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7

Ein Mann in abgetragener Matrosenuniform wandert über die weißen Landstraßen nach Osten. Die Haut seines Gesichtes ist vom vielen Regen gewaschen und von vielen Sonnen getrocknet und gebräunt. Die Augen sind grau und ruhig. Sie leuchten nicht, wenn ein Regenbogen von Wäldern zu Wäldern sich spannt, und die dampfende Ebene liegt groß und herrlich unter dem siebenfarbigen Licht. Sie blicken nicht unlustig oder verzagt, wenn der Nebel sich in ihre Wimpern hängt, wenn der Schmutz der Straße sich durch seine Schuhe frißt oder die Stürme der Tag- und Nachtgleiche ihm die welken Birkenblätter ins Gesicht treiben. Sie blicken ruhig und kühl vor sich hin, immer wachsam und nie verwundert. Sie lesen die Zahlen auf den Kilometersteinen, und an jedem Morgen und Abend sehen sie einmal in die große und altertümliche Karte, die er in seiner Bluse trägt.

Sie sehen die trügerischen Fassaden des Wohlstandes und den leisen Zerfall, der die Straße begleitet, Häuser, Felder und Menschen. Sie sehen zu, wie auf den großen Gütern gearbeitet oder gefeiert wird, wie die leeren Kähne auf den Strömen liegen und ihre Planken verrotten; wie in den Wirtshäusern die Grammophonplatten sich kreischend drehen und die Musikautomaten donnern, indes die Lust des Tanzes etwas Gejagtes und Atemloses hat, als stehe vor den blinden und zerschlagenen Fensterscheiben ein Gesicht und sehe zu. Eins aus den fernen Gräbern, mit Erde auf der Stirn und einem finsteren Staunen über den Wechsel der Welt.

Auch alle die anderen Wandernden betrachten die Augen mit ihrem stillen Blick, die ihnen entgegenkommen aus der östlichen Leere und dahin treiben, wo es vielleicht mehr Licht und mehr Wärme geben wird, wo der düstere, gewaltige Himmel nicht sein wird, mit seinen zerrissenen Wolken und den drohenden Sonnenuntergängen, sondern wo die bunten Lichter über die Dächer gleiten und Kreise und Buchstaben bilden und wo die furchtbare Not des täglichen Lebens sich in ein Märchen verwandeln wird, des Glanzes, des Reichtums und vielleicht der Macht.

Er betrachtet sie alle, diese Entgegenkommenden, junge und alte Gesichter, reine und verwüstete. Er wechselt auch einzelne Worte mit ihnen, wenn man ihn fragt, aber er äußert keine Meinung über das, was sie erwarten, höchstens, daß er einmal sagt, Brot werde immer noch aus Roggen gebacken und, wenn es hoch komme, aus Weizen, oder daß die Ströme immer noch zu Tal flössen und nicht bergauf. Dann nickt er ihnen zu, und die langen schwarzen Mützenbänder fliegen mit dem Westwind vor ihm her.

Seine Papiere sind in Ordnung, aber es scheint, daß sein Gewand alle Sorten von Menschen anzieht, die mit den zurückgeschobenen Mützen und ebenso die mit glänzenden Helmen auf dem Kopf und einer Dienstpistole im Koppel. Der ersten entledigt er sich schnell, die anderen aber sind beharrlicher und wollen von ihm wissen, was ein Mensch auf einer Straße aussagen kann. Er gibt geduldig Auskunft, indes seine Augen ohne besonderen Ausdruck die Reihe der blankgeputzten Knöpfe hinauf- und hinuntergleiten. Aber dieser Mangel an Ausdruck wird ihm nicht gut angeschrieben, und er muß sogar bisweilen das Geld in seinem Brustbeutel vorweisen, ob er nicht etwa sich mit Bettelei ernähre. »Ehrlich verdient!« pflegt er dann zu sagen, wobei er das erste Wort auf eine Weise betont, die dem Fragenden höchlichst mißfällt.

Wenn er gut aufgelegt ist, was mitunter vorkommt, kann er auch auf die Frage, was er hier treibe oder zu suchen habe, mit stiller Heiterkeit antworten:

»Es liegt ein sanfter, milder Bann
auf Friedrich Wilhelm Bildermann.«

Wobei seine Augen nachdenklich die Helmspitze oder den Tschako des Landjägers betrachten.

Wer Humor hat, lächelt dann und macht sich davon. Aber es gibt wenig Humor in dieser Zeit. Die niedrigen Wolken drücken auf das Gemüt des Menschen, die ausgeschlagenen Fenster der Fabriken starren mit toten Augen auf die Straße, und hier und da stehen unbespannte Pflüge auf den halb umgebrochenen Feldern, und an Dorfeingängen und vor den Gutstoren stehen Halbwüchsige, die Hände in den Taschen, und starren dem Wandernden finster oder zweifelnd nach.

Aber es ficht ihn nichts an. Wie ein pferdloser Ritter geht er zwischen Tod und Teufel seine Straße, die Augen immer nach Osten gewendet, als suche er am kalten Horizont die Türme eines gelobten Landes. Vor einer Woche, als der erste schwere Herbstregen auf sein Laubendach gefallen ist, als die Telegraphendrähte zwischen den nassen Masten im Sturm gesungen haben und der Rauch aus dem kleinen Kanonenofen zurückgeschlagen ist, bis seine Augen getränt haben, hat er gewußt, daß der Kapitän ihn nun brauchen werde. Weder die Frau mit den roten Lippen und dem blitzenden Wagen noch den jungen Herrn, der die Arme über die Brust verschränkt, wenn er durch die stillen Vorortstraßen radelt, sondern ihn allein, den Obermatrosen außer Dienst Friedrich Wilhelm Bildermann, der alle Öfen heizen kann, die es gibt, der Geschirr waschen und Fußböden scheuern kann, der einen Monat schweigen kann, wenn es befohlen ist, der die Ziehharmonika spielt und im freien Ringkampf seinesgleichen sucht, der gute und böse Jahre erlebt hat, Schiffsuntergang und Kriegsgefangenschaft, Stacheldraht und Flucht, aber dessen Augen immer die gleichen geblieben sind, grau, kühl und wachsam, und aus denen doch mitunter ein warmer Schein aufspringen kann wie eine schöne Flamme, wenn ein Wort oder ein Blick durch die wilden farbigen Bilder seiner Haut bis in sein Herz fällt.

So hat er seine Schiffskiste gepackt und zur Bahn gebracht, hat seine Decke auf den Rücken geschnallt und seinen Brotbeutel darübergehängt, hat im ersten Gehölz einen Stock geschnitten und wandert nun seine Straße in ein Land, von dem er nur hat reden hören als von einem Eisfeld, in dem die Menschen nicht sprächen, sondern bellten.

Er schläft in Scheunen und Pferdeställen und oft genug in den Heuschobern auf den Wiesen. Sein Tisch ist schnell gedeckt, und auch das Hungern hat er hinter der Kreideküste gelernt. Er ist gut zu Fuß und braucht für Leben und Sterben keinen anderen Trost als seine kurze Pfeife. Er kennt eine Menge von Liedern, die er vor sich hinsummt, auch englische und amerikanische, mit etwas verstümmeltem Text. Schanties aus seiner Segelschiffzeit und langgezogene, schwermütige aus seiner Gefangenenzeit, und wenn der Regen ihm am Halse hinein- und an den Schuhen herausläuft, spuckt er nur aus und sagt »Schiet!«, und damit ist sein Groll zu Ende.

An der Grenze des fremden Landes, das sich in das Reich hineinschiebt, überlegt er eine Weile, ob er nun der Eisenbahn etwas zu verdienen geben soll, aber dann erinnert er sich, wie er die Kreideküste verlassen hat und daß, was bei den Tommies gegangen ist, hier ja erst recht gehen müsse, schlägt sich also in die dünnen Kiefernwälder, schläft bei Tage und wandert bei Nacht, immer auf dem Ausguck, findet nach einigem Suchen ein halb leckes Boot am Ufer des großen Stromes, wird von der wilden Strömung weit fortgerissen und bringt das Ganze dann doch glücklich hinter sich, mit aufgeweichtem Brot und auseinanderfließendem Tabak, trocknet sich an einem Kartoffelfeuer, beschenkt sich mit einem Schnaps aus einem Wasserglas statt der ersparten Bahnfahrt, findet das Land trotz Nebel und Verlassenheit gar nicht unrecht und steht endlich eines Oktoberabends tief aufatmend auf dem Schloßhof vor einem kleinen Fräulein oder einer jungen Dame, die aus einem der Ställe auf die Treppe zugeht, und die ihm bestätigt, daß dies das Schloß sei, das er suche, weil auf seiner Karte, die er wie ein Segel ausgebreitet hat, weder Förstereien noch Inseln eingezeichnet seien, sondern eben nur besondere Wohnstätten. Und da der junge Herr Joachim ihm gesagt habe, von hier sei es am leichtesten, so sei er eben hierher gekommen, und der Rest werde (»verdammich!«) wohl auch noch zu bewältigen sein.

»Joachim?« fragte die junge Dame und sieht ihn freundlich an wie einen neuen Bernhardiner. »Was für ein Joachim?«

»Joachim von … Joachim Orla, jawohl!« Und dessen Vater suche er, den Steuermann außer Diensten Thomas Orla.

Die junge Dame zieht die Augenbrauen hoch, und dann lächelt sie. Ihr ernstes Gesicht ist ganz verwandelt, und der frierende und müde Obermatrose fühlt sich plötzlich warm und geborgen, der Weitgereiste und Vielerfahrene unter dem Lächeln eines Kindes, das die Hand auf seinen groben Ärmel legt und ohne Verwunderung sagt: »So bist du Bildermann?«

»Jawoll!« erwidert er, gut aufgelegt. »Es liegt ein sanfter, milder Bann auf Friedrich Wilhelm Bildermann.«

Sie lauscht, als ob eine Spieluhr unter seiner Bluse zu tönen begonnen habe, dann strahlt ihr Gesicht, und sie bittet ihn, das noch einmal zu sagen.

Er würde es gern hundertmal für sie sagen, aber sie ist mit einer Wiederholung zufrieden, nimmt ihn ruhig bei der Hand, die nicht sehr sauber ist und die er vergeblich noch schnell abzuwischen sucht, und führt ihn am Haus vorbei durch den Park, zum Ufer, wo die Boote liegen. Dort deutet sie auf die Waldecke zur Linken und sagt: »Von dort wirst du sie sehen. Nordnordwest. Und um diese Zeit sind seine Fenster schon hell.«

»Nordnordwest …«, wiederholt er voller Bewunderung.

»Er ist sehr allein«, sagt sie nachdenklich und blickt in die Dämmerung hinaus.

»Der Kapitän war immer allein«, erwidert er, »der Steuermann meine ich.«

»Du kannst ruhig ›Kapitän‹ sagen.«

»Jawoll … immer allein, auch auf einem Schiff mit tausend Mann. Auch zu Hause. Überall. Wie ein Brett auf dem Ozean.«

»Ja, und deshalb kommst du?«

»Jawoll, wenn es Herbst wird, wird es immer schwierig. Kenne das  … prisoner of war, kleines Fräulein … Bildermann weiß Bescheid.«

»Und wie bist du hergekommen?«

»Zu Fuß, kleines Fräulein … it's a long way to Tipperary … aber nun sind wir da!«

»Ja, nun sind wir da«, wiederholte sie, »und nun bleiben wir da, Bildermann, nicht wahr?«

» For ever, kleines Fräulein!« sagt er.

Sie legt ihre kleine Hand in die seine, und sie wissen, daß sie einen Vertrag schließen. Es ist ihm ein bißchen wie ein Traum, die Landschaft und dieses Kind. Die weiße Straße läuft immer noch vor seinen Augen hügelauf und hügelab, und seine Füße brennen. Aber hier ist das Wasser, eisengrau, mit hellen, kalten Lichtbändern weiter draußen, ein schwarzer Wald, aus dem die Eulen rufen und über dem der Nachtglanz eines wilden Abendrotes steht, Entengeschwader, die mit hellem Klingeln über sie dahinfahren, und dieses Kind, das wie eine große Dame neben ihm steht und nachdenklich nach Nordnordwesten blickt, wo das Licht über dem Wasser stehen soll.

Dann steigt er ein und fährt ab. Die Ruder liegen leicht in seiner Hand, und eine Weile noch sieht er die dunkle Gestalt unbeweglich vor der gelben Wand des Parkes. Sie verschwimmt und löst sich in der Dämmerung auf, ehe er die Waldecke erreicht. Aber er meint zu wissen, daß sie noch da ist, solange sein Boot zu sehen ist. Hinter dem Walde nimmt er die Ruder aus den Dollen, legt das eine auf den Boden und setzt sich mit dem anderen ins Heck. Alles ist nun plötzlich weit und groß geworden, der Himmel, der See, das Abendrot. Der Saum der Wälder verfließt schon mit der Dunkelheit, und auf der grauen Fläche, der Luft oder des Wassers, liegt in der Ferne ein dunkler Hügel, aus dem ein Licht in den Abend scheint. Zuweilen zittert es wie ein Stern über dem Horizont, dann brennt es wieder mit ruhiger, gelber Flamme, und mitunter ist es gar nicht zu sehen, als ob ein Baum oder eine Wolke es verhülle. Es ist wie ein Licht aus einem dunklen Schiff, das da vor Anker liegt, ganz allein im grauen Abend, und nur ein einziger Mann mag dort vor dem Mast stehen und warten, ob der Abend ihm noch etwas schenke.

Plötzlich wird es Bildermann schwer ums Herz. Nicht daß das ungeheure Schweigen ihn bedrückt oder die große Trauer des Abends. Er hat Schweigen genug in seinem Leben gehabt, und er weiß, wie es ist, wenn man durch die Bänder des Stacheldrahtes in einen fremden Abendhimmel blickt. Er weiß auch, wie es ist, wenn der Regen auf ein dünnes Laubendach fällt oder auf die schrägen Bretter über einem Heuschober, und wie das Herz schwer und langsam in der Stille klopft, ganz für sich, und niemand ist da, der ihn fragt, ob es gut tue, so allein zu sein. Er hat das nicht die »Trauer des Abends« genannt, wenn der Schritt der Posten über das Gras der Heide ging oder der Ton einer fernen Harmonika über die schmalen Wege des Laubenviertels. Er hat es gar nicht genannt, aber er hat es gewußt, was es ist: der leise Hunger, immer da und nagend wie ein dumpfer Schmerz, das feuchte Frösteln, das über den Rücken läuft, auch wenn man die Hände über den erkaltenden Ofen legt, und das schwere Herz, um nichts Besonderes schwer als darum, daß es nun so ist, daß der Morgen grau heraufkommen und der Abend grau dahingehen wird, und die müßigen Hände haben nichts als einen Span, an dem sie schnitzen, kein Schiffstau, keinen Geschützverschluß und keine Menschenhand. Die Öde des Lebens, wo Anfang und Ende sich im Grauen verlieren, kein Befehl, kein Weckruf, kein Lachen, kein Weinen, nur das Rad, das sich lautlos dreht, und nirgends ist Anfang und nirgends ist Ende.

Er weiß nicht einmal, ob er an den Kapitän denkt oder an sich. Die Reise ist zu Ende, die Feder ist abgelaufen, er ist fast blind vor sich hingegangen, Tage und Nächte, und nun scheint das Licht über das Wasser, und er weiß gar nicht, ob es sein Licht ist. Friedrich Wilhelm Bildermann, unerschütterlich in Krieg und Frieden, hält das nasse Ruder über seinen Knien und sieht nach rechts und links, ob er nicht umdrehen und in den Wäldern verschwinden solle.

»Und nun bleiben wir da, Bildermann, nicht wahr?«

» For ever, kleines Fräulein!«

»Verdammich!« Er spuckt in das schwarze Wasser und schlägt das Ruder hinein, daß der Kiel nach der Seite fährt. Daß die Menschen hier bellen sollen, hat er zwar nicht bemerkt, denkt er, aber daß Gespenster hier umgehen, das scheint ihm klar wie Priemsaft.

Das Licht wächst, und je näher es kommt, so nahe, daß die Fenster schon wie von dünnen Fadenkreuzen geteilt erscheinen, desto ruhiger fällt der gelbe Schein in den Abend, ein klares Licht, um das keine Sorgen stehen, ein Licht über den Blättern eines Buches oder über einem Briefbogen, gerichtet an den Obermatrosen Bildermann, oder nur über zwei Menschenhänden, die ruhig auf den Knien liegen, müde von einem ordentlichen Tagewerk.

Er riecht das welke Eichenlaub und frisches Holz, durch das die Säge gegangen ist. Er findet den Anlegeplatz, macht das Boot leise fest, nimmt die Ruder, Decke und Brotbeutel und klopft an die Tür.

»Jawohl«, sagt die ruhige Stimme wie aus der Tiefe eines Schiffes.

Er muß nun wohl doch ein bißchen geschwankt haben auf den hellen Dielen, vor dem Schein der Lampe und des Herdfeuers oder vor Müdigkeit, sonst könnte es wohl nicht sein, daß der Kapitän ihn mit beiden Armen hält und ihn leise an den Schultern schüttelt und mit einer Stimme, die ganz weit fort zu sein scheint, immer wieder sagt: »Bildermann? Bist du es, Bildermann?«

Er muß das nun wohl zugeben, aber es fällt ihm nicht leicht, das zu tun. Er hat wenig gesprochen unterwegs, fast gar nichts, die Stimme ist ungehorsam, und vor den grauen, kühlen Augen steht ein leichter Nebel, in dem die Bücherreihen, die Weltkugel, der feuernde Kreuzer und das Gesicht des Kapitäns wie unwirkliche Dinge schweben, wie Dinge unter Wasser, die wurzellos und undeutlich vorbeitreiben.

»Zu Befehl, Kapitän!« sagte er heiser. »Und wenn ich wieder fort soll, dann lieber gleich, Kapitän!«

Er hört den Kapitän lachen (lange nicht gehört! denkt er), und dann sitzt er ohne Übergang in einem der tiefen Sessel, so tief, daß ihm ist, als ob er über Bord gehe, hat den scharfen Rumgeschmack im Munde, und der Feuerschein geht wärmend über seine schmutzigen Hände, und die Nebeltropfen auf seiner blauen Bluse schimmern in allen Farben des Regenbogens.

Dies ist ein Traum, denkt er. Kein Regen fällt auf ein undichtes Dach, kein Wind klirrt im Draht, alles hat wieder seine Ordnung, die Bücher, der Globus, der Schrank mit den Masken. Die Balken der Decke sind dunkelbraun, wie geräucherte Aalhaut, mit einem leisen fettigen Glanz, die Wände sind dunkel, die Kacheln, mit denen der Herd gedeckt ist. Ein Skylight müßte nur noch oben sein, über dem die Sterne schwanken, hin und her, und das Wasser müßte leise an den Wänden entlanggleiten, seufzend und mit leise mahlenden Strudeln.

»Alles wirklich, Kapitän?« fragt er und klopft mit den Knöcheln auf die Kacheln des Herdes.

» All right, Bildermann. Du brauchst dich nicht festzuhalten, wir fliegen nicht fort.«

»Komisch«, sagt der Matrose, »als ob das alles tausend Jahre schon steht … so eine verläßliche Gegend.«

»Und nun bleiben wir da, Bildermann, nicht wahr?«

» For ever, captain! Ach so …« Es fällt ihm ein, daß er das schon einmal gesagt hat, aber es scheint ihm lange Zeit vergangen seither, viele Abende, viele Herdfeuer, und er wendet das Gesicht zum Fenster. »War eine kleine Dame da, im Schloß, Kapitän«, sagt er, »hat mir den Weg gezeigt, Nordnordwest. Und hat gesagt ›Nun sind wir da, und nun bleiben wir da, Bildermann, nicht wahr?‹ – › For ever, kleines Fräulein!‹ habe ich gesagt. Bin leicht mit dem Mundwerk vor dem Wind, Kapitän.«

Thomas sieht ihn nachdenklich an. »Das war das Fräulein von Platen, Bildermann. Marianne von Platen. Enkelkind des Generals, dem dies hier gehört, und da haben wir einen guten Wegweiser gehabt, nicht wahr?«

»Jawoll, Kapitän.«

»Und nun bleiben wir hier, Bildermann, beide, wie sie gesagt hat, oder alle drei. Das wollen wir gleich klarmachen, damit du ruhig schläfst. Insel der Veteranen, Bildermann, nicht? Ab und zu fällt es mir nämlich ein, daß ich hier nicht sitzen würde, wenn du nicht wärst.«

»Schlechter Einfall, Kapitän, mit Verlaub zu sagen. Würde hier nämlich auch nicht sitzen, wenn Sie nicht wären. Hebt sich auf und war nie der Rede wert. Aber wenn es so sein soll, Kapitän, dann … dann … rolling home, my boys, Kapitän … dann wird Bildermann zeigen, was er kann!«

»Wissen wir, Bildermann. Keine Sorgen. Ist genug Arbeit hier, wenn auch nicht gerade im Winter. Und weißt du, sprechen muß der Mensch auch einmal, und wenn nur ein paar Worte am Tage.«

»Bedacht, Kapitän, alles bedacht. Daß es innen schwierig wird um diese Jahreszeit. Habe gar nicht gefragt bei der Gnädigen oder beim jungen Herrn. Wenn der Wind so komisch geht, bevor er sich dreht, so jammert die ganze Nacht, dann ist das Zeit für alte Seeleute, Kapitän, daß sie ein bißchen beieinander sind. Nicht hier, meine ich, an diesem verdammt guten Feuer, das ist eine Ausnahme, Kapitän, sondern nur im Haus, nebenan oder auf dem Boden oder auch nur an der Schwelle. ›Bildermann, bist du da?‹ – ›Jawoll, Kapitän!‹ – › All right, dachte schon, ich bin allein, so weit die Wolken reichen.‹ Das ist es, Kapitän, wissen, daß einer da ist. Kann ruhig wie eine Maus auf Strümpfen sein, muß sogar manchmal, aber muß dasein. ›Niemand da auf dieser Welt?‹ – ›Befehl, captain, Bildermann ist da. Keine Sorge, ist immer zur Hand. Kein leerer Raum, wo Bildermann ist.‹«

Thomas nickte und sah ins Feuer. »Das hast du richtig gesagt, Bildermann. Kein leerer Raum … weißt du, im Frühjahr und im Sommer war es ganz leicht, viel zu leicht. Lange Tage voller Arbeit und helle Nächte mit vielen Sternen. Aber nun zeigt es sich erst, was hier draußen ist. Ein großartiges Land, sage ich dir. Fast so großartig wie das Meer. Kein Laut am Tage und totenstill in der Nacht. Die Leute werden hier wunderlich, aber ich will doch nicht wunderlich werden, Bildermann. Mein Vorgänger hat Schnaps getrunken und sich eine rote Fahne um den Leib gewickelt und mir prophezeit, daß ich das auch tun werde, mit dem Schnaps, meine ich. Ich bin froh, daß du da bist, sehr froh. Es dauert wohl eine Weile, bis man wird ein Stein auf dem Grund. Es fällt einem nämlich nicht zu, weißt du, das ist meine letzte Entdeckung, in die ausgestreckten Hände, sondern es kostet ebensoviel Schweiß wie das andere. Einen Mann still machen, das ist kein Kunststück, aber einer werden aus sich heraus, ganz langsam und mit Absicht, ohne Bitterkeit, das ist, glaube ich, soviel wie aus einem Netz herauskommen, ohne daß es sich rührt. Verstehst du mich?«

»Hoffe alles zu verstehen, Kapitän, was Sie von dem sagen, was da in uns so vorgeht. Habe einige Seemeilen hinter mich gebracht in meinem Leben. Saß in meiner Laube und habe zugehört, wie der Regen fiel. Kein Mensch, kein Hund, keine Maus, bloß Regen. Hätte ebensogut in einem Sarg liegen können oder im Atlantik. Hätte gar nicht Morgen zu werden brauchen. Wozu Morgen? Wie ein Brett auf dem Ozean. So ist es, Kapitän.«

»Und kein Brief, Bildermann?«

»Die Gnädige hat mir ein bißchen den Wind aus den Segeln genommen, Kapitän. Hat gemeint, Sie wollen ganz allein sein.«

»So … und wie ist es zu Hause, Bildermann?«

»Oh … ich denke, all right, Kapitän. Sehr fix, der junge Herr. Geht auf den Geschwaderchef los wie der Teufel auf die arme Seele. Kein Schritt rechts, kein Schritt links. Nur geradeaus. Bildermann war ein Kalb, als er so alt war, aber der junge Herr ist ein Rennpferd. First class, Kapitän!«

»Aber keine Märchen, Bildermann, hm?«

»Nein, keine Märchen, Kapitän.«

Thomas nickte. »In zehn Jahren, Bildermann, werden sie uns überholt haben. Werden immer noch einen Kranz versenken da drüben in der Nordsee, aber in der Messe nachher werden sie sagen: ›Nicht Schneid genug gehabt, die alten Knaben. Würden ganz anders 'rangegangen sein!‹ Stimmt's, Bildermann?«

»Jawoll, Kapitän. Bekommen dann Ehrenplätze bei Paraden und freies Mittagessen. Lauf der Welt. Nach Siebzig war es ebenso. Jugend hat immer recht, Kapitän. Wir selbst auch so gewesen.«

Wieder nickte Thomas. »Und meine Frau, Bildermann?«

»Oh … denke, all right, Kapitän. Die Gnädige nur einmal im Garten gesprochen. Nein, zweimal. Ging manchmal Wagentüren aufmachen, vor Theatern und so, wenn der Tabak knapp war. Gerade ihren Wagen erwischt. Ganz groß, Kapitän, die Gnädige, nur ein bißchen schmal. Zu viele Segel gesetzt, Kapitän.«

»Ja, es ist merkwürdig, Bildermann: wir wollen gar nichts nachholen, was wir versäumt haben. Nur die anderen, die zu Hause waren.«

Da legt Bildermann vorsichtig seine grobe Hand auf Thomas' Ärmel und sagt:

»Gut sein lassen, Kapitän, auch wir wollen nachholen … bloß andere Dinge.«

Thomas sieht ihn zweifelnd an, aber das Gesicht ist ganz ruhig und sicher.

»Meinst du, Bildermann?«

»Jawoll, Kapitän!«

Das neue Leben lief bald wie das alte, aber Thomas sah, daß es leichter lief. Sie waren nun zwei Pferde vor dem Pflug. Bildermann sah sich einen Tag lang um, schweigend, die Hände in den Taschen. Dann ging er auf Fahrt.

»Vollmacht, Kapitän?« Jawohl, er hatte Vollmacht. Sein Boot kam von allen Richtungen der Windrose zurück, und es war niemals leer. Es war mit Brettern beladen, mit einer alten Hobelbank, mit Tannenreisig und Pferdedünger für die Stauden, mit Eimern voll Kalk und Ölfarbe, mit einem schiefgeschlagenen Amboß und einem zerrissenen Blasebalg. Es sah aus, als wollte er eine Werft anlegen oder doch wenigstens einen Altwarenhandel eröffnen. Aber er ging langsam und der Reihe nach vor.

Der Nebenraum bekam einen Fußboden und einen Wandanstrich, der Hauptraum eine Doppeltür gegen den Südostwind. Das Haus wurde gekalkt, die Fensterkreuze wurden gestrichen und die Stauden zugedeckt. Der Brunnen erhielt eine neue Einfassung, und ein »Hafen« wurde gebaut. Hinter dem Hause erhob sich ein hoher Mast mit einer Windfahne, und hinter dem Hügel entstanden die Anfänge einer Hütte mit einer Feldschmiede. Die Boote wurden hochgezogen, geteert und gedichtet, und für das »kleine Fräulein« wurde ein Schiff in einer Flasche begonnen.

Alles dies ging schweigend vor sich oder mit einem leisen Lied zwischen den Zähnen, die die Pfeife hielten. Die Enden des Wollschals flatterten im Sturm, die Mützenbänder wehten. Der See lief mit weißen Schaumköpfen gegen das Ufer, und die Wolken stürmten schwarz über die kahlen Eichenwipfel. Bildermann ließ die Axt sinken, richtete sich auf und sah über das Wasser hin. Er stand breitbeinig da, in seinem verschlissenen Gewand, die grauen Augen tränend im Wind, ohne Schiff, ohne Heimat, ohne Weib und Kind, aber ein Turm in der stillen Schlacht ihres Lebens, Mann am Ruder und Mann am Geschütz. Seine Mützenbänder knallten im Sturm, das Wasser spritzte ihm in die Stirn, und in den Rohrwänden sang es wie in einer gespannten Takelage. Hinter den Fenstern saß der Kapitän und schrieb, ein schweigsamer Mann, aber wer wollte laut sein in diesem Land, und hatten sie nicht Lärm genug gehabt in den Jahren, die so vergangen waren, daß niemand mehr davon sprach?

Er kannte alle Dörfer in der Umgebung, alle Handwerker, alle Förstereien. Vom Kapitän war nur ein dunkles Gerücht in die Landschaft vorgedrungen, aber Bildermann war selbst da und schlingerte breitbeinig durch alle Dorfstraßen, die Hände in den Taschen, die Mützenbänder wie zwei Wimpel hinter sich her, die Augen immer offen und scharf auf die Dinge gerichtet, die er brauchte. »Jawoll«, sagte er, »beide am Skagerrak abgesoffen … up ewig ungedeelt! Und den Hobel hast du über, bekommst im Sommer ein Gericht Fische dafür, alter Landhai … good bye, mein Liebling.« Sie wußten nicht recht, was aus ihm zu machen sei, Prolet oder Herrenknecht, aber er konnte merkwürdige Augen machen, und man fragte lieber nicht zuviel. Er war wie ein Mann in einem fremden Boot, mit unbestimmter Ladung, aber solange sie nicht Schiffsgeschütze auf der Insel einbauten, ging es einen nichts an. Die Zeiten waren schwer, und jeder trug seine eigene Last. Außerdem stand hinter den beiden das Schloß, und wenn der Schloßherr auch ein Militarist und Reaktionär und Blutsäufer war, so war er doch General, und nicht jede Landschaft zwischen den Seen hatte einen General aufzuweisen.

Auch die Frau in der Försterei kannte Bildermann. Sie stand am Gartenzaun und sang leise das Marschlied, als er zum erstenmal auf den Hof kam. Aber er wandte sich nicht verlegen oder erschreckt fort wie die anderen. Er lehnte sich über den Zaun, ihr gerade gegenüber, hörte lächelnd und aufmerksam zu und sang dann mit, leise, die zweite Stimme: »Stolz weht die Flagge Schwarz-Weiß-Rot von unsres Schiffes Mast!« Er konnte alle drei Strophen, und am Schluß riß er die Mütze mit den Bändern ab und schwenkte sie über dem Kopf. » Cheer up, Mutter!« sagte er. »Sie haben einen schönen Tod gehabt. Weiß Gott, wie der Teufel uns holen wird.«

»Feuer«, murmelte sie verwirrt, »nichts als Feuer  …«

»Feuer war eine saubere Sache«, sagte er, »besser als Wasser, wo die Fische sie fraßen und die Möwen ihnen die Augen aushackten … komm, Mutter, singen wir noch eins!

Rolling home, my boys, to windlass …
Rolling home, our cable is all clear …«

Und er zog die Melodie lang und getragen hin, die Linke auf dem Zaun, die Rechte gegen den Wald gehoben, als sehe er dahinter die ferne Küste oder die » banks of Sacramento«.

Sie hörte zu, die Augen auf seine Lippen gerichtet, als sei sie taub und stumm und als erklinge ein Psalm von seinem Munde oder ein neues Evangelium, zuverlässiger als das alte, für Feuers- und Wassersnot zu singen. Ihre Lippen bewegten sich mit, zu der unbekannten Melodie … ein verlorener Klang, der von weither kam, so wie er selbst ein verlorenes Bild war, blau, mit wehenden Bändern, einmal gekannt und dann verblaßt und zersprungen in Feuersglut … » Rolling home … sing es noch einmal …«

Und er sang, ihre zerbrechliche Hand in der seinen, aber mit frohen Augen, ein Tröster von weiten Meeren, der auftauchte und wieder verschwand, ein Geist mit Botschaft, versiegelt und verhüllt, aber der Klang blieb zurück, anders als das ewige Sausen der Wipfel, ein weitgeschwungener, froher Klang, über die Kämme der Wogen her, den der Wind verweht.

»Ein Zauberer, Bildermann«, sagte Gruber, »ein richtiger Zauberer …«

Er winkte mit der Hand. »Lernt sich alles hinter der Kreideküste, alter Herr«, sagte er. »Wo sie stehen und in den Horizont starren. Sehen ein Haus, ist aber nicht da. Sehen ein Kind, ist aber nicht da. Sehen alles, was nicht da ist, und nichts, was ihnen vor den Füßen liegt. Weitsichtig, alle prisoners of war, alter Herr. Manchmal so weitsichtig, daß das Messer in die Pulsader geht statt in die Kartoffeln, die zu schälen sind. Viel zu lernen für einer Mutter Sohn, wenn er Menschen hüten muß. For better for worse, for richer for poorer. Englische Eheformel, alter Herr. Manchen begraben, dem der liebe Gott zu weit weg war. Sogar für Weitsichtige zu weit, alter Herr, und das ist schon allerhand!«

Auch den Nabob kannte Bildermann, und es schien beiden keine schlechte Bekanntschaft. Er müsse sich vorstellen, hatte Thomas gesagt. Es ging nicht an, so einfach die Insel zu entern. Also rasierte Bildermann sich, bügelte die Mützenbänder unter dem Amboß und segelte hinüber. Es sah immer aus, als wollte er versuchen, ob es auch kieloben ginge.

Doch kam er gut an und läutete den friderizianischen Grenadier heraus. »Oha!« sagte er erstaunt. »Haben sie dir vergessen, Mann? Mal nachher warten, wenn ich wieder 'rauskomme, hörst du? Verwandte Position, verstanden. Und nun zur Exzellenz … Botschaft von Herrn von Orla … welche Tür? Thank you. Schneller denken, mein Liebling!«

Der General sah auf, als die eisenbeschlagenen Absätze knallten. »Obermatrose Friedrich Wilhelm Bildermann bittet gehorsamst, bei Herrn Korvettenkapitän Thomas Orla als Fischerknecht eintreten zu dürfen.«

Ein drohender Blick wie auf eine ganze Front der zweiten Klasse des Soldatenstandes. »Sind der Bildermann?«

»Befehl, Herr General!«

»Leben gerettet?«

»Befehl, Herr General!«

»Tod und Leben für Kapitän?«

»Auf glühendem Rost, Herr General!«

Ein leises Zucken des weißen Schnurrbarts. »Gehört von ihm … › for ever‹ gesagt zum Kind … präzise Ausdrucksweise … eingestellt und zum Hause gehörig … Papiere hierlassen … mal 'rüberkommen und sehen … weshalb Johann nicht angemeldet?«

»Johann verdattert, Herr General. Langsamer Denker, aber gründlich wahrscheinlich.«

»Zu kurz Soldat gewesen, Bildermann. Vier Jahre. Braucht acht.«

»Befehl, Herr General, für jeden Knopf ein Jahr.«

»Richtig! Gute Augen. Kapitän grüßen! Morgen!«

»Morgen, Herr General!«

Händedruck, Absätze, kehrt!

Johann lehnte schon wieder an der Kanone. »Mann, wenn sie losgeht!« sagte Bildermann. »Fälle auf See gehabt, wo die Achtunddreißiger losgingen. Todesstrahlen vom Tommy. Einer von den Signalgasten durch und durch. Kein Magen mehr. Mit Aluminium ausgelegt das Loch und Eimer 'reingestellt statt Magen. Lebt heute noch. Trägt jeden Morgen den Eimer 'raus und spült mit Chlorodont nach. Wegen dem Aroma, verstehst du?«

Johann starrte aus runden Augen.

»Mal vorbeikommen«, sagt Bildermann. »Insel der Veteranen. Schluck Rum immer da für alte Krieger. Servus, sweetheart!«

So war Bildermann die Brücke zur Welt, eine heiter geschwungene Brücke, an der mancher stehenblieb, um zur Insel hinüberzusehen. Für alle, die in schwankender Zeit auf unsicheren Füßen standen, blieb er verdächtig, ein Mann ohne Ehrfurcht und mit bedenklichen Freundschaften, ein Mann mit Augen, die jeden Blick erwiderten und die alle Hüllen von Dingen abzustreifen schienen, die man gern verhüllt lassen wollte. Aber der General winkte mit dem Stock, wenn er ihn sah, und blieb eine Viertelstunde bei ihm stehen, um die »Weisheit des einfachen Mannes« zu hören (»Deutsche Eiche, lieber Orla! Keine faule Stelle an dem Mann!«). Und das kleine Fräulein gab ihm ernsthafte Ratschläge, wie der Kapitän aufzuheitern und abzulenken sei, wenn er wieder einmal das Lachen verlerne. Die stille Frau am Gartenzaun wollte seine Lieder hören, und mit Johann gab es zuzeiten eine Begegnung »auf hoher See«, wenn der Nabob in der Stadt war. Sie lagen dann Bord an Bord und reichten einander die Flasche zu, und niemand in der ganzen Landschaft konnte sich über Bildermanns Ausdrücke so verwundern wie der langsam denkende Johann.

So war Bildermann ohne sein besonderes Zutun in viele Schicksale verflochten und wußte kaum, daß er besaß, worum sein Herr sich so viel Mühe gab: ein frohes Herz, und daß alle die Hände danach ausstreckten, weil sie erkannten oder nur ahnten, daß es das einzig Bleibende war in wechselnden Zeiten. Er wußte wohl, wenn er sein Leben zurückdachte, daß er mehr Kelter als Wein gewesen war, daß er vieler Männer Füße auf sich hatte dulden müssen, aber er begriff noch nicht, daß es nun tröstlich aus ihm zu fließen begann, weil er noch nicht sicher war, ob sich nicht eines Morgens alles aufgelöst haben würde, die Insel und das Haus, das schmale Bett in seiner Kammer und das strenge Morgenrot über dem Walde.

Er war kein Freund des leichten Glaubens, er war ein bißchen »weitsichtig« geworden, auf dem Wasser wie auf dem Lande, und auch ohne Kriegserklärung wußte er, wie das Schicksal es mit den Menschen zu halten liebte.

So griff er nach seinen Trostfahrten schweigsam zu seinem Spaten und grub den vergrasten Waldboden hinter dem Hause um, weil er meinte, ein Kartoffelfeld würde dort nicht nur nützlich sein, sondern auch schön aussehen mit den jungen Pflanzen, mit der bläulichen Blüte und schließlich mit dem guten, bitteren Geruch, der im nächsten Herbst in die Fenster wehen würde.

»Jawoll, Kapitän«, sagte er auf Thomas' Frage, »mit Kartoffeln und Salz sind die größten Leute aufgewachsen, vielleicht sogar Horatio Nelson, und mir scheint, dem kleinen Fräulein wird das einige Freude machen, wenn wir hier am Feuer sitzen und unser Abendbrot aus der heißen Asche essen.«

Dieser Meinung war Thomas auch, und so standen sie bis zur Dämmerung über ihren Spaten, bis der Brachvogel hoch oben zwischen den kalten Wolken rief und das Licht aus dem Forsthaus zu ihnen herüberschien.

Hatte Bildermann dann das Geschirr gespült und Holz und Wasser zum nächsten Tag geholt, so saß er auf einem Schemel am Feuer, spaltete Kienspäne, machte ein neues Ruder oder hatte die »Geschichte der Eroberung des Indischen Reiches« vor sich liegen. Er hatte den Kopf in beide Hände gestützt und die Stirn gefaltet. Seine hellen Augenbrauen waren in ständiger Bewegung, und mitunter kam ein leises »Gott verdammmich!« über seine Lippen.

Dazwischen aber hob er von Zeit zu Zeit die Augen und ließ sie verstohlen über Thomas gehen, der einzelne Notizen auf weiße Blätter schrieb oder gleich ihm las oder durch den Rauch seiner Pfeife hindurch die Weltkugel betrachtete. Das Birkenholz knallte im Herd, die Uhr ging leise durch die Zeit, und ein nächtlicher Vogel rief über das Wasser hin. Dann hoben sie beide die Augen zu den Fenstern auf und lauschten hinaus, wie der Wind durch das hohe Rohr ging und wieder starb.

»Ein Traum, Kapitän«, sagte Bildermann leise, »immer noch ein Traum …«

Thomas nickte und ließ die Weltkugel sich leise drehen. Sie blickten beide auf die bläulichen Meere, die vorüberglitten, von Festländern unterbrochen, und wiederkamen, auf denen sie zu Hause gewesen waren, ein Leben lang, und die nun fern waren, bloße Bilder, um eine Kugel gekrümmt, und der gelbe Kreis des Äquators hielt sie schimmernd umspannt. Sie sahen die Schiffe fahren, auf denen ihre Heimat gewesen war, und die, denen sie begegnet waren. Sie sahen die Stürme über die Krümmung heraufkommen, die blauen Wogen zerwühlen und wieder hinabfahren zu anderen Schiffen und Zonen. Sie sahen die Sternbilder sich aufheben und untergehen, die dünne Palmenlinie über der zitternden Kimmung, und hörten die Glocke schlagen und den einsamen Schritt auf der Brücke. Sie sahen das Feuer aus den langen Rohren brechen und die weißen Fontänen, die auf das glühende Eisen donnerten. Sie sahen die grauen Kiele, aufgerichtet wie Ungetüme der Tiefe und hinunterfahren in den schäumenden Abgrund, und sahen die weißen Gesichter treiben, über denen die heiseren Vögel riefen. Sie sahen Stunden, Monate und Jahre sich mit der Kugel vorüberdrehen und konnten meinen, sie sähen die Insel, auf der sie nun saßen, auch sie aufgehoben über den Horizont und wieder versinkend, ein schwindelndes Spiel, geboren aus einer einzigen Menschenhand und endend, wie sie es wollte.

»Ein Traum, Bildermann«, wiederholte Thomas. »Aber ein guter und fester Traum, der morgen noch da ist und übers Jahr auch, wenn wir das Unsrige tun, um ihn zu halten …«

»Wollen ihn halten, Kapitän«, sagte Bildermann, »wie der arme Mann das Brot!«

Lagen sie dann in ihren schmalen Betten, bei geöffneter Zwischentür, so sahen sie den Widerschein der letzten Glut im Herde über die Bücherreihen und die dunklen Balken der Decke spielen. Regen rauschte auf das Dach und strich von Zeit zu Zeit wie nasse Segel über die Fenster hin. Im Kamin ging die Stimme des Windes eintönig auf und ab.

»Schläfst du, Bildermann?«

»Nein, Kapitän.«

»Wie allein wir sind, Bildermann … merkst du es?«

»Verdammich, Kapitän … prachtvoll allein!«


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