Christoph Martin Wieland
Vorbericht
Christoph Martin Wieland

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Die Entzauberung

Rosalie von Eschenbach, ein liebenswürdiges junges Mädchen, welches seine Eltern schon in der Kindheit verloren hatte, war unter den Augen einer bejahrten und begüterten Vatersschwester, zu deren Erbin sie bestimmt war, mit allen Vorteilen und Nachteilen einer ländlichen Erziehung, fern von der Hauptstadt auf einer alten Ritterburg in einer wildanmutigen romantischen Gegend erzogen worden. Von ihren frühesten Jahren an war Lesen ihr angenehmster Zeitvertreib; das gute Kind hatte aber nichts zu lesen als Ritterbücher und Feenmärchen, wovon die alte Tante selbst eine große Liebhaberin war und deren sie eine ziemliche Menge besaß, welche, nebst einigen Andachtsbüchern und einer mit silbernen Buckeln beschlagenen großen Kupferbibel, die ganze Bibliothek des Schlosses ausmachte. Im Lesen und Schreiben hatte das Fräulein von dem Pfarrer des Orts, in der Musik von dem Kantor eines benachbarten Städtchens, in weiblichen Arbeiten von einer ziemlich geschickten Hausjungfer und im Tanzen von einem gewesenen Kammerdiener ihres Vaters, einem alten Hausratsstück des Schlosses, Unterricht bekommen. Von der Ausbildung, so sie auf diese Weise erhielt, war eben kein hoher Grad von Vollkommenheit zu erwarten; aber die Natur hatte das Beste bei ihr getan, und da Fähigkeit und innerer Trieb sie in allen weit über ihre Lehrmeister hinausführte, so fand sich's, daß sie, den Mängeln ihrer Erziehung zu Trotz, mit einer sehr einnehmenden Gesichtsbildung, einem nymphenmäßigen Wuchs, einer festen, blühenden Gesundheit und einer sanften, gutlaunigen und gefälligen Gemütsart, in ihrem sechzehnten Jahr das reizendste und liebenswürdigste Fräulein auf zwanzig Meilen in die Runde war.

Alles dies, mit dem nicht unbedeutenden Zusatz der gewissen Anwartschaft auf ein ansehnliches Vermögen, machte Rosalien zum Gegenstand der Bewerbung aller heuratslustigen Jünglinge, Hagestolzen und Witwer ihres Standes weit umher. Aber unter den wenigen, welche von irgendeiner Seite Mittel gefunden hatten, einige Auszeichnung von ihr zu erhalten, war doch nur ein einziger, der sich schmeicheln konnte, mit einer Achtung von ihr begünstiget zu werden, die den Keim einer geheimen, vielleicht ihr selbst noch verborgenen Neigung zu verraten schien.

Dieser Glückliche war Alberich, eine Art von irrendem Ritter von der fröhlichen Gestalt, dem die besondern Gnaden, worin er bei den Schönen stand, und die Vorteile, so er daraus zu ziehen wußte, einen glänzenden Namen in der Hauptstadt des Landes gemacht hatten. Er war mehrere Jahre lang im Besitz des Rufs gewesen, daß seinen Reizungen und seiner Gewandtheit in den Künsten der Verführung nicht zu widerstehen sei. Dieser Ruf wird (wie ich höre) oft so wohlfeil erkauft, daß seine Besitzer wenig Ursache haben, stolz auf ihn zu sein. Ob dies auch bei Alberichen der Fall war, ist mir unbekannt; genug, nach einigen Jahren hatte der Aufwand, den er zu Behauptung desselben machte, von seinem sehr mäßigen Erbgut so viel aufgezehrt, daß er sich genötigt sah, aus dem Kreise, worin er bisher geschimmert hatte, herauszutreten und sich in die Provinz, wo Rosalie wohnte, zurückzuziehen, in der Absicht, um irgendeine reiche Erbin zu werben, die ihn in den Stand setzen könnte, mit neuem Glanz in der Hauptstadt zu erscheinen und seine gewohnte Lebensart fortzusetzen.

Unter denen, die er zu dieser Absicht tauglich fand, schien ihm Rosalie von Eschenbach durch ihre Unerfahrenheit, Unschuld und wenige Weltkenntnis diejenige zu sein, deren Eroberung die wenigste Mühe kosten würde; und da sie zugleich die Reichste und Schönste war, so hatte er durch bedeutende Empfehlungen aus der Hauptstadt sich um so leichter Zutritt bei der alten Tante verschafft, da er aus einer wohlbeurkundeten, obgleich etwas entfernten Verwandtschaft seines Hauses mit dem ihrigen sich eine ganz besondere Ehre machte und der unbegrenzten Gefälligkeit, die er für ihre Eigenheiten und Grillen zeigte, durch seine persönlichen Vorzüge einen desto höhern Wert in ihren Augen zu geben wußte. Denn Ritter Alberich, ungeachtet dessen, was einige Hauptstädte Europens von seiner Blüte abgestreift, war noch immer der schönste Mann, den sie je gesehen hatte, und wären nicht vierzig wohlgezählte Jahre zwischen ihnen gestanden, sie würde sich nicht lange bedacht haben, ihn für sich selbst zu behalten.

So leicht war nun freilich die junge, zartfühlende und ihres eignen Werts sich nicht ganz unbewußte Rosalie nicht zu gewinnen. Indessen hatte doch die blendende Außenseite des Ritters ihre Augen, die geschmeidige Leichtigkeit, womit er sich in den unbedeutendsten Dingen nach ihrer Denkart und ihrem Geschmack richtete, ihre Eigenliebe – und die vorgebliche Übereinstimmung ihrer Gemüter, die er mit der feinsten Schauspielerkunst zu heucheln wußte, ihr Herz zu seinem Vorteil bestochen; und wenngleich das, was sie für ihn fühlte, noch nicht Liebe war, so schien es doch das namenlose Etwas zu sein, woraus, mit Zeit, Geduld und unablässiger Sorgfalt, es fein warmzuhalten, zuletzt unversehens Liebe hervorgekrochen kommt.

Unter Rosaliens übrigen Verehrern, die nicht bedeutend genug sind, um uns in nähere Bekanntschaft mit ihnen zu setzen, war nur einer, der eine Ausnahme zu verdienen scheint. Es war der einzige Sohn eines begüterten Landmanns, welcher den Willen und das Vermögen gehabt hatte, seinem Sohn eine bessere Erziehung zu geben, als seinesgleichen gewöhnlich erhalten. Hulderich (so nannte man den jungen Mann) besaß zu einem hellen, ruhigen, mehr gründlichen als schimmernden Verstand ein so warmes und gefühlvolles Herz, als je in der Brust des adeligsten aller Ritter der Tafelrunde schlug. Sein Äußeres war ebensowenig blendend als das Innere; doch konnte er, sogar neben dem schönen Alberich, für einen wohlgebildeten Mann gelten, und (wessen sich dieser nicht zu rühmen hatte) sein Blut war rein wie seine Sitten und sein Körper so gesund und ungeschwächt wie seine Seele. In der Tat hatte er nur einen einzigen Fehler, der ihm aber größern Schaden tat als Alberichen alle seine Laster. Eine Bescheidenheit, die zuweilen an Schüchternheit grenzte, warf auf seine ohnehin nicht schimmernden Verdienste einen Schatten, der sie den Augen derjenigen entzog, die ihn nur eines flüchtigen Anblicks würdigten; und unglücklicherweise war Rosalie eine dieser Unachtsamen.

Hulderichs Vater hatte zu einem hübschen Gut, das sein Eigentum war, die Ländereien der alten Dame gepachtet. Dieser Umstand hatte dem Sohn, von früher Jugend an, häufige Gelegenheit verschafft, in das Schloß zu kommen und Rosalien, solange sie noch unter vierzehn Jahren war, öfters zu sehen und zu sprechen; und so hatte sich das Bild ihrer Liebenswürdigkeit nach und nach tief in sein Gemüt eingesenkt. Ihr munteres, sanftes und holdseliges Wesen, die Güte ihres Herzens und die Anlage zu allen weiblichen Tugenden, die er darin aufkeimen sah, hatte sich des seinigen unvermerkt dergestalt bemächtigt, daß er sie wie seine Seele liebte und daß ihm nichts so schwer deuchte, daß er es nicht für sie zu unternehmen, nichts so kostbar, daß er's ihr nicht aufzuopfern, nichts so peinvoll, daß er's nicht für sie zu leiden bereit war. Diese Gesinnung für Rosalien verwebte sich so innig mit seinem ganzen Wesen, daß sie noch immer in gleicher Stärke fortdauerte, als Rosaliens Übergang in das Alter der aufblühenden Jungfrau ihm beinahe alle Gelegenheit entzog, ein paar Worte mit ihr zu wechseln oder sie nur in der Nähe zu sehen. Er fühlte diesen Verlust schmerzlich; aber da er es schon für Verbrechen gehalten hätte, sich ihren Besitz nur als etwas Mögliches zu denken, so genügte ihm daran, sie schweigend und von fern zu lieben; und es würde ihm, glaubte er, nichts zu wünschen übriggeblieben sein, wenn sie ihm nur zuweilen durch einen gütigen Blick hätte zu erkennen geben wollen, daß sie seinem Herzen Gerechtigkeit widerfahren und sich eine Liebe gefallen lasse, welche, in der Tat, mehr von der andächtigen Inbrunst eines frommen Einsiedlers zu der Königin des Himmels als von dem irdischen Feuer einer eigennützigen Leidenschaft für eine Sterbliche in sich hatte. Aber Rosalie schien seit ihrem funfzehnten Jahre, und noch mehr seit ihrer Bekanntschaft mit Alberich, nicht die mindeste Kenntnis mehr von dem armen Hulderich zu nehmen. Daß es nicht stolze Verachtung war, dafür bürgt uns die Güte des Herzens, wovon sie täglich bei allen Gelegenheiten die unzweideutigsten Beweise gab; auch war es wirklich weiter nichts, als daß Hulderich gänzlich aus ihrem innern Gesichtskreise verschwunden oder wenigstens in den tiefen Schatten zurückgetreten war, worin tausend andere von ihr unbemerkte Menschen standen, mit denen sie, weil sie weder ihres Mitleidens noch ihrer Wohltätigkeit nötig hatten, sich außer allem Verhältnis glaubte.

Alles dies, meine gnädigen Damen und Herren, mußte ich vorausschicken, bevor ich zu dem Abenteuer fortgehen konnte, welches der eigentliche Stoff meiner Erzählung ist.

Ich sagte gleich anfangs, daß Rosalie, aus Mangel eines Bessern, von Kindheit an nichts als Ritterbücher und Feenmärchen gelesen habe. Aus diesen Quellen hatte sie eine Art von idealischer Welt- und Menschenkenntnis geschöpft, die mit dem wirklichen Lauf der Welt und dem Tun und Lassen der wirklichen Menschen einen starken Abstich machte und sehr vieler Berichtigungen und Zusätze bedurfte, wenn sie auch nur für den engen und einförmigen Kreis, worin sie lebte, zureichen sollte, aber auf keine Weise so beschaffen war, daß sie auf einem größern Lebensschauplatz eine anständige Rolle glücklich hätte spielen oder den vielfältigen Gefahren und Unfällen entgehen können, denen sie sich durch so manche täuschende Einbildungen und Erwartungen ausgesetzt befand.

Es war also nicht mehr als billig, daß, bei Entstehung andrer gewöhnlicher Hülfsmittel, die Feen sich des guten Mädchens annahmen und, was sie durch kindliche und kindische Spielwerke der Phantasie an der natürlichen Gesundheit ihres Verstandes eingebüßt hatte, durch andere, auf Wiederherstellung derselben abzweckende Spiele ihrer Zauberkunst zu vergüten suchten.

Bei einem jungen Mädchen, das sozusagen unter lauter Feen und Feerei aufgekommen war, scheint unter den mancherlei wunderlichen Wünschen, welche jungen Mädchen durch den Kopf zu flattern pflegen, keiner natürlicher zu sein als der, sich wirklich einmal in dieses Feenland versetzt zu sehen, von dessen Herrlichkeiten sie soviel gehört und gelesen hatte. Rosalie hing diesem phantastischen Gedanken seit einiger Zeit so häufig nach, daß sie ihn zuletzt gar nicht wieder loswerden konnte.


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