Christoph Martin Wieland
Vorbericht
Christoph Martin Wieland

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Die Liebe ohne Leidenschaft

Ein junger Mann, der, statt seines wahren Namens, einstweilen von Falkenberg heißen mag, wurde auf einer Reise nach W. durch einen Zufall in dem kleinen Marktflecken Erlebach aufgehalten. Glücklicherweise für ihn traf sich's, daß der jährliche Markt, der eben an diesem Tage gehalten wurde, dem unbedeutenden Orte eine ziemliche Lebhaftigkeit gab, zumal die schöne Jahreszeit und das günstigste Wetter eine Menge Personen allerlei Standes und Gewerbes aus der ganzen Gegend herbeigezogen hatte. Falkenberg liebte diese Art von Volksfesten, wo ihm, unter allen Rollen, so dabei gespielt werden, die des bloßen Zuschauers die unterhaltendste deuchte. Er befand sich gerade in der heitern Unbefangenheit und Leerheit, worin man bereit ist, sich, wie Tristram Shandy, sogar mit einem Esel in ein Gespräch einzulassen oder den Bewegungen einer Schnecke zuzusehen. In dieser Stimmung war er eine gute Weile von einer Bude zur andern herumgeschlendert und hatte die Bemerkungen, wozu ihm das Glücksrad, der Marktschreier, der Marmottenjunge und die um sie her schwärmenden Volksgruppen Gelegenheit gaben, ziemlich bald erschöpft, als er in der Tür eines Kramladens eine junge Frauensperson gewahr wurde, deren Gestalt und Gesichtsbildung einen so auffallenden Abstich von den Gestalten und Gesichtern des sich hinzudrängenden Gesindels machte, daß er dem Verlangen nicht widerstehen konnte, sich näher mit ihr bekannt zu machen. Ihrem sehr einfachen Anzug nach, und weil er sie mit vieler Munterkeit beschäftigt sah, allerlei Waren, die ihr in Päckchen und Schachteln herabgelangt wurden, auf den Ladentisch auszulegen, glaubte er nicht zu irren, wenn er sie, trotz ihrer vornehmen Miene und der Grazie, die alle ihre Bewegungen begleitete, für die Eigentümerin des Kramladens ansah. Er näherte sich dem Tisch, und nachdem er sie, ohne Zutun seines Willens, mit mehr Ehrerbietung gegrüßt hatte, als eine Person ihres Standes von seinesgleichen erwarten konnte, wollte er die Bekanntschaft damit anfangen, daß er sich durch Einkauf einiger ihm sehr überflüssiger Artikel in Gunst bei ihr setzte, und erkundigte sich, im Ton eines Käufers, der nicht lange zu feilschen gesonnen ist, nach dem Preise.

Die vermeinte Krämerin betrachtete ihn einen Augenblick mit dem Ausdruck einer flüchtigen Überraschung, faßte sich aber ebenso schnell wieder und antwortete ihm lächelnd: »Darüber werden wir bald einig sein, mein Herr; ich gebe alle meine Ware unentgeltlich.« Mit diesem Worte raffte sie alles, was auf dem Tische lag, in einen großen Korb zusammen, trat vor die Ladentür und teilte es unter die Umstehenden aus, deren äußerliches Ansehen laut genug bezeugte, daß ihre Kauflust mit den Mitteln, sie ehrlicherweise zu befriedigen, in ganz und gar keinem Verhältnis stand. Sie gab einem jeden, was er am meisten zu bedürfen schien; und da der Korb in wenig Augenblicken leer war, ließ sie ihn zum zweiten und dritten Male füllen, um auch die neuen Kunden, die ohne Geld zu kaufen herbeieilten, zufriedenzustellen. Dieses Manöver setzte sie, zu großer Verwunderung aller Zuschauer so lange fort, bis die ganze Bude rein ausgeleert war.

Falkenberg, der anfangs nicht wußte, was er von dieser sonderbaren Krämerin zu denken habe, merkte nun wohl, daß er sich in seiner Meinung von ihrem Stande geirrt, war aber darum nicht weniger verlegen, wie er sich das, was er sah, erklären sollte.

Die Unbefangenheit ihres ganzen Benehmens und die anmutige Art, wie sie ihre Gaben austeilte, machte den Gedanken, daß es unter ihrer Haube nicht richtig stehe, unmöglich. Daß sie nicht weniger reich als leichtsinnig und launenhaft freigebig sein müsse, schien außer Zweifel; aber wenn Anwandlungen dieser Art häufig bei ihr waren, dachte Falkenberg, so gäb es keinen Schatz in Tausendundeiner Nacht, den sie nicht in kurzer Zeit erschöpfen könnte.

Die Dame schien die Gedanken des Unbekannten ohne Mühe zu erraten; auch glaubte sie ziemlich deutlich in seinen Augen zu lesen, daß sie ihm nichts weniger als gleichgültig sei; etwas, wobei sie natürlicherweise den Wunsch, auch ihr nicht gleichgültig zu sein, bei ihm voraussetzen konnte. Wenn dies wirklich der Fall war, so ließ sie wenigstens nichts davon sichtbar werden. Indessen bevor sie sich mit der Krämerin, der sie so schnell und unverhofft von ihrem ganzen Marktvorrat geholfen hatte, zum Abrechnen in ein kleines Hinterstübchen zurückzog, wandte sie sich mit dem ungezwungen edeln Anstand einer Person, der man auch in der schlichtesten Kleidung ansieht, daß sie sich in der prächtigsten nicht besser dünken würde, gegen Falkenbergen und ersuchte ihn, zum Andenken ihrer ebenso kurzen als zufälligen Bekanntschaft, einen – Bleistift anzunehmen, den sie aus ihrem Busen hervorzog und ihm mit einer herzstehlenden Anmut überreichte. »Wenn Sie jemals in den Fall kommen«, setzte sie hinzu, »diesen Bleistift zu einem geheimen Wort an eine Geliebte zu gebrauchen, so erinnere er Sie an die Unbekannte auf dem Jahrmarkt zu Erlebach!« Und bevor er vor Verwirrung seiner Sinnen eine Antwort herausbringen konnte, war sie entschlüpft, und die hinter ihr sich schließende Tür sagte ihm in ihrer knarrenden Sprache, daß er seine Entlassung habe.

Wenn ich den Helden meiner Geschichte erdichtet hätte, so müßte ich gestehen, daß ich, um die Wirkungen hervorzubringen, die ein nach dem Beifall unsrer Zeitgenossen strebender Romanschreiber auf seine Leser zu machen bemüht ist, keinen unbequemem Charakter hätte wählen können als den seinigen. Aber er wird sich Ihnen in kurzem als ein wirkliches Glied in der Kette der Wesen darstellen, und es ist nicht meine Schuld, daß er, wie alle andern Glieder dieser Kette, ist, was er ist. Ich darf also nicht verbergen, daß mein Herr von Falkenberg bei dieser Gelegenheit eine Kaltblütigkeit zutage legte, die vielleicht ohne Beispiel ist. Zwar kann ich nicht leugnen, daß er eine ziemliche Weile, mit dem Bleistift der Unbekannten in der Hand und die Augen auf die Tür des Hinterstübchens geheftet, so unbeweglich wie eine Herme stehenblieb. Aber sobald er wieder zur Besinnung kam, war das erste, was er sich sagte: daß, vernünftigerweise, hier nichts weiter für ihn zu tun sei als – seines Weges zu gehen. Er fragte zwar auf allen Seiten nach dem Namen und andern Prädikabilien der sonderbaren Dame, aber niemand konnte ihm sagen, wie sie heiße noch woher sie gekommen und wohin sie gehe. Da er hingegen sehr wohl wußte, wohin er wollte, und sein Wagen (dessen Ausbesserung ihn zu Erlebach aufgehalten hatte) wieder in reisefertigem Stande war, setzte er sich ohne längere Aufschub ein und fuhr, mit dem Bilde der Unbekannten vor der Stirn und ihrem Bleistift in der Tasche, mit ebenso gesundem Herzen (wie er sich schmeichelte) davon, als er angekommen war.

Das Wahre ist, daß er während seiner ganzen Reise von Erlebach bis A. (wo er, wegen einiger Geschäfte, welche unterwegs abzutun waren, erst am fünften Tage anlangte) an nichts anders denken konnte als an sein kleines Abenteuer mit der schönen Unbekannten, obgleich nicht ohne Schamröte über die höchst unbedeutende Person, die er dabei vorgestellt hatte. Ihre feine Gesichtsbildung, das liebliche Feuer ihrer großen schwarzen Augen, ein ihr eignes Lächeln, das der Liebe, die sie einflößte, zu spotten oder zu trotzen schien; ein ebenso edles als anspruchloses Wesen in ihrem ganzen Anstand und Benehmen, die einnehmende Munterkeit und schnellbesonnene Schicklichkeit, womit sie ihre Gaben, ohne den mindesten Wert darauf zu legen, nach den anscheinenden Bedürfnissen und Erwartungen der Beschenkten ausgespendet hatte, kurz, alles, was ihm an dieser sonderbaren Person aufgefallen war, bis auf die kleinsten Bewegungen ihrer schönen Arme und Hände, stellte sich seiner Erinnerung so lebhaft wieder dar, als ob er sie vor sich sähe. Natürlicherweise erregte das, was er gesehen hatte, das Verlangen, noch mehr von ihr zu wissen, und das Ganze endigte immer damit, unzufrieden mit sich selbst zu sein, daß er nicht länger zu Erlebach geblieben und alles Mögliche versucht habe, in ein näheres Verhältnis mit ihr zu kommen. Indessen da er von Natur keiner von den Brennbaren war, die gleich im ersten Augenblick Feuer fangen und im zweiten schon in voller Flamme stehen; da überdies eine unverwandte Beschäftigung der Gedanken mit dem nämlichen Gegenstand das sicherste Mittel ist, den Eindruck desselben abzustumpfen, und endlich auch die Geschäfte, die er unterwegs zu besorgen hatte, seine ganze Aufmerksamkeit erfoderten: so hatte seine Vernunft eben keinen großen Kraftaufwand vonnöten, um sein Gemüt in ziemlichem Gleichgewicht zu erhalten; und so fand sich's, daß er am Morgen des fünften Tages das Zeugnis aller seiner Sinne aufrufen mußte, um sich des Zweifels zu erwehren, daß die Begebenheit zu Erlebach mehr als ein ungewöhnlich lebhafter Traum gewesen sei.

Dieser Wahn war von kurzer Dauer. Das erste, was ihm beim Eintritt in den Gasthof, wo er zu A. abstieg, in den Wurf kam, war seine Unbekannte, die, ohne ihn zu bemerken, in einem schimmernden Anzug an ihm vorbeirauschte, um sich in einen prächtigen, mit reichgekleideten Bedienten beschwerten Wagen zu werfen und vermutlich in Gesellschaft zu fahren. Nichts war ihm gewisser, als daß ihn seine Augen nicht getäuscht hatten, wiewohl der Glanz, worin sie jetzt bei ihm vorüberblitzte, einen ebenso starken als vorteilhaften Abstich von der einfachen Kleidung machte, worin sie seine erste Aufmerksamkeit in der Bude zu Erlebach auf sich gezogen hatte.

Dieses zweite unverhoffte Zusammentreffen setzte Falkenberg in eine Bewegung, die er sich selbst nicht recht zu erklären wußte. Es war ihm, als ob es ihm ahne, es werde ihm schwer werden, sich vor einer Leidenschaft zu bewahren, die vielleicht das Unglück seines Lebens machen könnte; und desto ernstlicher war sein Vorsatz, alle Kräfte seiner Vernunft gegen eine solche Beeinträchtigung seiner Freiheit aufzubieten.

Bei allem dem ließ er dennoch seine erste Sorge sein, mit guter Art Erkundigungen über die Dame einzuziehen. Der Wirt sagte ihm alles, was er aus ihren Bedienten herausgefragt hatte: Man nenne sie Fräulein von Haldenstein; sie sei die einzige Tochter und Erbin des verstorbenen Bankiers Haldenstein in *** und befinde sich bereits in freiem Besitz eines unermeßlichen Vermögens. Sie sei erst diesen Morgen von einem ihrer Güter unweit D. in A. angekommen, um der Verlobung einer Anverwandtin beizuwohnen, und werde schon morgen wieder nach W. abgehen, wo sie sich bei einem alten und reichen kinderlosen Oheim aufzuhalten gesonnen sei, und so weiter.

Diese Nachrichten waren mehr, als nötig war, die Leidenschaft, die sich in seinem Herzen oder (wie die Alten meinten) in seiner Leber zu bilden anfangen wollte, im Keim zu ersticken. Falkenberg gehört einem der ältesten Geschlechter Deutschlands an und besitzt, ohne reich zu sein, gerade so viel Vermögen, um bei mäßigen Wünschen genug zu haben. Er würde sich vielleicht ohne großen Kampf über den Stolz eines uralten und immer rein erhaltenen Erbadels hinweggesetzt haben, wenn Liebe, und Liebe ganz allein, ohne den Verdacht eines andern Bewegungsgrundes, ihn dazu gedrungen hätte; aber den Gedanken, daß irgend jemand ihn fähig halten möchte, dem Gott des Reichtums ein solches Opfer zu bringen, konnte sein Stolz nicht ertragen. Es war glücklich für ihn, daß diese Gesinnung Stärke genug hatte, ihn (wie er sich wenigstens gewiß hielt) gegen die Gefahr einer voreiligen Leidenschaft sicherzustellen. Denn wer bürgte ihm davor, daß die Dame noch frei war? oder, wenn sie es war, daß sie ihn allen andern, die sich ohne Zweifel um sie bewarben, vorziehen würde?


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