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6

Der Kuckuck rief nicht mehr. Die Tage wurden kürzer, und wenn Thomas die Leiter zu den Eichen hinaufstieg, konnte er in der Ferne, wo das ärmliche Dorf lag, gelbe Stoppeln sehen und hin und wieder einen dreieckigen Vogel mit langem wehendem Schwanz, den ersten Drachen, der hoch über dem blauen Walde stand. In der Frühe war das Gras auf der Insel mit Spinnweben bedeckt, und der Tau lag so dicht, daß es aussah, als habe es schon gereift. Doch stiegen immer noch Gewitter über den Wäldern auf, jede Nacht füllten sich die Netze, und die Fledermäuse taumelten jeden Abend um das graue Dach. In den Nächten stürzten die Sternschnuppen am Himmelsgewölbe hernieder, einzeln und in ganzen Schwärmen, schrieben eine strahlende Bahn auf das dunkle Blau und erloschen so jäh, als lägen dort oben eisige Meere, in denen sie lautlos versanken.

Thomas merkte den Gang des Jahres zumeist an der Lampe, die er jeden Abend früher anzündete, und daran, daß das Herdfeuer nun immer wohler tat und die Bücher immer länger in seiner Hand blieben. Es schien ihm, als sei es auch für ihn Erntezeit, als habe er zwar noch nicht viel des Rühmlichen einzubringen, aber als könne er doch mit fröhlichem Herzen in den Winter gehen. Er glaubte nicht, daß es den General nach Christoph oder nach einem von dessen Vorgängern zurückverlangte, und er glaubte auch nicht, daß es irgendeinen in der Welt nach ihm selbst verlangte, er also die Insel aufzugeben und einen anderen Platz besser und mit mehr Ehren auszufüllen hätte. Es schien ihm nicht schlechter, Fische zu fangen und auf dem See Ordnung zu halten, als ein Bankbuch zu führen oder Kabel herzustellen.

Er brachte sein Winterholz von der Försterei herüber, Birke und Weißbuche, sägte es, machte es klein und schichtete es im Netzschuppen auf. Sein Körper fügte sich nun gehorsam in alle Tätigkeit, war zu Hause in allem, was sein Leben verlangte, und wenn seine Gedanken zwischen der Arbeit einmal fortliefen, zu Joachim, zu dem Kinde im Schloß oder weiter zurück zu Fahrten und Schlachten, so kehrten sie ohne Reue oder Schmerzen zurück, zu dem Geruch des Holzes an seinen Händen, zu dem Blick über Wasser und Wald, zu der Erdkugel, die geheimnisvoll vom Feuer beschienen war und in der er die Welt in seinem kleinen Raum eingeschlossen hielt, so gehorsam seinen Blicken und Händen, wie sie es niemals vorher gewesen war.

Las er, was draußen im Volke geschah, Törichtes, Schmerzliches und wohl auch Schmähliches, so hob sich über alle Bitterkeit immer das Gesicht des Pfarrers auf und was er von der Arbeit gesprochen hatte, und er bedachte, daß bei reiferer Erkenntnis dem Menschen wohl nicht mehr gegeben sei, als in dem kleinen Umkreis seines Lebens das Rechte zu tun und zwei oder drei Menschen bei der Hand zu nehmen und sie zusehen zu lassen, wie man es tue.

In diesen Tagen, da nun der Altweibersommer schon hell über die Insel trieb und die Vogelbeeren sich röteten, empfing er einen unerwarteten Besuch. Er sah ihn in Grubers Boot herüberkommen, langsam, ein Mann, der viel Zeit hatte und der auch hier und da ein Stück zur Seite fuhr, um zu sehen, wo ein Haubentaucher wieder erscheinen würde, der eben unter der Oberfläche verschwunden war. Er erkannte ihn gleich wieder, die sehr schlanke, in den Schultern geneigte Gestalt, das dunkle, schon ins Grau spielende Haar und das fast Schlafwandlerische aller Bewegungen, dem er mit einem melancholischen Lächeln selbst zuzusehen schien, ohne es jedoch ändern zu können oder es der Mühe wertzuhalten, es zu ändern.

Es war der »junge Graf«. Er war älter als Thomas, aber da er der letzte von sechs Söhnen war, die alle draußen geblieben waren, wurde er in der Landschaft so genannt, aus einer Erinnerung an vergangene Zeit und vielleicht mit dem unbewußten Wunsch, es könnte so der Tod vielleicht für immer oder doch für Jahrzehnte von seinem Wege ferngehalten werden. Thomas hatte bei der Entenjagd im gleichen Boot mit ihm gesessen, ohne daß sie viel gesprochen hätten, aber sie hatten einander gern angesehen und beide gedacht, sie könnten gut einmal zusammen am Feuer sitzen. Er hieß Pernein und führte den pruzzischen Vornamen Natango. Sonst wußte Thomas nichts von ihm, als daß er unter allem höflichen Lächeln ein sehr guter Schütze gewesen war.

Es freute ihn, und er stand auf, um Holz im Herde nachzulegen. Die Luft war grau und still, und vom Schloß hörte man die Dreschmaschine wie ein stöhnendes Tier ihre Arbeit tun.

Thomas ging zum Ufer hinunter, um seinen Gast zu erwarten. Dieser winkte nur, und erst als er ausgestiegen war und Thomas die Hand reichte, sagte er, daß er längst habe kommen wollen, aber es sei immer Sonnenschein gewesen, und er habe die Insel bei diesem Licht sehen wollen. Die Dinge tönten alle in solcher Luft, aber ihr Gesicht sei stumm, und das sei ihm das liebste.

Er selbst, erwiderte Thomas, müsse mit jedem Licht und jeder Luft zufrieden sein, sei es auch, aber er habe schon recht, daß es manchmal sehr hell sei auf der Welt.

»Nicht wahr?« fragte Pernein. »Ich habe immer ein paar Jahre auf Spitzbergen leben wollen, weil es dort so schön lange dunkel ist. Nur die Nordlichter flammen und das ist schon eine großartige Beleuchtung, und totenstill. Ich habe es einmal gesehen. Aber dann ist dieser Weltkrieg gekommen, und nun sehen sie einen überall schief an auf der Erde, und da ist es ein Traum geblieben … alles Träume, lieber Orla, nicht? Auch dies hier: ›Im Schweiße deines Angesichts‹ und so weiter … alles Träume, aber den schlechtesten träumen Sie nicht.« Seine schwermütigen Augen umfaßten das Haus, den Hügel, die Uferlinie, als sei er hier aufgewachsen, kehre für eine Weile zurück und denke schon wieder an die Weiterfahrt, aber er wisse nicht, wohin sie führen werde.

Er war der erste, der ohne Erstaunen das Bild des Raumes in dem kleinen Haus aufnahm, und während Thomas auf dem kleinen Herd das Kaffeewasser kochte, blieb er vor der Erdkugel stehen und ließ die Länder und Meere langsam, aber unaufhörlich an sich vorüberziehen.

»Hübsch«, sagte er, als Thomas wieder hereinkam, »eines der wenigen Spielzeuge für Leute mit grauen Schläfen. Man braucht weder Schiff noch Eisenbahn noch gar Flugzeuge. Man läßt die Welt sich drehen und sitzt wie der Schöpfer davor … aber würden Sie auch am siebenten Tag gesagt haben, daß es gut sei, Orla? Da … und da … und da …?« Er stieß mit dem Finger leicht gegen ein paar Stellen der Kugel. »Dort bringen sie sich um, auf die fortschrittlichste Weise, sich und Frauen und Kinder und Tiere, und Bäume und Blumen auch, und dabei haben sie die herrlichsten Worte dafür und Papier, auf das sie es drucken. Und die andern sehen zu und warten ab, was daraus werden wird.«

»Es war niemals anders, Graf.«

»Eben, eben! Das ist es ja. Daß es niemals anders war. Dort«, und er wies auf die Bücherreihen, »dort war es anders und wird immer anders sein. Oder bei Schubert und Chopin … Hören Sie gern Musik? Ja? Dann müssen Sie bald zu mir kommen. Es sind die einzigen Zeichen, die der Mensch ohne Sünde geschrieben hat.«

Sie saßen vor dem Feuer und rauchten. »Es ist seltsam«, sagte der Graf, »wie Sie Ihrem Vater ähnlich sehen.«

Thomas hielt den Kienspan in der Hand, wie er ihn aus dem Herd genommen hatte.

»Ja, ich habe es gleich gewußt, noch ehe ich Ihren Namen hörte, Sie wissen, daß meine fünf Brüder geblieben sind, und die Militärkanzlei fragte bei meiner Mutter an, ob sie mich nach Hause schicken sollten. Nun, meine Mutter ist eine große Frau, wissen Sie, und sie schrieb zurück, daß sie sich solche Anfragen für die Zukunft höflich verbeten haben möchte. Sie habe ihre Söhne nicht für das Haus, sondern für das Reich geboren. Ja, eine große Frau … Nun, sie schickten mich also nicht nach Hause, sondern in ein Regiment, das hinten ein bißchen zu tun hatte. Ein Dragonerregiment, und Ihr Vater führte meine Schwadron. Ja, sehen Sie, so ist es mit der Erdkugel …« Und er ließ sie mit dem Finger wieder ein bißchen kreisen.

»Das waren Sie also, von dem mein Vater schrieb?«

Der andere lachte. »Ja, von mir ist überall eine ganze Menge geschrieben worden. Ich konnte gar nichts dafür. Ich war auch im Kriege so, wie ich immer war, und darüber wunderten sich die Leute. Einmal kam ein General zu einer Besichtigung, und sie holten mich von meinem Schubert fort, als er schon vor den Pferden stand. Er war ungnädig, aber ich sagte, mit einer Besichtigung sei man in einer halben Stunde fertig und, wenn es hoch komme, in einer Stunde. Aber mit Schubert werde man in einem ganzen Leben nicht fertig. Da wurde er noch ungnädiger, und Ihr Herr Vater hat ihm nachher gut zugeredet. Ich denke, er hat die Hand so ein bißchen vor die Stirn gehalten … ein guter Mensch war Ihr Vater, alle liebten ihn, nur nahm er das Ganze zu schwer … ich habe dann gehört, daß er bald nach dem Kriege gestorben ist. Aber Sie sind ihm ähnlich, sogar wie Sie die Pfeife halten … und in anderen Dingen wahrscheinlich auch.«

Er sah ihn freundlich an, mit der ständigen leisen Traurigkeit in seinen Augen, als lohne sich alles dieses kaum, auch das Reden nicht, auch das Ansehen nicht.

»Und Sie selbst?« fragte Thomas.

»Oh, ich selbst … da ist nicht viel zu sagen. Ich habe auf das Majorat verzichtet und mir das Haus neben dem Vorwerk geben lassen, erb- und eigentümlich. Es ist ein komisches Haus, das einer von unseren alten Hagestolzen sich vor zweihundert Jahren gebaut hat. Wir heiraten alle sehr ungern. Es liegt sehr schön, ganz abseits, über dem Fluß. Da hause ich nun mit ein paar Dienern und Mädchen und Gärtnern, und manchmal ist meine Mutter eine Weile da. Das Majorat hat ein Vetter, sehr tüchtiger Mann, mit vielen Kindern und Ehrenämtern.«

»Und was tun Sie?«

»Oh, nicht viel. Ich sammle ein bißchen, Radierungen und Handzeichnungen und ein bißchen Plastik. Götterbilder vor allem, aus aller Welt. Das ist ein erstaunliches Kapitel, wissen Sie. Goethe hat gesagt: ›Wie einer ist, so ist sein Gott.‹ Wenn das wahr ist und wenn es sich auch auf das Bild erstreckt, dann ist der Mensch ein seltsames Wesen. Sehr seltsam, ja. Nun, und dann liebe ich die Pflanzen sehr, und besonders die Blumen. Ich experimentiere ein bißchen. Das ist so ein stilles Reich, das Pflanzenreich, wunderbar geordnet, voller Symmetrie und Gesetz und überquellend an Schönheit. Aber vor allen Dingen still. Die Tiere sind schon Ungetüme an Lärm dagegen, und nun erst der Mensch! Am stillsten ist wahrscheinlich die Welt der Steine. Ja, und dann mache ich sehr viel Musik. Vor dem Kriege bin ich viel gereist, durch die ganze Welt, aber nun gehe ich ungern fort. Nur hierher werde ich gern ab und zu kommen, wenn Sie erlauben, und im Herbst werde ich Ihnen Stauden bringen, damit Sie sie um Ihr Haus pflanzen. Dahlien und Rittersporn, Eisenhut und Fingerhüte und so weiter. Sie müssen ganz wild wachsen, und die Leute werden denken, daß hier ein Zauberer lebt.«

Thomas bedankte sich, und er möchte gern noch wissen, ob er nun glaube, das Rechte gefunden zu haben, mit dem Leben, meine er.

Er meine, ob er sich zu den Drohnen rechnen müsse, erwiderte der Graf. Nein, das tue er nun wirklich nicht. »Sehen Sie«, sagte er, »ich glaube, daß diese alten Geschlechter das Recht haben, in jeder Generation ein Spielkind zu erzeugen. Verstehen Sie? Sie haben so viel getan, gearbeitet, geherrscht, gedient, gekämpft und geblutet, daß alle fünfzig oder hundert Jahre einer das Recht hat, zu spielen oder auch nur zu schauen. Ein wirklich ›beschauliches‹ Leben zu führen. Wenn fünf geblieben sind, meinen Sie nicht, daß der sechste ein bißchen Musik machen darf oder Blumen ziehen? Während der großen ›Besichtigung‹? Ich glaube das. Das Blut ruht sich wieder aus, und ein bißchen ist man uns das schon schuldig. Mit den alten Preußen ist man nicht sehr behutsam umgegangen, und es ist überhaupt ein Wunder, daß ein paar von uns noch übriggeblieben sind.«

»Ich meine nur«, sagte Thomas, »ob Sie jeden Abend frohen Herzens zu Bett gehen?«

Der andere ließ das Streichholz wieder erlöschen. »Du lieber Gott, Orla«, sagte er, »was Sie für komische Dinge sagen können! ›Frohen Herzens‹ … wenn ich nur wüßte, was das ist. Nein, das ist sicherlich eine von den Ibsenschen ›idealen Forderungen‹. Meine Brüder haben das vielleicht gekannt, obwohl sie auch so merkwürdige Augen hatten zu Zeiten, aber ich, nein, ich kenne das nicht, nicht einmal aus der Erinnerung. Frohen Herzens – du lieber Gott, was es so Schätze geben soll …«

»Aber mit was für einem Herzen denn?« beharrte Thomas.

»Ja, mit schwerem Herzen natürlich, Orla. Mit einem Stein in der Brust! Wußten Sie das denn nicht? Alles Träume, mein Lieber, nicht nur das hier: ›Im Schweiße deines Angesichts …‹, sondern alles andre auch, sogar Schubert und Chopin. Sie brauchen doch nur, wenn Sie am Abend aufhören, mit Büchern oder mit Musik, noch einmal aus dem Fenster zu sehen, in den Nebel, der draußen steht, oder zu den Sternen hinauf, über denen ein ›lieber Vater‹ wohnen soll. Dann wissen Sie doch alles, was Sie wissen wollen. Oder haben Sie der Förstersfrau da drüben mal in die Augen gesehen, ganz nah? Und dann wollen Sie ein frohes Herz haben? Mein lieber Orla, ein frohes Herz haben nur die Leute, die die Augen zumachen und sagen können: ›Komm nun, lieber Traum, und hülle mich ein!‹ Ach, was hat der Mensch alles erfunden, um über das Wachsein hinwegzukommen! Götter und Künste, Kriege und Arbeit, Puppen und Maschinen. Aber es hilft alles nichts. Die Uhr tickt, der Zeiger rückt weiter, und immer näher kommt das Land ohne Traum. Der Tod hat keine Träume, lieber Orla.«

Einen Augenblick lang war sein Gesicht, wie es im Schlaf sein mochte: entkleidet, beraubt, verstoßen und von einem leeren Grauen bewohnt. Dann erfüllte es sich wieder, begann zu lächeln, war im Raum und in der Zeit wieder zu Hause und sah Thomas an. »Nein, lieber Orla, keine Drohne. Drohnen denken nicht, aber ich denke mitunter, und zwar zu Ende, verstehen Sie? Zu Ende denken können ist ein schweres Los.«

Sie gingen noch einmal hinaus. Es dämmerte schon, und Nebel stand in der Luft. Die Dreschmaschine war verstummt, nur die Taucher riefen vom offenen Wasser her. Von der Birke am hinteren Giebel fiel ein frühes welkes Blatt ganz langsam in das Gras.

»Und doch liebe ich es«, sagte der Graf leise. »Den Herbst, und wie mein Fluß unter den Pappeln hinzieht. Das Licht, das aus meinem Fenster scheint, und die Melodie aus der Terzenetüde, wo die Gefangenen in die Verbannung ziehen. Und eine Schwadron, die einen Waldweg reitet, und die Fähnlein flattern von den Lanzenspitzen … und meine Mutter, wenn sie auf der Treppe steht und über die leeren Felder sieht, unter denen ihre Söhne schlafen, ihre und die der vergangenen Geschlechter, zurück bis zu der Zeit, als die Götter noch Bernsteinkronen trugen … ich liebe es alles, wenn auch mit schwerem Herzen.«

Er stand da, die Hände auf dem Rücken, die Schultern gebeugt, und seine Augen gingen mit schwermütiger Liebe über die Dinge des Abends, von der Birke am Giebel über die Insel und das graue Wasser hinweg, bis zu den Wäldern, aus denen der Nebel kam. Es war, als stehe keine Zeit um ihn, als habe er vor tausend Jahren schon so gestanden, auf einen Bogen gestützt oder ein Schwert, und hinübergesehen über Wälder und Moore, nach dem Land, wo der Götterberg über dem großen Strom stand und auf den verschlossenen Stirnen die gelben Kronen schimmerten. Als habe er damals schon gefragt und auf die Antwort gelauscht. Aber keine Antwort war gekommen. Und nun lauschte er immer noch, verändert in Sprache und Kleid, aber die Augen waren die gleichen geblieben, die durchsichtigen Schläfen mit den blauen Adern und der wissende Mund, der nun nichts mehr fragte.

Die Sonne mochte jetzt unsichtbar untergehen. Ein kühler Hauch kam über das Wasser und rührte sie beide an. Die Augen des Grafen kamen zurück und wendeten sich Thomas zu.

»Ich liebe es alles«, wiederholte er leise, »und ich liebe auch Sie, mit Ihrem tapferen Traum …«

Sie gingen einmal um die Insel herum, am Ufer entlang. Die Glocke vom Schloßhof klang über das Wasser, und sie blieben stehen, bis sie ausgeschlagen hatte. Sie klang wie von einem Schiff, das hinter dem Nebel langsam in die Dunkelheit glitt.

»Auch er träumt«, sagte Pernein und hob die Hände nach dem Klang hinüber. »Den preußischen Traum …«

Aber Thomas sah die riesige Halle und den Schein des Feuers über den Mündungen der Kanonen, den einsamen Mann, der das Weinglas hielt, und das Kind, das die Treppe herunterkam. Die Bilder aus den Goldrahmen blickten schweigend herab, die Adler, die Erntekränze mit den schimmernden Bändern, die Degen aus den friderizianischen Schlachten: nein, es war kein Traum. Die Balken dunkelten nicht von Träumen, und die Steinschwellen wurden nicht schief von ihnen. Degen und Kränze zerfielen nicht in Staub. Ein Volk ging unter, und das andere stieg auf. Auch dieses würde untergehen, aber seine Äcker blieben, und auch die goldene Krone blieb, die es erworben hatte für die zarten Stirnen der Enkel, die Krone der Pflicht, des Gehorsams und der Hingabe an ein erträumtes Gesetz. Sie aber hatten den Traum in das Unsterbliche verwandelt.

Er schüttelte den Kopf und sah über das dunkelnde Land. Es würde ihn nun nichts mehr austreiben von hier, keine Angst und kein Gespenst. Und der Mann, der die Hände gerungen hatte über seinem Land, er hatte doch das Rechte gesagt mit dem Wort von der Arbeit. Gott mochte viel sein, oder er mochte ein Traum sein, aber der Schweiß der Stirne war kein Traum. Thomas legte die Finger in seine Handflächen und fühlte die Schwielen des Sommers auf der harten Haut. Der Nebel hatte keine Schrecken für ihn, die Nacht nicht, der Herbst nicht. Bald würden die Netze trocknen und der Fisch in die Tiefe gehen. Dann würde auch er ruhen für eine Weile, wie es allen Lebenden bestimmt war. Und sich besprechen mit sich selbst, wie die großen Vögel es getan hatten. Und von neuem in die alte Spur treten, wenn das Jahr wieder heraufstieg. Und er wußte, daß der Engel ihm zusah.

Er blickte dem Boot nach, wie es langsam in den Nebel hineinglitt, ein dunkler Käfer, der mit den beiden Rudern wie mit zwei dünnen, steifen Beinen sich über das Wasser bewegte. Dann schloß die Nebelwand sich zu, wie die Tore eines Totenreichs. Eine Kette klirrte nach einer Weile, und dann war es still. Erst als Thomas wieder über seine Schwelle trat, wußte er, daß das Ganze wirklich gewesen war.

An diesem Abend, als er das Geschirr gespült und auf das Brett über dem kleinen Herd gesetzt hatte, faßte er den Plan, etwas aufzuschreiben, was ihm mitunter in einzelnen Gedanken und Bruchstücken durch den Kopf gegangen war. Etwas über die sittliche Erziehung des Seemannes. Es mochte für viele sein, oder für Joachim, oder nur für ihn selbst. Aber er war nun so weit von seinem ganzen bisherigen Leben entfernt, daß er klar zu sehen meinte, worin er aufgewachsen war, Schwächen, Irrtümer, Fehler und Schuld. Und ebenso das Große, das sie alle getragen hatte. Und den feinen Sprung, an dem alles schließlich zerbrochen war. Er war so weit fort von allem Streit, daß er ohne Leidenschaft daran gehen konnte, und das Sittliche war ja, wie er meinte, jedes Menschen Sache in solcher Zeit.

Indes ging der Monat ruhig zu Ende, jeder Tag hatte seine frohen und ernsten Stunden, und im September fischte er nur noch für das Schloß und für seinen eigenen Herd. Er grub die Erde um das Haus um für den versprochenen Zaubergarten, war viel im Walde, wo er Pilze suchte, brachte die Netze in Ordnung und hing sie für den Winter auf, baute Mausefallen und richtete sich langsam für die stille Zeit ein, die mit vielen dunklen Monaten über ihn hingehen würde und der er doch heiter entgegensah, wie ein Einsiedler, dem sein Gott im Winter auch nicht ferner ist als zur Zeit des Lichtes.

Der Monat brachte noch einmal Wärme und ein letztes Nachglühen der Erde, das Laub färbte sich, Vögel sammelten ihre Scharen und waren über Nacht verschwunden, die Häher lärmten in den Eichenwipfeln, und der Bogen der Sonne verkürzte sich von Tag zu Tag.

Das Kind vom Schloß trug andere Kleider, weil es den alten so schnell entwuchs, der General aß Rebhühner mit Thomas und segnete die Erde, daß sie die Revolution nicht auf diese Vögel erstreckte, und die Frau im Forsthaus stand am Gartenzaun, hatte die hohen Malven mit ihren Händen umfaßt, bog sie zusammen und wieder auseinander und sang das leise Marschlied, das auf dem Hofplatz schon erstarb, zugedeckt von den Schatten der hohen Fichten und von dem Rauschen der Wipfel, das unablässig über die leeren Wälder ging.

An einem solchen Tag klopfte Thomas an das Grafenhaus über dem Fluß, wurde hineingeführt und fand den Grafen in einer riesigen Bibliothek, über ein Mikroskop gebeugt, unter dem ein Blatt aus der Blüte einer Dahlie lag, deren Beete draußen wie eine glühende Mauer um das Haus standen.

»Kommen Sie, Orla«, sagte er ohne Überraschung, »und sehen Sie die Schönheit an, die ganz reine, zwecklose Schönheit.«

Er stand daneben und sah zu, wie ein Abglanz des Wunders über Thomas' Gesicht ging, der Farben, Linien und Formen, zusammengeschlossen in ein unbegreifliches Bild, und er nickte, als sein Gast meinte, daß also auch in der Entzauberung der Natur etwas liegen könne, was noch tiefer mit Ehrfurcht erfülle, als der Blick unseres gewöhnlichen Auges es schon tue. Nur, sagte er, dürfte man dies vielleicht nicht eine Entzauberung nennen, sondern nur eine Enthüllung, und es sei eben das Große in diesem schweigenden Pflanzenreich, daß jeder aufgehobene Vorhang näher an das Heiligtum führe, was man beim Menschengeschlecht ja nicht gerade immer sagen könne. Und dabei lächelte er schon wieder auf die alte, etwas abwesende Weise, nahm den Gast unter den Arm und trat mit ihm durch eine breite Tür auf die Terrasse hinaus, nachdem er angeordnet hatte, daß man den Tee ihnen dorthin nachbringen möge.

Da, wo sie nun standen, höher als zur ebenen Erde, öffnete der Blick sich weiter, als ihn Thomas schon bei der Ankunft, öfter stehenbleibend und sich umwendend, gehabt hatte. Der Garten, von alten Bäumen mehr eingefaßt als bestanden und von breiten und langen Blumenbeeten durchzogen, von kleinen Mauern geteilt und von Treppen immer tiefer geleitet, senkte sich bis zum Fluß, der noch vor der letzten Baumreihe den Garten umfing und abschloß, ein klares, nicht breites Wasser, hier und da mit Schilf an den verschieden hohen Ufern bestanden, von Licht und Schatten wechselnd überspielt, das bald zwischen Wiesen, Feldern und kleinen Gehölzen verschwand. Dahinter lagen schon die Felder des Vorwerks, das man nicht sah, Waldinseln, eine dunkle, glänzende Straße mit Vogelbeerbäumen und der weißblaue, wolkenlose Himmel des Septembermonats.

»Wenn ich nicht wüßte«, sagte Thomas, »daß dies alles zwei Stunden von meiner Insel entfernt ist, würde ich glauben, daß ein südliches Land hier schon begonnen hat und daß dieser Fluß sein Wasser schon dem Rhein oder der Donau zuführen könnte.«

Der Hausherr bestätigte es mit Freude und führte ihn, indes hinter ihnen der Tisch schon gedeckt wurde, noch einmal den breiten Gartenweg hinunter, über dem die Farben fast zusammenschlugen und an dessen Rändern die letzten Schmetterlinge in der Sonne sich in leuchtenden Scharen versammelt hatten, ehe die Herbstwinde sie vertrieben, Pfauenauge, Trauermäntel und großflügelige Admirale.

Sie standen dann noch an dem hier etwas erhöhten Ufer des Flusses, sahen die Steine und wehenden Pflanzen auf dem Grunde, die hellen Säulen der Mücken darüber, leise Strudel, die wie dunkle Ringe abwärts glitten, und als sie sich umwendeten, war Thomas nicht verwundert, den Grafen sagen zu hören, daß der Fluß ihm eines der tiefsten Sinnbilder des Lebens zu sein scheine und daß er ihn mehr an diese Landschaft binde als alle Besitztümer des Hauses oder der Erinnerung.

Aber es sei wohl nicht ungefährlich, meinte Thomas, die Sinnbilder des Lebens und nun gar dieses immer wandernde und ziehende immer so vor Augen zu haben.

»Mein lieber Orla«, sagte der Graf, »was ist gefährlich und was ohne Gefahr? Wir beziehen alles auf den Tod und tun vielleicht nicht recht daran. Gefährlich scheint mir nur zu sein, was sich als fremd in mein Leben drängt, es zum Ausbiegen oder zum Aufstauen zwingt und mich für eine Weile daran hindert, so zu wachsen oder zu welken, wie das innere Gesetz es mir befiehlt. Aber der Fluß? Nein, er hindert mich nicht. Wir wissen beide, daß die Vergänglichkeit unser Leben ist.«

Das Haus bot sich ihnen nun deutlich von der Höhe des Gartens dar, mit seinen überhohen Fenstern und dem winkligen und etwas wirren Dach, das doch über einem einfachen Grundriß sich erhob.

»Er wollte nicht gerade hoch hinaus, mein Ahnherr«, sagte der Graf, »er wollte nur etwas quer hinaus, und davon ist uns allen etwas geblieben.«

Sie sprachen wenig, und auch als sie nach dem Tee durch das Haus gingen, machte der Hausherr nur hier und da eine erläuternde Bemerkung, als wisse sein Gast von allen diesen Bildwerken, Götzen und Heiligen, Gemälden und Gobelins ebensoviel wie er und als deute er nur auf diejenigen Dinge hin, die ihm auf eine besondere Weise lieb und vertraut seien.

So wenig Thomas in Wissen und Urteil dieser gütigen Hochschätzung entsprach, so sah er doch, welche Schönheit von Menschenhand in diesem Hause versammelt war und daß das Leben des Tages den Augen fremd und kalt erscheinen mochte, die gewohnt waren, unter diesen Dingen zu weilen. Am Ende des Ganges aber bat er doch, noch einmal in den breiten und langen Flur zurückkehren zu dürfen, der an den drei Haupträumen entlangführte und durch die hohen Nordfenster, die nach dem Walde lagen, ein stilles grünliches Licht empfing.

Hier waren an den mit grauer Seide bespannten Wänden eine Unzahl von Totenmasken aufgehängt, aus einer wie Elfenbein getönten Masse, die von der letzten Stufe menschlicher Form nun schweigend über den Betrachtenden hinausblickten. Da waren gleichsam zerbrochene Gesichter, aufgerissen von einem leidenden und leidenschaftlichen Leben und nun wieder zusammengefügt zu ihrer letzten Bestimmung durch die Hand des Todes. Da waren Gesichter, die schon im Leben gezeichnet sein mußten von der Spur des Ewigen, der sie schweigend gefolgt waren, und der Tod hatte sie nur so zu bewahren brauchen, wie er sie gefunden hatte. Und da waren schließlich die mit der großen Verwunderung, die wie Kinder in das große Dunkel hineingegangen waren, und da hatte der Tod die Gesichter angehalten, inmitten des großen Staunens, und ihre Augen waren noch weit aufgeschlagen, ohne Furcht und ganz leer, und durch das Leere stürzte nun Gott hinein, oder das Schweigen, oder was sie sonst erblickt haben mochten.

Es war kein Museum und kein Friedhof. Es war eine Gemeinschaft von Toten, aber ein stiller Strom des Lebens floß zwischen ihren Gesichtern dahin. Das gedämpfte Licht des Waldes glitt mit einem leisen Wechsel von Licht und Schatten über die steingewordenen Stirnen, nicht Kälte oder Grauen ging von ihnen aus, sondern ein kühler Friede, und auch das Kühle war nicht Fremdheit oder Jenseitigkeit, sondern nur ein leiser Abstand, ein Fernsein von Leidenschaft oder Schmerzen oder Glück, eine große, durchdringende Einsamkeit, das Attribut des eigenen, einmaligen Todes.

Am Ende des Flures, auf einem dunklen, niedrigen Sockel, stand eine hohe, bläuliche Vase, mit brennendroten Dahlien gefüllt. Sie sahen wie ein Feuer aus, das zu Ehren der Toten mit unbeweglicher Flamme brannte.

Thomas sagte nichts, und auch nachher, als sie auf der Terrasse saßen, von der letzten Sonne erwärmt, blickte er nur nachdenklich über den Garten hin.

»Nur die Musik vermag Ähnliches auszudrücken«, sagte der Graf endlich, »weil sie die Kunst ist, an der nichts verwest oder verfällt …«

»Und wenn Ihre Mutter hier ist«, fragte Thomas, »meinen Sie nicht, daß es ihr schwerfällt, dort entlang zu gehen?«

Der andere lächelte schon wieder. »Meine Mutter ist eine große Frau«, erwiderte er, »größer als wir alle. Das letztemal, als wir zusammen dort waren, sagte sie: ›Ich erwarte, Natango, daß du nicht viel schlechter aussehen wirst!‹ Und ich habe geantwortet, daß ich mir natürlich Mühe geben würde.«

»Ich glaube, daß Sie lächeln werden«, sagte Thomas, aber es fröstelte ihn doch ein wenig.

»Ja, wenn er den richtigen Augenblick wahrnimmt, könnte es schon sein. Aber das ist schwer vorauszusagen. Wenige von uns sterben den Strohtod …«

In der Dämmerung begann Pernein zu spielen, und Thomas saß am Kamin und hörte zu. Wenn er den Blick hob, konnte er das Gesicht sehen, auf dem der Widerschein des Feuers lag, und die Augen, die nun gar nichts mehr mit ihm oder dem Hause zu tun hatten. Es waren nun schon die Augen jener Bilder aus dem grauen Flur, nur geöffnet, um das andere hineinzulassen, ohne ein eigenes, störendes Leben, gehorsame Brunnen, die in ihre Dämmerung das fremde Licht hineinnahmen.

Es wurde Thomas nun gewiß, daß für jenen Musik das einzige war, was ihm Leben bedeutete, die einzige Sprache, in der er weder lächelte noch spottete, das einzig Wirkliche dieser Welt, vor dem er Achtung hatte, in dem es keine Lüge gab und in dem es nicht schamlos war, sich zu enthüllen. Nicht das Wasser war sein Element oder die Erde, sondern nur der Ton, das, was leise angeschlagen wurde und anschwoll und erstarb. Was sich verflocht mit anderen Tönen, mit Reihen und Bögen von Tönen, und wieder auflöste und am Ende wieder ganz einsam blieb, das Urelement, dem alle Vermählung versagt war, wenn das Letzte gesagt war, und nun blieb nichts als die Reihe fragender Töne und zuletzt der letzte, einzelne Ton, um dessentwillen das Ganze geschrieben schien.

So war es nun mit diesen alten Geschlechtern, dachte Thomas. Auf allen Schlachtfeldern lagen sie verstreut. Blut und Saat hatten sie hingegeben, und plötzlich sammelte sich alles Abseitige von ganzen Generationen in solch einer Wunderblume, blühte, duftete und glänzte, des Welkens schon bewußt, hinterließ nichts, was mit Händen zu greifen war, keinen Kranz, keinen Stern, keine Erde, kein Kind, nichts als ein scheues Gerücht, daß einmal auch ein solcher aus ihrem Samen entsprossen war, ein Jenseitiger fast, weit zurückreichend bis zu jenen Göttern mit den Bernsteinkronen und weit vorausdeutend in das Weglose, das vor ihnen allen lag.

Es endete leise mit dem Gang eines alten Liedes, das Thomas nicht kannte, eines Marschliedes, in dem eine bescheidene Tapferkeit lebte und eine gedämpfte Wehmut, halbe Töne, die einander stützten und so auf eine Ferne zugingen, die sie aufnahm und verbarg.

Die letzte angeschlagene Saite klang lange nach.

Der Graf setzte sich zu Thomas ans Feuer und rauchte. Sein Gesicht war froh, gereinigt wie nach einem Regen, und er begann von den Pflanzen zu sprechen, die er auf die Insel bringen wollte, und von den Farben, an die er gedacht hatte. Nichts sei ihm an den Engländern so lieb, sagte er, wie die Weisheit und Bescheidenheit, mit der so viele ihren Lebensabend erfüllten, indem sie Gärtner würden, nichts als Gärtner. Staatsmänner und Philosophen, Feldherrn und Parlamentsredner. Daß ein langes und auch ruhmvolles Leben sie nicht verdarb, sondern sie zur Schönheit zurückkehren ließ und zur treuen Pflege jener hilflosen Boten aus einer anderen Welt. Und es freue ihn schon jetzt, daß auch Thomas es ihnen nachtun werde und an den ersten, großen Schritt, den aus der lauten Welt, nun den zweiten, kleinen fügen werde, den in das schweigsame Reich der Pflanze.

Ob er wisse, fragte Thomas, daß der erste Schritt groß gewesen sei?

»Sie wollten ›weit‹ sagen«, erwiderte der Graf, damit nicht gleich ein Übermaß von Bewertung darin enthalten sei, obwohl er selbst in der bewußten Einschränkung auf Einsamkeit immer etwas sehe, was der Größe nahekomme. Denn Verzicht – und der sei das Wesen der Einsamkeit – sei auch in dem Größten lebendig, das wir erwarten könnten: in der Weisheit und in der Liebe.

Es freue ihn, sagte Thomas, daß er diese beiden doch anerkenne.

Ja, weshalb nicht? Er erkenne eine Menge von Dingen an, aber damit sei ja nicht viel getan. Von da bis zum Streben nach ihnen sei ein weiter Weg, und dieser Weg sei ihm doch zu mühsam, vielleicht auch zu bevölkert. So sehe er ihn nur entlang, mit einiger Teilnahme, und das sei nun allerdings alles, was er darin leiste.

Vielleicht, meinte Thomas, gebe es auch Menschen, die dies ohne Mühe gewannen, durch eine glückliche oder vielmehr gesegnete Anlage. Einige von den Masken draußen schienen ihm das besessen zu haben.

Das könne wohl so sein, erwiderte der Graf, aber auf sich selbst möchte er das doch nicht angewendet sehen. Bei ihm sei es vielmehr so, daß nichts ihm der Mühe wert zu sein scheine, außer vielleicht in der Musik. Er gerate nicht gern in Schweiß, das sei sein ganzes Geheimnis, und deshalb habe er auch eine solche Hochachtung vor Thomas, der den Schweiß gerade gesucht habe. Er erscheine ihm wie ein Mann, der gleich nach dem Aufstehen mit einer Riesenwelle beginne und von ihr aus am Abend mit einem Salto ins Bett falle. Das bewundere er sehr, denn er selbst habe nie eine Riesenwelle fertiggebracht. »Sie fürchten sich nicht vor dem Tode, Graf?« fragte Thomas nach einer Weile.

»O nein, weshalb sollte ich mich fürchten? Ich fürchte höchstens die Form, die wir nie vorher wissen, und es gibt leider sehr häßliche Formen … aber das müssen wir nun schon guten Mutes abwarten. Außerdem ist auch das wahrscheinlich eine Sache der sogenannten Hinterbliebenen. Alles Schwere am Tode ist immer eine Sache der anderen, nicht unsere eigene.«

»Und Sie haben getötet im Kriege?«

»Ja, selbstverständlich, dazu ist er ja leider da. Sogar mit ruhigem Herzen, wie im Spiel, wenn wir mit dem As einen König stechen. In der nächsten Runde kann eben der andere das As haben.«

»Aber nicht aus der Nähe? Im Handgemenge, mit dem Bajonett oder dem Spaten?«

»Nein, das nicht. Auch das würde ich natürlich getan haben, aber es ist besser, daß es mir erspart geblieben ist … Sie fragen mit Absicht, Orla?«

»Ja, natürlich. Ihr Haus hat so einen schönen, tiefen Widerhall … ich habe noch niemals darüber gesprochen.«

»Sie können es sagen oder auch nicht sagen. Meistens bedauert man es hinterher, aber Leute, die auf einer Insel leben, sollten schon ruhig einmal sprechen; sie verlieren sonst leicht das Gefühl für ein Gegenüber.«

»Ja«, sagte Thomas, »die meisten würden es wohl nicht verstehen, aber mit Ihnen ist es anders. Man weiß nie, was Sie denken werden. Also es war auf meinem letzten Schiff, als das Ende kam. Sie holten die Flagge nieder, und ich kam dazu. Es waren schlimme Gesichter, und in das vorderste hob ich meine Pistole. Es war wohl nur eine Sekunde Zeit, denn sie standen auch schon hinter mir, aber es war mein Fehler, daß ich das Gesicht ansah. Es war nicht ein augenblicklicher Fehler, wissen Sie, sondern ein angeborener, dauernder Fehler. Daß ich nicht schoß, wie ein Automat, sondern daß ich zuerst dachte, oder auch nur, daß ich sah, eben ein Gesicht sah, und nicht eine Fratze oder eben das Böse.

Und als ich sah, war es eben ein Gesicht, nicht vielleicht Gottes Ebenbild (daran habe ich sicherlich nicht gedacht), aber doch ein Stück Leben, mit Atem gefüllt, mit Blut, mit Leidenschaft, etwas, wozu ich den Tod und die Zerstörung in der Hand hielt.

Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen. Ich hatte nicht etwa Angst, ich fürchtete mich nicht, sondern ich sah nur und grübelte vielleicht, wenn das in einer Sekunde geschehen kann. Ich bin überzeugt, daß ich geschossen haben würde, trotzdem, aber ich hatte die Sekunde versäumt, die gleichsam blinde Sekunde, vielleicht auch nur den Bruchteil einer Sekunde. Denn als der Abzug zurückwich, schlugen sie von hinten zu. Ich weiß nicht einmal, ob der Schuß noch gefallen ist. Ich griff im Fallen in das Fahnentuch, und dann warfen sie mich über Bord. Ich verlor die Besinnung, noch im Fallen, aber mein Bursche sprang mir nach und rettete mich.«

Sein Gesicht war blaß geworden und wie von einer leisen Scham gequält.

Aber der Graf hob beruhigend seine Hand.

»Sie dürfen das nicht schwernehmen, Orla«, sagte der Graf. »Es ist Ihnen doch klar, daß Sie das Schiff nicht gerettet haben würden. Aber das spielt ja auch nur die geringste Rolle, denn Sie sind ja der Meinung, daß dies ein verstohlener Flecken auf Ihrer Ehre sei. Aber dieser Meinung bin ich nicht. Nicht hingehen, das würde eine andere Sache sein. Die Kajütentür wieder zumachen und so tun, als ob man nichts gesehen hätte. Aber dieses, was Sie ›das Sehen‹ nennen, das ist ganz etwas anderes. Zum Töten ohne Sehen oder Denken, zum blinden Töten gehört eine gewisse grandiose Verachtung des Lebens, des eigenen so gut wie des anderen. Aber wer einmal erkannt hat, daß alles Leben ein Wunder ist, das der Pflanze so gut wie das des Menschen, der hat eben die zögernde Hand oder sagen wir auch die Ehrfurcht der Hand, und der ist nicht zum Soldaten geboren. Ob es richtig ist oder nicht, das Zögern, meine ich, ist eine andere Sache, und ich will sie nicht entscheiden. Außerdem entzieht es sich ganz unserem Willen, es ist erst da, wenn die Probe da ist, und dann ist es zu spät. Wir können dann nur noch einsehen, daß wir eben nicht den rechten Beruf gewählt haben.

Übrigens bewundere ich, daß Sie es erzählt haben. Sehr wenige würden das getan haben. Und ich verstehe nun auch erst, weshalb Sie auf die Insel gegangen sind.«

»Es war nicht dies allein«, sagte Thomas. »Ich hatte nicht die Welt, die Sie haben und in der Sie untertauchen können. Ich hatte so gut wie nichts, und ich erkannte, daß man etwas haben muß. Und wenn es auch nur ein Fischnetz ist.«

»Ja, ja«, nickte Pernein, »auch mit einem Fischnetz kann man das fröhliche Herz heraufholen, leichter wahrscheinlich, als wenn ich in meine Welt ›untertauche‹, wie Sie sagen. Ich habe es noch nie heraufgeholt vom Grunde.«

»Aber Ihr Gesicht war anders nach dem Spielen … Sie hatten ein gereinigtes Gesicht, wenn Sie das nicht mißverstehen wollen  …«

»Nein, ich verstehe Sie ganz gut, und Sie haben auch recht. Ich habe sogar ein reines Herz dabei, aber ein reines Herz ist noch kein fröhliches Herz … nun, lassen wir das. Ich habe immer das Gefühl, daß wir gar kein Recht haben, an solche Dinge einen Gedanken oder ein Wort zu wenden. Denn keiner von uns ist beispielsweise Johann Sebastian Bach. Er hatte ein Recht dazu, mit jeder Note danach zu suchen und fast mit jeder Note es zu verkünden. Deshalb spiele ich ihn auch nicht. Ich fürchte mich vor ihm.«

»Können Sie sich überhaupt fürchten, Graf?«

»Ja, gewiß, ich kann mich sehr fürchten. Vor Krebsen zum Beispiel, vor Skorpionen und bei der Gartenarbeit vor Maulwurfsgrillen  … auch vor Engeln würde ich mich fürchten, wenn ich an sie glaubte, und vor ihren Abbildern auf der Erde. Man sagt ja, daß es hin und wieder welche gebe, und das könnte schon wahr sein. Sie würden mir zu rein sein, verstehen Sie? Dagegen fürchte ich mich nicht vor Gespenstern, auch nicht vor dem dieses Hauses. Ja, es soll eins geben, und es soll dem Hausherrn den Tod anzeigen, wenn es erscheint.«

Er beugte sich gegen das Feuer vor, die Ellbogen auf den Knien, und wärmte seine Hände. Er lächelte, aber noch im Lächeln sah sein Gesicht wieder uralt aus, wie das eines seiner Vorfahren vor tausend Jahren, und was er sprach, mochte auch jener längst verstummte und verfallene Mund gesprochen haben.

»Es gibt Überlieferungen«, fuhr er nach einer Weile fort, »Gespräche von Vorfahren und auch von Dienern. Wovon wohl nicht viel zu halten ist. Aber es gibt auch Aufzeichnungen, von dem ersten, der es gesehen hat. Er hat viel geschrieben, und das meiste ist verschollen, aber dieses hat sich erhalten, eine Art von Tagebuch, und dort hat er es aufgezeichnet. ›Ist auf einer couchette vor dem Kamin gesessen, als ich eintrat, und hat in das Feuer gesehen, als ob er meditiere. Hat aber das Gesicht in die Hände gestützt, also daß wenig von seinem Ausdruck zu eruieren gewesen. War in ein Gewand ohne Farbe gekleidet und gleichsam von einer crépuscule umgeben, wiewohl das Feuer alle anderen Objekte genügsam erleuchtet. Ist von meinem Eintritt nicht tangiert gewesen, und sind wir beide so verharret, bis die pendule auf dem Kaminsims die halbe Stunde geschlagen. Ist darauf in seinen contures undeutlich geworden wie in einem tiefen Wasser, auch in seiner substance gleichsam flüchtiger, und ist vergangen wie eine Flüssigkeit auf dem Estrich, in sich, und keine Spur von ihm verblieben. Haben sich mir nicht die Haare gesträubt, wie man zu sagen pfleget, aber hat mich kühl zwischen den Schultern berühret und habe gewußt, daß der HERR mich angesehen.‹

Ich habe es Ihnen wörtlich vorgetragen, wie es dasteht, weil man nichts dazutun und nichts abnehmen darf. Und der Schluß ist mir immer groß in seiner Einfachheit erschienen: ›Und habe gewußt, daß der HERR mich angesehen hat …‹ Der Herr … er hat es mit großen Buchstaben geschrieben …, aber ich habe ihn noch nicht gesehen, den Meditierenden.«

Dann stand er auf, holte einen Zettel von dem großen Tisch zwischen den Fenstern, las die Namen der Stauden vor, die er bringen wollte, und fragte, welche Farben Thomas wünsche.

Draußen, während Thomas die Karbidlampe an seinem Fahrrad anzündete und das weiße Licht auf eine der Dahlienstauden fiel, die neben der Treppe standen, hob er eine der beschienenen Blüten vorsichtig mit der Hand in die Höhe. Sie war schon schwer vom Tau, und er betrachtete sie aufmerksam. »Nein«, sagte er schließlich, »es wäre doch nicht gut, Orla, wenn wir alle vergäßen, daß die Zerstörung der Schönheit eine Todsünde sein kann, nicht wahr?«

Dann dankte er für den Besuch und wünschte ihm eine gute Heimfahrt.

Von der großen Straße konnte Thomas noch einmal das Haus sehen. Ein trüber rötlicher Mond hing über dem winkligen Dach und den matt erhellten Fenstern der Bibliothek. Es sah aus, als sei er das Wirkliche und Nahe und jene seien fern und nur von einem erborgten Licht beschienen. Das Dach hing drohend über den matten Vierecken, und Thomas meinte, man sollte dem Grafen vielleicht vorschlagen, einen neuen Dachstuhl auf das Haus zu setzen, steil und einfach wie der auf dem Schloß am See.


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