siegel und Stempel ihrer Zeit. Virgilia ist eine jener römischen Frauen, auf deren Grabmal geschrieben stand » Domi mansit, lanam fecit«, so wie Julia das romantische Mädchen der Renaissance ist. Er bleibt wahr, selbst in den Charaktereigentümlichkeiten der Rasse. Hamlet besitzt die Phantasiefülle und Unentschlossenheit der nordischen Völker, und die Prinzessin Katharina ist so völlig Französin, wie die Heldin von » Divorçons«. Heinrich der Fünfte ist ganz Engländer und Othello ein echter Mohr.

Entnimmt Shakespeare seine Stoffe der Geschichte, vom vierzehnten bis zum sechzehnten Jahrhundert, dann ist es ganz wunderbar, wie genau er sich an die Tatsachen hält – er folgt wirklich Holinshed mit erstaunlicher Treue. Die unaufhörlichen Kriege zwischen Frankreich und England sind mit außerordentlicher, bis zu den Namen der belagerten Städte herab gewahrter Genauigkeit dargestellt, die Einschiffungs- und Landungshäfen, die Örtlichkeiten und Daten der Schlachten, die Ehrentitel der Feldherrn auf beiden Seiten, die Liste der Getöteten und Verwundeten. Aus der Zeit der Bürgerkriege der roten und weißen Rose gibt er uns die sorgsam ausgearbeiteten Stammbäume der sieben Söhne Eduards des Dritten. Die Ansprüche der rivalisierenden Häuser York und Lancaster auf den Thron werden des breiten erörtert. Wenn die englische Aristokratie schon den Dichter Shakespeare nicht liest, sollte sie ihn doch gewissermaßen als eine Art alter Pairskalender lesen. Es gibt kaum einen einzigen Titel im Oberhaus, natürlich mit Ausnahme der uninteressanten Titel der hohen richterlichen Beamten, der sich nicht bei Shakespeare mit vielen Details der Familiengeschichte, glaubwürdigen und unwahrscheinlichen, vorfände. Wahrhaftig, müssen die Schuljungen die genauen Einzelheiten der Kämpfe zwischen der roten und weißen Rose nun einmal erfahren, dann könnten sie ihre Aufgaben ebensowohl aus Shakespeare wie aus Schulbüchern lernen, und zwar, ich brauche es kaum zu sagen, auf weit unterhaltendere Weise. In den Tagen Shakespeares selbst erkannte man diesen Nutzen seiner Stücke an. »Die historischen Stücke bringen jenen, die in den Chroniken nicht zu lesen vermögen, historische Kenntnisse bei,« sagt Heywood in einer Abhandlung über die Schaubühne. Und doch waren gewiß die Chroniken aus dem sechzehnten Jahrhundert eine viel angenehmere Lektüre als die Leitfäden aus dem neunzehnten.

Selbstverständlich hängt der ästhetische Wert der Shakespeareschen Stücke auch nicht im entferntesten von den darin enthaltenen Tatsachen, sondern nur von ihrer Wahrheit ab, und die Wahrheit hat mit den Tatsachen nichts gemein. Sie findet sie oder wählt sie aus, wie es ihr gefällt. Die Art aber, wie Shakespeare von den Tatsachen Gebrauch macht, bildet einen höchst interessanten Teil seiner Arbeitsmethode. Sie zeigt uns die Stellung, die er der Bühne gegenüber einnahm, und seine Beziehung zur großen Kunst der Illusion. Er wäre sicher sehr erstaunt gewesen, seine Stücke den »Feenmärchen« gleichgestellt zu sehen, wie Lord Lytton dies tut. Denn es war eins seiner Ziele, für England ein historisches Nationaldrama zu schaffen. Dieses sollte Ereignisse zum Gegenstand haben, die dem Publikum wohl bekannt waren, deren Helden im Gedächtnis des Volkes lebten. Der Patriotismus gehört, ich brauche dies wohl nicht erst zu bemerken, keineswegs zu den notwendigen Eigentümlichkeiten der Kunst; doch hat er für den Künstler die Bedeutung, daß er ein universelles Empfinden an Stelle des persönlichen setzt und für das Publikum, daß ihm ein Kunstwerk in einer höchst anziehenden und volkstümlichen Form dargeboten wird. Es ist erwähnenswert, daß Shakespeares erster und letzter Erfolg historische Stücke gewesen sind.

Aber man fragt vielleicht, was dies alles mit Shakespeares Verhalten dem Kostüm gegenüber zu tun haben soll. Ich antworte darauf, daß ein Dramatiker, der auf die historische Genauigkeit der Tatsachen so viel Gewicht legte, die historische Genauigkeit des Kostüms als höchst wichtige Unterstützung seiner Methode, die Illusion hervorzurufen, betrachtet hatte. Und ich trage kein Bedenken, zu erklären, daß dies auch der Fall gewesen ist. Die Erwähnung von Helmen im Prolog zu »Heinrich dem Fünften« mag man als dichterische Erfindung betrachten, obwohl Shakespeare oft

»den einen Helm,
Der einst die Luft von Azincourt erschreckte,«

dort gesehen haben mußte, wo er noch heute in der düstern Halle der Westminsterabtei neben dem Sattel des »Sprößling des Ruhms« hängt, neben dem zerhauenen Schild mit seinem zerrissenen blauen Samtfutter und den verblaßten goldenen Lilien. Aber die Verwendung von Waffenröcken in »Heinrich dem Sechsten« erklärt sich ganz aus archäologischen Überlieferungen; denn man trug dergleichen Waffenröcke im sechzehnten Jahrhundert nicht, und des Königs Waffenrock hing, glaub' ich, noch in Shakespeares Tagen über seinem Grab in der Kapelle des heiligen Georg zu Windsor. Bis zum unglückseligen Sieg der Philister im Jahre 1645 waren ja die Kapellen und Kathedralen in England die großen Nationalmuseen für das Wissen der Vergangenheit. Hier wurden Rüstungen und Gewänder der Helden der englischen Geschichte aufbewahrt. Ein gut Teil blieb freilich im Tower, und selbst in den Tagen der Elisabeth wurden Reisende dorthin geführt, um die seltsamen Reliquien vergangener Tage zu beschauen, zum Beispiel den ungeheuern Speer des Charles Brandon, der noch jetzt, glaub' ich, die Bewunderung der Besucher vom Lande erweckt. Man wählte jedoch in der Regel die Kathedralen und Kirchen als die geeignetsten Schreine zur Aufbewahrung der historischen Altertümer. In Canterbury zeigt man uns noch immer den Helm des schwarzen Prinzen, in Westminster die Kleider unserer Könige und in der alten St.-Pauls-Kirche das Banner, das über dem Schlachtfeld von Bosworth geweht und das Richmond selbst hier aufgehängt hatte.

Wohin Shakespeare in London auch blicken mochte, überall fand er Gelegenheit, das Gepräge vergangener Zeiten mit allem, was ihnen eigentümlich war, zu erblicken, und es darf nicht bezweifelt werden, daß er von diesen Gelegenheiten Gebrauch gemacht hat. Die Verwendung von Lanzen und Schilden im offenen Kampf zum Beispiel, das so häufig in seinen Stücken wiederkehrt, ist der archäologischen Rüstkammer, keineswegs der militärischen Ausrüstung seiner Tage entnommen. Rüstungen, die ja regelmäßig in seinen Schlachtszenen vorkommen, waren seinerzeit ebenfalls nicht mehr eigentümlich; damals mußten sie bereits jäh den Feuerwaffen weichen. Warwicks Helmbusch, der in »Heinrich dem Sechsten« von solcher Bedeutung ist, erscheint in einem Stück des fünfzehnten Jahrhunderts völlig am Platze, denn zu dieser Zeit trug man noch den Helmbusch, jedoch keineswegs mehr in einem Drama aus den Tagen Shakespeares selbst; dazumal war der Federbusch an seine Stelle getreten – eine Mode, die, wie uns in »Heinrich dem Achten« erzählt wird, aus Frankreich gekommen war. Wir dürfen, was die historischen Stücke betrifft, überzeugt sein, daß man bei diesen archäologische Kenntnisse anwandte. Aber auch in den anderen war es nach meiner Überzeugung ebenso. Das Erscheinen Jupiters auf seinem Adler, den Donnerkeil in den Händen, der Juno mit ihren Pfauen und der Iris mit ihrem buntfarbigen Bogen, das Amazonen-Maskenfest und die Masken der »Fünf Helden«: dies alles deutet auf archäologische Kenntnisse hin. Ebenso ist ohne Zweifel die Vision, die Posthumus im Gefängnis des Sicilius Leonatus schaut – »ein alter Mann, in der Tracht eines Kriegers, führt eine alte Frau«, – gleichen Ursprungs. Über das »athenische Gewand«, das Lysander von Oberon unterscheidet, hab' ich bereits gesprochen. Doch eins der bezeichnendsten Beispiele ist die Tracht des Coriolan, die Shakespeare direkt Plutarch entnimmt. Dieser Geschichtschreiber erzählt uns in seiner Lebensschilderung des großen Römers von dem Eichenkranz, mit dem Caius Marcius bekränzt wurde, und von dem seltsamen Gewande, in dem er, nach alter Sitte, um die Gunst seiner Wähler werben mußte. Über beides verbreitet er sich ausführlich und forscht dem Ursprung und der Deutung der alten Bräuche nach. Shakespeare bekundet wahren Künstlergeist, indem er dem antiken Historiker die Tatsachen entnimmt und sie in dramatische und malerische Wirkungen umgießt: das Kleid der Demut, das wölfische Kleid, wie Shakespeare es nennt, bildet den Mittelpunkt des Stücks. Ich könnte noch andere Beispiele anführen, doch genügt dieses eine für meinen Zweck. Daraus ergibt sich klar, daß wir Shakespeares eigene Methode, seine eigenen Wünsche am besten ausführen, wenn wir seine Stücke genau im Gewande ihrer Zeit, im Einklange mit den besten Gewährsmännern inszenieren.

Wäre dies selbst nicht der Fall, so liegt doch kein Grund vor, warum wir Unvollkommenheiten, die der Shakespeareschen Inszenierung anhaften mochten, noch weiter bewahren sollten. Wir könnten ebensogut die Julia durch einen jungen Mann spielen lassen oder uns der Errungenschaft des Szenenwechsels begeben. In einem großen dramatischen Kunstwerk sollten nicht bloß durch den Schauspieler Leidenschaften von heute zum Ausdruck gebracht, diese sollten uns auch in einer dem modernen Geiste entsprechenden Gestalt vermittelt werden. Racine führte seine Römerstücke in der Tracht Ludwigs des Vierzehnten auf einer Bühne vor, auf der die Zuschauer gedrängt saßen; wir verlangen andere Voraussetzungen, um uns seiner Kunst erfreuen zu können. Peinliche Genauigkeit des Details erscheint uns erforderlich, um vollkommene Illusion zu erzielen. Wir müssen nur darauf achten, daß die Details nicht überwiegen. Sie müssen sich vielmehr stets dem Hauptmotiv des Stückes unterordnen. Doch bedeutet solche Unterordnung in der Kunst keineswegs Geringschätzung der Wahrheit. Es bedeutet nur, daß die Tatsachen zu Wirkungen umgewandelt werden, jedem Detail wird die seinem Wert gebührende Stellung angewiesen. »Die kleinen Details der Geschichte und des häuslichen Lebens«, sagt Hugo, »müssen vom Dichter peinlich genau studiert und dargestellt werden. Doch sollen sie nur dem Zweck dienen, die Lebensechtheit des Ganzen zu steigern und selbst die verborgensten Eigentümlichkeiten des Werks mit jener mächtigen Lebensfülle zu durchdringen, die die Personen wahrer erscheinen und darum die Ereignisse erschütternder wirken läßt. Diesem Ziel muß alles untergeordnet werden. Der Mensch sieht im Vordergrunde, das übrige durchaus in zweiter Linie.«

Diese Stelle ist nicht ohne Interesse, weil sie von dem ersten großen französischen Dramatiker stammt, der sich archäologischer Genauigkeit auf der Bühne befliß, dessen Dramen in den Details durchaus korrekt sind und die man dennoch allgemein ihrer leidenschaftlichen Empfindung, nicht ihrer pedantischen Genauigkeit – ihrer Lebenskraft, nicht ihrer Wissensfülle wegen kennt. Zwar hat er sich bei der Anwendung merkwürdiger oder seltsamer Ausdrücke zu mancherlei Konzessionen herbeigelassen. Ruy Blas spricht von M. de Priego als von einem » sujet du roi«, statt von dem » noble du roi«, Angelo Malipieri spricht von » la croix rouge«, anstatt von » la croix de gueules«. Doch sind dies Konzessionen, die dem Publikum oder vielmehr einem Teil des Publikums gemacht werden. »Ich bitte hier denkende Zuschauer um Entschuldigung,« sagt er in einer Randbemerkung zu einem seiner Stücke, »hoffen wir, daß eines Tags ein venezianischer Edelmann sein Wappen auf dem Theater ohne Gefahr wird benennen dürfen. Zu diesem Fortschritt wird man gelangen.« Und wenn auch seine Schilderung des Helmbusches nicht ganz zutreffend erscheint, so war dieser selbst doch ganz exakt gearbeitet. Man wird allerdings einwenden, das Publikum nehme von diesen Dingen keine Notiz. Doch darf man nicht vergessen, daß die Kunst kein anderes Ziel hat als ihre eigene Vollkommenheit und daß sie nur nach ihren eigenen Gesetzen vorgeht; eben jenes Stück, das Hamlet selbst als »Kaviar für das Volk« bezeichnet, preist er hoch. Übrigens hat sich das Publikum in England jetzt eine gewisse Umwandlung gefallen lassen. Man schätzt neuerdings die Schönheit weit mehr, als dies noch vor wenigen Jahren der Fall war. Ist man auch nicht mit den Quellen und den archäologischen Daten vertraut, so genießt man doch alles Schöne, was geboten wird. Und darauf allein kommt es an. Weit besser, sich einer Rose zu erfreun, als ihre Wurzel unter das Mikroskop zu legen. Die archäologische Genauigkeit bildet nur eine Voraussetzung der Illusionswirkung auf dem Theater, sie ist keineswegs das Wesentliche. Und Lord Lyttons Vorschlag, die Kostüme sollten nur Schönheit, keineswegs Genauigkeit besitzen, beruht auf einem Mißverstehen der Eigentümlichkeit des Kostüms und seiner Bedeutung für die Schaubühne. Sein Wert ist ein doppelter – ein malerischer und dramatischer; jener hängt von der Farbe, dieser von dem Zuschnitt und seiner Eigenart ab. Die beiden sind aber sehr innig miteinander verbunden. So oft man in unseren Tagen die historische Genauigkeit vernachlässigt und die in einem Stück vorkommenden verschiedenartigen Gewänder verschiedenen Zeiten entnommen hat, ist das Ergebnis gewesen, daß aus der Bühne ein Chaos der Kostüme, eine Karikatur der Jahrhunderte, ein Maskenball geworden ist. Jede dramatische und malerische Wirkung wurde vernichtet. Denn die Tracht des einen Zeitalters steht nicht im künstlerischen Einklang mit der Tracht des anderen, und die Kostüme verwirren, heißt, das Drama selbst verwirren. Das Kostüm ist der Weiterbildung, der Entwicklung fähig, es ist ein sehr bedeutsames, vielleicht das bedeutsamste Kennzeichen der Sitten, Gewohnheiten und Lebensweise eines jeden Jahrhunderts. Die puritanische Verachtung der Farbe, der Ausschmückung und der Anmut der Erscheinung hat die große Empörung der mittleren Klassen gegen die Schönheit im siebzehnten Jahrhundert mit verursacht. Ein Historiker, der dies nicht beachtete, würde uns ein höchst ungenaues Gemälde der Zeit darbieten. Ein Dramatiker, der diese Tatsache nicht benützte, würde eine der wichtigsten Möglichkeiten illusionistischer Wirkung preisgeben. Die Verweichlichung in der Kleidung, die die Regierung Richards des Zweiten kennzeichnet, bildete ein ständiges Thema der Autoren jener Zeit. Shakespeare, der zweihundert Jahre später schrieb, gewinnt aus der Vorliebe des Königs für Fröhlichkeit der Erscheinung und fremde Moden manche Pointen des Stücks – man erinnere sich an Einzelheiten, von John of Gaunts Vorwürfen bis zu der Rede Richards selbst, im dritten Akt, bei seiner Thronentsetzung. Und daß Shakespeare Richards Gruft in der Westminsterabtei kannte, scheint aus der Rede Yorks zu erhellen:

»Seht, seht den König Richard selbst erscheinen,
So wie die Sonn', errötend mißvergnügt,
Aus feurigem Portal des Ostens tritt,
Wenn sie bemerkt, daß neid'sche Wolken streben,
Zu trüben ihren Glanz.«

Wir können ja noch auf dem Gewand des Königs sein Lieblingssymbol erkennen – die Sonne, die aus Wolken hervorbricht. In der Tat drücken sich in jedem Zeitalter die gesellschaftlichen Zustände in der Kleidung so deutlich aus, daß die Aufführung eines Stückes, das im sechzehnten Jahrhundert spielt, in den Trachten des vierzehnten Jahrhunderts, oder umgekehrt, ihrer Lebensunwahrheit wegen unecht erscheinen würde. So wertvoll der schöne Effekt auf der Schaubühne ist, die höchste Schönheit ist mit der Genauigkeit des Details nicht bloß vergleichbar, sie hängt geradezu davon ab. Ein völlig neues Kostüm zu erfinden, ist außer in der Burleske oder in der Posse beinahe unmöglich. Aus den Kostümen verschiedener Jahrhunderte aber eine neue Tracht zu kombinieren, wäre ein gefährliches Experiment. Wie Shakespeare über den künstlerischen Wert solcher Vermischung dachte, mag man aus seinen beständigen satirischen Ausfällen gegen die Gecken der Elisabethanischen Zeit schließen, die sich einbildeten, sie seien gut angezogen, weil sie ihre Wämser aus Italien, ihre Hüte aus Deutschland und ihre Hosen aus Frankreich bezogen. Und es sollte vermerkt werden, daß die schönsten szenischen Wirkungen, die auf unserer Schaubühne gewonnen wurden, die gewesen sind, die sich durch ihre vollkommene Genauigkeit auszeichneten, wie die Neuaufführungen aus dem achtzehnten Jahrhundert durch Mr. und Mrs. Bancroft auf dem Haymarket-Theater, Mr. Irvings herrliche Aufführung von »Viel Lärm um nichts« und Mr. Barretts »Claudian«. Überdies muß – und dies ist vielleicht die vollständigste Antwort auf Lord Lyttons Theorie – daran erinnert werden, daß sowohl in Fragen des Kostüms wie des Dialogs Schönheit keineswegs das erste Ziel des Dramatikers bildet. Des Dramatikers Ziel ist in erster Linie das Hervorheben des Charakteristischen. Er wünscht so wenig, daß alle seine Personen herrlich angezogen seien, wie er etwa wünschen würde, daß sie alle Charakterschönheit besitzen oder schönes Englisch sprechen. Der wahre Dramatiker zeigt uns das Leben unter künstlerischen Gesichtspunkten, jedoch nicht die Kunst in der Form des Lebens. Die griechische Tracht war die schönste, die die Welt je gesehen hat, und die englische des vergangenen Jahrhunderts eine der abscheulichsten. Trotzdem können wir bei einem Stück Sheridans keineswegs die nämlichen Kostüme wie bei einem Drama von Sophokles verwenden. Denn wie Polonius in seinen ausgezeichneten Bemerkungen, denen zu danken ich hier die günstige Gelegenheit finde, ausführt: eins der ersten Erfordernisse der Kleidung ist, daß sie etwas besage. In dem affektierten Stil der Kleidung des achtzehnten Jahrhunderts drückten sich die affektierten Manieren, die affektierte Art der Konversation der damaligen Gesellschaft charakteristisch aus. Der realistische Dramatiker wird diese bezeichnenden Züge bis herab zu den geringfügigsten Details sehr hoch zu schätzen wissen. Das Material hierfür kann er bloß aus der Archäologie gewinnen. Doch genügt es keineswegs, daß ein Kostüm historisch genau sei. Es muß auch der Erscheinung und der Gestalt des Schauspielers und seiner vermutlichen Stellung im Stück wie der Haltung, die er darin notwendigerweise einzunehmen hat, entsprechen. Bei Mr. Hares Aufführung von »Wie es euch gefällt« auf dem St.-James-Theater wurde die Pointe der Klage des Orlando, daß er wie ein Bauer, nicht wie ein Edelmann erzogen worden sei, durch die Überladenheit seines Anzugs ganz um ihre Wirkung gebracht. Auch war die prunkvolle Kleidung des verbannten Herzogs und seiner Freunde durchaus nicht am Platze. Mr. Lewis Wingfields Erklärung, die Luxusgesetze jener Zeit seien der Grund dieses Prunks, reicht, wie ich fürchte, kaum aus. Geächtete Männer, die sich im Walde verborgen halten und vom Weidwerk leben, dürfen sich nicht sehr um die Regeln der Toilette bekümmern. Sie waren vermutlich wie das Gefolge Robin Hoods gekleidet, mit dem sie im Verlaufe des Stückes sogar verglichen werden. Daß sie in ihrem Auftreten keineswegs reichen Edelmännern glichen, kann man aus den Worten Orlandos, als er auf sie losstürmt, erkennen. Er hält sie irrigerweise für Räuber und ist ganz erstaunt, daß sie ihm in höfisch-gebildeten Ausdrücken antworten. Die Aufführung des nämlichen Stückes durch Lady Archibald Campbell unter der Leitung E. W. Godwins war, soweit die Ausstattung in Frage kommt, weit mehr von künstlerischen Gesichtspunkten beherrscht. Mir wenigstens schien es so. Der Herzog und seine Gefährten trugen wollene Waffenröcke, lederne Jacken, hohe Stiefel, Stulphandschuhe, breitrandige Hüte und Kapuzen. Da sie in einem wirklichen Wald agierten, fanden sie gewiß ihre Bekleidung sehr bequem. Jede Person im Stück trug eine passende Kleidung. Das Braun und Grün der Gewänder harmonierte vortrefflich mit den Farnkräutern, durch die sie schritten, mit den Bäumen, unter denen sie lagen, mit der lieblichen englischen Landschaft, die das ländliche Spiel umschloß. Die vollkommene Natürlichkeit der Szene entsprang der vollkommenen Genauigkeit und Angemessenheit jedes Kleidungsstücks. Die Archäologie konnte nicht auf eine strengere Probe gestellt werden und nicht siegreicher daraus hervorgehen. Die ganze Aufführung bewies ein für allemal, daß ein Gewand immer unwirklich, unnatürlich und theatralisch, im Sinne von gekünstelt erscheint, wenn es nicht archäologisch genau und künstlerisch angemessen ist.

Es genügt aber auch keineswegs, daß ein Kostüm historisch genau und künstlerisch angemessen ist und in herrlichen Farben schimmert; der ganze Bühnenraum muß Farbenschönheit zeigen. Solange der Hintergrund von einem Künstler gemalt wird und die Vordergrundfiguren unabhängig davon von einem anderen entworfen werden, besteht immer die Gefahr, daß das Bühnenbild der harmonischen Wirkung ermangle. Man sollte für jede Szene ein Farbenschema wie für die Ausschmückung eines Zimmers anlegen, man sollte die Gewänder, die zur Benützung gelangen sollen, zu allen möglichen Kombinationen vermischen und wieder mischen und das Nichtzusammenklingende entfernen. Was die besonderen Farbenarten betrifft, so wird die Bühne oft zu grell gemacht, zum Teil dadurch, daß die Kostüme allzu sehr den Eindruck des Neuen hervorrufen. Eine gewisse Schäbigkeit, die im modernen Leben bloß das Streben der niederen Volksschichten nach einer gewissen Haltung ausdrückt, ist nicht ohne künstlerischen Wert. Moderne Farben gewinnen oft sehr, wenn sie ein wenig verblaßt sind. Auch die blaue Farbe wird zu häufig benützt: sie ist nicht bloß bei Gaslicht von zweifelhafter Wirkung; es fällt überhaupt schwer, sich in England ein durchaus gutes Blau zu verschaffen. Das feine chinesische Blau, das wir alle so sehr bewundern, braucht zwei Jahre, um zu färben. Das englische Publikum will aber auf eine Farbe nicht so lange warten. Pfauenblau wurde natürlich auf der Bühne mit Vorteil zur Anwendung gebracht, hauptsächlich im Lyzeumtheater; doch sind alle Versuche, die ich kenne, ein gutes Lichtblau oder ein gutes Dunkelblau zu erzielen, fehlgeschlagen. Der Wert der schwarzen Farbe wird kaum genügend gewürdigt. Mr. Irving hat sie in »Hamlet« als Grundnote der Inszenierung mit großer Wirkung zur Anwendung gebracht, aber als neutrale, den Ton hebende Farbe ist ihre Bedeutung noch nicht erkannt. Dies scheint erstaunlich, da Schwarz ja die allgemein übliche Farbe der Kleidung eines Jahrhunderts ist, in dem wir, wie Baudelaire sagt, alle »irgendein Begräbnis feiern«. Der Archäologe der Zukunft wird vermutlich unsere Zeit als eine Epoche bezeichnen, welche die Schönheit des Schwarzen erkannte. Ich glaube aber nicht, daß dies wirklich, soweit es sich um Bühnen- und Hausdekoration handelt, der Fall ist. Der dekorative Wert des Schwarzen ist so bedeutend wie der von Weiß oder Gold. Es vermag die Farben zu sondern und harmonisch zu verbinden. In modernen Stücken ist der schwarze Rock des Helden an sich von Bedeutung, und man sollte ihm einen entsprechenden Hintergrund geben. Das geschieht aber nur selten. In der Tat war der einzige treffliche Hintergrund eines in unserer Kleidung spielenden Stücks, den ich jemals gesehen habe, in einer dunkelgrau und creme-weiß gehaltenen Szene des ersten Aktes der » Princesse Georges« in der Aufführung von Mrs. Langtry. In der Regel verschwindet der Held im bric-à-brac und unter Palmenbäumen; er verliert sich in den goldenen Abgründen der Louis-Quatorze-Möbel, er schrumpft inmitten der Mosaiken zu einer bloßen Mücke zusammen, während doch der Hintergrund nur immer Hintergrund bleiben und die Farbe der Wirkung untergeordnet werden sollte. Dies wird freilich nur dann möglich sein, wenn ein Geist die ganze Aufführung leitet. Mögen auch die Werke der Kunst verschieden sein, das Wesen künstlerischer Wirkung ist Einheit.

Monarchie, Anarchie und Revolution mögen um ihre Berechtigung, Nationen zu regieren, streiten; ein Theater jedoch sollte einem gebildeten Despoten unterstehen. Mag man auch die Arbeit teilen, der lenkende Geist muß einheitlich sein. Wer das Kostüm eines Zeitalters versteht, versteht auch notwendigerweise seine Architektur und sein Milieu; es fällt nicht schwer, aus der in einer gewissen Zeit üblichen Form der Stühle zu schließen, ob man Krinolinen trug oder nicht. In der Kunst gibt es keine Spezialität. Jede wirkliche künstlerische Aufführung sollte das Gepräge des nämlichen Meisters tragen, eines Meisters, der nicht bloß jedes Detail selbst zeichnen und gruppieren, sondern auch die Art und Weise, wie jedes Kostüm zu tragen ist, vollständig kontrollieren müßte.

Mademoiselle Mars erklärte bei der ersten Aufführung von » Hernani«, ihren Partner nur unter der Bedingung » Mon Lion«! zu nennen, daß man ihr gestatte, ein gewisses kleines, damals auf den Boulevards sehr fashionables Barett zu tragen. Manche jungen Schauspielerinnen unserer Tage bestehen noch immer darauf, unter griechischen Gewändern steife Unterröcke zu tragen; dabei geht die ganze Zartheit der Linien und Farben des Kostüms verloren; derlei Frevel sollte man nicht dulden. Man sollte auch weit mehr Kostümproben abhalten, als das jetzt geschieht. Schauspieler wie etwa Mr. Forbes Robertson, Mr. Conway, Mr. George Alexander und andere – der älteren Künstler zu geschweigen – bewegen sich bequem und elegant in der Tracht jedes Jahrhunderts. Doch gibt es andererseits nicht wenige, die in einem Gewand ohne Seitentaschen nicht zu wissen scheinen, was sie mit ihren Händen beginnen sollen; sie tragen ihre Röcke, als wären es Kostüme. Nun sind es allerdings für den, der sie entwirft, Kostüme, für den, der sie trägt, sollten es aber Kleider sein. Auch ist es an der Zeit, die unsere Bühne beherrschende Anschauung, daß die Griechen und Römer stets, auch im Freien, bloßen Hauptes einhergingen, zu zerstören. Diesen Irrtum haben die Theaterleiter aus den Tagen Elisabeths nicht begangen: sie statteten vielmehr ihre römischen Senatoren sowohl mit langen Gewändern wie auch mit Hüten aus.

Häufigere Kostümproben hätten noch eine weitere Bedeutung: die Schauspieler würden dadurch lernen, daß es gewisse Gesten und Bewegungen gibt, die einem bestimmten Kostümstil nicht bloß angemessen, sondern geradezu von ihm bedingt sind. Der maßlose Gebrauch, den man beispielsweise im achtzehnten Jahrhundert von den Armen machte, war das natürliche Ergebnis der weiten Reifröcke. Das würdeschwere Auftreten Burleighs war seiner Halskrause nicht minder als seiner Kunsteinsicht zu danken. Solange überdies sich ein Schauspieler nicht in seiner Kleidung heimisch fühlt, ist er auch in seiner Rolle nicht heimisch.

Darüber, daß die Schönheit des Kostüms im Zuschauer künstlerisches Temperament und jene Freude an der Schönheit um ihrer selbst willen erzeugt, ohne die große Kunstschöpfungen nicht verstanden werden können, will ich hier nicht sprechen. Doch kann man den Wert, den Shakespeare dieser Frage bei der Aufführung seiner Tragödien beilegte, daraus ermessen, daß er diese stets bei künstlichem Licht und in einem schwarzverhängten Theaterraum spielte. Ich wollte nur darauf hinweisen, daß die Anwendung der Archäologie keine pedantische Methode ist, sondern eine Methode, künstlerische Illusionen hervorzurufen, daß man dadurch die Möglichkeit gewinnt, Charaktere ohne Schilderung zu erklären und dramatische Situationen und Effekte hervorzubringen. Man muß, meine ich, beklagen, daß so viele Kritiker eine der wichtigsten Bewegungen unseres modernen Theaters angegriffen haben, ehe diese Bewegung noch zu ihrer Vollendung gelangte. Daß sie einmal dahin gelangen wird, empfinde ich ebenso deutlich, wie etwa, daß man in Zukunft von den Kritikern mehr verlangen wird, als daß sie sich an Macready erinnern oder Benjamin Webster gesehen haben: wir werden von ihnen die Pflege des Schönheitssinnes verlangen. » Pour être plus difficile, la tâche n'en est que plus glorieuse.« Und wenn sie diese Bewegung schon nicht bestärken, so sollten sie sich ihr doch nicht entgegenstellen; denn Shakespeare hätte ihr unter allen Dramatikern am meisten Beifall gezollt. Ist doch ihre Methode, die Illusion des Wahren hervorzurufen, und ihr Ergebnis, daß sie die Illusion der Schönheit hervorruft. Nicht, daß ich etwa mit allem, was ich in diesem Essay sage, übereinstimme. Mit vielem stimme ich durchaus nicht überein. Der Essay vertritt bloß einen künstlerischen Standpunkt, und in der ästhetischen Kritik ist der Standpunkt alles. In der Kunst gibt es keine allgemeine Wahrheit. Eine Wahrheit ist in der Kunst alles das, dessen Gegenteil nicht minder wahr ist. Wie wir nur in der Kunstkritik und durch sie die platonische Lehre von den Ideen erfassen können, so können wir nur in der Kunstkritik und durch sie das Hegelsche System des Widerspruchs begreifen. Die Wahrheiten der Metaphysik sind Maskenwahrheiten.


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