Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

11

Es gibt Jahre, von denen kein Aufhebens oder Rühmens zu machen ist. Sie stehen wie Sprossen in einem Zaun, und es dauert wieder eine Weile, bis einer der Eichenpfähle kommt, der das Ganze hält und ihm Ansehen gibt. Aber wir kennen keinen Zaun, der nur aus Pfählen bestände, und kein Leben, das in jedem Tag des Aufhebens oder Rühmens wert wäre. Es würde ein gewaltsamer Zaun und ein gewaltsames Leben sein.

Das Schicksal ist sparsam mit den großen Jahren. Ein Junge hat einen dünnen Stock in der Hand und läuft an einem Zaun entlang. Der Stock fährt über die Sprossen, und es klappert eintönig, bis einer der Pfähle an die Reihe kommt. Dann gibt es einen deutlichen, abgesetzten Ton. So ist es mit unseren Jahren, an denen das Schicksal entlang läuft. Sie klappern ein wenig, bis dann wieder ein »Pfahljahr« an die Reihe kommt. Sie sollen nicht verachtet werden, das Leben weiß schon, wozu sie da sind, aber man soll kein Gerede von ihnen machen. Die stillen Leben sind wie die Steine. Sie wachsen in der Tiefe, und niemand weiß von ihnen. Aber einmal werden die großen Dome aus ihnen gebaut.

Zweimal war das Schicksal in diesen Jahren bei Thomas und Bildermann gewesen, hatte sie angerührt und sich wieder verhüllt. Das erstemal standen sie auf unter der Berührung (seit dem Kriege hatte nichts mehr sie berührt) und gingen fort. Sie brachen auf aus ihrem leeren Leben und gingen. Sie gingen nach Osten, aber es war für das Schicksal gleichviel, in welcher Richtung der Windrose sie gingen. Es wartete überall auf sie.

Das zweitemal war eine Sterbende ihnen nachgekommen, hatte sie zwei Wochen lang angesehen, wenig gesprochen und war wieder davongegangen. Sie waren zu sicher gewesen. Sie hatten zerrissene Fäden an den Armen gehabt, aber sie hatten sie abgestreift, wie man Spinngewebe abstreift, nachdem man einen herbstlichen Wald durchschritten hat. Sie hatten das Lot nicht ausgeworfen, sie glaubten ihr Fahrwasser zu kennen, aber das Schicksal hatte ihrem Kiel einen Stoß gegeben. Er hatte den Grund berührt, die Masten hatten gezittert, die Lampen hatten geschwankt. Es war alles schnell vorübergegangen, aber sie waren nicht taub oder blind gewesen. Sie hatten die Warnung verstanden. Sie sahen wohl nicht Gottes Hand darin, sondern eher die dunklen Mächte mit dem steinernen Gesicht, die ihnen vertraut geworden waren in den letzten Jahren. Aber Namen waren ihnen belanglos geworden, sie verstanden auch den namenlosen Anruf.

Sie verstanden, daß jeder Druck der Hand, ja jedes Wort den Menschen schon bindet, auch die Einsamen, sie vielleicht am meisten. Daß ein Leben nicht aus der Vergangenheit herausgenommen werden kann wie ein Fisch aus dem Wasser, daß jeder Schritt, den man tut, auf Leben tritt, es sei denn, man ginge durch die Luft, und auch von der Luft ist noch nicht bekannt, ob es schmerzlos geschehen würde. Sie waren noch vorsichtiger als sonst und noch fleißiger als sonst. Die Arbeit erschien ihnen als der einzige gesicherte Bezirk, den sie kannten.

Sie begnügten sich nicht mit dem, was ihnen vorgeschrieben war und was sie durch einen Vertrag gelobt hatten. Es schien ihnen zuwenig und schien ihnen zuviel Zeit zu lassen für Dinge, die nicht Arbeit waren. Für das Spiel etwa oder für das Denken. Das Kartoffelfeld konnte vergrößert werden, der Garten konnte sich bis an das Ufer hinunterziehen, eine Badehütte konnte gebaut werden. Wenn man Umschau hielt, waren die Tage kurz für zwei Männer, die weder gut noch böse sein wollten, weder glücklich noch unglücklich, sondern die nur fleißig sein wollten, weil der Sinn des Lebens ihnen etwas fraglich geworden war. Für das Kind war nun nicht zu sorgen, solange es fort war. Man konnte ihm nur schreiben und es gewiß sein lassen, daß man unsichtbar an seiner Seite war. Beim General konnte man ab und zu am Feuer sitzen und an seinen Augen sehen, daß es ihn freute. Auch zum Grafen konnte man dann und wann und zu dem Förster, der an die Heiligen glaubte. Sie waren schweigsame Leute, die mit den Unsichtbaren umgingen. Man konnte bei ihnen sein und ihnen ohne ein Wort zeigen, daß auch das Sichtbare noch da war in der Welt, daß es teilnahm an ihrem Leben, daß die Schlacht sich nicht ganz im Dunklen und nicht ganz ohne Gefährten abspielte.

Aber damit war es auch zu Ende. Wenn Bildermann einmal den Kreis weiterzog und wie eine Taube aus der Arche Noah ausflog, wenn er in ein Wirtshaus oder in eine Versammlung ging, kam er immer ohne ein Ölblatt wieder. »Sie reden noch immer, Kapitän«, sagte er, »aber es gibt immer mehr Kindergräber auf den Kirchhöfen. Und wenn sie nicht mehr arbeiten wollen, dann feiern sie und schlagen die tot, die arbeiten wollen. Wenn sie hier wären, würden sie uns jeden Tag totschlagen, Kapitän.«

Thomas sah dann von seiner Arbeit auf. Er band Bleikugeln in das schwere Netz oder schrieb wieder hier und da ein Wort oder einen Satz auf ein loses weißes Blatt. »Wir sind nicht die einzigen, Bildermann«, sagte er, »die still sind und arbeiten. Einmal werden sie sich zusammenfinden. Wir müssen uns nur abgewöhnen, die Peitsche in der Hand zu halten.«

Es war ein harter und langer Winter. Merkwürdige Vögel und merkwürdige Wanderer zogen über das Land, Propheten und Landstreicher, und eines Morgens stand Christoph in der Tür. Sein Bart reichte ihm immer noch bis auf den Gürtel, seine Augen waren nicht heller geworden, und auch der Geruch von Rauch und Fischen stieg immer noch aus seinen abgetragenen Kleidern.

Er schloß die Tür hinter sich, sah flüchtig über Thomas und Bildermann hin, die am Tisch bei ihrem Frühstück saßen, und trat dann leise auf seinen umwickelten und verschnürten Füßen vor den Globus. Dort blieb er lange stehen, die Hände auf den schweren Stock gestützt, und betrachtete die Länder und Meere, die so nahe und greifbar vor seinen Augen lagen. Schließlich hob er vorsichtig eine Hand, stieß leise an die Kugel und ließ sie um ihre Achse kreisen. Ein tiefes Erstaunen sammelte sich langsam in seinem Gesicht, von einer unbestimmten Trauer beschattet, und er konnte nicht müde werden, das Spiel zu wiederholen und die unerreichbaren Länder vorbeigleiten zu lassen.

Sie sahen ihm schweigend zu, und es bewegte sie wider Willen, wie er dort gleich einem Gefesselten stand und der bunte Traum der Welt sich an ihm vorüberschwang. Er sah nicht wie ein Sieger aus, viel eher wie ein Schiffbrüchiger, aber selbst der Geschlagene hatte noch die Unversöhnlichkeit dessen, der sein Schicksal nicht anerkennt.

Dann streifte er die Bücher und alles andere mit einem nachdenklichen Blick, trat schließlich zu ihnen an den Tisch und sagte: »Also doch verkleidet gewesen, Kapitän!«

Sie luden ihn ein, mit ihnen zu essen, und nach einer Weile fragte Thomas, wie es ihm ergangen sei und ob er die Fahne des Sieges schon näher sehe.

Aber er fuhr nur verächtlich mit der Hand durch die Luft: »Wenn der Bürger sich mästet«, sagte er, »wundert sich kein Mensch. Er hat nie etwas anderes getan. Aber wenn der Proletarier ein Mastschwein wird, ist es nur zum Kotzen. Ich gehe jetzt.«

Wohin er ginge?

Er deutete mit der Hand nach Osten, und seine schwermütigen Augen gingen der Hand voraus.

Ob er nicht lieber bleiben wolle? Er, Thomas, wolle mit dem General sprechen, ob er nicht eine Arbeit für ihn habe. Auch in den Früchten des Paradieses pflege der Wurm zu sitzen.

Nein, er wolle nicht bleiben. Zu lange sei er Fischer gewesen, und die Fische wanderten, das wisse der Kapitän ja.

Ja, aber meistens ins Netz.

Das könne sein, erwiderte Christoph, aber er wolle anständig sterben.

Er bekam ein Glas Rum und ein Päckchen Tabak. Dann griff er wieder nach seinem Stock. »Wie ist das, Kapitän, mit der goldenen Krone?« fragte er auf der Schwelle und lächelte in seinen Bart.

»Sie steigt, Christoph«, sagte Thomas. »Sie ist nicht mehr auf dem Grunde.«

»Na, dann halt sie man fest, Kapitän!« meinte Christoph gutmütig. Sie sahen ihn über das Eis davongehen, in seinem grauen kurzen Mantel, auf den lautlosen Füßen, die eine breite Spur hinterließen.

»Wie ein Wolf«, sagte Bildermann nachdenklich.

Aber auch die Tiere wanderten über die gefrorene Schneedecke, Meilen und Meilen in einer einzigen Nacht, wenn sie so leicht waren, daß sie sie trug. Und eines Morgens, schon gegen Ausgang des Winters, machte Bildermann eine große Fährte aus, die er zuerst für die eines Hundes hielt, die ihm dann aber doch fremd und merkwürdig vorkam. Er fuhr in einer Schneewolke vor dem Schloß vor und ruhte nicht, bis der General das Pferd vor den Schlitten spannen ließ.

Es war eine Wolfsfährte.

Es dauerte bis zum Nachmittag, ehe sie die Schützen zusammen hatten. Der Wind war umgesprungen und wehte warm aus Südwesten durch die Wälder. Es regnete nicht, aber der Schnee fiel von den Bäumen. Zuerst stäubte er in Wolken und Schleiern herunter, und lange weiße Fahnen wehten durch den Wald. Dann aber begann er in schweren Stücken abzubrechen oder an den Ästen entlangzugleiten. Dumpf schlug es auf die Erde, die befreiten Zweige schwankten, oder sie brachen vorher, da das Gewicht ihrer Last sich vergrößerte. Unruhe war in den Dickungen und im Hochwald, und sie waren alle besorgt, ob ihnen das Wild nicht lautlos entgehen würde.

Thomas und der »junge Graf« standen nebeneinander, bis die Schützen ihre Plätze eingenommen hatten. Pernein wollte ihn gern nach der Jagd mitnehmen, aber Thomas meinte, es werde zu spät werden, da sie einen Siegestrunk im Schloß doch nicht würden ausschlagen können. Ja, alle solche Siege, erwiderte der Graf, kämen ihm nie so ganz sauber vor. Zwanzig Treiber und zehn Schützen gegen ein einzelnes Wild seien keine besondere Leistung, und er sei bei solchen Gelegenheiten immer versucht, zu tun, als sehe er nichts, und das Wild durchzulassen. Ungleiche Waffen, das sei ihm immer fatal.

»Wir denken wieder zuviel«, sagte Thomas lächelnd. »Sehen Sie Bildermann und die anderen. Sie sehen nur den Wolf  …«

»Ja, und wir sehen die Idee des Wolfes, lieber Orla. Das ist wahrscheinlich unser ganzes Geheimnis, nicht nur bei der Jagd … also bis nachher.«

Am Ende der Schneise wurde ein Arm gehoben, zum Zeichen, daß die Treiber angetreten waren. Sie waren angewiesen, leise und langsam zu gehen und nur von Zeit zu Zeit mit den Stöcken an einen Baum zu schlagen. Man hörte nur den Wind hoch durch die Wipfel gehen, mit einem hohlen Klang, der Tauwetter anzeigte, und den Schnee von den Bäumen fallen. Durch einen solchen Wald, dachte Thomas, würde der Alte nun wohl gehen, mit seinen umwickelten Füßen, und der Schnee würde auf seine Mütze fallen. Nein, es war ein zweifelhaftes Geschenk, das der Mensch mit dem Glauben bekommen hatte.

Ein Eichelhäher begann plötzlich in der Dickung zu lärmen, laut und aufgeregt, und es ging wie ein Schlag durch den ganzen Wald. Dann stieg das hohe, wilde Geheul der Treiber wie eine Rakete aus der Tiefe, wurde jäh von ein, zwei, drei Schüssen zerschnitten und brach dann von neuem los, wilder noch und besessener als vorher, erfaßte die ganze Linie und warf sich wie eine einzige rasende Welle auf die Schützen zu.

Der Wolf mußte versucht haben, durch die Reihen der Treiber zu flüchten, mußte beschossen worden und wieder umgekehrt sein.

Nein, es ist doch nicht nur eine Idee, dachte Thomas, als er sein Herz schlagen hörte und den Büchsenlauf in seiner Hand zittern fühlte.

Zwischen ihm und dem Grafen Pernein standen in lockerem Verband mannshohe Fichten, noch tief mit Schnee bedeckt. Die Sicht war beschränkt und in das Innere der Dickung nur durch einen flachen, halbverwehten Graben geöffnet, von Haselnuß und Hainbuche gesäumt und bedeckt.

Erst als hier und da, noch ganz gedämpft, der helle Ton zu vernehmen war, mit dem der Stock eines Treibers gegen einen Baum schlug, erschien am Ende des Grabens unter den Zweigen einer gestürzten Fichte das fahle, eisgraue Gesicht des Wolfes. Er schob sich unter Schnee und Ästen so lautlos hervor wie ein Bild auf einer Leinwand, wendete sich, sicherte zurück, richtete die Lichter wieder nach vorn und schob sich schließlich unter dem Gestrüpp der Grabenböschung näher und näher heran. Ab und zu fiel ein handgroßes Stück des Schneebehanges von einem Haselnußzweig, der frei gewordene Ast schwankte leise auf und ab, und nur daraus war zu erraten, daß der Weg des Wildes sich ihnen näherte.

Sie hatten beide den Kolben ihrer Büchse an der Wange, doch war es nicht möglich und auch nicht erlaubt, in die Dickung hineinzuschießen. Das Klopfen war nun schon nahe gekommen, und hier und da war der alte Treiberruf in polnischer Sprache zu vernehmen: »Jilk … Jilk! Jilk … Jilk!« Es klang wie eine dumpfe Beschwörungsformel.

Am Ende des Grabens, auf der noch warmen Fährte des Wolfes, stieg nun ein schneebehangener Mann mit grauem Bart über die gestürzte Fichte, erblickte die Fährte, hob beide Arme auf und schrie, alle Vorsicht und Regel vergessend, einmal wild und hoch über das Treiben hin.

Es war, als werfe der Schrei den Wolf wie eine Schleuder aus seiner letzten Deckung. Mit drei langen Fluchten war er am Rand der Schneise. Mit der vierten warf er sich hoch und lang über den weißen Weg, und noch in der Luft, mit dem grauen Fang schon an den ersten Zweigen des jenseitigen Waldes, empfing er die Kugel des Grafen. Thomas war es, als höre er den harten Schlag und als sähe er den gestreckten Körper in der Luft zusammenzucken, ehe er sich im stäubenden Schnee überschlug, mit wilden Lichtern sich noch einmal aufbäumend und dann zusammenfallend wie grauer Staub.

»Schade!« sagte der Graf, als sie bei dem toten Körper standen. Seine Augen sahen grübelnd auf die Beute hinunter, und als er Thomas anblickte, mit dem abwesenden, traurigen Lächeln um den Mund, war es diesem, als sähe er hinter der hohen, in den Schultern geneigten Gestalt die lange Reihe seiner Vorfahren, die vielleicht in denselben Wäldern den Wolf gejagt hatten und von denen sicherlich keiner das Wort des Bedauerns über dem bezwungenen Wild gesprochen hatte.

»Weshalb haben Sie nicht geschossen, Orla?«

»Er war Ihnen näher, und um mit der Kugel so schnell fertig zu werden, muß man mehr Vorfahren in diesem Handwerk gehabt haben.«

»Ich hätte Ihnen das gern gegönnt«, sagte der Graf. Dann gab er dem General und den anderen einen gleichmütigen Bericht, wie es zugegangen war.

Sie kamen erst spät vom Schloß fort. Der Graf hatte auf seine Beute verzichtet. Er habe keine Verwendung dafür, aber in der Halle werde sich der Wolf gut ausnehmen, und der General möge ihm die kleine Freude machen.

Der General hatte eine Feuerzangenbowle gemischt und eine Rede gehalten  … symbolischer Vorgang … edles Blut stärker als der graue Räuber … am Vaterland sich wiederholen … das erste Glas auf den königlichen Herrn …

Sie atmeten tief in der feuchten, kühlen Luft. Sie fuhren am See entlang zur Försterei und schwiegen. Dort band der Graf das Pferd an, und sie gingen auf dem Eis noch etwas auf und ab.

Bildermann war schon auf der Insel, und sie sahen das Licht aus den Fenstern fallen.

»Sie freuen sich, Orla, wenn Sie das sehen, Ihre Lampe, nicht wahr?«

Ja, er freue sich sehr, und jedesmal von neuem.

»Das ist schön, Orla, und es ist auch natürlich. Aber ich freue mich nicht mehr. Ich gehe hier auf und ab, obwohl ich kalte Füße habe, weil ich es noch etwas hinausschieben möchte, diesen Flur mit den toten Gesichtern, den alten Friedrich, der sich so wohlwollend verbeugt, die Kerzen, das Feuer, und dieses große Schweigen, das das ganze Haus erfüllt und durchdringt. Es gibt so Häuser, wissen Sie, in denen nur Tote atmen, wenn man das sagen darf. Und man selbst ist nur wie ein Irrtum da, ein vergessener Lebensrest. Wie ein Schmetterling in einem Keller.

Es macht mir so wenig Spaß mehr, die Bücher, die Noten, und besonders das Aufwachen am Morgen und das Ankleiden. Es ist immer dasselbe, finden Sie nicht? Und jedesmal, wenn ich heimkomme, besonders am Abend wie heute, habe ich eine ganz leise Hoffnung, der graue Herr könnte am Kamin sitzen. Es ist wie ein Spiel, so wie man über dünnes Eis läuft, und von unten kommen die Wasserpflanzen an die Decke und schwanken leise auf und ab in der Schwärze …«

»Sie haben keine Arbeit, Graf.«

»Ja, ich weiß, alle Arbeitslosen verkommen langsam. Halten Sie Ihre Netze fest, Orla, ganz fest! Ich denke, Sie waren einmal auf dem gleichen Wege, aber Ihre Hände haben Sie gerettet.«

»Die Hand ist nur ein Werkzeug … man muß leben wollen, Graf.«

»Ja, das ist es. Leben wollen. Sie haben ganz recht … nun, versuchen wir es also noch einen Tag oder ein Jahr, oder zehn Jahre  …«

Er stieg wieder den Uferhang hinauf, und dann hörte Thomas die Hufe des Pferdes im feuchten Schnee …

Frühjahr und Sommer gingen ihnen schnell dahin. Die Tage liefen ihnen wie die Glieder einer Kette durch die Hände, mit der Sonne beginnend und mit ihr endend. Es gab ruhige Morgen mit unbewegtem Wasser, an denen sie die Boote tief mit Fischen beluden, und es gab Tage und Wochen mit Sturm und Regen, an denen die Netze leer blieben und die Arme am Abend schmerzten von der harten Arbeit des Ruderns gegen den Wind. Aber ein Fischer lernt Geduld mehr noch als ein Jäger, weil seine Beute unsichtbar ihre Tage und Nächte verbringt und ihre Wege nicht vor den Augen der Menschen zieht.

Joachim schrieb, daß er wohlgelitten sei auf dem Schiff, daß er ab und zu ein Lob erhalte und daß ihre erste Reise weit hinausgehen solle. Man sage sogar, nach den Westindischen Inseln. Aber daß der Kapitän manchmal sage, lieber wolle er mit einem Wald voll Affen über den Stillen Ozean segeln als mit ihnen über die Kieler Förde.

Auch das Kind lehrte sie Geduld. Sie wußten beide, daß es ihnen schmerzlich fehlte. In ihrem männlichen Leben war es wie eine Blume gewesen. Sie hatten ihre Ruder wegstellen und ihr Gerät aus der Hand legen können, um es anzusehen.

Es war mit ihrem neuen Leben von Anfang an verbunden gewesen, ein stiller Helfer und Gefährte, ein reines Herz, das sich aus dem großen Hause ein bißchen an sie verloren hatte, die von den Ozeanen gekommen waren, und das ihnen vertraute, als ob sie alles wüßten, verstünden und fertigbrächten.

Sie wußten beide, daß Joachim das nicht mehr ganz von ihnen glaubte. Daß er zu schnell aus seiner Kindheit herausgewachsen war und nun die Meere befahren würde, nicht um es ihnen nachzutun, sondern um sie zu überflügeln und ihnen ein Beispiel zu geben. Er würde in der Uniform kommen, wenn er überhaupt käme, mit einiger Verlegenheit auf die Fischschuppen in ihrem Haar blicken und sie innerlich für zwei ›komische Käuze‹ halten, die sich gesucht und gefunden hätten, weil sie da draußen mit der Welt nicht ganz fertig zu werden verstanden. Er hatte sein Schiff und hatte sein Haus in der Hauptstadt, das Schwester Beate für ihn vermietete und bewahrte. Er brauchte kein Geld von ihnen, wenig Rat und nicht allzuviel Liebe. Es war nichts Blumenhaftes an ihm, er war ein junger Raubvogel, der den Horst verlassen hatte. Es war in der Ordnung so, aber doch schmerzte es ein wenig.

Bildermann bügelte seine Mützenbänder nur noch selten, aber an den Sonntagen war er wieder mehr unterwegs, kam nachdenklich zurück und fragte eines Abends, ob der Kapitän nicht Lust habe, bei einer Sache mitzumachen, in die er die Nase hineingesteckt habe und die für lange Sommertage vielleicht nicht uneben sei. Da habe man eine Menge ordentlicher junger Leute im stillen gesammelt, übe sie heimlich ein bißchen im Schießen und Exerzieren, mache kleine Kriegsspiele, halte ihnen auch mal hier und da einen Vortrag, und rüste sich eben so unter der Oberfläche für etwaige kommende Fälle. Die Leitung hätten ehemalige Offiziere, und das Ganze sei dem Stahlhelm lose unterstellt und natürlich streng schwarzweißrot. Man habe ihn schon ein paarmal nach seinem Herrn gefragt, so hintenherum, und da die Felder nun abgeerntet seien und für das Ende der nächsten Woche ein großes Kriegsspiel geplant sei, mit Feldküche, Zelten und so weiter, so meine er, der Kapitän solle sich das mal ansehen. Nur mit den Fischen zu reden, sei auf die Dauer doch eine etwas einseitige Angelegenheit.

Thomas sah ihn gutmütig an und fragte, ob die Welt ihn wieder locke. Doch versprach er, es zu bedenken, und als der Sonnabend herangekommen war, ein milder, schöner Tag mit schon stumm werdenden Wäldern, machten sie das Segelboot fertig, packten ihre Fahrräder ein, Rucksack und Decken, und fuhren ab.

Sie ließen das Boot vor der kleinen Stadt und erreichten am Nachmittag mit ihren Rädern die abseitige Gegend, wo die jungen Truppen sich versammelten und wo das Spiel beginnen sollte. Bildermann, mit gebügelten Mützenbändern, von fast allen Abteilungen fröhlich und lärmend begrüßt, führte seinen Herrn langsam durch die weit auseinandergezogene Versammlung, machte ihn hier und dort mit den Unterführern bekannt und nahm schließlich den Kurs auf den Feldherrnhügel, wo der Stab versammelt war, Kraftwagen, Meldegänger, Feldküchen, wo man Thomas mit etwas gemessener Höflichkeit begrüßte und ihm freistellte, ob er als Schlachtenbummler oder als Schiedsrichter an der Übung teilnehmen wolle.

Thomas zog das letztere vor, ließ sich von einem gutmütigen Landwehrhauptmann die Lage erklären und die Regeln auseinandersetzen und blieb dann abwartend zur Seite stehen, ein bißchen betäubt von Menschen, Lärm und der etwas gewaltsamen Tätigkeit, die solchen Bewegungen vorauszugehen pflegt, bei denen das Militärische und das Zivilistische ineinander übergehen.

Die Leitung hatte ein pensionierter Oberst mit rotem schmalem Gesicht und einer gewaltigen Adlernase über dem weißen Schnurrbart, der ein bißchen zu laut und ein bißchen zu schneidig von einem mageren Rotfuchs aus die Operationen leitete. Nach einem letzten »Tempo, meine Herren!«, das wie eine kalte Degenklinge über seinen Stab fuhr, winkte er Thomas noch einmal zu sich heran, fragte, ob er seine Befehle bekommen habe, und meinte dann, ob er seine doch etwas untergeordnete Stellung bei dem alten Knaben beizubehalten gedenke.

Ob der Herr Oberst vielleicht den Herrn Generalmajor von Platen meine?

Natürlich meine er den. Wen denn sonst?

Dann bitte er gehorsamst bemerken zu dürfen, daß er, Thomas, von seinem Dienstherrn nicht als von einem »alten Knaben« zu sprechen pflege. Im übrigen habe er keinen Anlaß, diese seine Stellung dort aufzugeben.

Der Oberst blies einmal durch die Nase, und es sah aus, als wollte er seine kalte Degenklinge auch über Thomas blitzen lassen, doch beherrschte er sich und erwiderte, es sei früher nicht üblich gewesen, daß aktive Offiziere ein Handwerk dieser Art ausübten.

Er habe längst erkannt, erwiderte Thomas, daß nicht alles Übliche auch vorbildlich sei, und es ginge nun wohl darum, zu begreifen, daß man nach dem Kriege nicht in allen Dingen dort wieder anfangen dürfe, wo man vor ihm aufgehört habe.

Es sei ihm bekannt, sagte der Oberst, daß Herr von Orla in seinem Buch in dieser Hinsicht merkwürdige Anschauungen geäußert habe, aber die Entwicklung der letzten Jahre dürfte ihm wohl gezeigt haben, daß alle königstreuen Männer gegen jene Lumpen zusammenzustehen hätten.

Welche Lumpen der Herr Oberst meine? Auch dieses sei bei ihnen auf der Insel nicht üblich, eine ganze Klasse eines Volkes, selbst wenn sie irre oder Böses tue oder sogar Böses wolle, als Lumpen zu bezeichnen. Und die Rettung des Vaterlandes, die sie doch alle wollten, scheine ihm nur möglich, wenn das ganze Volk dazu zusammenstehe, nicht aber, wenn zwischen der Kaste der Herren und der Kaste der Lumpen ein tödlicher Abgrund aufgerissen bleibe.

Der Oberst blies noch einmal durch die Nase, sagte: »Noch einmal darauf zurückkommen!« und gab seinem Fuchs die Sporen, als gelte es, mit einem einzigen Satz das unpassende Gedankengewebe dieses jungen Mannes zu zerreißen und zu verlassen.

»Ein schlechter Start, Bildermann«, sagte Thomas, als er sein Rad bestieg, um sich zur Spitze zu begeben.

Doch verwischte sich ihm der Eindruck bald unter den Pflichten seines neuen Amtes und im Anblick der Hingabe, mit der junge Menschen hier ihre freien Stunden der Zucht, dem Befehl und dem gemeinsamen Ziel unterordneten.

Erst als er am Abend dann alles überdachte, auch hier und da mit jungen Menschen sprach und nicht viel mehr erfuhr als die Wiederholung von Anschauungen und Forderungen, wie sie ihm aus Zeitungen und Parlamentsreden bekannt waren; als er wie der ganze Stab von den Gütern der Umgegend eingeladen wurde, die Nacht in einem Gastzimmer zu verbringen und seine höfliche Ablehnung mit einiger Verlegenheit aufgenommen wurde: erst da wurde ihm bewußt, wie abseits er mit seinem Leben und seinen Meinungen doch stand und daß, um Verlorenes wiederzugewinnen, es nicht immer ausreiche, zum Ausgangspunkt zurückzukehren und denselben Weg noch einmal zu gehen. Weil nämlich nicht immer das Verlorene am Wege liege.

Auch der gutmütige Landwehrhauptmann hatte die Einladung abgelehnt und saß noch eine Weile bei Thomas am Feuer. »Es bleibt uns nichts anderes übrig, Herr von Orla«, sagte er und machte eine etwas müde Handbewegung über all die kleinen Feuer hin. »Was Zucht ist, wissen heute nur die alten Soldaten. Das Unglück ist, daß sie oft nur dies und nicht mehr wissen. Wir haben einen Stab, aber keinen Generalstab. Aber da man es nicht laufen lassen kann, muß man mit diesem Anfang zufrieden sein.«

»Der Lorbeer ist zwar immergrün«, erwiderte Thomas, »aber wenn man zu lang auf ihm liegt, wird er doch welk werden.«

»Ich habe immer gefunden«, meinte der andere, »daß der Lorbeer eines verlorenen Krieges so unverwelklich ist wie der eines gewonnenen. Die Sache ist nur, daß man nicht vom Lorbeer allein leben kann.«

Das sei es eben, sagte Thomas. Der Krieg sei mehr gewesen als eine Reihe von Schlachten. Es werde mit neuen Zeichen geschrieben werden müssen, oder man könne die Feder ganz aus der Hand legen. Zehn Konzilien seien noch keine Reformation.

Das sei schon recht, meinte der Hauptmann. Aber wer schreibe? Wer schreibe? Seine Felder seien noch immer ganz schön in Ordnung und seine Leute auch, aber mit der Schrift und den neuen Zeichen hapere es bei ihm sehr.

Das tue nichts, erwiderte Thomas, aber ehe er behilflich sei, nichts als die alten Begriffe von neuem in junge Köpfe zu hämmern, als ob die Welt nicht elf Millionen Tote und eine ganze Reihe alter Götter verloren habe, eher wolle er seine Zeit mit nichts anderem zubringen, als Netze zu flicken und Kartoffeln zu graben. Vielleicht würde man doch einmal merken, daß die Weltgeschichte nicht nur anklopfe, um alte Kleider zu kaufen.

Das Spiel begann am nächsten Tage schon vor der Dämmerung, zog sich vor einer See-Enge zusammen und wurde am frühen Nachmittag entschieden und beendet. Es wurde zur Kritik geblasen wie in Friedenszeiten, und der Oberst auf seinem Rotfuchs erteilte Lob und Tadel. Die Feldküchen waren versammelt, und nach dem Essen sollte eine Reihe sportlicher Übungen die ganze Handlung abschließen. Wieder gab es für den Stab eine Einladung auf eines der großen Güter, und der Oberst hoffte, daß man dort noch einiges Abschließende über die Übung werde sagen können.

Thomas entschuldigte sich: seine Netze warteten, und gleich nach dem Essen müßte er nach Hause. In der Fischerei gebe es keinen Feiertag.

Er aß mit Bildermann und ein paar jungen Handwerkern aus der Kreisstadt und machte sich dann auf den Weg. Bildermann wollte mit dem Rad erst gegen Abend kommen, wenn sein Herr erlaube.

Bei einer der letzten Gruppen sah er noch einmal den Landwehrhauptmann, stieg ab und verabschiedete sich von ihm. Wenn man noch einmal nach ihm frage, sagte er, so bitte er auszurichten, daß er seit Jahren gewohnt sei, mit seinem früheren Burschen an einem Tisch zu essen, und daß er nicht mehr in eine Zeit zurückverfallen möchte, die im Kriege oder auch nur in einem Spiel des Krieges dem Stab oder den Offizieren ein besonderes Essen servieren lasse. Wenn man sich an ihn wende, dann werde er selbst eine Erklärung abgeben, sonst möchte der Hauptmann so gut sein, es für ihn zu tun.

Es sei schade, daß er wegbleibe, sagte der Hauptmann bedauernd, und es sei schade, daß die Obersten nicht immer die obersten seien.

Im gleichen Herbst schlug der General Thomas vor, er möge die ganze Fischerei Bildermann überlassen und zu ihm ins Schloß ziehen, um sämtliche schriftlichen Arbeiten zu übernehmen und ihn hier und da zu vertreten, wo das Alter ihm Anwesenheit und Reden schon erschwere oder verbiete.

Aber Thomas bat, ihn auf der Insel zu lassen. Er wisse wohl, daß er noch andere Arbeit leisten könne, als Fische zu fangen und Netze zu flicken, aber es sei ihm in diesen Jahren doch immer klarer geworden, daß das Glück, wenn er überhaupt Anspruch darauf erhebe, ihm nur aus der einfachen Arbeit kommen werde. Schon daß er ein Buch geschrieben habe und im Begriff sei, das zweite zu schreiben, scheine ihm gänzlich unwesentlich, ja vielleicht gefährlich, weil nicht ohne Grund vielen Menschen das fraglich vorkomme, was er als eine sichere Meinung aufgestellt habe. Wenn er aber an einem Tag einen Zentner Fisch fange, so sei nichts Fragliches daran. Und es sei auch nicht so, daß das ein bloßer Glückszufall sei, sondern es müßten Arbeit, Pflichtgefühl und Fleiß vorausgehen, damit ein solcher Fang zustande komme.

»Es kommt mir vor«, sagte er, »als sei ich zu einfachen Dingen geboren und als hätte ich in dem anderen, dem Vorausgegangenen, immer einen kleinen Teil falsch gemacht. Im Dienst, in der Ehe, in Joachims Erziehung, und so weiter. Aber hier mache ich nichts falsch oder nur ganz wenig. Viele werden sagen, daß ich mich vor dem Leben und seiner Verantwortung flüchte und daß die Resignation, wie sie es nennen, einem Manne in meinem Alter nicht zustehe. Aber ich glaube nicht, daß derjenige flieht, der arbeitet, und ich glaube, daß Resignation eine erlaubte Haltung ist, wenn man ein paar Jahrzehnte lang mitgespielt und zugesehen hat, wie die Heldenväter hinter den Kulissen ihren Rettich essen. Wer einmal die Phrase hinter sich gelassen hat, für den ist der Pflug oder das Ruder oder die Büchse oder der Spaten kein Ersatz, glaube ich, sondern die Wahrheit, eine einfache, unverdorbene und große Wahrheit. Die Menschen aber sind immer böse, wenn man nicht mitspielt, wie die Trinker böse sind, wenn einer nüchtern bleibt.«

»Sollten aber ein Schulschiff führen, lieber Orla, und kein Fischerboot.«

»Englische Freunde, Herr General, haben mir von einem Mann geschrieben, der ganz Arabien und Palästina erobert hat und der nach dem Krieg Rang und Namen abgelegt hat, um als einfacher Soldat in einer Flugzeugfabrik zu arbeiten. Mir scheint, daß dieser Mann einer der wenigen Weisen ist, die der Krieg uns übriggelassen hat. Und auch wenn ich weiß, daß ich kein Land erobert habe, so denke ich doch, daß ich mir dies verdient habe, hier zu sitzen und mein Leben in Ordnung zu bringen. Denn nur aus solcher Ordnung kann etwas ausstrahlen auf andere. Ich bin in den vergangenen Jahren mitunter im Theater gewesen, und immer habe ich gesehen, daß für fast alle Leute mit dem letzten Vorhang alles zu Ende war. Sie kehrten in ihr Normalgesicht zurück, und an den Garderoben oder im Foyer konnte man meinen, sie seien eben bei einem Diner gewesen oder bei einem Fußballspiel oder bei einem Tanztee. Aber immer waren ein paar dabei, die mit einem stillen Gesicht herauskamen und fortgingen, und diese sind mir nicht als die Schlechtesten vorgekommen. Und so ist es mit dem Krieg. Viele sind ›in alter Frische‹ herausgekommen, wie sie zu sagen lieben. Aber ein paar sind mit einem merkwürdigen Gesicht herausgekommen, wie aus einem großen Theater, und sie denken an ganz andere Dinge als an die nächste Vorstellung.«

»Haben Ihren Glauben verloren, Orla. Tut mir leid. Ist wie ein Feld ohne Dünger.«

»Ich weiß nicht, Herr General. Wir haben so viele Dinge nachgeprüft in diesen Jahren, daß ich nicht ganz verstehe, weshalb wir nicht alles nachprüfen. Auch die sogenannten ewigen Wahrheiten können einmal durchgeglüht werden. Ein Volk, das zwei Millionen Tote hingegeben hat, kann vielleicht das Recht haben, Gott zu fragen, was er sich dabei gedacht habe. Und wenn er nicht antwortet, braucht es vielleicht nicht mit dem zufrieden zu sein, was die Kirche sagt. Denn die Kirche hat zu denen, die in diesen Jahren geopfert haben, nicht immer das Richtige gesagt. Wenn aber Gott nicht antwortet, auf diese zwei Millionen nicht und auf die Millionen auch nicht, die man hinterher umgebracht hat, und auf die Kinder ebensowenig, die verhungert und erschlagen an den Landstraßen liegen; wenn er nicht nur nicht antwortet, sondern es so aussieht, als würde er nach zwanzig oder zweihundert Millionen ebensowenig antworten, ein stummer Gott, eisig vor Gleichgültigkeit, wie ein furchtbarer Lehrer vor hilflosen, weinenden Kindern: dann, Herr General, könnte es sein, daß es hier und da einem zuviel wird, vor der Steinwand zu knien und als Antwort das Echo zu bekommen. Daß er sich fragt, was das denn für eine Liebe sei, die im Opfern und im Schweigen bestehe. Die das Blut tropfen läßt, Tag und Nacht, Ströme von Blut, und die die Opfer stöhnen läßt, Tag und Nacht, alle Lebensalter, Gute und Böse, Schuldige und Unschuldige. Und die schweigend dabeisitzt, das Haupt in die Hände gestützt, und ansieht, was sie gemacht hat, und findet, daß sie es sehr gut gemacht habe …«

»Oft bedacht, Orla. Aber gehen zu weit. Kinder haben nicht alles von ihren Eltern zu wissen.«

»Eltern schlachten ihre Kinder nicht, Herr General. Und wenn sie es tun, behaupten sie nicht vor Gericht, daß sie es aus Liebe getan hätten. Ich kann mir nicht denken, daß Herr General das Kind auspeitschen lassen, Tag für Tag, und dann behaupten, es sei aus Liebe geschehen. Oder gar nichts behaupten, sondern es knien lassen und über den zerschlagenen Scheitel hinweg auf ein Bild an der Wand sehen, stumm, taub, blind, ein Götze aus Stein.«

»Orla!«

»Es ist so, Herr General. Ich muß nun von vorn anfangen, viele von uns. Ganz von vorn. Mit dem Neinsagen ist es nicht getan. Leben kann man nur, wenn man wenigstens einmal im Jahr ja sagen kann. Ich bin wie ein Mann, der mit Pfeil und Bogen aufgewachsen ist, aber plötzlich entdeckt er, daß die Feinde Eisenrüstungen tragen. Er muß zurück, nach Hause, um sich neue Waffen zu schmieden, ganz andere. Er schließt sich ein, bis er fertig ist, und dann geht er wieder hinaus. Ich muß ganz von vorn anfangen. Mein alter Gott ist gestorben, und der neue ist noch nicht auf den Thron gestiegen. Ich weiß nicht einmal, wie er aussehen wird. Ich denke mir nur, daß man ein Mann wird sein müssen, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Und dazu muß man mir Zeit lassen. Für Gott muß immer Zeit sein auf dieser Welt. Und wenn der alte Oberst ruft: ›Tempo, meine Herrschaften!‹ so mag das für ihn ganz recht sein, weil er mit seinem Gott wahrscheinlich in Ordnung und der Meinung ist, alle anderen seien es auch. Aber wenn einer darunter ist, der nicht in Ordnung ist, dann hat der Oberst für diesen nicht recht und hat für ihn kein Tempo zu verlangen. Beim Kompanieexerzieren mag es nichts als Tempo geben, aber beim Gottsuchen gibt es kein Tempo.«

»Denken zuviel, Orla.«

»Nein, Herr General. Ich versuche nur nachzuholen, was ich in meinem Leben zuwenig gedacht habe. Wir alle haben zuwenig gedacht. Seit Luther, meinten wir, brauchten wir nicht zu denken. Wir nahmen, was er und seine Bewahrer uns reichten, und wer sich weigerte, war gezeichnet. Haben Herr General einen Offizier gekannt, der die kirchliche Trauung abgelehnt hat? Er hätte ebensogut silberne Löffel stehlen können. Ich glaube nicht, daß der Krieg der Vater aller Dinge ist, aber daß er der Beweger aller Dinge ist, das will ich ihm schon zugestehen. Wenigstens, daß er es sein kann.«

»Und wenn Sie nichts finden, Orla? Keinen Gott?«

»Darum ist mir nicht bange, Herr General. Wenn die Menschen auf den Osterinseln oder auf Neu-Guinea gefunden haben, werde ich auch finden. Aber ich werde ein anderes Gesicht finden. Keines, das zu beschwören ist, und keines, dem zu danken ist. Keines, vor dem man anstimmen wird: ›Nun danket alle Gott!‹, wenn man eben tausend oder zehntausend Menschen erschlagen hat. Denn dann müßten die anderen ja anstimmen: ›Nun fluchet alle Gott!‹ Ich glaube, daß ich ein Gesicht jenseits von Fluch und Dank finden werde, ja, nicht einmal ein Gesicht, sondern nur ein Gesetz. Ein Gesetz hat kein Gesicht. Vor ihm sind alle Sterne und Tiere gleich, alle Menschen und Bäume, und der Aldebaran ist nicht mehr als der Hecht, den ich morgen fange. Beide enden, wenn es Zeit ist. Wenn wir die Welt aus der Liebe Gottes herausnehmen, bekommt sie einen Sinn. Auch der Krieg. Einen harten Sinn, aber dann ist es in unsere Hand gelegt, zu lieben. So zu lieben, daß wir nicht sagen, ein Krieg sei wohlgetan. So zu lieben, wie das Kind liebt, das nun in der Stadt ist, mit einem reinen Herzen, und das mir schreibt, ich möchte nicht vergessen, ab und zu an diesem Kamin zu sitzen, damit Herr General nicht allein seien.«

»Eine traurige Welt, Orla, nicht?«

»Vielleicht, Herr General, aber eine tapfere Welt. Alle Kinder müssen aufhören, an Märchen zu glauben. An den Ring, den man drehen kann, an das Wort, das die Schlösser öffnet. An den großen Zauberer, der uns anrührt und erlöst. Lieben und sich nicht fürchten, ist das, was übrigbleibt. Es wird uns nichts vergeben und nichts erspart. Das Leben ist ewig, aber nicht wir. Der Vorhang fällt, und die Vorstellung ist aus. Wir werden nicht noch einmal gerufen, damit das Stück anders ausgehe. Draußen warten schon die anderen. Auch wir glauben so rein und glühend wie die anderen, aber nicht, daß eine jenseitige Welt schmerzenloser sei als diese, sondern daß auf dieser unter allen Schmerzen die Liebe immer tiefer werde, das einzige, was wir dem Gesetz entgegenzusetzen haben. Wir werden es nie bezwingen, sonst wäre es nicht mehr unsere Welt. Wir werden es auch nicht beschämen, denn es hat keine Scham. Wir werden es erfüllen, aber in der Erfüllung werden wir etwas aufrichten, was es gar nicht kennt, was unsere Schöpfung allein ist und was wie ein fremder Glanz alle Dinge überstrahlen wird, auch sein steinernes Gesicht: unsere Liebe.«

»Machen es sich schwer, lieber Orla. War alles einfacher früher. ›Mit Gott für König und Vaterland.‹ Begriff der einfachste Mann.«

»Jawohl, Herr General. Aber er begriff es nicht, er war nur gehorsam. Er hatte es nicht erfunden. Andere hatten es erfunden, und er hatte zu folgen. Es war schon vor siebentausend Jahren so, ganz genauso. Und in siebentausend Jahren ist vieles unter dem Ruf ›Mit Gott!‹ geschehen, Herr General. Es ist uns, glaube ich, gut, daß wir nur den kleinsten Teil davon wissen.«

Der General sah über die Bilder hin, die an den dunklen Wänden hingen. »Alle diese haben es falsch gemacht, Orla?«

»Nein, Herr General, keiner hat es falsch gemacht. Ihr Werk war gut, nur der, von dem sie sich ausgesandt glaubten, war wohl nicht so gut, wie sie meinten.«

»Und der Ihrige ist gut, Orla?«

»Er ist weder gut noch böse, Herr General. Das sind Menschenkleider, aber nicht Gotteskleider. Er ist da, nichts weiter, und er weiß von uns soviel wie die Sonne, die diese Traube reifen oder verdorren läßt. Er ist nichts ohne die Traube oder ohne uns. Er ist das Meer, aber wir sind das Wasser.«

Der Herbstwind drückte die Flamme im Kamin herunter, und sie hörten, wie die Eichen im Park rauschten.

»Noch ein Jahr, Orla«, sagte der General. »Lange Zeit für einen alten Mann. Möchte, daß das Kind an das Meer glaubt und nicht an das Wasser.«

»Niemand wird an seinen Glauben rühren, Herr General. Und wer so viel Liebe hat wie das Kind, hat immer den richtigen Glauben, denke ich.«

»›Trinkt noch Glut und schlürft noch Licht …‹ Oft gesungen. Schöner Glaube, Orla. Nichts fortnehmen davon. Genug, wenn wir manchmal Richtung verlieren. Alte Leute auch im Dunkeln Bescheid wissen.«

Bildermann war vor dem Feuer eingeschlafen, als Thomas die Tür öffnete. Seine Hände lagen auf der Lehne des Sessels, sein Kopf war auf die Brust gesunken, und in seinem schlafenden Gesicht waren nun die Spuren der dunklen Jahre ohne Verhüllung zu sehen. Nein, auch diesen hatte kein Gott der Liebe geführt, oder es war eine unbegreifliche Liebe, die sich seiner angenommen hatte.

Er erwachte erst von dem Pfeifenrauch, der ihm ums Gesicht wehte. Seinen Augen war anzusehen, daß er von weither kam. »Auf Posten eingeschlafen, Kapitän«, sagte er. »Kriegsgericht!«

»Wir wollen dich zu einer Stunde mehr Schlaf verurteilen, Bildermann. Und als ich über den See kam, habe ich mir überlegt, weshalb du eigentlich deine besten Jahre an mich und die Insel gibst, Bildermann. Du hast ein Legat bekommen, und ich kann dir ruhig noch etwas dazugeben. Weshalb fängst du keine Fischerei oder sonst etwas an? Auf See natürlich. Ich meine, daß es zu einem Kutter reichen könnte.«

»Meinen der Herr Kapitän, daß ich hier überflüssig bin?«

»Rede keinen Unsinn, Bildermann.«

»Bildermann hat zweimal etwas versprochen, Kapitän. Einmal einer Frau und einmal einem kleinen Fräulein. Und beide Male hat er › for ever!‹ gesagt. Er möchte nicht, daß das kleine Fräulein seine Augenbrauen zusammenzieht, wenn es an ihn denkt.«

»Schön, Bildermann, dann bleiben wir also auf dem Ozean.«


 << zurück weiter >>