Christoph Martin Wieland
Vorbericht
Christoph Martin Wieland

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»Ich für meinen Teil erkenne mich Ihnen sehr dafür verpflichtet, daß Sie es nicht getan haben«, sagte Amande. »Ich gestehe, daß ich lieber gar nichts hören und lesen mag als solche peinvolle, herzzerreißende und schlafstörende Martergeschichten wie zum Beispiel die tragischen Novellen von Herrn Darnaud de Baculard und seinesgleichen, wie beredt, empfindsam und herzbrechend sie auch immer geschrieben sein mögen. Ich liebe einen ruhigen Schlaf und leichte Träume, und wenn ein Dichter mir ja Tränen ablocken will, so sollen es süße, nicht blutige Tränen sein.«

»Ich halte es mit Ihnen, liebe Amande«, sagte Nadine; »auch sehe ich nicht, wie Herr M. seiner Novelle, ohne ihr Gewalt anzutun, einen tragischen Ausgang hätte geben können.«

»Fordern Sie mich nicht heraus, gnädiges Fräulein", sagte Herr M., »oder ich spiele Ihnen irgendeine Intrige hinein, wodurch ich Doña Rosa nötige, dem schönen Alonso einen geheimen nächtlichen Besuch zu machen – etwa um ihm zu entdecken, daß ein Anschlag geschmiedet ist, sie morgen früh mit Gewalt ins Kloster abzuführen, welchen Falls es denn ganz natürlich ist, daß sie (in der Voraussetzung, daß das Glück ihres Lebens ihm nicht ganz gleichgültig sei) ihn, der zu Altariva alles vermag, um seinen Schutz anruft. So wie die Sachen zwischen Alonso und Rosa stehen, kann er dann weniger nicht tun, als ihr zu Füßen zu fallen und ihr eine so feurige Liebeserklärung zu tun, als von einem verliebten Spanier, der seine Flamme schon so lange in seinem Busen verschlossen herumgetragen hatte, zu erwarten ist. Zum Unglück stürmt in diesem Augenblick Doña Galora, mit der Kerze in der einen und einem scharfgeschliffenen Dolch in der andern Hand, herein, in der Absicht, ihren Unempfindlichen zur Liebe zu bewegen oder sich vor seinen Augen zu ermorden. Don Alonso zu Rosens Füßen treibt sie zur Raserei; sie springt mit funkelnden Augen auf das arme Mädchen zu und stößt ihr den Dolch in die Brust. Alonso, außer sich vor Entsetzen, Wut und Verzweiflung, will ihr den Dolch aus der Hand reißen; sie ringen miteinander; Alonso wird tödlich verwundet und stürzt, sein Leben in Strömen siedenden Blutes ausflutend, über Rosens Leichnam her. Galora kniet neben ihm nieder, hält eine Rede in terze rime oder in Assonanzen auf U, wobei ihr selbst die Haare zu Berge stehen, ersticht sich und vollendet, indem sie auf Don Alonso hinsinkt, eine der schönsten tragischen Gruppen, die man je mit Augen gesehen hat. Alles das, mit recht grellen Farben und derben Pinselstrichen gehörig ausgemalt und, wie es heutzutag die Mode ist, auf die höchste Spitze des Schrecklichen und Unsinnigen getrieben – meinen Sie nicht, daß meine Novelle neben den allergräßlichsten sich mit Ehren sehen lassen dürfte?«

Die Damen hielten sich lachend Augen und Ohren zu, um von dem grausamen Spektakel nichts zu sehen noch zu hören.

Aber der junge von P. wollte Herrn M. so leicht nicht durchwischen lassen. »Scherz beiseite«, sagte er, »ich denke nicht, daß es so ganz allein auf die Willkür eines Novellenmachers ankomme, ob er der Geschichte einen glücklichen oder unglücklichen, erwünschten oder jammervollen Ausgang geben will. Die Anlage zum einen oder andern muß doch wohl bereits im Stück selbst liegen, und, mit Horaz zu reden, der Weinkrug, den der Töpfer drehen wollte, muß, wenn das Rad ausgelaufen ist, keinem Milchtopf ähnlich sehen. Es könnte also allerdings noch die Frage sein, ob es nicht desto besser gewesen wäre, wenn die Novelle des Herrn M. ein tragisches Ende genommen hätte.«

»Wieso?« fragte Nadine.

»Ich, zum Exempel«, versetzte Herr von P., »finde nicht, daß Galora ihrem stolzen, selbstsüchtigen und heftigen Charakter sehr gemäß handelt, wenn sie die teuer erkauften Früchte so mancher zwangvoller Jahre und einer so mühsamen Verleugnung dessen, wozu die Natur sie gemacht hatte, auf einmal aufgibt und wie ein liebesieches Mädchen in ein Kloster geht, um den Mann, den sie liebt, ohne Kampf einer Nebenbuhlerin zu überlassen, die in ihrer Gewalt ist und die sie sich alle Augenblicke vorn Halse schaffen kann. Ein so zahmes, mattherziges Benehmen ist nicht in der Sinnesart eines solchen Mannweibes, wie uns Galora beschrieben wurde. Sie mußte sich nicht (wie man uns sagte) daran begnügen, den dreifachen Mord in Gedanken zu begehen; sie mußte es wirklich aufs Äußerste ankommen lassen. Auch wollte ich wetten, wenn wir die Wahrheit sagen wollten, wir würden alle gestehen müssen, daß wir auf einen tragischen Ausgang gefaßt waren und uns, durch die unvermutete Entmannung der armen Galora und die glücklichen Aussichten der schönen Biskayerin am Ende des Stücks, in unsrer Erwartung sehr getäuscht fanden.

»Wollen Sie mir erlauben, Herr M.«, sagte Rosalinde mit einem schalkhaften Blick auf Herrn von P., »daß ich Ihre Rechtfertigung gegen diesen schwer zu vergnügenden Kunstrichter auf mich nehme, der sich beklagt, daß die Braut zu schön ist, und, statt Ihnen für eine friedliche und schiedliche Entwicklung Dank zu wissen, lieber sähe, wenn sich der Handel mit Mord und Totschlag endigte?«

»Sie sind sehr gütig, schöne Rosalinde«, antwortete Herr M. »Ich habe eine so große Meinung von Ihrer Gerechtigkeitsliebe, daß ich kein Bedenken trage, meine Sache sogar gegen Herrn von P. in Ihre Hände zu stellen.«

»Woher wissen Sie also, mein Herr von P.«, sagte Rosalinde, indem Sie sich mit einer drollichten Sachwaltersmiene an den letztern wandte, »daß Galora ein so grimmiges, blutdurstiges, kannibalisches Geschöpf ist, als Sie aus ihr machen wollen? Ich gestehe, sie ist stolz, eigenwillig, rasch und zu heftigen Ausbrüchen geneigt; aber sagte man uns nicht auch gleich anfangs, daß sie, wenn ihr Stolz aufgefodert wurde, edel und großherzig zu handeln fähig gewesen sei? Und gerade eine solche sehr starke Aufforderung war es, was sie zu dem außerordentlichen Schritte, den sie tut, nötigte. Ihre Liebe zu Alonso war hoffnungslos; darüber sich selbst zu täuschen war unmöglich. Durch ein gewalttätiges Verfahren gegen die reizende und geliebte Doña Rosa würde sie nichts gewonnen, aber wohl den Kaltsinn Alonsos gegen sich in Wut und Rachgier verwandelt haben. Im Grunde war die Rolle, so sie bisher gespielt hatte, unnatürlich, und es war immer zu erwarten, daß der Augenblick endlich kommen müsse, wo die gewaltsam ausbrechende Natur sich mit ihrer ganzen Stärke gegen einen nicht länger erträglichen Zwang empören würde. Was konnte diesen Augenblick schicklicher herbeiführen als eine hoffnungslose Leidenschaft? Ich, meines Orts, finde nichts natürlicher, als daß, sowie Galora sich selbst in weiblicher Kleidung im Spiegel erblickt, auch auf einmal das Gefühl – und mit diesem der Stolz ihres Geschlechts in ihr auflodert, ein Stolz, der es verschmäht, mit Gefahr, abgewiesen zu werden, um Gegenliebe zu betteln; und der Schritt, den sie gegen Alonso tut, und wie sie ihn tut, und der wohlmotivierte Trotz, womit sie seinen verdächtigen Liebesantrag abweist, und die Entschlossenheit, womit sie sich in den einzigen Ausweg wirft, den ihre Lage ihr übrigläßt – das ist es gerade, was mich mit ihr aussöhnt und dieser Novelle die Einheit und Ganzheit in meinen Augen gibt, die (wie ich immer sagen hörte und noch lieber meinem eignen Gefühl glauben mag) die wesentlichste Vollkommenheit eines echten Kunstwerks ist.«

»Sie haben sich wohl gehalten, Rosalinde«, sagte Herr von P., »und unser Freund M. hat alle Ursache, mit seiner Sachwalterin zufrieden zu sein. Nicht als ob ich nicht noch einige Pfeile zu verschießen hätte, wenn es nicht Zeit wäre, zu tun wie die andern und uns die Ruhe, die uns Herr M. so menschenfreundlich gegönnt hat, zunutze zu machen.«

»Auf alle Fälle«, sagte Nadine, »wird sich Herr M. an dem Danke der Damen und an der Billigung seines eigenen Herzens genügen lassen können. Das Verdienst, drei Menschenleben, die das Glück des Kiels (mit Tristram Shandy zu reden) in seine Hände gegeben, gerettet zu haben, ist – wenn es auch von den Kunstrichtern nicht mit dem Dichterkranz gekrönt werden sollte – wenigstens eine Bürgerkrone wert.« – »Und die soll ihm«, riefen Rosalinde und Amande, »von uns allen morgen früh aus den frischesten Kastanienblättern geflochten werden!«
 

Nadine von Thalheim war itzt die einzige, die der Gesellschaft zu Rosenhain ihren Beitrag zu den zeitherigen Abendunterhaltungen noch schuldig war. Diese junge Dame gehörte nicht zur Familie, sondern war vor einigen Tagen mit ihrer Freundin, Frau von D. (die seit kurzem mit einem Verwandten der Frau von P. vermählt war), bloß als Begleiterin nach Rosenhain gekommen, wo sie, weniger aus Gefälligkeit gegen ihre Freundin als ihrer eigenen Liebenswürdigkeit wegen, so gut aufgenommen wurde, daß sie schon am zweiten Tag unter lauter alten Bekannten und Freunden zu leben glaubte. Mehr von ihr zu sagen würde hier überflüssig sein, da wir in der Folge Gelegenheit bekommen werden, näher mit ihr bekannt zu werden.

»Ich sehe mich«, sagte sie, als ihre Stunde gekommen war, ungefähr in ebenderselben Lage wie Herr M. Zwar muß ich gestehen, daß ich beinahe ebenso belesen in den Märchen bin wie die schöne Rosalie von Eschenbach, mit deren Entzauberung uns Fräulein Amande vorgestern so angenehm unterhielt; aber ich habe ein so wunderliches Gedächtnis, daß alles, was ich von dieser Art lese oder höre, in kurzer Zeit wieder rein vergessen ist, so daß ich von etlichen hundert Märchen, die ich seit meinem neunten Jahre gelesen haben mag, schwerlich drei wiedererzählen könnte, es wäre denn in der Manier des Sultans in den Vier Fakardins des Grafen Anton Hamilton. Herr M. hat sich mit einer spanischen Novelle aus der Sache gezogen; was bleibt mir also, um etwas Neues auf die Bahn zu bringen, als eine Anekdote? Glücklicherweise liegt mir eine noch ganz frisch im Gedächtnisse, die sich mit zweien meiner vertrautesten Freundinnen zugetragen hat und die, wofern sie durch meine Erzählung nicht zu sehr verliert, sonderbar genug ist, um die Stelle eines Feenmärchens auszufüllen. Von der schönen Moral, die sich daraus abziehen läßt, will ich aus zwei Ursachen nichts sagen: erstens, weil sie nirgends weniger als in der Gesellschaft, deren Mitglied ich itzt zu sein die Ehre habe, anwendbar ist; und zweitens, weil ich die moralischen Erzählungen von Profession (wenn ich so sagen darf) ebensowenig liebe als die Komödien, worin es auf die Erbauung der Zuschauer abgesehen ist. Die einen und die andern können sehr moralisch, sehr erbaulich und doch sehr langweilig sein; sind sie hingegen, was ihr eigentlicher Zweck erfordert, unterhaltend und belustigend, so müßt es nicht natürlich zugehen, wenn die guten Lehren und Sittensprüche nicht zu Dutzenden daraus hervorsprängen. – Doch verzeihen Sie diese Abschweifung! Ich komme zur Sache.«


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