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II.

Der Eilzug raste im Prestissimotakt über Weichen und Kurven, an Villen und Vorstadtbahnhöfen vorbei. Die Reisenden in den Abteilen suchten ihr Gepäck zusammen und zogen die Mäntel an. Martha träumte von ihrem Fensterplatz aus in den sinkenden Abend hinein, aus dem schon die früherwachten Signallaternen des Schienenstranges leuchteten. Vorortzüge mit Arbeitern und Bauersleuten huschten vorüber. Ein langer Lotomotivenpfiff heulte durch die Luft. Da schrak das Mädchen zusammen. Neben ihr sagte eine Dame: »Jetzt sind wir gleich in München drin.«

Martha gab sich einen Ruck und stand auf, nahm den Hut vom Gepäcknetz herunter und setzte ihn auf. Als sie den grauen Reisemantel anlegte, benützte sie die Gelegenheit, sich unbemerkt zu recken. Sie war von dem langen ungewohnten Sitzen steif geworden. Dann ließ sie das Fenster herab und lehnte die Hände hinaus. Der kalte Luftzug tat den erhitzten Pulsen wohl.

Etwas wie Beklommenheit fiel ihr aufs Herz. Sie setzte sich wieder. – So war sie denn am Ziel. Was würde nun werden? Sollte sie sich freuen? – Welche Wunder würden ihr aufgehen?

Allmählich verminderte der Zug seine Fahrt. Nun rollte er hallend und klingend in den Bahnhof ein. Sie erhob sich wieder und lehnte sich zum Fenster hinaus. Die Lokomotive stand, und Martha sah sich gerade zwei Damen gegenüber, die auf dem Bahnsteig warteten.

»Da ist sie! Da ist Martha ja! – Grüß Gott, Mädel! Nun aber schnell heraus!«

Martha griff nach den dargebotenen Händen und wandte sich dann schnell zum Ausgang des Wagens. Vom Trittbrett glitt sie in die Arme einer ältlichen Dame; eine jüngere, hochgeschossene griff nach ihrer Handtasche und dem Plaid.

»Grüß Gott, Kind! Das freut mich aber, daß du da bist.«

Das Mädchen konnte den Gruß nicht erwidern. Frau General Trenkler brachte ihren weißen Kopf mit einer geschickten Wendung unter den breiten Hutrand Marthas und küßte sie auf Wangen und Mund. Ein junger Herr, der von einem anderen Wagen her vorüberging, schaute der Turnübung der alten Dame lächelnd zu und wandte sich im Gehen halbrückwärts, um die Komik der Szene ganz auszugenießen. Tante Edeltraud schlängelte sich mit Geschick unter dem Hut Marthas zurück, und, jetzt erst konnte das Mädchen den Gruß mit roten Wangen erwidern.

»Ich danke dir, Tante, für deine Aufmerksamkeit, daß du mich abholen kommst.«

Und nun trat die hochgeschossene Tochter an die Stelle der Mutter. Für sie war die Begrüßung schon etwas schwieriger. Sie mußte halb in die Knie sinken, um unter Marthas Hut zu kommen.

»Nein, Marthe, das ist aber zu reizend, daß ich eine so liebe Gefährtin bekomme!«

»Jetzt aber voran, Kinder! – Martha, du hast doch deine Koffer aufgegeben, nicht wahr? Schnell zur Gepäckabfertigung!«

Die Tante zog ihren weißen Schleier über ihr weißes Gesicht. Sie hatte eine besondere Vorliebe für den Schleier, weil unter ihm ihre schwarzen Augen mit den langen, schwarzen Wimpern einen gewissen, geheimnisvollen und interessanten Eindruck machten. Sie trug den Kopf stolz wie eine Königin über der violetten Taille mit dem silbergestickten Einsatz und setzte den Schirm mit der weißbehandschuhten und rüschenumblühten Linken in elegantem Rhythmus auf die Fliesen des Bahnsteiges. Die beiden Mädchen nahmen die Frau General in die Mitte; Leonore links und Martha rechts.

»Nun sag mir aber mal schnell, wie es Papa geht.«

»Danke, Tante, recht gut. Er läßt euch herzlich grüßen.«

»Denke dir, Kind. Welches Glück du hast! Morgen kommt Richard aus Landshut in Urlaub. Oder freust du dich nicht darauf? So ein frischer Leutnant ist doch das Entzücken aller jungen Mädchen.«

»Ich freue mich, Richard wiederzusehen. Wann habe ich ihn doch zum letzten Male gesehen?«

»Ach, da warst du noch ein kleines Ding, und Richard war auch noch auf dem Gymnasium.«

Leonore drehte sich zu Martha hin und verzog ihr mageres Gesicht zu einem diebischen Lächeln.

»Aber du warst damals schon ganz sterblich in Richard verliebt. Weißt du noch, wie du immer neben ihm saßest, wenn er Klavier spielte, und ihm unverwandt in die Augen schautest, wie du dich ihm auf den Schoß setztest und ihm über die Haare strichest. Daß du mir das jetzt aber nicht wieder machst, sonst werde ich eifersüchtig. Ich bin nämlich, mußt du wissen, ganz schrecklich in meinen Bruder verliebt und dulde keine Nebenbuhlerin.«

Martha hatte eine giftige Bemerkung von alter Schachtel und ähnlichen Liebenswürdigkeiten auf der Zunge, schluckte sie aber mutig hinunter.

»Nein, Leonore, das weiß ich wirklich nicht mehr. Überhaupt für so dummes Zeug bin ich nicht zu haben.«

»Verzeihe, liebe Martha, ich vergaß, daß du gerade aus dem Institut kommst. Habt ihr da nicht auch in der Literaturstunde in Schillers Glocke die Stelle überschlagen müssen: ›Errötend folgt er ihren Spuren‹? Ich meine, ich hätte einmal so etwas aus einem Institut gehört.«

»Nun, Kinder, werdet nicht gleich zu intim! – Hier sind mir am Gepäckschalter. Martha, hast du deinen Schein?«

Das Mädchen suchte den Gepäckschein in der Handtasche und empfing seinen großen Koffer.

»Bitte, zu einem Auto.«

Der Gepäckträger schwang den Koffer auf die Schulter und ging voraus zu einem Kraftwagen.

»Fahren Sie am Stachus und Lenbachplatz vorbei durch die Ludwigstraße zur Theresienstraße.«

Der Chauffeur kurbelte seine Maschine an, und die Fahrt ging los.

Martha saß mit der Tante im Fond. Leonorens Augen ruhten prüfend auf ihr. Hm, noch ein bißchen viel Backfisch und recht naiv. – Wie sie staunt! – Und das Kostüm! Aber hübsch ist sie! – Mädel, hüte dich, mich auszustechen!

Und Martha staunte wirklich. Solche Gebäude hatte sie noch nicht gesehen. Da war Straßburg, trotz seines Domes, doch kleinstädtisch. Hier alles Paläste und königliche Weite, Brunnenrauschen und lauschige Plätzchen im Gartengrün. Im Wittelsbacher Brunnen plantschte eine Schar Buben barfuß herum.

Ach, wer doch mit ihnen plantschen könnte nach der heißen Fahrt!

Jetzt sauste das Auto am Schillerdenkmal vorüber und bog in weitem Schwung in die Ludwigstraße hinein.

»Schau her, Kind, das ist eine Residenz, eine königliche Straße!«

Marthas Augen weiteten sich; sie hob sich etwas im Sitz und meinte, ihre Brust müßte sich auch weiten in der königlichen Pracht der überwältigend einfachen und monumentalen Architektur, deren Linien sich in sanftem Anstieg im Siegestor auf der Höhe der Straße schnitten.

Es war ihr lieb, daß Tante Edeltraud und Leonore schwiegen. In jugendlichem Schwarm trank sie die Schönheit in sich hinein und fühlte sich in dem in glatter Fahrt auf dem Asphalt dahingleitenden Auto wie eine Königin. Im stillen bat sie dem Vater ihren Widerstand gegen die Reise ab. Wie ein Wehen seliger Lust kam es aus dem duftigen Dämmer zu ihr herübergeschwebt. Ihre Phantasie sah durch die blauen Abendschleier hindurch und schaute Märchenwunder in den Palästen und hinter den Spiegelscheiben der Läden, auf die die elektrischen Straßenlaternen ihre glitzernden Lichtsterne malten.

Das Auto bog in die Theresienstraße ein und hielt.

Frau General Trenkler hatte mit ihrer Tochter Leonore die ganze erste Etage inne. Gleich führte sie Martha in ihr Zimmer, das letzte nach rechts hin in dem dunklen Gang.

»So, Kind, besieh dir dein Heim. In einer Viertelstunde komme ich dich holen. Aber nochmals herzlich willkommen!«

Martha schaute sich flüchtig um, und mit einem zufriedenen Lächeln reichte sie der Tante die Hand.

»Ich danke dir, Tante, für das schöne Stübchen.«

Als sie allein war, schloß sie den Koffer auf und zog sich um; dunkelblauen Rock und weiße Bluse. Den Koffer ließ sie offen stehen. Das Mädchen konnte das Auspacken besorgen. Nun gab sie sich daran, sich in ihrem Heim etwas näher umzusehen. Sie schloß das Fenster, zog den Vorhang zu und knipste das elektrische Licht an. Ah! Das war ganz gemütlich.

Neben dem Spiegel über dem Toilettetisch mit Stecker für elektrische Kerzen und Brandschere hingen in schmalen goldenen Rähmchen zwei reizende Mädchenköpfe, über dem Bett Schwinds »Morgensonne«, über dem Rokokoschreibtisch eine duftige Wild- und Alpenlandschaft, gezeichnet »Leonore Trenkler 1911«. Auf dem Schreibtisch stand noch eine Menge leerer Photographierahmen. Wie aufmerksam von der Tante! Da sollten Vaters und Mutters Bild hinein und Institutsfreundinnen. Aber was stand denn da? Eine Schwerttänzerin. Martha errötete. Ein leichtes, modernes Machwerk in Bronze. Sie faßte die kleine Figur und warf sie in eine Schublade des Schreibtischaufsatzes.

Da kam ein plötzliches Erschrecken über sie. Die Puppe! Die durfte das Zimmermädchen nicht finden. Hastig griff sie in den Koffer hinein, wühlte in seinen Tiefen und zog Erna hervor. Sie drückte den Wachskopf an ihre Wange und zupfte Haar und Kleider der Puppe zurecht. Da, Schritte auf dem Gang! Wohin mit Erna? In den Schrank? Das ging nicht, da fand sie das Mädchen. Mit einem Ruck hob sie das Federbett am Fußende auf und stopfte die Puppe darunter. Nun klopfte es. Tante Edeltraud trat ein.

»Bist du fertig, Kind, dann komm!«

Martha folgte ins Eßzimmer, das an den Salon anstieß, dessen Flügeltüre weit offen stand. Man setzte sich nieder. Tante Edeltraud hatte eine lichtgraue seidene Bluse angelegt. Leonore trug ein hellrosa Kleid mit leichtem Halsausschnitt, Spitzenkrause und Tüllärmeln. Die jugendliche Toilette vereint mit einer Rosaschleife im Haar machte durch den Kontrast mit dem Altmädchengesicht der Trägerin einen halb komischen, halb tragischen Eindruck.

Als man mit den hin und herfliegenden Familienneuigkeiten fertig war und das Gespräch zu stocken begann, setzte sich Leonore in Positur.

»So, Martha, heute abend gebe ich dich noch frei. Du willst sicher nach der ermüdenden Reise früh schlafen gehen. Morgen früh zeige ich dir ein gut Stück München, und morgen abend, wenn Richard da ist, machen wir den ersten geselligen Abend. Mama hat schon Erlaubnis gegeben, daß ich einige gute Freundinnen einlade. Otto Reiber, Richards Freund, wird auch nicht fehlen, er steht hier beim Leibregiment.«

»Ja, Kind, du wirst Freude haben an unserem Kreis. Reizende Menschen. Alle ganz verschieden in ihren Anschauungen. Du wirst da viel lernen können. Und sie werden dich auch gleich gerne haben; denn du bist ja ein prächtiges Mädel geworden.«

Dabei tätschelte Tante Edeltraud das Mädchen auf die Wange. Martha wurde rot, und Leonore warf der Mutter lachend einen bösen Blick zu.

Nach dem Essen ging man in den Salon hinüber.

Martha mußte sich in acht nehmen, daß sie nicht an eines der tausend Sachen und Sächelchen stieß, die da herumstanden und -hingen. Die Tante ließ sich in einen Sessel nieder, griff zu einer Zigarettenschachtel und schob sie Martha zu. Das Mädchen dankte, aber Tante schlug die Knie übereinander und stieß den ersten Zug durch die Nase. Leonore steckte auch eine Zigarette an, setzte sich an den Flügel und phantasierte im Ton leichter Salonmusik, indem sie recht oft die Hände kreuzweise übereinanderlegte und sich von einer Seite auf die andere wiegte.

Martha drückte sich in eine Sofaecke und ließ ihre Augen über die Bilder und Gegenstände des Salons gleiten. Das meiste waren Landschaften und Blumenstücke. In der Ecke hinter dem Flügel stand auf dünner, hoher Säule ein wasserschöpfendes Arabermädchen in halber Lebensgröße. – Nein, so etwas paßte sich doch nicht! – Martha schaute vor sich hin und griff nach einem Photographiealbum, das vor ihr auf dem Tische lag. Träumend blätterte sie darin herum.

Würde ihr diese Umgebung auf die Dauer behagen? Oder hatte sie doch aus dem Institut falsche Begriffe vom Leben mitgebracht?

»Herrgott, Kind, wir haben ja ganz vergessen, Papa deine glückliche Ankunft mitzuteilen!«

Tante Edeltraud sprang auf und lief in ihr nebenanliegendes Zimmer. Mit einer Karte und einem Bleistift kam sie zurück.

»Hier, Martha, geschwind an Papa geschrieben. Laß mir aber auch noch ein bißchen Platz für einen Gruß!«

Martha zog den Tisch zu sich heran. »So eilig wäre das nicht gewesen, Tante; morgen ist ja auch noch ein Tag, und Papa denkt sich schon, daß ich gut angekommen bin.«

Aber sie schrieb ein paar Worte. Ihre Gedanken waren weniger beim Vater als bei dem Garten und ihrem Zimmerchen und Bubi und Babette, all den tausend Dingen, die einem in der Fremde plötzlich viel goldener und strahlender erscheinen und die eigentlich die Heimat ausmachen. Wie kalt kam ihr der überelegant ausgestattete Raum vor, in dem sie saß! Nichts schmiegte sich da ihrer. Seele an. Würde sie überhaupt jemals Beziehungen knüpfen können zu dem nichtigen Kram, der sie hier umgab?

Sie schob die Karte der Tante hin. Leonore hatte sich vom Klavier erhoben und unterschrieb auch.

»Tante, wenn du erlaubst, möchte ich auf mein Zimmer gehen. Ich bin doch sehr müde.«

»Gewiß, Kind, geh nur schlafen.«

Martha erhob sich und reichte der Tante die Hand. Leonore ergriff ihre Linke und sang lächelnd:

»Guten Abend, gut' Nacht!
Mit Rosen bedacht,
Mit Näglein besteckt,
Schlüpf unter die Deck!
Morgen früh, wenn Gott will,
Wirst du wieder geweckt.
Morgen früh, wenn Gott will,
Wirst du wieder geweckt.« – –

Auf ihrem Zimmer angekommen, drehte Martha den Schlüssel der Tür herum und drückte noch einmal die Klinke prüfend nieder, ob die Türe auch wirklich zu sei. Der Koffer war schon fort und ihre Wäsche und Kleider im Schrank geordnet, das Bett aufgedeckt.

»O weh, wenn das Mädchen die Puppe gefunden hat!«

Nein, sie war noch da, unberührt, wie Martha sie hingelegt hatte. Sie nahm Erna auf den Arm und setzte sich an den Schreibtisch, wo das Licht der elektrischen Stehlampe von oben her voll ins Gesicht der Puppe fiel.

Aber was war das? Helle, lichte Tropfen auf Marthas Wangen. Sie wußte nicht recht, wie ihr geschah. Aber ein Schluchzen stieg ihr die Kehle hinauf. Jetzt stand wohl der Mond über dem heimischen Garten, und das weiße Haus träumte im Dämmergehege der blühenden Kastanien. Und hoch am Himmel, gerade über dem Dachfirst, stand der große Bär und flimmerte so lieb und traut ..., und aus der Ferne pfiff eine Lokomotive durch die klare Nacht ... und ihr Fuß knirschte im Kies ... und eine Fledermaus huschte an ihrem Ohr vorbei ... und die Tränen flossen und flossen ... wo war sie nur? Ach, so weit, so weit von allem, was ihr lieb war! Stürmisch preßte sie die Puppe an die Wangen und küßte sie wieder und wieder. Wenn ich dich noch habe! O hätte ich dich nicht, dann hätte ich gar nichts Liebes mehr auf der Welt. Ihr Blick fiel wieder auf das lange Kleid. Sie war sich selbst in der Fremde eine Fremde geworden.

Sie stand auf, löschte das Licht und öffnete das Fenster. Es ging auf einen kleinen Garten hinaus, dem sich rings die Rückseiten der Nachbarhäuser zukehrten. Von der Straße her rasselte und läutete die Straßenbahn und hallten die Schritte einzelner Fußgänger auf den Steinen des Bürgersteiges.

Martha legte die Puppe auf das Fensterbrett und nestelte ihr Haar los. So kam wieder ein Gefühl der Freiheit über ihr Gemüt. Sie schlang die Hände im Nacken zusammen und schaute zu den Sternen auf. – Wie oft wird sie den Himmel noch von diesem Gefängnis aus betrachten, bis sie wieder den Abendstern über den Bergen der Heimat aufsteigen sieht?

Nein, sie will nicht wieder weinen. Hastig schließt sie das Fenster und zieht den Vorhang vor und versteckt die Puppe im hintersten Winkel des Schrankes. Dann macht sie sich daran, die vom Mädchen auf dem Schreibtisch aufgeschichteten Sachen und Sächelchen, Papiere und Bilder einigermaßen zu ordnen und in die Schublade zu legen. Die Photographien sucht sie heraus und steckt sie in die Rahmen. Vater und Mutter bekommen den Ehrenplatz in der Mitte, daneben Bubi, der Dackel, und dann die Freundinnen. Eine Menge Bilder bleibt noch übrig, die keinen Rahmen finden. Da muß sie sich noch einen Fächer kaufen, um sie hineinzustecken.

Was steht denn da auf dem Tischaufsatz? Ah, Bücher! Die hat sie ja noch gar nicht gesehen. Ein paar Romane. Merkwürdige Romane, von denen sie noch nicht gehört hat. Und daneben ein drolliges Buch mit dem geheimnisvollen Titel »Zarathustra«. Das ist sicher ein Zauberbuch oder so etwas. Na, das werden wir ja noch alles sehen.

Jetzt ist Zimmer und Tisch so geordnet, daß sie sich vorläufig ein wenig daheim fühlt. Sie rückt den Stuhl etwas vom Tische ab und lehnt sich bequem zurück, um das Ganze zu überschauen. Ah, da fehlt ja noch das kleine geschnitzte Kreuz mit dem Edelweißkranz. Wo hat das Mädchen es doch hingekramt? Sie öffnet den Schrank und sucht. Richtig, da ist es. Oben auf dem Schreibtisch steht es schön. So, die Bücher können in der Mitte etwas zurücktreten. Sie bilden eine kleine Nische.

»Jetzt bin ich gespannt, wie sich das Stübchen bei Tage ausnehmen wird. Am Abend bei Licht ist es ganz gemütlich.«

Sie blieb noch einen Augenblick im Genuß des Anblickes sitzen und kniete dann vor dem Tische zum Abendgebet nieder. Dann ging sie zu Bett und schlief nach der Anstrengung des Tages bald ein, um aber in der Nacht häufig durch die Neuheit der Lagerstatt zu erwachen, ohne jedoch recht zum Bewußtsein zu kommen.

 

Am anderen Morgen wurde Martha durch das einfallende Licht geweckt. Sie schaute auf die Uhr. Schon sieben! Rasch kleidete sie sich an und trat in den Gang hinaus. Da war ein Mädchen am Putzen.

»Sind die Damen schon aufgestanden?«

»Nein, gnädiges Fräulein,« sagte das Mädchen lachend, »die gnädige Frau und das gnädige Fräulein kommen nie vor halb zehn Uhr zum Frühstück.«

»Ich danke.« Martha ging wieder ins Zimmer zurück.

Sie ärgerte sich; denn sie verspürte einen ganz respektablen Hunger. Noch zwei Stunden warten! Eine ganze Ewigkeit. Und dann kam sie ja um die Messe. Nun, für einmal ließ sie sich das gefallen. Morgen würde sie die Stadt schon so kennen, um in der Frühe den Weg zur Kirche allein zu finden. Oder könnte ihr das Mädchen nicht den Weg weisen? Sie öffnete die Türe.

»Sagen Sie mal – wie heißen Sie doch?«

»Lisette, gnädiges Fräulein.«

»Sagen Sie mal, Lisette, wie kommt man hier zur nächsten Kirche?«

»O, das ist nicht schwer zu finden, gnädiges Fräulein. Da gehen Sie nur gleich links die Ludwigstraße hinauf, da sehen Sie zwei Türme auf der rechten Seite. Das ist die Ludwigskirche. – Aber gnädiges Fräulein wissen doch, daß heute nicht Sonntag ist?«

»Ich danke. Nein, allerdings ist nicht Sonntag; daran brauchen Sie mich nicht zu erinnern.«

Martha nahm den Hut vom Mantelstock und ging hinunter.

Ah, welche Wohltat die frische, scharfe Münchener Morgenluft! Und wie heiter jetzt die Ludwigstraße im Sonnengold dalag! Und die putzigen Straßenkehrerinnen mit den flachen Hüten und grünen Umschlagtüchern!

Sie trat in die Kirche. O, München scheint doch noch ziemlich fromm zu sein. Wie viele Frauen knieten da in den Bänken! Und welch gewaltiges Bild über dem Altare! Schade, daß es nicht belichtet ist. Sie ging hoch in die Kirche hinauf. Das Jüngste Gericht. Richtig, davon hatte sie in der Kunstgeschichte im Institut gehört. »Das Jüngste Gericht, von Cornelius, das größte Fresko der Welt.« Der Aufenthalt in München konnte doch schön werden beim Genuß all der Kunstwerke, denen man hier auf Schritt und Tritt begegnete. Wie heiter war die Kirche in ihren lichten, fein abgetönten Farben. Und erst die herrlichen Engel, die von den Wänden des Kreuzschiffes in die Kirche zu ihr herabzusteigen schienen!

Jetzt klang ein Glöckchen durch den Raum, und ein Priester ging zum Altar. Martha bekreuzigte sich und trat in eine Bank.

Während der heiligen Messe betete sie fast nur um Gnaden, recht viele Gnaden für ihren Aufenthalt in der Großstadt. War sie auch nun in der Fremde, der Heiland im Tabernakel war doch derselbe wie in der Heimatkirche.

Als nach der Messe eine Schar Frauen zur Kommunionbank traten, schloß sie sich an. Warum auch nicht? So kam der Segen Gottes doppelt über sie.

Nach der Danksagung ging sie heiter zurück zur Wohnung der Tante. Heiter durch den Verkehr mit Gott und die himmlische Stimmung, die die herrliche Kirche in ihre Seele geträufelt hatte.

Tante und Leonore waren noch immer nicht erschienen. Sie setzte sich auf ihr Zimmer und griff zu dem geheimnisvollen Buch »Zarathustra« und blätterte darin herum. Nein, welch dummes Zeug! Davon verstand sie nichts. Ah, da kam Poesie: »Das Nachtlied«.

»Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen. Nacht ist es: nun erwachen alle Lieder der Liebenden. Und auch meine Seele ist das Lied eines Liebenden.«

Ah, das war schön! Und welche Sprache, nein, welche Musik! Sie träumte und sah eine grünblaue Nacht, gekrönt von goldenen Sternen, und hörte einen Springbrunnen rauschen und fühlte ihr Blut wärmer pulsen. War das die Liebe? War jetzt ihre Seele ein Lied des Liebenden?

Ja, das Nachtlied wollte sie noch öfter lesen; dann kam ihr wohl auch allmählich das Verständnis für die anderen Kapitel in dem unverständlichen Buche.

Nietzsche, der das Nachtlied geschrieben hatte, mußte ein großer Dichter sein. Es brannte ein Schwärmen in ihr auf für den Dichter des Nachtliedes. Was er auch sagen mochte, sie wäre ihm in diesem Augenblick blindlings gefolgt nur um der Musik seiner Sprache willen. Und sie blätterte weiter. Da fiel ihr Blick auf das Schlußwort eines Kapitels:

»Du gehst zu Frauen, vergiß die Peitsche nicht.« – Pfui, was war wieder das? Was hatte Leonore doch für tolle Bücher!

Es klopfte. Leonore trat ein.

»Guten Morgen, Martha! Allergnädigst geruht? Und schon beim Lesen! Du hast es aber gut vor! Und gar Nietzsche! Schäm dich, Mädchen! Wenn das deine Lehrerinnen aus dem Institut sähen!« Leonore drohte mit dem Finger und lachte maliziös.

»Nun, was willst du, du hast mir ja das Buch selbst hierhergestellt. Und etwas Böses habe ich bis jetzt nicht darin gefunden, nur das Nachtlied, und das ist wunderschön –, und sehr viel Dummes, was ich nicht verstehe.«

»Da hast du recht, Kind. Nietzsche muß man nicht lesen, man muß ihn erleben. Wenn du mal erst ein Mensch geworden bist, wird dir schon ein Licht aufgehen, wie groß und tief Nietzsche das Leben erfaßt hat und wie man durch ihn erst zum Menschen wird.«

»Aber was sagst du denn zu dem Satz von der Peitsche?«

»Dummes Zeug! Das muß man ihm durch die Finger sehen. Er ist halt ein Übermensch und will uns mit Gewalt zu Übermenschen erziehen. Und weißt du, einen Mann, der so auftritt wie Nietzsche, den müssen wir Frauen halt alle miteinander anbeten. Das ist doch anderes Mark als die romantischen Mondscheinpoeten, für die du im Institut geschwärmt hast.«

»Aber bitte, Leonore, Schiller und Klopstock und Lenau und Heine ...«

»Und Redwitz mit seiner ›Amaranth‹ und Herolds ›Gretchen‹ waren doch schön, nicht wahr, das willst du doch sagen? Aber jetzt mußt du andere Sachen lesen, die dich im Leben voranbringen.«

»Am besten brächte mich jetzt im Leben voran ein guter Morgenkaffee; ich faste schon seit sieben Uhr. Wann geht ihr denn eigentlich hier zum Frühstück?«

»Was? Schon seit sieben Uhr bist du auf und liest hier in dem gottverdammten Buch? Kind, was soll aus dir noch werden?«

»Nein, erst seit einer Viertelstunde. Ich war schon in der heiligen Messe.«

»Schwätz kein Blech, Martha. Wer geht denn an Werktagen in die Kirche?«

»Ich, daß du es weißt. Ich habe das Mädchen draußen nach dem Weg gefragt und war in der Ludwigskirche.«

»Ach wie herzig von dir! Da kommt ja wieder einmal Frömmigkeit ins Haus. Hast du auch für mich elende Sünderin gebetet? Aber komm jetzt zum Frühstück. Mutter wird schon warten. Wir wollen bald losgehen, damit ich dir die Stadt zeigen kann.«

 

Am Kaffeetisch platzte Leonore gleich heraus:

»Denke dir, Mutterl, Martha, das schlechte Ding, hat schon in aller Frühe Nietzsche gelesen. Wenn wir das Kind nicht behüten, wird es uns noch ganz verdorben, und was wird dann ihre Mère aus dem Institut sagen?«

Martha wurde ärgerlich.

»Nun sei doch still mit dem Zeug, sonst lese ich heute nachmittag den ganzen Tatarusta, oder wie das dumme Buch heißt, durch.«

»Vorläufig wirst du noch nicht viel Zeit zum Lesen haben. Das kommt schon noch nachher. Erst lebe dich hier einmal ein. Es gibt so viel zu sehen und kennen zu lernen, daß du vorerst vollauf zu tun hast.«

»Aber was sagst du dazu, Mutterl, daß unser Nönnchen heute schon in der Kirche war?«

»Was, Martha, du warst schon in der Kirche? Wann bist du denn aufgestanden?«

»Sehr spät, Tante, erst um sieben Uhr. Aber ich denke, ich kann jeden Morgen gehen. Es ist so schön hier in der Ludwigskirche.«

»Es wird dir wohl auf die Dauer schwer werden, so früh zur Messe zu gehen, wenn du abends in Gesellschaft warst. Sonntags gehen wir zusammen um zehn Uhr in die Albanskirche. Da wird so herrlich gepredigt. Und sonst werden wir auch in manchen religiös-wissenschaftlichen Vortrag gehen, so daß dein religiöses Bedürfnis nicht zu kurz kommen wird. Es ist eine nette, liebe Gewohnheit, die du noch aus dem Institut mitgebracht hast, jeden Morgen in die Messe zu gehen. Ich habe das früher in meiner Kindheit auch so gehalten. Aber wenn man einmal ins Leben kommt und gesellschaftliche Verpflichtungen übernehmen muß und bei anderen hochgebildeten Menschen nicht anstoßen und sie nicht abstoßen darf, dann muß man diese Äußerlichkeiten der religiösen Betätigungen möglichst einschränken und sich auf die Verinnerlichung verlegen.«

»In Kunststudium wirst du soviel religiöse Anregung finden, daß dein ganzes Gefühlsleben in der Schönheit, das heißt im Göttlichen, aufgeht. Da brauchst du nicht mehr den Mythos des Christentums mit seinen durch die Jahrhunderte geschaffenen menschlichen Veräußerlichungen.«

Martha wurde es ganz toll und dumm im Kopf vor dieser Gelehrsamkeit. Die Tante merkte ihre Verlegenheit und half ihr mitleidig darüber hinweg.

»Leonore, du bist, wie immer, zu radikal. Man muß jedem Menschen die Überzeugung lassen, die ihn beglückt, solange sie nicht aufdringlich den gesteigerten ästhetischen Anforderungen unserer Kultur ins Gesicht schlägt. Ich für meinen Teil finde mein höchstes Glück in dem Kultleben der katholischen Kirche, solange es sich nicht in Übertreibungen, die ja auch leider zu menschlich sind, ergeht. Ja, leider wird in unseren Kirchen zu wenig Rücksicht auf die Gebildeten genommen. Was man da Predigt nennt, ist nichts anderes als ein Breittreten der alten Katechismuswahrheiten und von Forderungen, die nicht mehr in unsere Zeit passen, ganz zu schweigen von der ungebildeten, unästhetischen Form, in der sie von den meisten Geistlichen vorgetragen werden. Aber es ist den Gebildeten ja nicht verwehrt, sich den Prediger auszusuchen, der ihren Anforderungen entspricht. Meine religiöse Überzeugung, die ich mir gebildet, lasse ich mir nicht durch zufällige Kleinigkeiten nehmen, an denen das Volk seine Befriedigung findet.«

Martha wußte nicht, was sie von Tante Edeltrauds Worten zu halten hatte. Das klang ja ganz hübsch und vernünftig. Aber sie mußte nicht, ob sie warm oder kalt davon berührt worden war.

»Jetzt machen wir uns fertig, Martha, und schauen uns ein Stück München an. Um elfeinhalb Uhr will ich in meinem Atelier in der Barerstraße sein. Ich will noch ein wenig arbeiten bis ein Uhr, da heute nachmittag wegen Richard ja doch nichts daraus wird.«

 

Die beiden Mädchen verließen das Haus.

»Du wirst dich gewiß am meisten für die Kirchen interessieren. Deshalb wollen mir zuerst einmal in die Theatinerkirche gehen und dann in den Dom, von da aus in den Englischen Garten.«

Auf dem Wege plapperte Leonore wie eine Mühle und packte über jedes Gebäude, an dem sie vorüberkamen, einige Seiten Baedeker aus. Martha wurde es schwül im Kopfe. Wenn Leonore doch schwiege! Sie wollte ja gar nicht mit Geschichte und Kunstgeschichte gequält sein. Wer konnte auch all das Zeug behalten? Und zum Genießen hatte man es gar nicht nötig. Im Gegenteil, es verdarb allen Genuß.

In der Theatinerkirche ärgerte Martha sich besonders, weil Leonore nicht das Weihwasser nahm, das sie ihr bot, und vor dem Allerheiligsten keine Kniebeugung machte. Geradezu schrecklich war ihr aber das Gerede von der Kuppel von St. Peter in Rom, die viel gewaltiger und höher sei als die der Theatinerkirche. Was kümmerte sie das? Sie wollte die Theatinerkirche genießen.

Als sie wieder auf die Straße traten, wurde sie etwas mit Leonore versöhnt. Sie gab einem Bettler, der an dem Portal seinen Hut hinhielt, ein Almosen. Also ein gutes Herz hatte Leonore doch! Dasselbe tat sie am Eingang der Liebfrauenkirche. Martha schämte sich, weil sie keine Börse bei sich hatte, und so vor den armen Leuten hartherzig erschien. Jetzt nahm sie Leonores Kunstgerede gerne in den Kauf. Auf die Dauer würde sie die Kusine schon verstehen und vielleicht gar lieben lernen. Wer den Armen gibt, der muß doch ein gutes Herz haben.

Im Englischen Garten ging Martha vollends das Herz auf. Hier wurde Leonore auch erträglicher. Sie machte auf die malerischen Blicke aufmerksam und störte Martha nicht, als sie auf einer Isarbrücke sich ans Geländer lehnte und lange in die lichtgrünen schäumenden Wellen träumte.

»Hier will ich oft hingehen, Leonore. Hier ist es schön, viel schöner als drinnen in der gräßlichen Stadt.«

»Haben dir denn die Kirchen nicht gefallen und die Feldherrnhalle und das Rathaus?«

»Gewiß, aber da muß ich noch einmal allein hingehen. Wenn ich alle deine Erklärungen verdaut habe, werde ich alles viel besser und mit Muße betrachtend verstehen. Jetzt hab ich vor lauter Bäumen den Wald nicht gesehen.«

»Ei, sieh da! Wer sitzt denn da auf der Bank! Das ist ja Maria Reiber, die Medizinerin!«

Leonore wies auf ein junges Mädchen in einfachem grau und weiß karrierten Kleid mit üppigem, schlicht gescheiteltem Blondhaar. In ein dickes Buch vertieft, saß sie in der Ecke einer Bank unter einem blühenden Holunderbusch. Der große weiße Hut mit breitem, schwarzem Band lag neben ihr.

Leonore klatschte in die Hände. »Holla, Maria! Nicht zu fleißig! Grüß Gott, Mädel. Das ist aber schön, daß wir dich hier treffen.«

Die Studentin schaute auf und erhob sich lächelnd, den Zeigefinger der Linken im Buch haltend. Ihr großes, braunes Auge blickte Martha forschend und fragend an.

»Siehst du, Maria, das ist mein Kusinchen, von dem ich dir sprach, und das zu uns nach München gezogen ist, um sich die große Welt etwas anzusehen.«

Maria reichte Martha die Hand und drückte sie gleich herzlich.

»Das wird sie wohl unter deiner meisterhaften Leitung prächtig besorgen.« Sie lächelte ein wenig spöttisch.

Martha spielte mit dem Sonnenschirm im Kies und schaute von unten herauf die große, stattliche Gestalt wohlgefällig an.

»Weißt du, Martha, Maria ist die Schwester des Herrn Leutnants Reiber von den Leibern, eines Freundes unseres Richard.«

»Richard kommt ja heute, wie mir deine Einladung für heute abend sagt. Mein Bruder kommt ja auch zu euch. Ich freue mich herzlich darauf.«

»Aber, Maria, gutes Mädel, du bist ja so bleich und siehst müde aus.«

»Da soll man auch nicht ein bißchen müde sein, wenn man vor dem Physikum steht!«

»Wann machst du das Examen?«

»Ende dieses Semesters. Das hindert aber nicht, daß wir unsere Kunstplaudereien fortsetzen, die wir seit Ostern unterbrochen haben.«

»Wann hast du wieder Zeit? Wir könnten jetzt ganz gut bis zum Semesterschluß noch einmal die Alte und Neue Pinakothek und den Glaspalast durcharbeiten. Für Martha wird das ja auch sehr lehrreich sein.«

»Am besten kann ich Dienstags und Freitags von zehn bis eins. Da habe ich nicht belegt. – Aber entschuldige, es schlägt eben dreiviertel elf. Um elf Uhr habe ich Kolleg.«

»Das trifft sich ja nett. Ich will auch um elfeinhalb Uhr in meinem Atelier sein. Käthe Zeisig will meine Studien bewundern, und ich habe sie für elfeinhalb Uhr bestellt. Dann gehen wir zusammen bis zur Universität.«

Maria Reiber trug ihren Hut in der Hand, und Leonore und Martha nahmen die Studentin in die Mitte. Martha schaute sie von der Seite bewundernd an und ließ den Blick nicht von ihr.

Sie hatte Glück, gleich am ersten Tage mit einer Universitätsstudentin zusammenzukommen, und sie fühlte, wie ein warmes Vertrauen zu der neuen Bekannten in ihrem Herzen entbrannte.

Die Medizinerin war durch ihren Bruder Otto, den Leutnant vom Leibregiment, im Hause der Frau General Trenkler bekannt geworden. Die beiden Herren waren seit den Gymnasialjahren miteinander befreundet, obschon ihre Charaktere so verschieden waren wie die Leonorens und Marias. Diese hatte sich, als Mitglied einer Studentinnenkongregation, Leonore angeschlossen, um allmählich einen wohltätigen Einfluß in religiöser Beziehung auf die ihr an und für sich unsympathische Malerin auszuüben. Sie hielt die Freundin nur für seicht und großsprecherisch und hoffte, sie nach dem Sturm und Drang ihrer ersten Künstlerschaft wieder auf vernünftige Bahnen zu bringen. Nun freute sie sich, im Leben des neu angekommenen jungen Mädchens ein Gegengewicht Leonore gegenüber bilden zu können. Sie fühlte wohl, daß Martha sie unverwandt mit kindlicher Bewunderung anblickte, und als sich zwischen den beiden Springbrunnen vor der Universität ihre Wege trennten, drückte sie dem Mädchen besonders herzlich die Hand.

»Also auf Wiedersehen, heut abend!«

 

Leonore stieg mit Martha die vier Treppen hinauf zu ihrem Atelier. Als sie auf der vorletzten Stiege angekommen waren, rief von oben eine Mädchenstimme herunter.

»Na, Leo, kommst du endlich? Ich stehe mir hier die Beine in den Leib.«

»Nur, Geduld, Käthe!« Damit waren sie oben. Die Wartende kam Leonore entgegen, warf sich in Ausfallstellung und schwang den Schirm und stach damit wie mit einem Florett auf Leonorens Brust.

»Eine solche Geduldsprobe verlangt blutige Sühne. – Holla, was hast du denn da für einen unschuldigen Backfisch? Eine Schülerin?«

»Käthe, sei artig und gesittet. Martha Halden, meine liebe Kusine, bei uns zu Besuch. – Käthe Zeisig, Allerweltsmädel und meine nichtsnutzige Freundin.«

Die beiden Vorgestellten gaben sich die Hand. Käthe wandte sich aber sofort zur Türe und bearbeitete sie mit ihren weiß behandschuhten Fäusten.

»Sesam, tu dich auf!«

Leonore suchte in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel, und unterdessen musterte Martha die neue Bekanntschaft.

Pfui! Wer trug eine solch freche Bluse! Das kleine zuckende Figürchen war überdacht von einem riesigen roten Hut.

Jetzt ging die Türe auf, und das Licht aus dem hohen und breiten Atelierfenster, das die gegenüberliegende Wand ganz offen ließ, fiel voll auf Käthe Zeisig. Leonore ließ die beiden Mädchen eintreten.

»Muß man hier die Schuhe ausziehen?« Und Käthe griff nach ihren weißen Stöckelschuhen.

»Schwätz kein dummes Zeug, Käthe. – Aber sag mal, wo bist du denn gewesen seit der letzten Woche? Du siehst ja aus wie eine Mulattin?«

»Fein von der Sonne verbrannt, interessant, he?« Ihr Gesicht und Hals waren tatsächlich fast schokoladebraun, und die schwarzen Augen unter den offenbar gefärbten Wimpern vermehrten den arabischen Eindruck.

»Nein, Leo, so was erreicht man nur mit der Tinktur, die ich vor ein paar Tagen entdeckt habe. Las zufällig die Anzeige in der »Jugend« und habe sie mir gleich angeschafft. Ich verrate dir aber die Marke nicht, sonst stichst du mich aus.«

Martha war starr vor Staunen. So etwas war ihr noch nicht vorgekommen. Sie war doch noch recht dumm und unerfahren. Bis jetzt hatte sie immer gemeint, ein zarter, weißer oder rosiger Teint sei das Ideal für ein junges Mädchen. Nun aber so was! Nein!

Das Atelier war ein großer, weißgetünchter Raum, dessen Wände mit Akt- und Kopfstudien in Kohlezeichnungen, Ölskizzen und Aquarellen angefüllt waren. An der einen Schmalwand stand ein schwarzes Holzpodium mit einem Dreifuß als Sitz, an der anderen ein niedriges Liegesofa und eine spanische Wand mit Waschbecken und Zubehör. Rings auf dem Boden lagen und standen noch, gegen die Wand gelehnt, Papierrollen, bemalte Pappe- und Leinwandfetzen. Die Bilder stellten meist italienische Landschaften dar mit den charakteristischen Piniengruppen, Kirchtürmen und Ziegenhütern. Einige Bilder waren da, von denen Martha den Blick wegwandte. Käthe betrachtete sie um so interessierter.

Leonore ließ die beiden Besucherinnen zunächst sich still in ihrem Reich umsehen und legte den Hut ab und zog über ihr Straßenkleid eine große Schürze, die mit bunten Farbflecken bedeckt war wie ein scheckiges Osterei.

»Ach, Fräulein, – wie heißen Sie doch noch? – Sie herzige Unschuld vom Lande, ich beneide Sie, daß Sie eine so große Künstlerin zur Kusine haben. Sie sind doch sicher auch künstlerisch begabt, denn wo das einmal in der Familie liegt, – ich wette, daß Sie noch einmal als Naive zur Bühne gehen.«

Martha wurde feuerrot, aus Verlegenheit konnte sie nichts antworten. Leonore sprang ihr bei.

»Sag mal, Käthe, du kommst mir heute so komisch vor, so halb in deiner Erscheinung. Ich meine, es fehlte etwas an dir. Ach ja, wo hast du denn deinen Bussi?«

Käthe Zeisig war nämlich nie ohne ihren kleinen schwarzen Pinscher mit den zitterigen Beinchen und den ängstlichen Augen zu sehen.

»Ach, der arme Kerl hat den Husten. Ich habe ihn daheim ins Bett gelegt. Er darf mir drei Tage nicht hinaus. Ich wäre todunglücklich, wenn dem armen Bussi etwas passierte.«

Martha dachte an ihren Dackel und träumte in die Heimat, aber der Bussi der Käthe mochte ihr nicht gefallen, wenn der Hund so zimperlich war und zu seiner Herrin paßte.

In einer humoristischen Zeitschrift hatte sie einmal ein Bild gesehen mit der Unterschrift »Wie der Herr, so der Hund«. Da ging der aufgedunsene Korpsstudent mit einer Dogge, das Gigerl mit einem Windhund, die Grisette mit einem langhaarigen Pinscher, ein Junge in den Flegeljahren mit einem Foxterrier. Und sie sah schon im Geiste, wie diese Käthe Zeisig ihren Bussi abküßte wie ihre Freundin Anni in Mülhausen ihren unappetitlichen Köter.

»Ich wünsche Bussi gute Besserung. Aber unterdessen seht euch mal meine Sachen an.«

»Ach, das ist ja alles fades Zeug, Leo, das sieht man ja überall in jedem dritten Laden.«

»Du bist sehr liebenswürdig, Käthe, du weißt gar nicht, welche Arbeit hinter den Skizzen steckt und was später daraus wird. Schau mal her« – und damit faßte sie Käthe und Martha bei den Armen und zog sie hinter die Staffelei, die dem Fenster zugekehrt stand, – »was sagst du denn dazu? Ist das auch fades Zeug?«

Da stand eine große Leinwand mit einer teils fertigen, teils rötlichbraun angelegten Strandszene. Unter einem sonnigblauen Himmel lag das Meer weit und schimmernd, und auf einem ragenden Uferfelsen, an dem der Gischt der Brandung aufspritzte, stand ein Weib in wehendem Schleiergewande mit aufgelösten Haaren und ausgespannten, zum Himmel erhobenen Armen in Verzückung.

Leonore führte die Besucherinnen etwas von der Leinwand zurück in die richtige Stellung zum Bilde und schaute sie bedeutungsvoll und fragend an.

»Mit dem Bild will ich im nächsten Sommer in den Glaspalast ziehen, wenn ich es nicht etwa vorher verkaufen kann. Das ist Capri, wie ich es erlebt habe.«

»Sag mal, Leo, was will denn die Tante da vorne auf dem Felsen? Ich meine, wenn man schwimmen will, muß man die Hände geschlossen nach vorne strecken und dann mit dem Kopf voraus hinunter.«

»Ach, du bist unausstehlich. Käthe,« – und sie gab ihr einen Klaps in den Nacken. – »Ich glaube wahrhaftig, du gehst besser schleunigst nach Haus zu deinem Bussi.«

»Ja, du mein liebes Herrgöttle, was soll ich denn mit der Geschichte anfangen? Ich bin halt dumm und hab nichts dazugelernt.«

»Was sagst du denn, Martha?«

»Das Meer ist entzückend schön, soweit es schon auf dem Bild ist. Aber ich meine, – ich weiß nicht, – wozu steht das Mädel eigentlich da? und so ... so wüst?«

Käthe lachte laut auf und klatschte in die Hände. Leonore blieb ruhig, legte ihre Hand auf Marthas Schulter und sprach gemessen, würdevoll, mütterlich.

»Siehst du, Kind, du hängst noch zu sehr an dem rein Äußerlichen. Das Meer gefällt dir; in solch einer Landschaft könntest du schwärmen. Das hab ich auch einmal getan. Aber den tieferen Menschheitsgedanken, den ich hier verkörpert habe, den findest du noch nicht. Du bist ja noch zu sehr Kind, zu wenig Mensch mit tiefem Erleben. Das vollblütige Weib auf dem Felsen ist der Jubelschrei der Menschheit, sich eins zu fühlen mit der großen göttlichen Natur. Sie ist Jubelschrei, Anbetung, Glücksrausch und Göttin in einer Verkörperung. Und das ist sie nur so wie sie dasteht. Jeder überflüssige Fetzen, den ich ihr umlegen würde, wäre eine trennende Schranke zwischen ihr, das heißt dem Menschen überhaupt, und der Natur, wäre eine Dissonanz in der großen Harmonie. Mit den Begriffen von Gut und Bös, die man dir anerzogen hat, kannst du kein richtiges Verhältnis zur reinen Kunst finden.«

»Leo, verdirb mir nicht die Unschuld vom Lande!«

»Und ich mag es auch nicht finden. Ich meine, es gibt so viel Schönes in der Kunst, daß man das Gefährliche und das, was sich nicht paßt, gar nicht zu suchen braucht.«

»Wenn du für Kinder deine Grundsätze aufstellst, hast du in etwa recht, aber, wer den Kinderschuhen entwachsen ist, meine Liebe, der muß auch allmählich frei und reif werden.«

»Ach laß mich aus mit dem Gerede.«

»Puh, Unschuldchen, was denkst du dir denn Grusliges bei der Tante da auf dem Felsen. Ich finde nichts dabei und bin doch auch noch nicht so alt und gereift wie unsere würdige Leo.«

»Jetzt wirst du wieder eklig, Käthe. Ein Kind von neunzehn Jahren sollte etwas mehr Ehrfurcht vor dem Alter haben.«

Martha war an den Tisch getreten und fingerte nervös in einer großen Mappe mit Skizzen und Studienblättern; das Weinen war ihr näher als das Lachen.

»Komm, Kind, ich will dir ja nicht wehe tun; ich bin nun einmal so ein Hallodri. Ich kann auch die tiefschürfenden Worte der guten Leo nicht ausstehen. Warum? Nun weil ich einmal die Käthe Zeisig bin und an einem halben Pfund Pralinés und einem herzhaften Kuß mehr Freude habe als an allen gemalten Tanten und Landschaften der Leo und aller Maler zusammengenommen. Warum ich denn mit der schrecklichen Leo Freund bin? Nun, das werden Sie schon bald sehen, wahrscheinlich noch heute abend. – Da, rauchen Sie die Friedenspfeife mit mir.«

Sie zog ein silbernes Zigarettenetui hervor und hielt es geöffnet Martha hin.

»Ich danke, Fräulein, ich rauche nicht.«

Leonore hatte unterdessen schon hineingegriffen, brannte die Zigarette an und hielt Käthe das Streichholz hin.

»Na nur zu! Dann lernen Sie's. Hier sieht's keiner. Allons, nehmen Sie eine Zigarette, sonst werde ich Ihnen ewig feind sein, und was das heißt, Käthe Zeisig zur Feindin haben, das sollen Sie dann schon erfahren.«

Käthe bot mit eleganter Verbeugung und drohend erhobenem Finger der verlegenen neuen Freundin das Etui wieder an.

Plötzlich überkam Martha eine übermütige Laune. Sie griff zu, – warum auch nicht? – drehte das dünne seine Ding ein paarmal zwischen den Fingern und steckte es zwischen die Lippen.

Da mußte sie lachen. Käthe und Leonore reichten ihr zu gleicher Zeit zwei brennende Streichhölzer hin, und mit eingezogenen Backen sog sie den süßlichen Rauch ein und paffte ihn mit offenem Munde aus.

Käthe krümmte und schüttelte sich vor Lachen und warf sich auf das Liegesofa und strampelte mit den Füßen.

»Du, Leo, darüber kann man einen großartigen Roman schreiben: ›Die Verführung im Atelier oder Der blaue Dunst bei Capri‹. He, wäre das nicht fein?«

Martha hüstelte und wischte sich mit dem Handrücken die tränenden Augen. Aber sie setzte tapfer durch, was sie einmal begonnen hatte. Bei ihren kräftigen Zügen und verschiedentlichem Hineinblasen war die Zigarette bald bis zum Goldmundstück heruntergebrannt.

»Noch eine gefällig, verdorbene Unschuld?«

»Nein, ich danke für heute.« Bah, wenn diese Käthe Zeisig doch nicht immer so – so – komisch redete!

»Sieh da, Leo, ›für heute‹ sagt der Backfisch! Also später wird das Laster fortgesetzt! Noch so jung und schon so verdorben.«

»Jetzt macht aber, daß ihr fortkommt. Es ist schon gleich zwölf Uhr, und ich will noch ein Stündchen ungestört arbeiten.«

»O Leo, tu uns das doch nicht an! Ich möchte dich so gerne einmal bei der Arbeit sehen, das Genie in seiner Werkstatt belauschen.«

»Nein, das geht nicht. Marsch, hinaus! Ich kann nicht malen, wenn einer hinter mir steht.«

»Ich geh aber nicht.«

»Und du gehst doch! – Martha, sei so gut!«

Sie packte Käthe bei den Schultern und schob sie zur Türe. Martha folgte. »Zeig dem Kind draußen den Weg nach Hause, und auf Wiedersehen heute abend.«

»Du bist sehr liebenswürdig, Leo, aber es ist schon recht, wir gewinnen so noch Zeit, einen kleinen Bummel zu schmeißen.«

Käthe ließ Martha vorgehen und schlug die Türe hinter sich zu.

»Nein, Fräulein, verzeihen Sie, ich gehe doch lieber gleich nach Hause. Ich könnte vor dem Essen noch ein paar Briefe schreiben an alte Institutsfreundinnen. Ich habe schon so viel erlebt, daß ich fast einen dicken Band schreiben könnte.«

Das war nur ein Vorwand. In Wirklichkeit war es Martha peinlich, mit Käthe über die Straße zu gehen.

»Wie Sie wollen, Unschuldchen, aber die Briefe werden Sie sich noch abgewöhnen. Bald tut's auch eine Ansichtskarte, und dann wird es ganz aufhören. Solche Briefe an Freundinnen sind so fad; da ist kein Saft und keine Kraft drin. Wenn man Briefe schreibt, dann müssen es schon Liebesbriefe sein. Das ist etwas Pikantes, besonders wenn man so einen nach dem anderen an der Nase herumführt.«

»Ich kann auch die Gecken nicht leiden, die einem auf Schritt und Tritt Komplimente und süße Gesichter machen.«

»Pah, so habe ich es nicht gemeint. Die sind mir gerade sehr amüsierlich. Die Kerle kriechen vor mir und sind glücklich, wenn ich ihnen die Reitpeitsche lächelnd um die Ohren haue. Am schönsten ist es, wenn jeder von ihnen meint, er sei der einzige von mir Beglückte. Und ich hab doch eine ganz wohlgeordnete Sammlung der erlesensten Liebesbriefe. Der eine tut süß und dumm, der andere geistreich, der dritte schwärmt, der vierte macht nebenbei in tiefen Problemen, der fünfte ist frech und unverblümt – und so geht es weiter, eine bunte Menagerie.«

Martha hörte kaum mehr zu. Sie war fast betäubt von den Blicken, mit denen vorübergehende Herren ihre Begleiterin verschlangen. Und wie auffallend oft sie von Offizieren und Studenten gegrüßt wurde! Nenn sie doch schon zu Hause und dieser Käthe mit ihrer herausfordernden Toilette ledig wäre! Ob sie denn gar nichts merkte? So dumm konnte sie doch nicht sein. Oder war das alles Absicht?

Endlich war sie an ihrem Ziel angelangt, und sie fühlte sich erleichtert, als sie allein die Treppe hinaufstieg.

Tante war nicht da, sie machte Besuche. So konnte Martha sich auf ihrem Zimmer mit dem Erlebten beschäftigen. Alles ging ihr bunt durch den Kopf herum. Da sah sie auf dem Schreibtisch einen dicken Packen Ansichtskarten liegen. Das war doch sehr aufmerksam von Tante. Sie griff zur Feder und schrieb eine an den Vater, eine an Babette und ein halbes Dutzend an alte Freundinnen. München sei entzückend schön, sie sei ganz toll und dumm von allem, was sie an dem ersten halben Tag gesehen hätte.

 

Nach einem kurzen Mittagsschläfchen ging Martha mit Tante und Leonore zur Bahn, Richard abzuholen.

Kurz nach drei Uhr lief der Zug ein. Sie kannte den Vetter nicht mehr, so hatte er sich verändert. Die Röte stieg ihr bis unter die Haare, als der Leutnant ihr die Hand gab und ihr mit tiefer Verneigung ein Kompliment über ihre Schönheit machte. Sie hätte kein junges Mädchen sein müssen, wenn sie sich nicht stolz gefühlt hätte, mit dem hochgewachsenen Offizier mit dem flotten, blonden Schnurrbart und dem sonnengebräunten Gesicht in einer Reihe über den Bahnsteig und durch die Halle gehen zu dürfen. Und Richard wandte sich nach der ersten Begrüßung von Mutter und Schwester mit ausgesuchter Galanterie an Martha. Hei, war das ein prickelndes Gefühl! Sie meinte, die vorübergehenden Damen betrachteten sie eifersüchtig.

Auf dem Bahnhofplatz stieg man in ein Auto. Richard blickte scharf über den weiten Platz zu den Inseln der elektrischen Bahn hin, als wollte er seine Vaterstadt mit den Augen begrüßen. Martha folgte unwillkürlich seinen Blicken.

War das nicht Käthe Zeisig, die da zum Auto hingewandt in feuerroter Bluse stand und herüberlächelte? Nur einen Augenblick, dann war sie in der ab- und zugehenden Menge verschwunden. Aha, also daher pfiff der Wind!

Wie Martha dem Vetter gegenübersaß, gingen ihre Gedanken in die Kindheit zurück, und sie erinnerte sich ihrer Kinderschwärmerei für den Gymnasiasten. Was ihr damals so gefallen hatte, waren des jungen Mannes offene, leuchtende Augen. Der Augen wegen hatte sie seine Haare gestreichelt, seine Hände getätschelt, seinen Hals umschlungen und seine Wangen geküßt. Wo waren jetzt diese Augen? Der Blick flackernd und übernächtigt. Den stattlichen Wuchs mußte sie bewundern, aber die Augen konnte sie nicht mehr lieben.

Zu Hause angekommen, ging sie auf ihr Zimmer. Sie wollte Tante und Leonore in den ersten Stunden mit dem Sohn und Bruder allein lassen. Man ließ sie auch ungestört gehen. Sie öffnete die Schubladen des Tisches und kramte in ihren Briefen und Andenken. Hier und da meinte sie einmal ein lautes Wort aus dem anderen Zimmer herüberzuhören, aber sie versenkte sich so in ihre lieben Träume, daß sie gar nicht merkte, wie die Zeit verstrich.

Da klopfte es und das Stubenmädchen trat ein. »Die gnädige Frau schickt mich, ich soll Ihnen zur Toilette helfen. Die Friseuse ist noch beim gnädigen Fräulein beschäftigt; sie kommt aber gleich herüber.«

Martha sprang auf. Ach, an das Essen ihr und dem Vetter zu Ehren hatte sie gar nicht mehr gedacht. Was sollte das werden? – –


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