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14

Die Uhr über dem Gutshof des Schlosses, das Maß und die Regel für die Landschaft, schlägt noch immer durch Tag und Nacht, durch Jahreszeiten und Jahre. Mitunter denken die Menschen der Landschaft, es habe sich vieles verändert, aber die Achse des Seins ist die gleiche geblieben. Der General ist ein bißchen kleiner geworden, so gerade er sich auch hält, und das Fräulein ist noch etwas gewachsen. Die Leute auf dem Ozean haben noch ein paar graue Fäden mehr in ihr Haar bekommen, aber die Fische gehen wie immer in ihr Netz, manchmal mehr, manchmal weniger, wie der Wind, das Wetter oder ihre Natur es befehlen. Sommer und Herbst sind ihnen vergangen, wie dem Pflüger der Tag vergeht, und wieder ist Thomas mehr als zwei Monate im Grafenhaus gewesen. Die blaue Flamme hat unter den Retorten gebrannt, und ein anderes bläuliches Licht ist flackernd und geheimnisvoll in den luftleeren Glasröhren erschienen. Kristalle haben in allen Farben geschimmert, seltsame Formen und Schatten sind unter den Mikroskopen aufgeleuchtet, und zwischen den Blättern der großen Bücher liegen kleine Zettel mit fast unleserlichen Worten und Zahlen. Der König aus dem Morgenland hat ein Mädchen und einen Knecht in sein Haus aufgenommen, und die Pfannen auf dem neuen Scheunendach beginnen schon an der Wetterseite sich grau zu färben. Joachim bereitet sich auf die Leutnantsprüfung vor, fleißig, kühl, unabgelenkt wie immer, und der Fähnrich zur See Siegfried von Marschall hat es aufgegeben, Briefe an das hochwohlgeborene Fräulein Marianne von Platen zu schreiben, nachdem diese ihm mitgeteilt hat, daß ihre Arbeit nicht erlaube, einen Briefwechsel über die Diätetik der Seele zu führen.

Noch immer kommt der Adler dreimal täglich von Osten her über den Wald, schlägt seine Beute, läßt seinen traurigen Schrei aus der Höhe über die Wälder und Seen fallen und verschwindet wieder hinter dem östlichen Horizont. Sie wissen auf der Insel nicht, ob es immer derselbe Adler ist oder schon eines der Jungen aus den langen Jahren, aber es genügt ihnen, zu wissen, daß es »der Adler« ist, denn keiner von ihnen trägt einen besonderen Namen. Die Tiere sind namenlos.

Über die Straßen des Reiches wandern noch immer ungezählte Tausende, Studenten und Vagabunden, alte Soldaten und Apostel mit Sandalen unter den Füßen und einem Strick um die Lenden. Bildermann, wenn er unterwegs ist, begegnet ihnen manchmal, hält sie an und fragt, ob die Raben immer noch um den Berg kreisen. Dann schüttelt er den Kopf, gibt ihnen Tabak und ein Stück von dem Brot, das er nun immer in der Tasche trägt, und sieht ihnen eine Weile nach, wie sie nach Osten und Westen davongehen, mit hängenden Schultern und müden Füßen, die Verfemten der Erde, die geduldig die Schuld der Völker tragen.

Die Menschen denken, es habe sich vieles verändert, aber nur die Oberfläche kräuselt sich wie bei einem großen Wasser, indes in der Tiefe Fische und Pflanzen und Steine unverändert ruhen und ihre Zeit erwarten.

Auch daß Marianne nun einen kleinen, blitzenden Wagen hat, ein Geschenk der alten Hofdame, ändert nichts an Feldern und Wäldern. Sie benutzt ihn selten, aber dann mit Freude, und wenn sie einmal zur Stadt fährt, nimmt sie am liebsten Bildermann mit, der gut zuhören und antworten kann, der so viel von seinem Herrn weiß und auch alle Geheimnisse eines Motors kennt. Seine Mützenbänder flattern dann waagrecht über den singenden Wagen hin. Und manchmal denkt er, daß er sich doch auf mancherlei Weise in seinem Leben vorwärtsbewegt habe.

Thomas sieht wohl, daß das Kind leidet, aber er will es gleichsam nur von der Seite sehen. Er ist noch nicht sicher genug. Er ist wie ein Mann, der auf zwei Pferden steht und durch die Reitbahn galoppiert. Er darf nicht rechts und links sehen. Er weiß, daß er alt geworden ist an jenem Weihnachtsabend, das heißt, daß er plötzlich gelernt hat, weit in sein Leben hineinzusehen, ohne Zäune und Hecken; aber er kann nicht dafür, daß manchmal, ganz selten, ein scharfer Schmerz durch ihn hindurchgeht, so willkürlich und nicht zu berechnen, wie ein gezackter Riß durch das Eis. Auch wer das Ganze haben möchte, ist nicht blind für das einzelne, und auch an die einsamen Straßen tritt mitunter ein Traum. Er wartet darauf, daß eines Tages der erscheine, der die Leiden heilt. Joachim ist es nicht gewesen und noch viel weniger der Vetter oder der Fähnrich von Marschall. Aber die Natur hat tausend Wege und Kräfte. Sie wird auch die »alten Maßstäbe« besiegen.

Marianne ist nicht unglücklich. Sie hat Arbeit und Träume und kann also nicht ins Bodenlose fallen. Sie hat auch die alten Bilder in der Halle, vor denen sie manchmal steht. Die Lippen der Frauen schweigen, aber auch ein schweigender Mund kann beredt sein. Man verliert sich nicht, wenn man die Ahnen sehen kann. Aber man kann noch hoffen, immer noch hoffen. Auch auf einem Goldfaden kann man einen Abgrund überschreiten, wenn Gott es will.

Frau von Sperber sieht nichts. Der »Schöne« ist tot, begraben in polnischer Erde, und die Welt ist leer geworden durch seinen Tod. Wie sollte ein Mann bezaubern können, nachdem sein Zauber erloschen ist? Es geht nicht um Männer, sondern um das Salz der Erde.

Der einzige, der es sieht, ist der General. Wahrscheinlich haben die jungen Leute sein Auge geschärft, die so hart wie Glas sind. Er ist ein strenger Mann, könnte man meinen, und Bergengrün hat manchmal gedacht, daß er noch aus dem Dreißigjährigen Krieg stamme, aber nun ist sein Herz mit Erbarmen gefüllt. Und so groß wie sein Erbarmen ist seine Ratlosigkeit. Kein Reglement, in dem dies vorgesehen wäre, keine Felddienstordnung, die sich damit befaßt. Schließlich bleibt nichts, als eine »gewaltsame Erkundung«. Das Kind ist es wert, daß man aus dem Graben steigt und zusieht, was hinter dem Waldrande vorgeht.

»Alter Mann, Orla«, sagt er an dem grauen Tisch auf der Insel. »Zukunft bedenken … auch Generale nicht unsterblich … was ist mit dem Kind?«

Thomas versteht sofort. »Es ist kein Wort gesprochen worden, Herr General«, erwidert er, »aber das Kind weiß, daß es nicht sein kann.«

»Nicht ist oder nicht sein kann?«

»Ist, aber nicht sein kann, Herr General.«

Die alten Hände haben sich über dem Stock gefaltet, und die Augen unter den weißen Brauen blicken geradeaus. Der Adler kreist über der Otterbucht, und sein Spiegelbild zieht im Wasser mit.

»Niemals, Orla?«

»Niemals, Herr General. Wer sich an der Natur versündigt, bekommt keine Vergebung.«

»Wie alt, Orla?«

»Fünfzig, Herr General.«

Die Finger über dem Stock bewegen sich, als rechneten sie. Dann liegen sie wieder still und gefaltet.

»Was tun, Orla?«

»Sich abfinden und helfen, Herr General. In ein paar Jahren legt uns niemand mehr den Kranz um die Stirn.«

»Nicht fortgehen, Orla!«

»Nein, Herr General.«

Sie bleiben noch eine Weile sitzen. Am anderen Ufer warf Bildermann die Krebsreusen ins Wasser. Sie sahen das Schimmern des hellen Holzes, nach einer Weile erst kam der Schall zu ihnen herüber.

Der General stand auf und reichte ihm die Hand. »Wäre ruhig gestorben, Orla«, sagte er. »Bei keinem so ruhig wie bei Ihnen  … aber haben recht … sind ein Edelmann, Orla …«

Dann pfiff er nach Johann, und der Riese antwortete von den Eichen her.

In diesem Herbst geschah in der Landschaft etwas Besonderes. Mehr als zehn Jahre nach der blutigsten und vergeblichsten Schlachtenfolge des Krieges fand man zwischen den Forts und den Höhen mit den fast geheiligten Namen einen verschütteten Stollen und in ihm die Gebeine einer halben Kompanie. Ein Jahr später, auf vielen Umwegen, kam in eine der großen Gemeinden an den Seen die amtliche Nachricht, daß unter den Gefundenen sich sieben Vermißte aus dem gleichen Kirchspiel befänden, und der Pfarrer, ein alter Mann, dessen Sohn sich unter den Toten befand, ruhte nicht eher, als bis er, durch Gesuche und Sammlungen, durch Überredung und Bitten erreicht hatte, daß das Kirchspiel seine sieben Toten aus der fremden Erde in die eigene überführte und sie auf dem großen Heldenfriedhof bestattete, der die Opfer des ersten Kriegsjahres barg und der durch seine drei hohen, weithin ragenden Kreuze über dem Ufer in der ganzen Provinz bekannt war.

Der Kampf des Kirchspiels um seine Toten (denn viel anders konnte die zähe Überwindung von Bestimmungen, Paragraphen und Herkommen nicht genannt werden) hatte weithin Aufsehen erregt und auch die Gemüter mancher bewegt, die weitab von jenen Dörfern lebten. Und als dann bekannt wurde, daß am Erntedankfest des Jahres die schmalen Särge unter den drei Kreuzen beigesetzt werden sollten, kamen von allen Seiten zu Fuß und zu Wagen viele herbei, die ihre Söhne für das Land gegeben hatten, oder solche, die in dieser Handlung etwas Mahnendes oder auch Leuchtendes erblickten.

Da der Friedhof viele Stunden entfernt gelegen war, hatte Marianne gefragt, ob Thomas in ihrem kleinen Wagen mit ihr fahren wolle, und er hatte zugestimmt. Er kam früh zum Schloß herüber, und sie erwartete ihn schon vor der Treppe. Sie sah zum erstenmal seine Uniform, und er schien ihr zuerst weit fortgerückt, so als ob ihm allein zukomme, an dieser Handlung teilzunehmen. Die Sonne war eben über den Wald aufgestiegen, die betauten Felder glänzten, und aus den Eichenwipfeln hoben sich überall die großen Flüge der Ringeltauben auf, die auf ihrem Zug nach Süden begriffen waren. Die alten Birken an der Chaussee trugen noch ihr goldenes Laub, dazwischen leuchteten die Beeren der Ebereschen, und von den Höhen aus sahen sie den weißlichen Himmel sich langsam tiefer färben, bis er mit dunklem Blau über Feldern, Höfen und Wäldern stand.

Er erinnerte sich der Tage, als er zum erstenmal in dieser Landschaft eingekehrt war, und obwohl es damals Frühling gewesen war, erkannte er das große Antlitz wieder, das ihn damals gefangengenommen hatte, und er erzählte, wie er damals gemeint hatte, daß er oft mit Joachim über diesen Ufern stehen würde, damit er an diesen herben und großen Linien erführe, daß der Wille der Schöpfung in der Landschaft immer auf das Einfache gehe. Und wie es nun mit diesem Plan nicht so ganz geglückt sei, wie es oft vorkomme, wenn sie die Jugend mit ihrer eigenen Liebe erfüllen wollten.

Oft, aber nicht immer, meinte das Kind.

Nein, es gebe keine Gesetze dafür, und wer nur aufmerksam und geduldig sei, finde auch immer einen Ausgleich für getäuschte Erwartungen, da das Leben uns immer nur so oft täusche, wie wir ihm unsere Meinung aufzuzwingen versuchten.

Und meine er nun, niemals mehr getäuscht zu werden, fragte das Kind.

Er hoffe, über den gröbsten Trug hinweg zu sein, erwiderte er. Was die Dinge betreffe, so tue er ja jetzt nicht viel mehr, als daß er schaue und lausche, und er wisse ja nun auch, daß die Wahrheit in den Dingen und nicht in den Meinungen liege. Was aber die Menschen angehe, so habe er das große Glück empfangen, daß sein Kreis von Jahr zu Jahr sich immer enger ziehe und nun allmählich nur diejenigen umfasse, deren Bild so unveränderlich sei wie das der Sterne. In der Jugend habe man wohl vor, das Wesen eines ganzen Standes, ja ganzer Völker zu ändern, zu läutern und hinaufzuheben, aber wenn die Bahn sich senke, gebe man sich mit Geringerem zufrieden und wende die ganze Kraft daran, dieses Geringere nun auch zu einem Dauernden zu machen. Von den wenigen aber, die um ihn seien, brauche er sich keiner Täuschung zu versehen.

Wenn der Großvater einmal sterbe und sie einmal heirate, fragte Marianne, ob er dann von der Insel fortgehen und ganz in das Grafenhaus ziehen werde?

Gewißlich nicht. Sie müsse sich daran erinnern, wie er sie zum erstenmal auf der Schloßtreppe gesehen habe, zart und zerbrechlich, mit ihrem schwarzen Kleid und der Perlenkette, die sich über ihrer Kehle bewegt habe. Und selbst wenn er erleben könnte, daß sie eine Großmutter mit weißem Haar würde, selbst dann würde er sie immer noch so sehen wie damals auf der Treppe. Er und Bildermann. Denn sie seien ja beide an der ersten Stufe eines neuen Lebens gewesen, als sie sie zum erstenmal gesehen hätten, und in allem Dunklen und Ungewissen der Zukunft habe sie damals wie eine kleine Blume gestanden. Das vergesse sich nicht. Vom Helfen und Heilen stehe irgendwo in der Bibel geschrieben, und so könnten sie auch nicht fort, solange sie erwarten könnten, Gelegenheit dazu zu haben. Diese Gelegenheit aber ende nicht mit der Kindheit und der Jugend, sondern bleibe bis zum Tode. Und so müßte sie sich schon darein ergeben, die Leute auf dem Ozean in ihrem Bereich zu behalten, solange sie ein Ruder führen und ein Netz auswerfen könnten.

Sie sah geradeaus, auf die helle Straße vor den Rädern, aber sie nahm die rechte Hand einen Augenblick vom Steuer und legte sie auf seine Hand. »Weißt du, was ich will, Thomas?« fragte sie. »Ich will auf der Insel begraben werden … wenigstens das will ich.«

Die einsame Straße begann sich nun langsam zu beleben, je höher die Sonne stieg, und als sie in dem Kirchdorf ankamen, schien es ihnen, als seien aus dem ganzen Lande die Menschen zusammengeströmt, um so viele Jahre nach dem Kriege noch einmal in sein fast sagenhaftes Antlitz zu blicken. Alle Gesichter waren ernst und gleichsam der kommenden Stunde zugewendet, und wiewohl Vereine und Bünde versammelt waren, mit Bannern und Fahnen, und überall auf den Straßen und kleinen Plätzen sich schon zu ordnen versuchten, so ging doch alles leise vor sich, Rufe und Kommandos, als wären die sieben kleinen Särge überall gegenwärtig, aufgerichtet über allem Volk, und von ihrem großen Schweigen wäre ein Abglanz auf jedes Gesicht gefallen.

Sie brachten ihren Wagen in dem großen Wirtshaus am Marktplatz unter, baten, ihnen für die Mittagszeit einen kleinen Tisch unter den Bäumen freizuhalten, und gingen dann langsam an der Kirche vorbei aus dem Ort hinaus, wo eine Straße mit noch jungen Bäumen zu der Höhe über dem Wasser führte. In der Ecke des Marktplatzes sah Thomas den Oberst mit der Adlernase, ohne Pferd diesmal, aber immer noch mit der schneidenden Stimme, wiewohl er sie sichtlich dämpfte, und auch eben glaubte Thomas das »Tempo … Tempo, meine Herrschaften!« zu hören, mit dem er die Herren seines Stabes in die sich ordnende Menge jagte. Thomas grüßte und empfing einen gemessenen Dank. »Das sind die Leute, die aus dem Weltkrieg ›in alter Frische‹ hervorgegangen sind«, sagte er lächelnd zu Marianne, »und die deinen Großvater einen ›alten Knaben‹ nennen.«

Dann schwiegen sie, weil nun am Ausgang des Ortes gegen den blauen Horizont schon die riesigen Kreuze erschienen, das Wahrzeichen einer ganzen Landschaft, auf der gewaltigen Grabkammer aus Feldsteinen errichtet, den leeren Himmel fast aufbrechend und mit ihren schmalen, ganz nach oben gerückten Querhölzern das aufgesprengte Gewölbe gleichsam wieder tragend.

Als sie die Höhe erreicht hatten und der Blick sich nun ohne Grenzen öffnete, über unendliche Felder und blaue Waldstreifen nach der Landseite und über das blaue, weite Wasser mit leeren Ufern nach der anderen Seite; als die schweigende Kammer vor ihnen lag, der gelbe Sand der ausgeworfenen Gräber vor dem Eingang, die sieben schmalen Särge, deren jeder mit dem Flaggentuch bedeckt war und mit herbstlichen Kränzen aus Garten und Wald; als sie die Soldaten der Totenwache sahen, junge Gesichter unter den strengen, grauen Helmen, und den Feldaltar zu Häupten der Särge; als sie in das Gesicht der Menge blickten, die sich schon gesammelt hatte und von den Kindern bis zu den Weißhaarigen alle Lebensalter umfing: da erfuhr auch das Kind zum erstenmal mit strenger Deutlichkeit das Unsterbliche einer großen, lange nachhallenden Zeit, das Gesicht des Todes wie das der Verklärung, und daß es in den Begriff des Volkes eingeschlossen war, der aller Leben, auch das auf den Inseln, umfing, die alten Geschlechter wie den Staub der Namenlosen, und es war ihm wie in einer Vision, als seien die drei Kreuze nicht leer, nur von einer milden Herbstsonne beschienen und von blauer Luft umflossen, sondern als trügen die hohen Eichenstämme die drei Körper der Schädelstätte, den des Gekreuzigten und die der beiden Schächer, ewige Sinnbilder des Opfertodes aus der Schuld der menschlichen Kreatur.

Sie nahm Thomas bei der Hand, und so blieb sie während der ganzen Zeit, bis die Särge mit den farbigen Tüchern hinabgelassen wurden und der gelbe Sand sie bedeckte.

Sie wußten von dem Pfarrer, daß nicht nur die Gebeine seines Sohnes in einem der Särge unter ihm lagen, sondern daß er damals zu Beginn des Krieges weithin in das fremde Land geschleppt worden war. Daß er seine Frau begraben und somit vieles von dem Leid erfahren hatte, das einem Menschen zugemessen werden kann. Und als sie nun sahen, wie der leise Wind, der vom Wasser heraufkam, sein langes weißes Haar bewegte, und als sie hörten, daß seine Predigt kein Wort der Bitterkeit oder der Klage enthielt, daß er vielmehr in den Dank für die Ernte des Jahres ganz wörtlich auch die Särge einschloß als die späte und nun schon verklärte Ernte einer Zeit der Hingabe und des Opfers, eine Ernte der Ernten; als er sie alle ermahnte, dieser Zeugen eingedenk zu bleiben, später verlorener Söhne, die nun heimgefunden hätten, und ihre Äcker nun noch tiefer zu pflügen: da glaubten sie sich mit seinen Worten auf eine unvergeßliche Weise in das Gesetz eingeschlossen, das über dieser Landschaft aufgeschlagen stand, und es machte nun nichts aus, ob sie es mit verschiedenen Namen benannten, weil Arbeit, Mühe und Sorge doch immer den gleichen Weg gingen, gleichviel, wie sie das Ziel nun heißen mochten.

Der Pfarrer hatte erreicht, daß keine Reden an der Gruft gehalten wurden, so daß also auch die Zwietracht der Zeit nicht verkleinernd über die ernste Stunde fiel. Nur die Glocken läuteten vom Dorf in der Runde, und als die Salven über die Toten hingegangen waren, als die Menge sich schweigend auf den Weg gemacht hatte und die Vereine und Bünde mit Fahnen und Bannern die Straße wieder hinabgeschritten waren, blieb die Stätte, wie sie gewesen war, schweigend und einsam, nur daß die Möwen jetzt hoch in der blauen Luft über ihr kreisten.

Sie blieben noch eine Weile dort oben stehen und sahen zu, wie die Fäden des Altweibersommers sich immer dichter an die Querhölzer der Kreuze hängten, so daß sie wie dünne weiße Schleier über der Steinkammer wehten.

Dann gingen sie hinter den anderen her. Marianne hatte seinen Arm genommen, und als sie den Eingang des Ortes erreichten, sagte sie: »Wir Jungen werden immer nichts gegen euch sein, Thomas … immer Schuldner und immer Unversehrte …«

Aber er schüttelte den Kopf. »Niemand weiß, was das Gesetz mit euch vorhat«, erwiderte er.

Sie gingen noch einmal über den Friedhof und aßen dann an dem kleinen Tisch, was man ihnen auftrug. Unter einem der nächsten Bäume saß der Oberst mit seinem Stabe und sprach nun wieder mit ungedämpfter Stimme.

Neben ihm saß eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, und empfing fast gelangweilt die Huldigungen des alten Soldaten wie der jüngeren Herren, die an dem Tische saßen. Es war aus vielem mit Sicherheit zu erraten, daß sie die Frau des Obersten war.

Thomas erzählte von dem Kriegsspiel, zu dem Bildermann ihn damals mitgenommen hatte, und daß die Begegnung mit diesem alten Krieger nicht durchaus freundschaftlich verlaufen sei. Er habe nicht geahnt, daß das Bild von ihm sich nun auf diese Weise abrunden werde.

Marianne sah still geradeaus, aber er merkte, daß jene Gruppe sie beschäftigte, und als der alte Landwehrhauptmann eine Weile bei ihnen saß, nicht ohne mit Verehrung von ihrem Großvater zu sprechen, fragte sie, ob es wahr sei, was Herr von Orla behauptet hätte, daß nämlich die junge Dame dort die Frau des Obersten sei.

Ja, das sei wahr, wie ein Standesamtsregister nur sein könne, und sie sei ja auch ganz passabel, wenn auch vorläufig nur wie ein Brachfeld. Aber im ganzen sei es doch etwas peinlich und wäre zu beider Wohl wahrscheinlich besser unterblieben.

Sie verabschiedeten sich dann bald, steuerten den Wagen etwas mühsam durch Fuhrwerke und Menschen und hatten bald die leere Straße vor sich, die weiß und gerade zu den ersten Wäldern hinaufführte.

Hier, im Schatten und in der Stille, verlangsamte Marianne die Fahrt und fragte, den Blick immer geradeaus gerichtet: »Ist es das, Thomas?«

Er hatte ihre Gedanken die ganze Zeit gelesen, und so antwortete er ohne Zögern: »Ja, das ist es.«

Unweit des Schlosses fragte er sie, ob sie mit ihm noch in das Grafenhaus fahren möchte. Sie hätten noch Zeit genug, den Tee auf der Terrasse zu trinken, und er möchte gern, daß sie aus dem Garten so viele Blumen mitnähme, wie der Wagen fasse. Es sei traurig, daß sie dort verwelkten, und es sei ihm, als müßten sie heute auch an den Grafen ein paar gute Gedanken wenden.

Sie empfanden, daß auch über diesem Stück Erde ein Zauber lag, wenn auch ein anderer als über der Insel. In der schrägen Sonne erschien ihnen der Garten wie eine einzige vielfarbige Flamme und der alte Gärtner wie ein Zauberer, der sich unversehrt mit Korb und Schere in ihr bewegte. Die Luft war so still, daß sie die Häher auf den fernen Kartoffelfeldern hörten und die Stimmen der Kinder auf dem Vorwerk.

»Kein Menschenleben vergeht aus seinem Raum«, sagte Thomas. »Auch das seinige nicht. Es ist noch alles erfüllt von ihm, jede Blume, jeder Strauch, und selbst der Horizont dort drüben erscheint mir als sein Horizont, so sehr ist er von seinen Blicken geformt und gesättigt.«

»Was unterscheidet uns denn, Thomas?«

Er führte sie lächelnd an den Tisch, den Friedrich herangeschoben hatte. »Daß ihr wiedersehen wollt, Kind, und wir nicht. Daß ihr meint, Gott habe ihn mit einem Knüppel erschlagen, und daß wir meinen, er gebe sich mit solchen Dingen nicht ab. Er hat nicht geglaubt, der Tote, und ihr meint, ja, ihr müßt meinen, daß er nun in der Hölle sei. Der Tod hat ihm keine Zeit gelassen, zu widerrufen, und auch wenn er Zeit gehabt hätte, würde er nicht widerrufen haben. Er nicht. Er ist ihm ohne Waffe entgegengegangen. Und wir meinen, daß es eine merkwürdige Hölle wäre, die mit seinesgleichen erfüllt würde.«

»Aber es sind doch Bilder, Thomas …«

»Ja, aber an den Bildern erkennt man den Maler.«

Nach dem Tee gingen sie zum Fluß hinunter und saßen auf einer Bank über dem hellen Wasser. Die Pappeln stiegen über ihnen steil in die blaue Luft, und mit der Strömung glitten welke Blätter an ihnen vorüber, die im Licht wie vergoldet schienen.

»Ich glaube, daß es schön sein wird, alt zu sein«, sagte Thomas. »Dort auf der Insel oder auch hier. Aber lieber noch auf der Insel. Man muß nur rechtzeitig die Fäden abknüpfen, damit die Schere nichts mehr zu zerschneiden hat. Dann wird man nur noch wie ein Blatt sein, das den Stamm schon verlassen hat. Ich glaube, daß nur die sich fürchten und wehren, die nicht fertig geworden sind. Aber er hat mir doch prophezeit, der Alte, daß ich fertig werde, nicht? Daß ich das Ganze nicht bekommen werde, sehe ich schon, aber wenn ich erkenne, daß es uns nicht bestimmt ist, von der Schöpfung aus nicht bestimmt, dann liegt kein Schmerz darin. Ich habe eben bis an die Grenze zu kommen, und das will ich versuchen.«

»Hast du vieles falsch gemacht, Thomas?«

»Ich glaube, ja. Das mit meinem Beruf und vieles mit Gloria und vielleicht auch mit Joachim. Aber es war nur falsch, wenn man vom Absoluten urteilt, und das soll man eigentlich nicht. Alles war nötig, damit dieses sein konnte, und dieses ist nötig, damit das sein kann, was noch kommen wird. Wir gehen immer etwas mit verbundenen Augen, aber nur die Toten reißen die Binde herunter.«

Sie hörten hinter der Biegung einen hellen, zwitschernden Ruf, und dann schoß der blaue kleine Vogel zu ihren Füßen über das Wasser hin, so schnell, daß sie nicht unterscheiden konnten, welches das Bild und welches das Spiegelbild war.

»Der Vogel …«, sagte sie leise. »Damals, als ich klein war, Thomas, da hast du nichts mehr falsch gemacht, nein?«

»Ich hoffe nicht«, erwiderte er und sah sie ernst an.

»Nein, du sollst nichts bedauern, Thomas. Aus jener Zeit nichts mehr. Du sollst nichts abstreichen von ihr, denn es ist das, wovon ich lebe, und wenn du es tust, streichst du es von meinem Leben ab.«

»Ich will nichts abstreichen, Marianne«, sagte er leise.

Die Sonne ging hinter den Wald, und sie standen auf. Ein dünner Nebel hob sich schon über die Wiesen, aber in den Dachfenstern des Hauses brannte noch rot das abendliche Licht. Der Kofferraum des Wagens war mit Blumen gefüllt, und auch auf dem Sitz lag ein Dahlienstrauß. Friedrich zog die Decke über ihren Knien zurecht. Sie sahen beide, wie welk seine Hände waren.

»Mühe mit uns gehabt, Friedrich«, sagte Thomas, »aber nun kommt ein stiller Abend.«

Der Diener lächelte. »Ich höre jetzt immer seine Füße, Herr von Orla. In der Bibliothek, auf und ab. Und manchmal klingt eine Saite im Instrument.«

»Sie sind zuviel allein, Friedrich.«

Er schüttelte respektvoll den Kopf. »Wir waren immer allein, Herr von Orla, der selige Herr Graf und ich. Ich denke immer, daß er mir die Botschaft schicken wird, an den Kamin. Aber wir sind zu ungeduldig, auch mit weißen Haaren.« Dann schloß er die Tür und trat zurück.

Als der Weg sich hinter dem Tor wendete, sahen sie ihn noch einmal. Er sah klein und zerbrechlich aus vor dem großen Haus mit dem schweren Dach, und wie er die Hand auf den Türgriff legte und sie öffnete, konnte man meinen, daß er in eine Grabkammer trete und der Stein falle hinter ihm zu.

»Du mußt ab und zu mit mir herkommen«, sagte Thomas. »Auch Häuser verfallen, wenn man sie nicht ansieht.«

Sie nickte, aber sie sagte, daß sie sich immer fürchten werde. Es sei ein Haus ohne Gott. – Und doch so erfüllt mit Götterbildern, meinte er lächelnd.

Der General stand am Tor und hatte auf sie gewartet. »Langer Tag für einen alten Mann«, sagte er. »Die Sperber euch immer gegen einen Baum fahren sehen. Habe gesagt, gebe gar nicht so viel Bäume bei uns, wie sie vor dem Wagen sehe.«

Sie trugen die Blumen in die Halle, und Marianne brachte den Wagen fort.

»Sah wie ein Brautwagen aus, Orla. Wünschte, der liebe Gott hätte die Jahre ein bißchen anders verteilt. Kleinigkeit für ihn.«

Sie wollten ihm nun nicht ins Handwerk pfuschen, meinte Thomas still.

Nachher, vor dem Feuer, als die Blumen in den Vasen und Schalen standen, fragte Marianne, ob er den Oberst kenne, der ihn einen alten Knaben nenne.

»Dreimal gesehen«, erwiderte der General. »Hieß im Westen der Salmiakgeist. Kein Auge tränenleer, wo er erschien. ›Zackig‹, würden die jungen Leute sagen.«

Ja, er sei nun verheiratet, fuhr Marianne fort. Mit einer Zwanzigjährigen vielleicht. Sie hätten am Nebentisch gesessen.

Der General sah sie unruhig an.

»Es sah nicht hübsch aus, Thomas, nicht wahr?«

»Nein«, sagte er ruhig, »und in zehn Jahren wird es noch weniger hübsch aussehen.«

»Er war drei Jahre jünger als ich«, sagte Tante Mieze unschuldig, »und das war auch nicht gut.«

Aber der General sah sie böse an, daß sie erschreckt verstummte.

Marianne blickte von einem zum andern. »Wir haben heute einen Vertrag geschlossen, wir beide, nicht wahr, Thomas?« – Er nickte.

»Allzeit in Treue zu seiner Herrschaft zu stehen, ja, Thomas?«

»Jawohl. Und in Bedürfnissen des Leibes und der Seele gut und geachtet gehalten zu werden.«

»Und der Vertrag ist unkündbar, Großvater, hörst du? Ein Vertrag auf Lebenszeit!«

Sie stand auf und ging einmal die Reihe der Bilder entlang, die Hände auf dem Rücken, wie sie es als Kind getan hatte. Dann kam sie zurück und stellte die Halmafiguren auf das große Brett.

Zu Beginn der nächsten Woche bekam Thomas einen Brief von Joachim. Er war länger als die üblichen, und es schien ihm, als wiege er auf eine besondere Weise schwer in seiner Hand. Joachim erzählte, daß ihnen eine unangenehme Sache passiert sei. Es sei die ganze letzte Zeit im Hafenviertel unruhig gewesen. Sie hätten lange keinen Ausgang gehabt, und auch als er wieder gestattet wurde, hätten sie Befehl gehabt, sich zusammenzuhalten und jeden Zusammenstoß zu vermeiden.

»Nun waren wir aber vor ein paar Wochen bei einem der Ausbildungsoffiziere eingeladen, zehn von uns«, fuhr er fort, »und wir mußten natürlich in Uniform antreten. Wir haben nicht viel getrunken und gingen ordentlich wieder an Bord, etwas laut vielleicht, aber durchaus in Ordnung. Die Roten müssen es gewußt haben, denn am Ausgang der Anlagen fielen sie über uns her. Wir stellten uns gleich Rücken an Rücken, und da wir unsere Dolche hatten, haben wir es ihnen ganz sauber besorgt. Am Schluß wurden wir zwar etwas zersprengt, aber sie hatten schon genug, und alles wäre prima gewesen, wenn nicht einer von uns sich dämlich benommen hätte. Er fing an, eine Ansprache zu halten, ob sie sich nicht schämten, als Deutsche über Deutsche herzufallen, und ob es mit dem Haß der Stände in alle Ewigkeit fortgehen solle, und so weiter.

Aber einer hatte die Gelegenheit benützt, sich hinten herangemacht und hob nun den Knüppel. Ich war gerade mit meinem letzten ›Kontrahenten‹ fertig geworden und sah die Bescherung kommen. Ich rief den anderen zu, aber es war schon geschehen. Wir trugen ihn an Bord, und er liegt noch immer im Lazarett. Schädelbruch und so weiter. Die Ärzte meinen aber, daß er durch ist.«

Thomas ließ den Brief sinken und stopfte seine Pfeife. Er wußte genau, was nun kommen würde, und er sah auch fast unbeteiligt zu, wie seine Hand mit dem Streichholz etwas zitterte.

Die Sache sei nun die, fuhr Joachim fort, daß der Überfallene, ein Finckenstein, ihm überall in die Quere gekommen sei. Er sei durch irgendwelche Umstände spät zur Marine gekommen, also ein paar Jahre älter als die meisten, begabt und ordentlich, aber immer abseits. Lese merkwürdige Bücher, spiele Geige und so weiter. Sie hätten einander nie gemocht, und wenn er, Joachim, gegen den andern einmal unterlegen sei, so sei jener nicht froh gewesen, wie man es erwarten könnte, sondern habe mit gänzlich unbeteiligtem Gesicht den Kranz empfangen. Als stehe er ihm zu und alles andere sei ein Irrtum. Sie seien also, ohne Absicht eigentlich, fast Konkurrenten gewesen, und die anderen hätten immer zwei Lager gebildet.

Aber weshalb er mir das alles schreibt? dachte Thomas mit wachsender Unruhe.

»Auch ich habe ihn natürlich besucht«, erzählte Joachim weiter. »Es gehört sich doch so. Aber da, als die anderen schon gingen, hielt er mich zurück und sah mich eine Weile an. Es war alles noch mit weißen Binden umwickelt, und seine Augen sahen fatal aus. ›Ich möchte gern wissen, Orla‹, sagte er, ›weshalb Sie es nicht verhindert haben.‹ Wir sagen natürlich alle du zueinander, und das Sie war schon eine seiner üblichen Impertinenzen. ›Ich habe Sie angesehen, kurz bevor der Schlag fiel, und ich sah an Ihren Augen, daß Sie es sahen. Auch daß Sie den Schlag kommen sahen. Ich bedaure nicht, daß ich niedergeschlagen wurde oder daß Sie mir nicht geholfen haben. Ich möchte nur gern den Grund wissen. Es interessiert mich, vom Psychologischen her. Oder auch vom Sittlichen, wie Sie wollen.‹ Da hast Du wieder diese Redensarten.«

Nun, er habe es ihm natürlich ausgeredet. Er sei erschöpft gewesen wie sie alle, und dieser letzte Überfall sei ihm so plötzlich gekommen, daß er eine halbe Sekunde zu spät reagiert habe.

»›Das ist schön‹, hat Finckenstein gesagt. ›Ich dachte schon, Sie hätten zugesehen, damit ich Ihnen aus dem Wege komme. Wenigstens für diesen Examenstermin. Und das würde mich sehr traurig gemacht haben für Sie.‹

Und nun kommt die Hauptsache, lieber Vater. Ich war natürlich perplex und zuerst auch wütend. Aber dann wollte ich der Sache doch nicht aus dem Wege gehen, innerlich, meine ich. Ich habe mir alles noch einmal vorgestellt, und mir ist klargeworden, daß ich es hätte verhindern können. So ehrlich muß man gegen sich selbst schon sein. Ich hätte die halbe Sekunde nicht gebraucht, wenn es ein anderer gewesen wäre. Verstehst Du? Darauf kommt es an. Es ist natürlich Unsinn, daß ich an das Examen gedacht habe, darauf gebe ich Dir mein Ehrenwort. Ich habe überhaupt nichts gedacht. Aber ich hatte zu überwinden, daß gerade er es war. Verstehst Du mich? Es liegt mir viel daran, daß Du gerade das verstehst. Es gab eine Hemmung, nicht des Denkens, sondern des Gefühls. Nur ein paar Herzschläge lang, und das hat eben ausgereicht. Es tut mir leid, aber ich kann es nicht mehr ändern.

Ich schreibe Dir, damit Du mir rätst, was ich nun tun soll. Es könnte sein, daß er eine Meldung macht, und wenn ich auch ruhig wiederholen kann, was ich hier geschrieben habe, so würde es vor dem Examen doch sehr fatal sein. Es hat sowieso Stunk genug gegeben wegen dieser Affäre. Im Lazarett bin ich nicht mehr gewesen und will auch nicht hin.«

Thomas faltete die Bogen sorgfältig zusammen und klopfte seine Pfeife aus. So war es also. Es hätte schlimmer sein können, aber auch dieses war schon schlimm genug. Es war nicht nur »fatal«. Aber es war sehr seltsam, wie das Schicksal in Varianten spielte. Es wiederholte die halbe Sekunde des Zögerns, wenn es auch die Motive verschob. Es war ihm nicht zweifelhaft, daß Joachim die Wahrheit sprach. Daß er nicht gedacht hatte, sondern ein Gefühl überwinden mußte. Nur hatte er vergessen, die Wurzeln dieses Gefühls bloßzulegen, und er, Thomas, wußte, wohin sie reichten.

Es wäre ihm lieber gewesen, Joachim läge unter den weißen Binden und machte sich Sorgen um das »Sittliche«. Aber er machte sich Sorgen um die Karriere (sehr große Sorgen! Weshalb sonst diese Beichte?), und das Sittliche lag eben »abseits«.

Ein Kind kann wie ein Schwert über uns sein, dachte er zum Schluß.

Dann schob er es für eine Weile beiseite und ging mit Hacke und Korb auf das Kartoffelfeld.

Er antwortete erst am nächsten Morgen. Er sei davon überzeugt, schrieb er, daß Joachim die Wahrheit gesagt habe. Er wolle nicht untersuchen, ob er als Offizier richtig gehandelt habe. Aber dies wolle er nicht nur untersuchen, sondern behaupten, daß er als ein sittlicher Mensch etwas versäumt habe. Wohlgemerkt: nach seinen altmodischen Maßstäben gerechnet. Aber Joachim sei jung, und die letzten Maßstäbe seien an das Alter anzulegen und nicht an die Jugend.

Wenn er glaube, daß der Verletzte eine Meldung erstatten werde, so sei er in einem großen Irrtum befangen. Wenn das also seine Sorge sei, so könne er ohne Sorgen leben. Wenn er aber darüber hinaus eine Sorge habe (und das wünsche er, Thomas, von Herzen), so würde er sofort nach Empfang dieses Briefes ins Lazarett gehen und dem Kranken wiederholen, was er in seinem Bericht ihm, Thomas, mitgeteilt habe. Ohne Abzüge und Beschönigung. Damit ließe sich ein Teil der versäumten Sekunde einholen. Nicht das Ganze, aber ein Teil.

Ob er darin eine Warnung des Schicksals erkennen werde, wisse er nicht. Er selbst sehe sie, aber er müsse zugeben, daß er vierzig Jahre gebraucht habe, um die Hand des Schicksals zu sehen. Allerdings habe sie ihm auch niemand gezeigt. Den jungen Grafen bitte er zu grüßen.

Nach einer Weile fügte er noch eine Nachschrift hinzu. »Ich freue mich, daß Du es mir geschrieben hast, Joachim. Aber ich freue mich noch mehr, daß Du nicht vor Dir selbst ausgewichen bist. Die Zerstörung eines Lebens kann vom kleinsten Punkte aus erfolgen. Nimm es nun weder zu leicht noch zu schwer. Beschädigt gehen wir alle aus solchen Dingen hervor, aber nichts ist verloren, solange wir wahrhaftig aus ihnen hervorgehen. Und solange Du mir solche Dinge schreibst, weiß ich, daß wir zueinander gehören.«

An den Grafen schrieb er am gleichen Tage und bat ihn, seinen Genesungsurlaub, wenn er Zeit und Neigung habe, bei ihm auf der Insel zu verbringen. Es sei nach dem, was er sich von ihm denke, wahrscheinlich, daß sie gut miteinander auskommen würden.

Joachim bedankte sich, schrieb, daß er ausgeführt habe, was ihm aufgetragen sei, und daß er denke, die ganze Affäre sei nun erledigt. Zwei Wochen später kam Finckenstein.

Bildermann holte ihn mit dem Segelboot ab, und als sie ausstiegen, nickte er Thomas fröhlich zu. Mit diesem Gast sei das durchaus in Ordnung, besagte seine Miene.

Nach ein paar Tagen gab es niemanden, der nicht der gleichen Meinung gewesen wäre. Der Kranke war schweigsam und ein wenig unsicher, als sei er von den dunklen Gestaden noch nicht recht heimgekehrt. Aber sobald man zu ihm sprach, öffnete sein Gesicht sich in einem wunderbaren Zutrauen, das auf den Sprechenden zurückstrahlte, und es war nur natürlich, daß Tante Mieze nach drei Tagen die schmerzliche Geschichte des »Schönen« erzählte.

Er hatte keine Eltern mehr, war von Verwandten erzogen worden und hatte es erst mit der Rechtswissenschaft versucht. Doch war er schon in den ersten Semestern mit seinen Gedankengängen überall angestoßen, da er weder die Härte früherer Rechtsprechung noch die verschwommene Humanität der neuen Zeit billigen konnte.

Auch bekannte er, daß er sich seine Kommilitonen nur mit Schrecken als künftige Richter habe vorstellen können, und so habe er nach einem Beruf gesucht, wo das Menschliche gleichsam auf die einfachsten Formeln zurückgedrängt und beschränkt sei und wo nur die kühle Pflicht als eine Richtschnur über Leben und Handeln stehe. Und als solch ein Beruf sei ihm der des Offiziers erschienen, zumal der des Seeoffiziers, der durch das Element, dem er hingegeben sei, noch die Weite ursprünglichen Lebens bewahrt habe.

Aber auch da stimmte wahrscheinlich einiges in der Rechnung nicht, meinte Thomas.

Er gab das mit einiger Befangenheit zu, aber er glaube, daß das mehr an ihm als an den Dingen liege. Wer abseits stehe, dürfe die Schuld nicht immer bei den anderen suchen. Er wisse, daß die Jugend heute noch vielfach wie ein Pfeil ohne Ziel sei. Ihr altes Haus sei abgebrochen und das neue noch nicht da. Sie seien alle wie Söhne reicher Eltern, die plötzlich bankrott gemacht hätten, und die meisten seien der Meinung, daß das bei anständigen Eltern nicht vorkommen dürfe. Er selbst aber glaube, daß Söhne wie Eltern ihre Last zu tragen hätten und daß die Söhne verpflichtet seien, die größere zu tragen, da ihre Schultern jünger seien.

Er wolle nicht prophezeien, erwiderte Thomas, aber es scheine ihm, als werde er auch für diesen Beruf noch vieles zu lernen haben. Bei allen großen Gemeinschaften oder Bünden sei dem einzelnen immer nur ein bestimmter Spielraum gelassen. Wolle man nun im Sittlichen ganz auf eigenen Wegen gehen, so werde alle Unterordnung einem unmöglich scheinen, da man meine, sich wohl einer fremden Sitte, aber fast niemals einer fremden Sittlichkeit fügen zu können. Für einen Offizier aber sei es unerläßlich, ein Gesetz über sich anzuerkennen, auch wenn es Dinge umfasse, die man ungern einem Gesetz unterordne.

Ja, sagte Finckenstein verlegen, er müsse wohl nachtragen, daß die beiden Bücher, die Herr von Orla geschrieben habe, von sehr großer Bedeutung für ihn gewesen seien und daß er (hier suchte er lange nach Worten) Joachims Bild nicht ganz in die Welt habe einfügen können, aus der diese Bücher doch herkämen.

»Sie wollen sagen, daß er Ihnen geringer als die Bücher erschienen sei?«

»›Geringer‹ dürfte ich nun wohl nicht sagen, Herr von Orla. Aber ganz anders, ganz ohne Probleme außer dem einer guten Karriere.«

»Vergessen Sie eines nicht, Finckenstein: Ein Buch kommt aus uns heraus als unser ganz eigener Besitz. Wir sind Vater und Mutter dieses Buches, und es ist nur von unserem eigenen Blut erfüllt. Aber wo kommen die Kinder her? Aus wieviel verborgenen Quellen fließt ihr Blut zusammen? Unterirdischen Quellen, und wer von uns weiß, durch welche Reiche sie geflossen sind, ehe sie erscheinen? Auch sind wir schuldig an jedem Menschen unserer Zeit, und an Joachim habe ich vieles versäumt. Als ich es erkannte, war es schon zu spät, und ich weiß nicht einmal, ob es nicht immer zu spät für uns ist. Mir ist so vieles fraglich geworden in diesen Jahren  …«

»Aber hier, in dem Bezirk, den Sie erfüllen, scheint mir nichts fraglich, Herr von Orla. Ich glaube, daß es der erste Ort auf der Erde ist, den ich kenne, wo alles an seinem Platz ist und wo selbst ein Fremder wie ich nichts verkehrt machen kann.«

Thomas schüttelte den Kopf. »Es ist wohl noch nicht alles an seinem Platz, aber es ist schon wahr, daß wir uns Mühe geben.«

Dann sah er ihm nach, wie er zu den Booten hinunterging, um etwas zu rudern, groß, schlank, mit seinen ruhigen Bewegungen, die ihn immer an Zweige erinnerten, durch die der Wind ging. Er verhehlte es sich nicht, daß von dem Bilde dieses jungen Menschen ein tiefer Trost auf ihn überging. Die Gewißheit, daß man ruhig sterben könne, und immer würden ein paar Menschen dasein, die den Pflug wieder in die Hand nahmen. Man brauchte ihnen nichts zu sagen, von dem Felde, das man sich vorgenommen hatte, von der Saat, die man erspart hatte: sie würden die Furche zu Ende pflügen und die Saat genau dort aussäen, wo man selbst es gewollt hatte. Es gab so etwas wie einen leitenden Faden, der durch das Gewebe lief. Die Schöpfung sorgte von selbst dafür, daß nichts abriß, was nach ihrem Wesen suchte.

Marianne war viel bei ihnen, nachdem die Ernte eingebracht war. Sie fand, daß der Besuch so war, wie es sich für die Insel gehöre, aber sie sah nun Thomas mitunter von der Seite an, als habe sie ein neues Rätsel an ihm entdeckt, und als Finckensteins Urlaub abgelaufen war und die kürzer werdenden Tage nun wieder liefen wie immer, fragte sie ihn einmal, weshalb er diesen Besuch eigentlich eingeladen habe.

Er sah sie erstaunt an, sah ihr zugeschlossenes Gesicht und ahnte, was sie bewegte. Er nahm Joachims Brief aus der Tasche, wo er ihn immer noch trug, und reichte ihn ihr. Es war zwischen ihnen noch niemals die Rede von ihm gewesen.

Sie las ihn schweigend, und nur die Kette über ihrer Kehle bewegte sich ab und zu wie in ihren Kindertagen. Dann legte sie den Brief auf die Tischplatte und sah auf das Wasser hinaus. »Vergib mir, Thomas«, sagte sie endlich.

Ja, sagte er später, er wünschte wohl manchmal, daß Joachim manches von diesem Gast hätte, aber das seien so Wünsche aus vergangener Zeit. Bestimmte Dinge hole man mit fünfzig Jahren nicht mehr ein. Auch sei er fröhlich geworden durch diesen jungen Menschen, wahrscheinlich so, wie ein Astronom am Fernrohr fröhlich sei über einen neuen Stern. Das Unerschöpfliche der Schöpfung trete wieder einmal zutage, und wenn wir in unserem Becher schon den Boden sähen, sei es gut, zu wissen, daß in unzähligen anderen der Wein noch über den Rand fließe. Und wenn auch nicht in unzähligen, so doch in zweien oder dreien.

»Siehst du den Boden, Thomas?«

»Ja, Kind, es wäre wohl nicht gut, wenn man mit fünfzig Jahren nur sein Spiegelbild sähe.«


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