Christoph Martin Wieland
Briefe von Verstorbenen
Christoph Martin Wieland

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Siebenter Brief.

Eurikles an Philotas.

Inhalt. Eurikles tröstet seinen Freund über den Verlust einer geliebten Gattin, bestraft das Uebermaß seiner Schwermuth, und ruft seinen verlornen Muth durch die großen Ideen von unsrer Bestimmung zurück.

                Ob uns der Tod, der getreueste Freund der Tugend auf Erden,
Gleich in Gegenden führt, vor denen die irdische Schönheit
Selbst im festlichen Glanz der ersten Erschaffung erbleichte;
Gegenden, wo die Seele sich selber ungehemmt anschaut
Und sich selber genießt; wo der Same von himmlischen Kräften,
Den ihr Busen einst unbewußt trug, hellblühend hervorbricht,
Und nur Betrachtung und Liebe sie gleich den Seraphim speiset;
Dennoch gefällt es uns oft, Philotas, die seligen Kreise
Mit der Erd', und den süßen Genuß der englischen Freundschaft
Mit dem sanfteren Anblick der Tugend in menschlicher Hülle
Zu vertauschen. Wir halten es nicht der Unsterblichen unwerth,
Ungemerkt bei dem Weisen, der in sich selbst sich zurückzieht,
Oder am Frühlingsabend um fröhliche Chöre zu schweben,
Die die Natur und die liebliche Kraft des Frühlings empfinden. 89
Auch die Erde, wiewohl die Sonne, von der sie geschmückt wird,
Eine der dunkelsten ist, hat selbst für ätherische Augen
Anmuth genug; wir sehen sie in ganz anderem Lichte,
Als Gewohnheit und Leidenschaft sie den Menschen entstellet,
Nicht so arm, wie der Wahn sie beraubt; voll Wunder der Allmacht,
Auch da zierlich und voll, wo ihr leere Räume nur sehet;
Reizend genug, uns eben den Gott entgegen zu strahlen,
Der den Himmel gebaut, und mit unsterblicher Schöne
Für die höheren Geister ätherische Welten gekrönt hat.
Diese Gemeinschaft der Erd' und der Welten jenseits des Mondes,
Gibt mir, o werther Philotas, noch oft dein Leben zu sehen,
Welches bisher in der Aufsicht der Tugend zum Himmel geflossen.
Thränend (denn die Erhöhung zur Würde der himmlischen Geister
Hat auch die Mutter des Mitleids, die Zärtlichkeit, in mir erhöhet),
Thränend sah ich herab, da du Theaklea beweintest,
Thränend, indem die Engel auf triumphirenden Wolken
Ueber die Sterne sie trugen. Wie konnt' ich die Schmerzen verdammen,
Die die blühende Freud' auf deinen Wangen vertilgten,
Da du um Theaklea klagtest! Da mit der Geliebten,
Wie es dir schien, dein Schutzgeist, die Tugend in weiblichem Reize,
In der hohen Gestalt der mächtigen Schönheit entflohn war;
Da du die Freundin klagtest, die auf dem Wege zum Leben,
Auf dem verödeten Wege zum Leben, statt tausend Begleiter
Deiner Zärtlichkeit war; in welcher dir Hoffnungen blühten,
Die der Weiseste selbst nicht schöner vom Himmel erbittet. 90
Theaklea war dein; sie schien von der Hand der Natur selbst,
Nur für dich mit jeder dein Herz gewinnenden Anmuth,
Und in der Brust voll Unschuld mit jeder harmonischen Neigung
Deiner Seele begabt. Noch beid' am Busen der Mutter
Liebtet ihr schon; die kleinen liebkosenden Arme verbreitend
Lächeltet ihr, so oft ihr euch sahet, einander entgegen.
Mit den sprossenden Tagen erwuchs in beiden die Liebe,
Eh' ihr das nennen konntet, was ihr im klopfenden Herzen
Fühltet, wenn ihr euch jugendlich küßtet. Mit welcher Entzückung
Sahest du Theaklea, wie eine der himmlischen Nymphen,
Und der Liebe der Engel nicht minder würdig, hervorblühn?
Auch sie, dir ihr liebendes Herz zu verbergen zu edel,
Feuerte beifalllächelnd dich an, in der Tugend zu wachsen.
Beider erfindsamster Wunsch erbat kein schöneres Schicksal
Von der Vorsicht als dieß, den Geliebten glücklich zu sehen,
Und es selber zu seyn, durch den er zum Glücklichsten würde.
Niemals zierten die Erde zwei edler liebende Herzen,
Würdiger glücklich zu seyn. Doch schied euch ein eisernes Schicksal
Unerbittlich, und achtete nicht die Thränen der Liebe.
Endlich schien es erweicht; die labyrinthischen Irren,
Wo du, von Theaklea verschlagen, sie kummervoll suchtest,
Thaten auf einmal sich auf; der Liebenden freundlicher Schutzgeist
Führte sie deinen Umarmungen zu. Wie war sie entzückend,
Da nun der Hoffnungen schönste in beider Angesicht glänzte,
Und die Thränen der Freud' auf euern Wangen sich mischten.
Dieser goldene Tag, der euch zu vereinigen eilte,
Nahete fröhlich heran, du hofftest ihm ruhig entgegen;
Als ein plötzlicher Schlag von dem, der die Schickung erfunden,
Theakleens unsterblich scheinende Blüthe verderbte. 91
Die, von deren Besitz du Himmel von Freuden gehoffet,
Lag jetzt erkaltet vor dir, und von der zärtlichsten Seele
Blieb auf den Lippen allein ein leblos Lächeln dir übrig.
Hätte sie deinen Jammer gesehn, Philotas, sie hätte
Fast sich zurück in den Körper gesehnt, ob ihr schimmernder Fuß gleich
Schon die goldene Pforte des Himmels betreten.
Jetzt ward dir die Erde verhaßt, die Schöpfung verwüstet,
Menschen erweckten dir Abscheu; dir schien mit der Freundin die Tugend
Und die Freude gestorben; sie, die mit lieblichen Banden
Dich der Gesellschaft verknüpfte, war deinen Armen entrissen.
Sie, in deren Besitz du ganz zu vergessen gehoffet,
Daß die Bewohner der Erde, die jetzt der Menschheit sich rühmen,
Larven der Menschen nur sind, die ältere Zeiten beglückten;
Daß aus dem Herzen, worin sie sonst wohnte, die menschliche Tugend
In den lichtlosen Kopf geblähter Sophisten verbannt ist;
Daß ein reizendes Antlitz, die Güte des Herzens zu reden
Von der Natur geschmückt, so oft den Bewunderer täuschet,
Und der lauernde Neid sich in sanften Augen verbirget.
Die, von welcher du hofftest, sie würde den Vorsatz beleben
Dich vom Undank der Menschen im Wohlthun nicht hindern zu lassen;
Die mit Einem liebreizenden Blick den Sturm und den Kummer
Aus dem Gemüthe dir lächeln konnte, sie war dir entrissen.
Scheu und kummervoll fliehst du die Oerter, die ihre geliebte
Gegenwart einst bezaubernd gemacht, und fliehest den Menschen,
Weil du in seinen Mienen die Züge der Unschuld und Hoheit, 92
Die du in ihr geliebt, vergeblich suchest. Der Unmuth,
Der die Vernunft dir bewölkt, schwärzt alles was dich umgiebet,
Selbst die helleste Blüthe des Tags, mit gehässigen Schatten.
Fern von der nimmer reizenden Welt, in beliebterer Einöd',
Seh' ich dich, o Philotas, von dunkler Schwermuth gefesselt,
Höre dein unharmonisches Klagen, und wie du vergeblich
Dich in bessere Sterne hinüber wünschest; unwillig
Da wo die Vorsicht es will, nur wenige Jahre zu leiden.
Könnt' ich in diesem Zustand dich ohne Mitleid verlassen?
Ohne Verlangen, dein Herz, das einst so viel Tugend versprochen,
Wieder der Stille zu geben, und deine Vernunft zu entwölken,
Daß sie im ächten Lichte die Dinge betrachte, die jetzo
Deine verlassene Traurigkeit nähren. Da irdische Freunde
Dir, o Philotas, entstehn, so soll die göttliche Freundschaft
Vom Olymp herabsteigen, dich mit dir selbst zu versöhnen.

Hätte dein herrschender Schmerz nicht alle Nerven der Seele
Angegriffen, empfände die Großmuth sich selber nur wieder,
Welche dir einst Theakleen und meine Liebe gewonnen;
O wie erröthete sie, dich, gleich den schwächsten am Geiste,
Einem Verhängniß erliegen zu sehn, aus welchem die Weisheit
Himmlische Tröstungen zöge? – Befrage dich selbst, o Philotas,
Willst du mit ungeduldigem Gram und verzweifelnder Schwermuth
Theakleen gefallen? Soll dieser Mißklang der Triebe
Ein unsterbliches Herz zu deiner Liebe bewegen?
Oder hat den erhabnen, den ihrer werthen Gedanken,
Sie, seitdem sie den Himmel zu zieren die Erde verlassen,
Mehr zur Liebe zu rühren, der feige Kummer getödtet? 93
Nein, du liebest sie noch! – Erinnre dich, welche du liebest!
Nicht ein jugendlich Mädchen, das jeden lächelnden Anblick
Dir mit Entzückung belohnt. – Jetzt ist es die Freundin der Engel,
Die in des Ewigen Anblick entzückt, auf mindere Wonne
Mit gleichgültigem Blick als Kinderspiele herabsieht.
Kannst du hoffen ihr anders als durch die reineste Tugend
Noch gefällig zu bleiben? – O sieh, sie blicket vom Himmel,
Oder sie strahlet vielleicht von Engeln begleitet herunter,
Dich in Thaten zu finden, die ihre Lieb' und die Hoheit
Eines unsterblichen Wesens bekennen. Sie hoffet, Philotas
Strebe durch edlere Thaten dem werthern Himmel entgegen,
Wo ihn Theaklea mit sehnenden Armen erwartet.
Aber wie bebt sie zurück, wie bewölkt sich die selige Stirne
Bei dem Anblick, womit du ihr himmlisches Auge beleidigst!
Glaube nicht, daß sie die Flucht von der Welt, zu der dich die Ordnung
Und die Natur gesellt, die Verbannung zu einsamer Schwermuth
Und den Haß des Lebens, für Zeichen der Zärtlichkeit nehme.
So gewinnt man nicht himmlische Herzen! – Doch webest du kunstreich
Einen Schimmer der Wahrheit um deinen gefälligen Irrthum,
Und betrügst dich, Gebilde der Schwermuth zu Weisheit zu adeln.

Zwar ist die Welt in den zärtlichen Augen des Weisen ein Anblick,
Der ihm Thränen erzwingt; die Tugend, ohne die Hoffnung
Besserer Ewigkeiten, verdiente die Thränen des Mitleids.
Glücklicher wär' es der Seele, dafern ihr Seyn auf die Erde
Eingeschränkt wär', ein Embryon in dem Schooße des Undings
Ewig geblieben zu seyn. Das schönste Geschäfte des Menschen 94
Ist, wenn er sich mit muthigem Schwung in jene Welt hebet,
Seiner Tugend daselbst begeisternde Nahrung zu holen.
Alles dieß sey, wie du sagst, der Weisheit schönstes Geschäfte!
Aber dieß Leben hassen, das doch der Herrscher der Dinge
Selber zwischen die Seel' und die goldne Ewigkeit legte;
Es um der Absicht willen zu hassen, warum es gelegt ist,
Und mit ihm rechten, warum er uns nicht in andere Sphären,
Die wir uns selbst erwählten, gesetzt: – wie kannst du, Philotas,
Tugend in diesem thörichten Streit mit der Vorsicht erkennen?
Ist es ein Sturm des Zufalls, der deine verirrete Seele
An die Felsen der Erde verschlug? Der die Himmel erfunden,
Engel und Ewigkeiten damit in Bewundrung zu halten;
Hat er an ihr nur gefehlt, und nicht mit eben der Rechten
Dein Verhältniß bezeichnet, mit der er die Sterne gewogen?
Ist es wohl minder thöricht, sich dieser Welt zu berauben,
Mitten in Freuden, die aus dem Schooß der Natur uns entspringen,
Fühllos, nach fremden Welten und Freuden der Seraphim schnappen;
Fern von der Sphär', an die uns der Wink des Schöpfers gebunden,
Unnütz, da jeder Staub zum Dienste des Ganzen sich drehet,
Unreif zu höhern Welten und unharmonisch mit dieser?
Laß die Vernunft entscheiden! Ist der nicht eben so thöricht
Als ein fröhlicher Thor, der, über den irdischen Freuden,
Seine Bestimmung verträumt, und am blumigen Boden der Wollust
Angewachsen, sobald er von ihm gebrochen wird, stirbet?
Dieser verscherzt die Hoffnung, von welcher das irdische Leben
Seinen lieblichsten Glanz empfängt, erhascht die Minute 95
Und verlieret Aeonen; da jener durch eitles Bestreben
Nach verbotenem Glück sich des beschiednen beraubet.
Dieser vergißt die Menschheit, und strebt zu den Thieren hinunter;
Jener verschmäht sie, und wünscht sich umsonst in verbotene Höhen.
Sey ein würdiger Mensch, und öffne durch sittsame Tugend
Dir den Weg zu den Sternen, den niemand mit Wünschen erflogen.

Aber du wähltest dir andere Welten, das Leiden zu fliehen,
Das der Vater des Schicksals den Erdebewohnern verordnet. –
Wolltest du unter die Flügel der göttlichen Cherubim flüchten?
Oder glaubst du, der Mensch sey allein mit Uebel belastet?
Nur die irdische Freude sey mit dem Schmerze verwachsen?
Wisse, daß lautere Wonne nur wenig Geschlechtern der Geister
Fließet; in andern Welten sind andere Mängel; die Seelen,
Die an die menschliche gränzen, bedürfen nicht minder des Schmerzes
Zur Erhöhung der Lust, als ihr zu rührenderm Wohllaut
Uebelklingende Töne den Harmonien vermählet!
Ist es dir nicht genug, die Schöpferin deines Glückes
In dir selber zu hegen? Dazu bestrahlt die Vernunft dich.
Diese, Philotas, mit ihrer erhabnen Schwester der Freiheit;
Sie, kein fremdes betrügliches Glück, umschattet den Weisen
Mitten im Brande der Pein; sie herrscht in Ketten; ihr Anblick
Macht jetzt die Wüste zum lustigen Garten, jetzt Gärten zu Wüsten.
Wenn sie befiehlt, so lächelt der Schmerz und die Fröhlichkeit winselt.
Hier ist's Wahrheit, was man vom Phrygischen König gefabelt:Der Phrygische König Midas, bekannt durch sein Urtheil über Apollon, welches ihm einen schlimmen Zuwachs an den Ohren brachte, erbat sich einst vom Bakchos, daß alles, was er berühre, sich in Gold verwandeln möge. Da sich ihm nun auch Speise und Trank in Gold verwandelten, stand er in Gefahr, in der Mitte unermeßlicher Reichthümer zu verschmachten. – Die Goldwäschen, die er in dem Paktolus anlegte, haben diese Sage veranlaßt. 96
Was die Vernunft berührt, wird Gold. – So leicht kann Philotas,
Selbst von Theaklea getrennt, die Ruhe sich geben,
Eben die Seligkeit, die er umsonst durch Klagen erzwinget!
Du, den die günstige Weisheit an ihrem Busen erzogen,
Auf! und wag' es die Nebel, die dein Gesichte verfälschen,
Abzuschütteln, und siehe dann auf den häßlichen Erdball,
In dem Sonnenschein, den die Vernunft umhergießt, hernieder.
Ist er so wüst und furchtbar, wie ihn die Leidenschaft findet?
Eben so wenig, als er den Himmel zur Eifersucht reizet,
Wie der Sklave der Lust in seinem Taumel ihn preiset.
Zweifle, die Leidenschaft mag ihn schön und glänzend dir malen,
Oder mit traurigen Farben! sie malet immer sich selber.
Laß die gelass'ne Vernunft ihn dir in nackender Wahrheit
Zeigen! – Was ist er alsdann? – Die Wohnung sterblicher Menschen,
Für sie gebaut, und ganz zu ihnen passend; so schön nicht,
Daß sie euch billig der höhern Bestimmung der Geister entlockte;
Aber doch mehr als schön genug, dem eilenden Wandrer
Der die Straße zur Ewigkeit geht, den Weg zu erleichtern.
Wenig reich an sinnlichen Freuden, damit es nicht schwer sey
Sich zu versichern, der Mensch sey nur zur Tugend erschaffen.
Diese zu läutern, sind Schmerzen und wonnegebärende Leiden
Weislich geordnet; sie reinigen sie zur Einfalt und Unschuld,
Daß sie im ewigen Frühling des Himmels zu glänzen geschickt sey.

Siehe, dieß ist die Wildniß, die du dir selber mit Grauen
Reichlich erfüllst; der Wille kann tausend Gestalten ihr geben. 97
Wie? Du verwünschest den Stand, den dir die göttliche Weisheit
Selbst erkor! Und schmeichelst du dir, falls irgend ein Engel
Dich, wohin du begehrst, versetzen wollte, dein Klagen
Würde sodann verstummen? O Freund, so kennst du dich selbst nicht!
Wahrlich du würdest von einem Olymp zum andern dich wünschen,
Jeder Vorzug der andern erweckte die schlafende Klage.
Wer bei schwächern Begierden im Schooß des irdischen Lebens
Sich die Ruhe durch Ungeduld raubt, für den kann die Allmacht
Nicht genug Welten erschaffen. Er mag sie sich selber erträumen!
Hältst du, Philotas, die seligen Geister nur darum für selig,
Weil sie schönere Sphären bewohnen? Du irrest: die Seele
Stimmet nicht unvermeidlich mit äußern Dingen zusammen.
Keine Welt ist so schön, daß nicht der Unmuth sie schwärzte;
Nur die höhere Tugend vergöttert die Wonne der Engel.
Laß dir die menschliche Tugend das Glück des Menschen gewähren.

Freund, erwacht nicht die Weisheit in deinem Herzen? Ich merke,
Wie sie dich heimlich bestraft, und meine Worte beglaubigt.
Aber noch suchet die Leidenschaft Decken, und schämet sich nackend,
Ihrer geschminkten Schönheit beraubt, vor der Wahrheit zu stehen.
»Kannst du, so spricht sie, die Ungeduld tadeln, das Ziel zu erreichen,
Wo die Seele gewiß wird, sie sey zum Leben bestimmet? 98
Kannst du mich tadeln, daß ich den Tod mir wünsche? Die Weisen
Lehren es mich; mein innerstes Selbst, von eiteln Gespenstern
Ungeschreckt, wallet ihm zu, und wünscht dem Säumenden Flügel,
Daß er den Geist dem unbeliebten Gefängniß entführe,
Ihn der ätherischen Luft, und der Freiheit wieder zu geben.«

Wenn du so denkst, o Jüngling, so lerne von deinem Eurikles
Eine Wahrheit der andern zu gatten. Die Schwünge der Sphären
Stimmen nicht besser zusammen, noch Hymnen aus englischen Lauten,
Als sich die Wahrheit mit jeder andern harmonisch beträget.
Lerne dann, o Philotas, wenn du dem Tod so geneigt bist,
Während der Wille der ewigen Tafeln dich unter den Menschen
Leben heißt, lerne von mir die Kunst, im Leben zu sterben.
Ist nicht die Trennung vom Leibe der Tod, nach dem du dich sehnest?
Und ist es nicht die Tugend, die diese Trennung verrichtet?
Die sie auch dann, wenn der Leib am schönsten blühet, verrichtet?
Lehret dich nicht die Weisheit die Freuden der Sinne verachten;
Reizungen, welche den Geist, als wär' er ein Sklave des Leibes,
An die Vergänglichkeit heften? Ist nicht die Tugend die Herrschaft
Ueber die holden Gespenster, die durch die Sinnen uns locken,
Und mit den Leidenschaften sich gegen die Seele verbinden?
Denn was die Seele wahrhaftig beglückt, die Freiheit, die Ruhe 99
Und die Liebe zum ewigen Schönen und Guten, ist immer
Mit den Sinnen im Streit, die sie zum Stosse zurückziehn;
Wo sie sterbliche Formen, die ewig sich ändern und fließen,
Mit dem Schein der Schönheit bekleid't, zu Affecten entzünden,
Daß der gefangene Geist sich oft in Ohnmacht verlieret.
Siehe, Philotas, so sterben die Weisen, um hier schon zu leben;
Jede Tugend zerreißt hier ein Band, womit sie der Leib hält.
Unter den Schatten der Zeit, mit aufgehabenem Geiste
An die Wahrheit, voll süßer bewundernder Liebe geheftet,
Ahmen sie schon der Ewigkeit nach, und sind in Gedanken
In der Versammlung der Engel, indem durch übende Tugend
Ihre Gegenwart sich noch unter den Sterblichen darthut.
Denn die Seele ist da, wo ihre Gedanken verweilen;
Denkt sie himmlisch, was ist's ob diese Sonne sie anstrahlt,
Oder jene? Kein Ort kann sie mehr als ein andrer der Gottheit
Nähern; man nahet ihr nur durch Lieb' und redliche Tugend.
Hat sie sich so zu der großen Verändrung der Scene bereitet,
Die sie mit fester Geduld und ruhiger Hoffnung verdienet;
Dann ist die letzte der Stunden allein die Krone des Werkes,
Das sie im Leben trieb; mit leichter Bemühung entkörpert,
Schwingt dann der freie Geist sich empor, mit den glänzenden Scenen
Schon seit langem bekannt, die nun sich ihm um und um aufthun.
Wallet dein Herz, o Philotas, nicht diesen Ideen entgegen?
O nur diese sind werth, in himmlischen Herzen zu wallen! 100

 


 


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