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V.

Martha betrat ihr Zimmer.

Das erste Tagesdämmern schaute schon mit grünblauen Augen durchs offene Fenster. Sie warf Mantel und Schal ab, schloß das Fenster und zog die Gardinen vor. Dann knipste sie alles Licht an und schaute sich um.

So, das war die richtige Interieurstimmung, um sich seinen Gedanken zu überlassen, die heiß an die Stirne pochten, und in phantastische Gestalten gehüllt, an ihrem geistigen Auge vorüberziehen wollten. Halt, noch einen Blick in den Spiegel. Pfui, die Rose auf der Brust war verwelkt und zerdrückt. Weg mit ihr. Die weiße Seidenbinde, die die griechische Frisur hielt, war etwas verschoben. So, jetzt saß sie wieder recht.

Martha hatte schon in ihren Zeitschriften Bilder von jungen Mädchen gesehen, die nach dem Ball im Ballkleid auf ihrem Zimmer den erlebten Herrlichkeiten nachsannen. Das wollte auch sie jetzt tun. Sie setzte sich in den Sessel mitten im Zimmer, so daß sie ihr Brustbild im Spiegel des Toilettentisches sehen konnte.

Eine stolze Seligkeit wollte ihr Herz zersprengen. Nein, so köstlich hatte sie sich das nicht vorgestellt. Papa hatte zu Hause nie Gesellschaften gegeben, und sonst hatte sie nie Gelegenheit gehabt, irgendwo an einem Ball teilzunehmen. Nur ihre Institutsfreundinnen hatten zur Zeit der Tanzstunde hier und da einmal etwas erzählt. Aber die konnten auch aufschneiden. Jetzt hatte sie alles selbst gesehen und erlebt. O, was Brandenstein ein herrlicher, entzückender Mensch war! Wie hatte er, der doch, wie sie gemerkt hatte, von den Damen umschwärmt wurde, gerade sie ausgezeichnet! Noch beim Gehen hatte er sie bis ins Vestibül begleitet.

Ach ja, und Otto! Süße Minuten, in denen sie zum ersten Male in seinem Arm, beide von den weichen Klängen des Walzers getragen, durch den Saal schwebte. Sie hatte gemeint, im Himmel zu sein. Dann aber hatte Otto sie nur noch einmal engagiert. Warum wohl? Was hatte er denn? Was hatte Maria? Was sollten ihre verwunderten und ernsten Blicke bedeuten, die sie ihr zwei-, dreimal vom Büffet aus zuwarf?

Dummes Zeug! Was kümmerten sie Marias Blicke, wenn die ganze Gesellschaft, alle Offiziere sie mit ausgesuchter Bevorzugung behandelten. Käthe Zeisig hatte sich fast mit wilder Ausgelassenheit zwischen die Herren geworfen, um die Aufmerksamkeit auf ihre gewagte Toilette zu lenken. Aber ihre Künste hatten nur bei wenigen ganz jungen Herren verfangen. Zu ihr, zu Martha Halden, waren doch schließlich alle wieder zurückgekehrt. Wie liebenswürdig hatte man sich nach ihrer Heimat, nach ihren Eindrücken von München erkundigt und sie auf besondere Sehenswürdigkeiten aufmerksam gemacht, von denen sie noch nie gehört hatte. Etwas peinlich war es ihr nur gewesen, wenn man auf Vergleiche zwischen den Kammerspielen und dem Hoftheater kam. Denn ihr einmaliger Theaterbesuch machte sie noch nicht fähig, da gebildet mitzusprechen.

Einmal war Maria mit einem Herrn zu ihr gekommen, wie sie mit einem sehr gebildeten Herrn über Literatur sprach. Der Herr fragte sie gerade, ob sie den letzten Roman in der »Woche« gelesen hätte, was sie errötend verneinen mußte. Da wollte Maria ihr helfen und fragte den Herrn, ob er den letzten Roman von Handel-Mazzetti gelesen hätte. Der Herr wurde auch etwas verlegen und mußte bekennen, daß er überhaupt den Namen Handel-Mazzetti noch nicht gehört habe. Warum mußte Maria aber auch so plump dazwischen fahren und den Herrn blamieren!

Aber sie mußte noch sehr viel lesen, um auf die Höhe zu kommen; mit dem, was sie bis jetzt kennen gelernt hatte, konnte sie nicht viel Staat machen. Über Schiller und Goethe, Uhland und Klopstock sprach man nicht. Kam man einmal auf Schiller, so ließ man nichts von ihm gelten, man hielt ihn für einen öden Idealisten und Phantasten. Das deutsche Drama begann eigentlich mit Gerhart Hauptmann und Sudermann. Die kannte sie noch gar nicht; sie wußte nur von ihnen, daß sie ganz schandbare Sachen geschrieben hätten und daß das einzige, was von Gerhart Hauptmann poetisch sei, »Die versunkene Glocke«, ganz von pantheistischen Ideen durchtränkt wäre. Gott, o Gott, was sollte sie eigentlich anfangen? Doch das waren ja nur Nebensächlichkeiten. Sie hatte sich ohne viel Kenntnis ganz gut durch die Ballgespräche durchgewunden.

Die Hauptsache war – und das machte sie so selig, ließ ihr ein neues Leben aufgehen –, daß man sie verehrt, ja angebetet hatte. Das tat so wohl, so wohl und machte so glücklich, besonders auch, weil die anderen Damen, an ihrer Spitze Leonore, sie offenbar beneideten. Fräulein von Held, die, wie Tante Edeltraud sagte, jedes Jahr ihre Modeeinkäufe in Paris besorgt, hatte sie nach dem Haus gefragt, wo sie ihre Robe her bezogen hätte. Aber die Robe tat es nicht allein! Nein, das Bild ihr gegenüber im Spiegel war schön. Auf diese Schönheit konnte sie ihre Zukunft bauen. Wenn nur Herr von Brandenstein nicht fort müßte! – Hoppla, was sind das für dumme Gedanken! Will sie denn Otto Reiber untreu werden? Nein, nie und nimmer!

Aber man kann sich doch an einem schönen Menschen freuen. Sind denn nicht viele von den Herren, die ihr den Hof machten, noch unverheiratet, und sehen die Frauen der verheirateten etwas Böses darin, wenn sie vor ihr sich verneigen und schön mit ihr tun? Nein, nur die Schönheit und der Geist herrschen und sie verlangen von allen Menschen ihren Tribut. Otto liebt sie, Herrn von Brandenstein bewundert sie. In ihrem Herzen thront Otto Reiber, ihren Verstand – ja nur ihren Verstand – nimmt Herr von Brandenstein gefangen. Und da ist ja auch gar keine Gefahr, er geht ja fort.

Soll sie endlich zu Bett gehen? Nein, es ist ihr noch zu wohlig und süß zumute. Diese Stimmung muß man auskosten, wer weiß, wann sie einmal wiederkommt. Bewundert, verehrt, geliebt zu werden, ist doch das Schönste auf Erden, und nicht, weil man jemanden beschenkt, einem einen Gefallen erwiesen hat, sondern nur weil man jung und liebenswürdig und schön und – ein Mädchen ist.

Sie zupfte die Spitzen an der Schulter zurecht und strich sich über die Arme, sich selbst liebkosend, und schaute wieder in den Spiegel und wurde rot und hätte am liebsten gesungen und getanzt.

Der Tag schaute immer heller durch die Fenstervorhänge, und das Licht wurde immer bleicher. Da kroch ein Frösteln über ihre Schultern, sie stand auf und fühlte eine betäubende Müdigkeit. Hastig, um nicht von der kalten Prosa des bleichen Tages niedergedrückt zu werden, legte sie sich zu Bett und verband die Augen mit einem Taschentuch, um nicht vom Tageslicht im Schlafe gestört zu werden.

 

Bewegung auf dem Gang. Martha erwachte. Schon halb Zwölf! Nun aber schnell heraus!

Sie kam sich in ihrem Hauskleid so simpel, so öd und kalt vor. O, wer doch heute wieder auf den Ball gehen könnte! Da lag und hing die ganze Herrlichkeit dieser Nacht, ein zerronnener Sommernachtstraum. Nein, heute wollte sie nicht ausgehen, nur das Erlebte auf ihrem Mädchenstübchen wieder an ihrem Geiste vorüberziehen lassen, in der Seele verkosten und etwas lesen, das zu ihrer Stimmung paßte, sie womöglich noch verstärkte.

 

Bei Tisch waren Tante Edeltraut und Leonore sehr einsilbig, aßen wenig und standen bald wieder auf. Richard war überhaupt noch nicht erschienen; er war erst um sechs nach Hause gekommen. Martha hatte mächtigen Appetit und ließ sich die beiden Gänge gut schmecken. Dann ging sie auf ihr Zimmer, steckte eine Zigarette an und schlug Kellermanns »Tunnel« auf.

Ah, das war ja das Rechte! Eine flotte, pikante Gesellschaftsschilderung. Sie lehnte sich im Sessel zurück, schlug die Knie übereinander und blies den Rauch der Zigarette behaglich zur Decke hinauf. Von draußen drang ein breiter Sonnenstreifen durch die Tüllgardinen ins Zimmer und legte sich wie ein goldener Teppich zu ihren Füßen. In ihren Ohren rauschten die Melodien des Balles in abgerissenen Fetzen, bald eine Walzerpartie, bald eine Polkaweise.

Vor ihrem geistigen Auge schwebten die Paare vorüber und mischten sich mit den Gestalten, von denen sie las. Ah, was trug die moderne Welt doch herrliche Menschen! Das Leben kosteten und werteten sie nach allen Seiten hin aus. Pracht und Freude und Theater und Musik und Liebe und dann ein gigantisches Streben nach hohen Zielen. Mitten in aller Lust das Sinnen, Großes, Unerhörtes, Geniales zu vollbringen, wie diesen Tunnel unter dem atlantischen Ozean her nach Europa. Wie wird da alle Erdenkraft, wie wird da der Einzelmensch zum Werkzeug in der Hand des Genies, zum lebendigen Teil einer gewaltigen, göttlichen Kraft, die alle Hindernisse niederzwingt und ihr Blut, ihren Geist in Hunderttausende von Armen und Händen treibt bis in die demantharte Spitze der kolossalen Bohrmaschinen da unten, tief unter den Wogen des Weltmeeres. Und dazwischen hinein immer wieder die süße, schmeichelnde Urkraft der Liebe, die, wie die Grundwellen des Ozeans, immer in gleichem, mächtigem Takt auf- und abwogt und beruhigende Klänge wie aus einer höheren Welt in das hämmernde und tickende, brausende und fluchende Voranhasten der Menschen weht.

Ah, so einen Mann wie der Erbauer des Tunnels wünschte sie sich auch, einen Giganten des Geistes und der Willenskraft. Wie schön mußte es sein, einen solchen Helden am Abend nach vollbrachtem Tagewerk, das die Menschen in Staunen vor ihm niedersinken ließ, im trauten Heim zu empfangen, ihm die Denkerstirn zu streicheln, ihm die weltgebietenden Lippen zu küssen, ihm einen Sohn zu schenken, der seine Gedanken weiterlebt, den Ruhm seines Namens in künftige Geschlechter trägt!

Gewiß, Otto muß so ein großer Held werden. Bald geht er ja auf die Kriegsakademie, dann kommt er in den Generalstab, in den Großen Generalstab, wird General, vielleicht gar Kriegsminister. Dann kommt ein Krieg und er macht durch seine genialen Pläne die der Franzosen und Russen zunichte und die ganze Welt ist erfüllt von seinem Ruhm, und wenn er heimkehrt in sein Haus an der Ludwig- oder Maximilianstraße, dann steht sie da, Martha, seine Frau, mit ihren Kindern – o so schöne Knaben und Mädchen! – und führt ihn ins stillste Zimmer des Hauses, da, wo kein Geräusch hinbringt, und dann hängt sie an seinen Lippen, an den Lippen des Mannes, die Millionen ihre Befehle gegeben haben. O wie schön, wie schön! Ja, so muß es kommen, so wird es kommen.

Und weiter schmeichelten die Melodien der letzten Nacht, und aus den Blättern des Buches dröhnten die Hämmer und knirschten die Bohrmaschinen tief unter dem Ozean, und die Sonne rückte ihren goldenen Teppich weiter und legte einen golddurchwirkten Schal auf Marthas Schulter und Haar. Ihre Augen zwinkerten im Sonnenlicht. Sie schloß das Buch und träumte zum blauen Himmel hinauf.

Was war sie doch daheim ein tappiges Kind gewesen! Wie konnte sie nur mit einem solchen Leben zufrieden sein mit dem Dackel und der Schaukel und der Puppe – ach ja, die gute Puppe! – mochte sie schlafen da hinten im Schrank! Jetzt war sie doch endlich zu einem ganzen Menschen erwacht. Wie inhaltreich, wie herrlich war das Leben! Jeder Tag brachte eine neue Entdeckung bei den Menschen draußen oder in ihrer eigenen Seele.

Sie mußte doch Ada Lob einmal besuchen. Die sollte ihr Aufschluß über manche Fragen geben, die ihr noch zusammenhanglos durch den Kopf gingen. Besonders über Nietzsche. Wie kam es doch, daß sie sein Buch Zarathustra so entzückend schön fand und doch nicht recht wußte, was er sagte? Da mußte sie die Philosophin einmal fragen. Aber was würde Maria dazu denken?

Ach, Maria, ein liebes Mädchen, aber zu hausbacken und in ihren Anschauungen zu altmodisch. Nein, sie wollte ihr Freundin bleiben, auch wohl mit ihr disputieren, aber vornehm, so wie Tante es meinte, nicht um sie zu sich herüberzuziehen. Wie hatte doch neulich Leonore einmal gesagt? Akademisch! Ja, akademisch, das war das rechte Wort.

Es klopfte. Das Mädchen. »Gnädiges Fräulein, es ist angerichtet.«

Herrschaft, schon so spät! Ja, jetzt fühlte sie auch den Hunger. Schnell eine helle Bluse angezogen, die Frisur etwas zurechtgestrichen und die Hände gewaschen. Dann hinüber.

»Guten Abend, Tante, guten Abend, Leonore! Ha, heute habe ich einen schönen Tag gehabt. Ich habe Kellermanns ›Tunnel‹ in einem Zuge ausgelesen.«

»Kind, Kind, wenn du es nur nicht zu bunt treibst! Du wirst noch nervös von dem ewigen Lesen.«

»O nein, Tante, ich habe mich heute morgen großartig ausgeschlafen, und jetzt bin ich noch so frisch, als sei ich eben erst aufgestanden. Aber du, Tante, siehst nicht gut aus, bist sicher noch müde von gestern. Leonore sieht auch so schlaff drein.«

Die Tante seufzte, und Leonore strich sich über die Stirn.

»Wo ist denn Richard? Er ist doch endlich aufgestanden, oder hat er noch Katzenjammer?«

»Richard, – Richard, ja, der ist schon fort, sein Urlaub ist ja heute abend zu Ende.«

»Aber so ohne Abschied? Ich habe ja gar nichts davon gemerkt.«

»Er war dir vielleicht böse, weil du ihn immer so schnippisch behandelt hast. Aber das wird sich schon geben ... Was ich sagen wollte ... Leonore, mach du einmal den Salat an, ich bin heute zu zerstreut.«

»Ach, darum hätte ich gerade Richard noch gerne einmal gesehen, um ihm Abbitte zu tun.«

»Was du heute immer mit Richard zu tun hast. Laßt uns geschwind essen, ich habe noch Briefe zu schreiben und mit Leonore zu sprechen. Du kannst nachher etwas musizieren oder lesen oder tun, was du willst. Wir wollen ohnehin heute früh zu Bett gehen.«

Tante Edeltraud war merklich nervös und mißgestimmt. Leonore aß sehr hastig und griff dann zur Zeitung. Martha fühlte, daß sie aus irgend einem Grunde hier nicht weiter angenehm war, und zog sich zurück.

Da stimmte irgend etwas mit Richard nicht.

Als sie das Licht angeknipst hatte, durchrieselte sie plötzlich ein Gefühl wie ein Rausch, eine prickelnde Bewegung in allen Gliedern. Sie riß den Schrank auf, schloß die Zimmertüre ab und legte in fliegender Hast ihr Ballkleid an. Dann stand sie vor dem Spiegel und war entzückt.

Plötzlich ließ die Wallung und Spannung nach. Sie erschrak vor ihrem Spiegelbild und schämte sich vor sich selbst. Wie konnte sie nur einem so unüberlegten Drang nachgeben? Schnell legte sie das Kleid wieder ab und ging in raschem Entschluß zu Bett.

 

Leonore saß mit der Mutter in deren Zimmer.

»Wie konntest du aber Richard wieder zehntausend Mark geben? Du wirfst ihm schließlich dein Letztes hin. Wenn du nichts mehr hast, –ich kann dir nicht helfen. Ich muß mein kleines Vermögen zusammenhalten fürs Alter. Mit meinen Bildern werde ich doch nie so viel verdienen, daß ich einen Haushalt für zwei Personen führen kann.«

»Leonore, das geht dich schließlich gar nichts an; ich bin und bleibe nun einmal Richards Mutter, ich kann ihn doch nicht ehrlos werden lassen.«

»Und ob mich das etwas angeht! Wenn du nichts mehr hast, wird Richard dich nicht unterhalten; und dann fällt alles auf mich. Wie ich dir schon oft sagte: Ich kann dich nicht unterhalten, und zu deinem Bruder, Marthas Vater, willst du nicht gehen. Dann bleibt dir schließlich nichts anderes übrig, als eine Pension zu eröffnen und dir so ein paar Mark zu verdienen. Das wird dir aber bitter genug werden.«

Frau Trenkler brach in Tränen aus. »Was soll ich aber gegen Richard tun?«

Leonore blieb hart: »Gib ihm kein Geld mehr, dann hört er von selbst auf zu spielen und mit Pferden zu paradieren. Und weißt du auch, Mutter, wie oft er in Zivil abends nach München kommt? Da geht auch verdammt viel Geld drauf.«

»Nein, sag nicht so etwas! Das glaube ich von Richard nicht.«

»Pah, Mutter, das ist wohl nicht dein Ernst. Aber du hast Richard stets verhätschelt. Schon als Vater noch lebte und der Bub noch auf dem Gymnasium war, hast du ihm immer heimlich Geld zugesteckt. Das rächt sich jetzt bitter. Ich habe auf vieles verzichten müssen, nur damit der Herr Sohn alles im Überfluß hätte. Wenn einer von uns zweien Grund hätte, sich zu beklagen, dann wäre ich es. Du erntest nur, was du gesät hast.«

»Das von dir hören zu müssen, tut weh, Leonore. Zu wem soll ich denn gehen, um mein Herz auszuschütten? Zu Tante Therese? Ich kann das süße und fromme Getratsche nun einmal nicht anhören. Zu den anderen Bekannten? Na, das fehlte noch gerade, daß die sich an meinem Unglück weideten!«

»Das mußt du alles mit dir allein abmachen, Mutter. Ein großer Mensch überwindet so etwas mit souveräner Ruhe. Aber du hängst innerlich noch zu sehr an deinen alten religiösen Anschauungen, deshalb kannst du keine Gewalt über dich selbst und das Schicksal gewinnen.«

»Ich sehe, es ist besser, wir reden nicht mehr darüber. Ich will zur Ruhe gehen. Gute Nacht.«

Die Mutter stand auf und trocknete ihre Tränen. Leonore ging ohne Gutenachtkuß. – Als die Tochter das Zimmer verlassen hatte, setzte sich Frau General wieder an ihren Tisch und nahm den zusammenklappbaren Photographierahmen aus rotem Leder in die Hand. Da waren sechs Bilder ihres Richard: als kleiner, nackter Hemdenmatz, als zweijähriger Bub und so fort bis zum schmucken Leutnant. Sie küßte das letzte Bild und weinte wieder. »Mein Sohn, wie lange werde ich dich noch so in der Uniform sehen? Ach, wenn Vater das erlebt hätte, es wäre sicher sein Tod gewesen.« Dann stand sie langsam auf und ging in ihr Schlafzimmer hinüber. Es war ihr, als wollten ihre Füße sie nicht mehr tragen. Dort hing in einer Ecke ein süßes, weiches Madonnenbild von Gabriel Max mit einem nichtssagenden modernen Mädchenkopf. Dort sank die alte Frau nieder und weinte und versuchte zu beten bis tief in die Nacht hinein.

 

Martha erwachte schon um viertel vor sieben und fühlte sich vollkommen ausgeschlafen. Was sollte sie beginnen? Was würde der Tag heute bringen? Sollte sie wieder einmal in die Messe gehen? Ach nein, morgen ist ja Sonntag, da muß sie ja doch gehen. Heute könnte sie ja allerdings, aber so oft kam etwas dazwischen, und man mußte sich ja doch ausschlafen. Wenn sie doch nicht regelmäßig täglich gehen konnte, dann lieber nicht. Es war ja auch zu schön im Bett, jetzt im wachen Zustand das wohlige Gefühl ganz auszugenießen.

Sie stand auf und nahm Raskolnikow vom Tisch, legte sich wieder behaglich nieder und suchte die Seite, wo sie neulich stehengeblieben war. Sie suchte hin und her, fand aber keinen Zusammenhang; sie verstand einfach die Erzählung nicht. Zum Kuckuck, sie mußte sich doch einmal hindurchwinden! Aber es ging nicht. Zu langweilig. Endlich schloß sie das Buch und legte es weg.

Dann stand sie wieder auf und drehte den Schlüssel der Tür herum. Wenn das Mädchen sie zum Kaffee rufen sollte, wollte sie ihm sagen, das Frühstück ihr ans Bett zu bringen. Dann träumte sie vor sich hin und rief wieder die Bilder vom Ball und dem Zusammensein mit Otto herbei. Da klopfte das Mädchen.

»Ja, Lisette, bringen Sie mir nur den Kaffee herein.«

»Sind gnädiges Fräulein nicht wohl?«

»Nein, ich habe etwas Migräne und möchte noch ein wenig liegen bleiben.«

»Soll ich den Arzt rufen?«

»Um Gottes willen nicht. Es wird sich schon bald wieder geben.«

Sie trank den warmen, duftenden Kaffee mit Behagen und knabberte einige Zwiebacks dazu. Dann langte sie nach der Zigarettenschachtel und blies den süßlichen Rauch träumend in die Luft. Ah, ein herrliches Gefühl, so selbständiger Mensch zu sein, tun und lassen zu können, was man wollte, nicht durch die bestimmte, langweilige Tagesordnung des Instituts eingeengt zu sein und nicht auf Papas Frühstücksstunde Rücksicht nehmen zu müssen! Aber allmählich mußte sie sich doch erheben, wollte sie nicht von Leonore ausgelacht werden.

Die Toilette machte sie absichtlich langsam und verweilte bei jeder Verrichtung mit Genuß. Es war so schön, durch keine bestimmte Zeit gebunden zu sein. Wie wohl tat das frische Wasser! Wie besah sie die Hände mit Wohlgefallen! Ein wie angenehmes, schmeichelndes Gefühl war es, mit dem Kamm durch die langen, seidenen Haare zu streichen! Ein Lächeln der Befriedigung huschte um ihren Mund, als sie sich so im Spiegel sah. Wie hübsch waren doch diese täglichen Verrichtungen der gewöhnlichen Körperpflege! In allem lag eine neckische Poesie, etwas Frisches und Duftiges.

Und sie summte eine Melodie vor sich hin. Den Text machte sie selbst dazu; wenn er sich auch nicht reimte, so sprach er doch von Liebe und Jugendlust.

Jetzt stand sie vor dem Schrank und suchte nach einem Kleid. Den grauen Rock und die gelbe Bluse? Nein, das ist nicht frisch genug. Aber der dunkelblaue Rock und die weiße Bluse. Ja, und weiße Handschuhe dazu. Das war nicht auffallend, aber frisch, duftig und nett. Dann das kleine Hütchen mit dem herabhängenden Rand. Sie stellte sich vor den Spiegel und war zufrieden. So ging sie hinüber ins Eßzimmer.

»Guten Morgen, Tante, guten Morgen, Leonore.«

»Was, du willst schon ausgehen?«

»Ja, einen kleinen Morgenspaziergang machen und dann einmal Ada Lob besuchen.«

»Na, wirft dich wundern, da sieht's nicht so fein aus wie bei dir. Ist Studentenbude.«

»Wie, ist Ada denn nicht von hier?«

»Nein, von Nürnberg; hat auch nicht übermäßig viel Geld, das arme Ding, aber schlägt sich so durch.«

 

Gegen elf Uhr stieg Martha die drei Treppen zu Adas Zimmer hinauf. Na, fein war es hier allerdings nicht. Schon auf der Straße die kompliziertesten Gerüche. Im Hause ziemlich dumpf und dunkel. An der Etagentüre eine Reihe von Schildern und Visitenkarten. Martha suchte. Da, richtig: »Ada Lob, stud. phil.« Sie drückte auf den elektrischen Knopf. Eine ältliche Frau, nicht gerade zu sauber, öffnete.

»Ist Fräulein Lob vielleicht zu Hause?«

»Ich glaube, ja. Wollen Sie sich, bitte, hereinbemühen.«

Die Frau klopfte an einer Türe im hinteren Teil des Ganges.

»Herein!«

»Ah, Fräulein Halden, wenn ich nicht irre. Bitte, treten Sie näher.«

Ada war an die Türe gesprungen und verdeckte den geöffneten Spalt. Jetzt trat sie zurück.

»O wie nett, daß wir uns hier treffen, Unschuldchen!«

Das war Käthe Zeisig. Sie saß auf einem nicht mehr ganz salonfähigen Klubsessel und streckte Martha beide Hände entgegen. Ein stechender Zigarettenqualm lag in grauen Wolkenbänken in der Luft. Auf dem Sofa hinter dem Tisch saß Dr. Sander. Er versuchte eine augenblickliche Verlegenheit zu verbergen, erhob sich und begrüßte Martha förmlich und salonmäßig.

»O, ich störe wahrscheinlich in wissenschaftlichen Gesprächen. Dann will ich lieber ein andermal kommen.«

»Gewiß nicht, Fräulein. Bitte, nehmen Sie Platz. Ein lieberer Besuch konnte uns nicht kommen. Herr Dr. Sander hat die Güte, mit mir ein Kapitel zu repetieren, das ich in den Vorlesungen nicht recht verstanden habe. Aber wie Sie sehen, haben wir eben eine kleine Erfrischung kommen lassen und bitten Sie, uns dabei zu helfen.«

Auf dem Tisch stand eine Glasschüssel mit Eiscreme, und vor jedem der drei lag ein kleiner Löffel. »Sehen Sie, wir machen das echt brüderlich-schwesterlich, und schlecken gleich aus dem Vollen.«

Martha dankte; ihr bekäme Eis am frühen Morgen nicht. Die drei löffelten ungeniert weiter, Dr. Sander immer da, wo Ada angesetzt hatte. Sie lachten und waren kreuzfidel. Ada trug eine weit ausgeschnittene Kimonobluse und hatte Gesicht und Hals offenbar auch mit einer bräunenden Tinktur bearbeitet wie Käthe Zeisig.

Jetzt hatten sie das Eis abgetan. Dr. Sander schob Ada das letzte Stückchen mit seinem Löffel in den Mund, und Käthe schlürfte den zur Brühe geschmolzenen Rest aus der Schüssel.

»Nun, Fräulein Lob, wollen Sie mir, bitte, Aufschluß über Ibsen geben. Was halten Sie von ihm?«

»Haha, das ist so eine echte Backfischfrage! Was halten Sie denn von seinen Dramen?«

»Ach, ich finde, daß er die Liebe als den Angelpunkt des Menschenlebens recht plastisch und dramatisch dargestellt hat.«

»O Sie Schwärmerin, Sie sehen auch überall nur Mondschein und Honigwasser und so süße Dinge! Nein, Fräulein Martha, Ibsen hat doch etwas tiefer geschürft. Er sagte der Ehe, wie sie bis jetzt war, ins Gesicht, daß sie eine Lüge ist. Das Weib ist nur das Amüsement des Mannes, nur ihr schönes oder minder schönes Frätzchen existiert für ihn. Ein inneres, tieferes, geistiges Ineinanderleben kommt nicht vor. Man lernt sich kennen, liebelt miteinander, küßt und heiratet sich, und nachher findet man, daß man nicht zueinander paßt. Leider hat man dann vielfach nicht den Mut, die letzte Konsequenz zu ziehen und sich gegenseitig die Freiheit wiederzugeben. Diese Heuchelei will Ibsen entlarven und unser modernes Eheproblem lösen: Man soll sich gegenseitig so kennen lernen, daß man geistig ganz ineinanderlebt, oder aber, wenn man findet, daß man nicht zueinander paßt, einfach die Ehe lösen, damit nicht einer dem anderen zur lebenslänglichen Qual wird.«

Ada hatte sich in Aufregung und Begeisterung hineingeredet. Martha glaubte zu bemerken, wie sie unter der Tischdecke Dr. Sanders Hand gefaßt hielt.

»Dann sind ja Ibsens Dramen eine unheimliche Poesie.«

»Poesie? Nein, Philosophie, Weltumsturz und Gesellschaftserneuerung sind sie. Die Ehe ist das wichtigste Problem im Menschenleben. Zu ihm muß jeder einmal Stellung nehmen. Ist die Stellungnahme eine falsche, so ist das ganze Leben verfehlt. Stellen Sie sich einmal die Hölle vor, die einem das Gekettetsein an einen Menschen bereitet, mit dem man in beständigem inneren Widerspruch steht. Denken Sie sich einen tiefveranlagten, geistig interessierten Mann an ein äußerliches, hohles Weib gebunden, das noch dazu mit einem dritten spielt!«

»Da können sie ja auseinandergehen; das gibt auch unsere Kirche schließlich zu, aber sie dürfen sich nicht wieder neu verheiraten.«

»Da soll also ein solcher Mensch, weil ihm das Schicksal ein solches Weib an den Hals geworfen hat, für sein ganzes Leben auf Liebe und Familienglück verzichten? Gerade die edelsten Menschen sollen dazu verdammt sein, ihr edles, vornehmes Geschlecht nicht weiterblühen zu sehen?«

Ada schlug bei den letzten Worten auf den Tisch. Dr. Sander saß sinnend in der Sofaecke, und Käthe rutschte tief in den Sessel hinein und blies lächelnd den Rauch ihrer Zigarette in Ringen vor sich hin.

»Glauben Sie mir, Fräulein Martha, wir müssen ein neues Leben beginnen. Der Geist im Menschen ist die Hauptsache; er muß sich entwickeln, und wenn ihm ein Hemmnis entgegentritt, sei es welches es wolle, dann muß dieses Hemmnis niedergetreten werden. Der Glockengießer in Gerhart Hauptmanns Versunkener Glocke, der ist der Prophet der Zukunft. Mein Gott, ja, wir haben nach diesem einzigen Drama soviel schwächlichen Kitsch auf unseren Bühnen erlebt, aber nie ist wieder ein Geist aufgestanden wie Gerhart Hauptmann mit seiner Versunkenen Glocke.«

»Ich habe sie auch sehr poetisch gefunden, sogar romantisch.«

»Romantisch? Ja, romantisch ist nur das äußere Gewand, aber die Idee ist modern, sie wäre Ibsens würdig. Haben Sie Baumeister Solneß gelesen oder gesehen?«

»Gelesen.«

»Na, da haben Sie ja schließlich genau dasselbe.«

»Ich meine, Fräulein Ada,« ließ sich Dr. Sander vernehmen, »da sprechen Sie doch einen etwas kühnen Satz aus.«

»Kühn oder nicht, ich erklügele hier keine Parallelen, mein Gefühl sagt mir, daß in beiden Dramen derselbe Geist weht, der Geist der Freiheit, dem jeder Mensch folgen muß, wenn er zu dem Ziele gelangen will, das das Schicksal ihm bestimmt hat.«

»Bravo, bravo, Ada!« Käthe klatschte in die Hände, sprang auf und umarmte und küßte die Philosophin. »Und ich meine, wir Mädchen von heute müßten nicht mehr in unseren Schlupflöchern sitzen wie die Käfer und warten, bis uns die Raben – meine die Herren der Schöpfung – aufpicken; nein, wir müssen selbst unsere Männer suchen. Die Herren Männer sind wie die Fliegen. Wir stellen ihnen eine Leimrute auf, das heißt, wir machen uns hübsch und pikant, dann kommen sie schon in Scharen angeflogen und bleiben kleben. Dann suchen wir uns einen aus, der uns gefällt, und streifen die anderen, die sich an uns – will sagen der Leimrute – die Beinchen verklebt haben, ab und werfen sie zum Fenster hinaus. Sehen wir nach einiger Zeit, daß der, den wir erst für scharmant hielten, ein fader Zipfel ist, so lassen wir ihn laufen und wiederholen das Experiment noch einmal, wenn nötig noch zwei- oder dreimal, je nach Bedarf.«

»Sie sind sehr liebenswürdig gegen uns Männer, Fräulein Zeisig.«

»Geradeso liebenswürdig wie die Herren Männer gegen uns Damen sind, Herr Doktor. – Übrigens, meine liebwerten Gäste, Sie werden entschuldigen, wenn ich Sie störe, aber ich habe von zwölf bis ein Uhr noch ein Kolleg über Nietzsche.«

»Über Nietzsche? Sehen Sie, Fräulein Ada, darüber wollte ich Sie auch noch fragen. Ich weiß gar nicht, was ich von Nietzsche halten soll; ich verstehe ihn einfach nicht.«

»Das glaube ich Ihnen, gibt es doch über ihn fast soviel Meinungen als es Autoren gibt, die über ihn geschrieben haben. Das Beste, was Sie tun können, ist, Nietzsche zu lesen, immer wieder zu lesen. Allmählich senkt sich durch die Musik seiner Sprache und die Wucht seiner gigantischen Persönlichkeit ein tiefer Sinn seiner Worte in Ihre Seele. Und versuchen Sie, Nietzsche zu leben. Beginnen Sie damit, jeden seiner Sprüche in die Tat umzusetzen, dann werden Sie fühlen, welche Lust er schenkt, welche Freiheit und welches göttliche Selbstbewußtsein. Nietzsche gibt gerade uns Frauen die Kraft, die wir in der heutigen Zeit brauchen, er macht uns zu vollgültigen Menschen. Darum werden Sie sehen, daß gerade die deutsche Frau Nietzsche zu ihrem Philosophen erwählt hat. Gehen Sie nur einmal übermorgen in den Vortrag ›Nietzsche und die moderne Literatur‹ von Professor Markus, da werden Sie manches verstehen lernen.«

Die Gesellschaft war aufgestanden und rüstete sich zum Gehen. Vor der Haustüre trennte man sich. Dr. Sander spielte lange mit Adas Hand. Dann bot er sich Martha zur Begleitung an. Sie ließ es geschehen, obwohl sie ein peinliches Gefühl beschlich. Der Herr ließ seine Blicke so unverschämt ihre ganze Gestalt entlang gleiten. Was er auf dem Wege sprach, erhob sich nicht über das gewöhnliche Gespräch, das Herren mit Damen pflegen. Er kam von Nietzsche auf Sudermann und von Sudermann auf Wedekind, für den er zu schwärmen schien. An der Ecke der Theresienstraße trennte er sich von Martha, wieder mit den unheimlichen, zudringlichen Blicken.

Sollte dieser fade Mensch sich mit Ada Lob wirklich nur wissenschaftlich unterhalten?

Nein, da war Otto Reiber doch ein anderer Mensch – und Rittmeister von Brandenstein! Die schwärmten für ihren Charakter, ihren Geist. Von ihnen hatte sie nie solche Blicke ausgestanden. Maria hat recht: Viele Männer laufen uns nur nach, weil wir halt Mädels sind. Da müssen mir den Geist ausbilden, daß sie den achten lernen. – –


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